KAPITEL 63
»Ich habe ihn nicht umgebracht, Sean. Ich war es nicht.«
»Aber Sie haben verbotenerweise Betäubungsmittel von ihm gekauft?«
Sie saßen im Wohnzimmer. King und Michelle hatten in Ohrensesseln Platz genommen. Ihnen gegenüber saß Dorothea auf dem kleinen Sofa und klammerte sich an die Armlehne des Möbels, als müsste sie ohne diesen Halt auf den Fußboden sinken.
»In letzter Zeit habe ich unter fürchterlichem Druck gestanden«, sagte sie langsam. »Ich… hatte ein paar finanzielle Rückschläge.«
»In einer Nacht tausend Dollar für Drogen zu verplempern ist nicht eben der vernünftigste Weg, um monetäre Schwierigkeiten zu beheben.«
Betroffen blickte Dorothea King ins Gesicht. »Sie haben den mickrigen Schrat ausgehorcht.«
»Vorsicht, man soll über Tote nichts Schlechtes reden. Erzählen Sie mir, was sich an dem bewussten Abend zugetragen hat.«
»Was wissen Sie denn schon?«
»Genug, um es sofort zu merken, wenn Sie mich belügen, und darüber wäre ich nicht sehr erfreut.«
»Ich verstehe selbst nicht, was über mich gekommen war. Montgomery wollte mit mir schlafen, das habe ich gemerkt. Männer sind leicht zu durchschauen.«
»Aber Sie wollten nicht mit ihm schlafen?«
»Natürlich nicht. Aber ich hatte viel getrunken. Und ich hatte den Vorsatz gefasst, dass es an diesem Abend das letzte Mal sein sollte. Selbstverständlich war es so, wie Sie sagen… Drogen konnten meine Probleme nicht lösen. Dazu zählten keineswegs nur finanzielle Schwierigkeiten. Es lag auch an der Familie. In die Battle-Sippschaft einzuheiraten bedeutet eine Menge Stress.«
»Ich kann durchaus nachvollziehen, dass es kein Kinderspiel ist, Remmy zur Schwiegermutter zu haben«, meinte Michelle mit trockenem Humor.
»Es war ein Albtraum! Alles was ich tat, trug, aß, trank oder sagte, wurde einem Urteil unterworfen. Und man war nicht gerade taktvoll, wenn man Kritik äußerte. Bobby war viel schlimmer als Remmy, ein richtiger Tyrann. Und er hatte schreckliche Stimmungsschwankungen. Im einen Moment war er guter Laune und lächelte, im nächsten Moment brüllte er herum und schikanierte seine Umgebung. Bei ihm konnte jeder plötzlich zum Sündenbock werden, sogar Remmy. Seit einiger Zeit gehe ich zu einem Therapeuten und versuche zu lernen, mein Leben optimistischer anzupacken.«
»Sehr gut«, sagte King. »Aber Sie wollten uns etwas über Kyle erzählen.«
»Ja. Also, als Kyle mit den Pillen aufkreuzte, war ich beschwipst und beschloss, ihn über den Tisch zu ziehen. Darum habe ich… Also, ich…« Sie schwieg, und ihr Gesicht lief rot an. »Es war idiotisch, ich weiß.«
»Wir wissen über den Striptease Bescheid, daher brauchen Sie nicht auf Einzelheiten einzugehen. Aber Sie haben eine Schusswaffe auf ihn gerichtet.«
»Er wollte über mich herfallen. Ich musste mich wehren.«
»Und Sie haben das Geld zurückverlangt.«
»Ich hatte ihm genug gezahlt. Schließlich kam er durch Diebstahl an die Pillen. Er machte hundert Prozent Gewinn. Mir ging es nur darum, das Geschäft für mich ein wenig erträglicher zu gestalten.«
»Sie haben das Geld dann wieder an sich gebracht?«
»Ja. Ich habe ihm vorgespiegelt, dass ich ihn umlegen wollte, und er hat Fersengeld gegeben. Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Ich schwör’s.«
»Wie sind Sie überhaupt mit ihm in Kontakt gekommen?«
»Ich wusste, dass er in Sylvias Praxis arbeitete, aber wir hatten keinen direkten Umgang. Ich war wegen einer Rückenverletzung bei ihr in Behandlung. Von den Schmerzmitteln, die sie mir verschrieb, bin ich schnell abhängig geworden, doch nach Ende der Behandlung hat sie sich geweigert, mir weiterhin welche zu verschreiben. Da war ich aber schon pillensüchtig. Mir war bekannt, dass Sylvia die Medikamente, die ich brauchte, in ihrer Praxis verwahrt. Kyle ließ sich auf den ersten Blick anmerken, dass er käuflich und zu allem bereit war, wenn er an Geld kam. Und mir war klar, dass verschreibungspflichtige Mittel aus der Praxis einer Rechtsmedizinerin viel ungefährlicher sind als der Dreck, den man auf der Straße kaufen kann. Außerdem hatte ich keine Lust, mich mit echten Drogenhändlern einzulassen. Das Aphrodisia habe ich mir als Treffpunkt ausgesucht, weil ich es von Geschäftsessen kannte. Ich wusste, dass man dort Zimmer mieten kann, ohne dass Fragen gestellt werden.«
»Und Sie sind der Ansicht, er hat Sie nie erkannt? Offenbar hatte er Sie doch in Sylvias Praxis gesehen.«
»Ich habe immer Sonnenbrille und Kopftuch getragen, für gedämpfte Beleuchtung gesorgt und wenig gesprochen. Hätte er mich erkannt, wäre ich bestimmt von ihm erpresst worden.«
Während sie den letzten Satz sprach, fasste King sie scharf ins Auge. Sie bemerkte seinen Blick und wurde blass.
»Ich weiß, es hört sich alles ziemlich sonderbar an…«
»Dorothea, die Lage ist sehr ernst. Weiß Eddie darüber Bescheid?«
»Nein. Bitte, Sie dürfen ihm nichts verraten! Wir führen zwar nicht die großartigste Ehe der Welt, aber irgendwie mag ich ihn, und das könnte er nicht verwinden.«
»Versprechen kann ich Ihnen nichts, Dorothea. Und nun möchte ich wissen, wo Sie gestern Abend gewesen sind.«
»Ich war hier.«
»Kann Eddie das bezeugen?«, fragte Michelle. »Er ist ja früh von der Reenactment-Veranstaltung nach Hause gekommen.«
»Woher wissen Sie das?«
Michelle schaute leicht verlegen drein. »Ich bin mit Chip Bailey nach Middleton gefahren, um mir die ›Schlacht‹ anzuschauen. Chip musste vorzeitig fort, deshalb hat Eddie mich nach Hause gebracht. Er sagte, für den zweiten Tag des Reenactments könnte er nicht bleiben.«
Dorothea warf ihr einen argwöhnischen Blick zu. »Also, im Haus war er letzte Nacht nicht«, erklärte sie schließlich. »Wahrscheinlich war er in seinem Atelier. Manchmal schläft er dort.«
Michelle setzte zu einer Antwort an, verkniff sie sich aber.
»Dann fehlt Ihnen ein Alibi«, stellte King fest. »Übrigens habe ich das Hotel Jefferson in Richmond angerufen. Im Gegensatz zu Ihrer Aussage haben Sie in der Nacht, als Bobby ermordet wurde, nicht dort übernachtet. Das wird das FBI auch schon ermittelt haben. Waren Sie in der Nacht im Aphrodisia?«
»Ja. Kyle hat mir ungefähr um zweiundzwanzig Uhr die Pillen gebracht.«
»Das ist ja eine Ironie des Schicksals.«
»Wieso?«
»Dann war Kyle im Fall der Ermordung Ihres Schwiegervaters Ihr Alibi, aber jetzt ist er tot. Falls also niemand sonst Sie im Club bemerkt hat, haben Sie auch für diesen Mord kein Alibi.«
Dorothea senkte den Kopf und brach in Schluchzen aus. Nach einer Weile stand Michelle auf, ging in die Küche und kam mit einem feuchten Tuch zurück, das sie Dorothea reichte.
»Machen Sie sich nicht verrückt, Dorothea«, sagte King. »Noch ist Kyles Ableben gar nicht als Mord eingestuft. Möglicherweise ist er an einer Drogen-Überdosis gestorben. Oder es war Selbstmord.«
»Dass so ein Typ sich das Leben nimmt, kann ich mir nicht vorstellen. Das Wenige, das ich von ihm weiß, spricht eher dafür, dass er immer nur auf den eigenen Vorteil aus war.« Dorothea wischte sich mit dem Tuch die Augen ab; dann heftete sie den Blick auf King. »Und was geschieht nun?«
»Wir können Ihr Verhalten unmöglich vertuschen.«
Dorotheas Lippen zitterten. »Damit durfte ich wohl nicht rechnen.«
»Allerdings bleibt noch offen, in welchem Umfang es aktenkundig gemacht werden muss.«
»Ich habe Kyle Montgomery nicht ermordet, und auch nicht meinen Schwiegervater.«
»Apropos Schwiegervater – warum sind Sie eigentlich an dem Tag in der Klinik gewesen?«
»Ist das jetzt noch von Belang?«
»Möglicherweise.«
Dorothea atmete tief durch. »Bobby hatte mir Geld zugesagt, einen größeren Anteil von seinem Vermögen. Dafür hätte allerdings sein Testament geändert werden müssen. Er hatte mir angekündigt, für die Änderung zu sorgen, aber mir wurde nie ein Nachweis vorgelegt.«
»Sie haben ihn also besucht, um sich danach zu erkundigen?«
»Ich hatte gehört, dass er bei Bewusstsein war und sprechen konnte. Ob sich eine zweite Gelegenheit bot, wusste ich ja nicht. Meine finanziellen Schwierigkeiten wären behoben gewesen, hätte Bobby seine Ankündigung wahr gemacht und sein Testament geändert.«
»Nein. Die Schwierigkeiten wären behoben worden, wäre er nach der Testamentsänderung gestorben und hätten Sie das Geld tatsächlich erhalten«, berichtigte Michelle.
»Ja«, bestätigte Dorothea leise und senkte den Blick.
»Weiß Eddie etwas von dieser angeblich versprochenen Testamentsänderung?«, fragte King.
»Nein. Eddie glaubt, wir stünden finanziell glänzend da. Er lebt in einer anderen Welt. Er kümmert sich um nichts.«
»Ich glaube, da täuschen Sie sich«, sagte Michelle. »Weshalb hätte Bobby sein Testament so ändern sollen, dass Sie und Eddie im Vergleich zu Remmy bevorzugt werden? Soviel ich weiß, hat er für Sie beide längst vorgesorgt.«
Dorothea lächelte verkniffen. »Kann man jemals genug Geld haben? Ich nicht. Und Bobby hatte verdammt viel Zaster.«
King beobachtete sie mit festem Blick. »Bobby war ein harter Verhandlungspartner. Worum also ging es beim quid pro quo, Dorothea?«
»Da halte ich lieber den Mund«, antwortete sie nach längerem Zögern. »Ich bin nicht sonderlich stolz darauf.«
»Kann ich mir denken. Dagegen war der kleine Strip, den Sie für Kyle hingelegt haben, wahrscheinlich gar nichts. Weshalb haben Sie eigentlich einen von Bobbys Oldies benutzt, um zum Aphrodisia zu fahren?«
Ein Lächeln des Triumphs legte sich auf Dorotheas Lippen. »Ich fand, er wäre mir mindestens das schuldig. Und er fuhr die Wagen ja sowieso nicht mehr.«
»Wissen Sie warum?«
»Er war sie leid geworden, nehme ich an. Für so was war der großmächtige Bobby Battle bekannt. Irgendwann hatte er alles satt, was er einmal begehrt hatte, und vergaß es.« Sie unterdrückte einen Schluchzer.
King erhob sich und betrachtete Dorothea, jedoch mit wenig Mitgefühl. »Wenn man Kyles Tod als Mord einstuft, wird die Polizei Sie verhören.«
»Das dürfte keine Rolle mehr spielen. Schlimmer kann es wohl nicht kommen.«
»O doch, Dorothea, es kann noch erheblich schlimmer kommen.«
»Woher hast du gewusst, dass sie es ist?«, fragte Michelle, als sie und King das Haus verließen. »Ich dachte, Savannah ist unsere Pillen schluckende Amateur-Stripperin.«
»Sie kam überhaupt nicht in Frage.«
»Wieso nicht? Sicherlich erinnerst du dich noch daran, wie sie sich damals am Pool geräkelt hat.«
»Genau. Eben das hat für mich zur Klärung beigetragen. Als Sylvia im Aphrodisia war, hat sie Kyle sagen hören, die Frau würde ›den nackten Hintern‹ herzeigen.«
»Und?«
»Savannah hat doch ihren Namen auf den Hintern tätowiert. Alle sonstigen Verdachtsmomente mögen gleich sein, aber ich bezweifle, dass sie diese Tätowierung Kyle gezeigt hätte, wenn sie unerkannt bleiben wollte. In Wrightsburg gibt es nur eine Savannah mit einem solchen Merkmal.«