KAPITEL 58

Eddies Atelier befand sich hinter dem Kutschenhaus in einer zweistöckigen, umgebauten Scheune. »Eddie?«, rief Michelle, als sie das Gebäude durch eine Seitentür betrat.

Das Innere der Scheune war offenkundig sehr verändert worden. Im Obergeschoss gab es Fenster und ein Oberlicht, da ein Künstler für seine Arbeit Licht brauchte; ordentlich aufgereiht standen Werkbänke, Staffeleien, Eimer voller Pinsel und anderes Werkzeug bereit. An den Wänden hingen große und kleine Gemälde in unterschiedlichen Phasen der Vollendung. Die Luft roch nach Farbe und Terpentin. Stufen führten hinauf zu einem Treppenabsatz, wo sich hinter einer Tür ein kleines, fensterloses Zimmer verbarg.

»Eddie?«, rief Michelle noch einmal, während sie sich einige Bilder genauer anschaute. Die Porträts und Landschaften waren mit außerordentlicher Detailtreue gemalt worden, darunter die nahezu fertige Darstellung einer Bürgerkriegsschlacht, die nach Michelles Auffassung – obwohl sie zugeben musste, für Malerei kein geschultes Auge zu haben – in einem Museum hängen müsste.

An einer Wand waren eine Anzahl mit beschrifteten Schildchen versehene Gegenstände angebracht, offensichtlich eine im Zusammenhang mit Eddies Reenactment-Hobby angelegte Sammlung von Bürgerkriegsandenken.

Michelle drehte sich um, als sie Schritte die Treppe herunterpoltern hörte. Eddie trug eine mit blauer Farbe beschmierte Malerschürze und hatte auf reizende Weise zerzaustes Haar. Unter dem Arm trug er eine kleine, in ein Tuch gewickelte Leinwand, wie es schien.

»Ich habe gerade etwas fertig gestellt«, sagte er.

Michelle zeigte auf die Gemälde. »Ich bin keine Expertin, aber ein so hohes Niveau Ihrer Arbeiten hätte ich nicht erwartet.«

Eddie winkte ab, doch sein Lächeln verriet, wie sehr die Bemerkung ihn freute. »Technisch gesehen bin ich auf der Höhe, glaube ich. Aber die wirklich bedeutenden Künstler haben etwas, das mir fehlt. Ich bezweifle, dass ich es näher bezeichnen könnte. Aber das macht nichts. Ich bin mit dem zufrieden, was ich kann, und meine Kunden ebenfalls.« Er stellte das verhüllte Bild, das er bei sich hatte, auf eine Staffelei, deckte es aber nicht auf. »Haben Sie bei Mutter Erfolg gehabt?«

»Wenn Ihre Mutter etwas nicht will, will sie es nicht. Dann könnte man ebenso gut versuchen, einen Berg zu versetzen. Aber wir bleiben dran. Was ist das für ein Bild?«

Eddie hatte sich ihr mit breitem Lächeln zugewandt. »Schließen Sie die Augen.«

»Was?«

»Machen Sie einfach die Augen zu.« Michelle zögerte, tat dann aber wie geheißen. »So, nun öffnen Sie sie wieder.«

Als Michelle die Augen aufschlug, erblickte sie auf der Leinwand eine Version ihrer selbst, die das Ballkleid der Reenactment-Veranstaltung trug. Sie trat näher und betrachtete das Bild genauer, ehe sie sich erstaunt wieder Eddie zuwandte.

»Deshalb wollte ich das Polaroidfoto haben«, erklärte er.

»Ein schönes Bild. Wie haben Sie es so schnell fertig stellen können?«

»Ich habe die ganze Nacht durchgearbeitet. Mit der richtigen Motivation kann man alles schaffen. Aber eigentlich wird es Ihnen nicht gerecht, Michelle, wirklich nicht.« Er hüllte das Bild in braunes Packpapier und umwickelte es mit Kreppband. »Sie dürfen es mitnehmen.«

»Warum haben Sie mich gemalt?«

»Sie haben mir einen vollen Tag lang beim Soldatspielen zugeschaut, also dachte ich mir, zum Dank sollte ich Sie wenigstens malen.«

»Das Zuschauen hat mir Spaß gemacht, es war keine Zumutung.«

»Dennoch weiß ich Ihr Interesse zu würdigen.«

Michelle legte die Hand auf das eingepackte Gemälde. »Und ich weiß Ihre Dankesgeste zu schätzen.«

Sie umarmte ihn, und es überraschte sie, wie fest er sie in die Arme nahm und wie viel Kraft er hatte. Für einen langen Augenblick hielten sie einander umschlungen. Er roch nach Farbe, Schweiß und etwas anderem, ausgesprochen Männlichem. Zärtlich strich Michelles Hand über die harte Muskulatur seines Rückens und der Schultern. Obwohl sie es ungern tat, löste sie sich schließlich mit gesenktem Blick aus seinen Armen.

Er schob ihr die Hand unters Kinn und hob es an. »Hören Sie, es ist wahrscheinlich alles ein bisschen peinlich für Sie. Ich werfe mich Ihnen keinesfalls an den Hals. Sie haben morgen, wenn Sie aufwachen, kein neues Auto in der Einfahrt stehen. Aber…«

»Eddie…«, setzte Michelle zu einem Einspruch an, doch er hob die Hand.

»Aber es ist einfach nett, wollte ich sagen, mit jemandem befreundet zu sein.«

»Ich dachte, Sie wären mit vielen Menschen befreundet, Frauen wie Männern.«

»Ich bin eher ein Sonderling. Ich male und beteilige mich an Schaukämpfen.«

»Und beides können Sie außergewöhnlich gut«, sagte Michelle.

»Ja, das ist wahr«, sagte eine dritte Stimme. King kam herein. Eddie und Michelle blickten ihm entgegen. »Hallo, Eddie«, sagte King.

Die beiden Männer schüttelten sich die Hand, während Michelle beklommen zusah.

Kings Blick schweifte über die Kunstwerke an den Wänden. »Sie haben wirklich ein scharfes Auge fürs Detail.«

»Hat meine Mutter Sie dafür bezahlt, dass Sie das sagen?«

King betrachtete die Bürgerkriegsandenken. »Eine bemerkenswerte Sammlung.«

»Eines meiner wenigen Hobbys.« Eddie lächelte Michelle an. »Wissen Sie was, Sean? Wir müssen Sie unbedingt fürs Reenactment gewinnen. Ich kann Sie mir gut vorstellen, wie Sie auf einem kräftigen Hengst auf eine Artilleriestellung der Union zusprengen, inmitten von Mückenschwärmen übernachten und Kommissbrot futtern, bis Ihnen die Schwarte kracht.«

King sah Michelle an und schmunzelte. »Eher stürzt der Himmel ein«, sagte er und wiederholte damit Michelles Antwort auf Lulus Angebot, an der Stange zu tanzen.

Eddie wollte etwas entgegnen, als Kings Handy klingelte. Er meldete sich, lauschte und trennte dann mit betroffener Miene die Verbindung.

»Das war Sylvia. Kyle Montgomery wurde tot aufgefunden.«

»Was?«, entfuhr es Michelle.

»Wer ist Kyle Montgomery?«, fragte Eddie verwirrt.

»Ein Mitarbeiter von Sylvia Diaz«, erklärte Michelle. »Hat man ihn ermordet?«

»Sylvia sagt, es sieht nach einer Drogen-Überdosis aus, aber gänzlich überzeugt ist sie nicht. Sie möchte, dass wir uns in Montgomerys Wohnung mit ihr treffen. Todd ist auch dort.«

King und Michelle eilten hinaus. »Eddie«, rief Michelle über die Schulter, »ich rufe Sie an. Danke.«

Eddies Blick fiel auf das verpackte Porträt, während das Paar ins Freie lief. »Aber Sie haben Ihr Bild vergessen…« Doch die beiden befanden sich schon außer Hörweite. Enttäuscht zuckte Eddie mit den Schultern und brachte das Gemälde ins Obergeschoss.

Mit jedem Schlag der Stunde
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