KAPITEL 50

Trotz seiner Größe war das Casa Battle überfüllt. Im Erdgeschoss hatte man lange Tische aufgestellt und mit Speisen und Getränken beladen. Als King und Michelle ihre Teller und Gläser gefüllt hatten, führte Harry sie ins Arbeitszimmer der zweiten Etage, um noch einmal alles durchzusprechen.

»Ich glaube, hier sind wir ungestört«, erklärte er. »Wir sind weit genug vom Essen und vor allem vom Alkohol entfernt. Der Tod macht die Menschen besonders durstig, habe ich herausgefunden.«

King betrachtete den antiken Schreibtisch, der auf einer Seite des Zimmers stand. Er sah teures Schreibzeug, dickes Büttenpapier mit den Initialen REB, einen ledernen Tintenlöscher und mehrere altmodische Tintenfässer.

»Remmy ist genau wie ich eine Briefschreiberin der alten Schule«, sagte Harry, der King musterte. »Sie hält nichts von E-Mail, nicht mal von Schreibmaschinen. Und sie erwartet gleichartige Antworten.«

»Wie schön, dass sie genügend Zeit hat, auf diese Weise zu kommunizieren«, meinte King. »Anscheinend ist das einer der Vorteile des Reichtums. Eben habe ich gesehen, dass Remmy und Lulu sich auch abgesondert haben.«

»Remmy hat im dritten Stock, unweit ihres Schlafzimmers, ein Privatzimmer«, sagte Harry. »Da würde ich gern mal Mäuschen spielen.«

»Was hat Remmy bloß zu Lulu gesagt, dass die beiden sofort Frieden geschlossen haben?«, sagte Michelle. »Das grenzt an ein Wunder. Mir war, als würde mir die Jungfrau Maria erscheinen.«

King trank einen Schluck Wein und lächelte wohlgefällig. »Valandraud Saint Emilion. Remmy geizt nicht mit edlen Dingen.« Er blickte Harry an. »Was Remmy und Lulu angeht, könnte ich mir durchaus vorstellen, was sie geredet haben. Wie steht’s mit Ihnen, Harry?«

Harry rückte seine Fliege zurecht und strich sich das Haar glatt, bevor er den Wein kostete und vom Teller auf seinen Knien ein Stück Krabbenbrot nahm. »Ich glaube, wir dürfen getrost wörtlich auffassen, was Michelle gesagt hat. Mit anderen Worten, sie hat gewissermaßen über den Gartenzaun hinweg Frieden geschlossen.«

»Und wie genau?«, fragte Michelle.

»Sie hat Lulu beteuert, sie gehe nicht davon aus, dass Junior den Einbruch verübt hat, und wird nicht auf Herausgabe der verschwundenen Gegenstände klagen. Da nach Juniors Tod keine strafrechtliche Verfolgung mehr möglich ist, ist die Angelegenheit offiziell beendet.«

»Und Remmy hat Lulu bestimmt versichert, nichts mit Juniors Tod zu tun zu haben«, sagte King, »und ihr tiefes Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht, dass Lulu ihren Ehemann verloren hat.«

»Und wahrscheinlich ist auch darüber gesprochen worden«, mutmaßte Harry, »dass Remmy den Oxley-Kindern den College-Besuch finanziert.«

»Außerdem wurde vielleicht über eine Finanzspritze für Lulu geredet, damit das Haus fertig gestellt werden kann«, sagte King. »Dieses Angebot hatte Remmy ja schon Junior gemacht, als sie ihn noch für den Einbrecher hielt. Möglicherweise plagt sie ein schlechtes Gewissen, weil die Familie Oxley ihretwegen so viele Scherereien hatte.«

Verwirrt blickte Michelle die beiden Männer an. »Das alles soll binnen weniger Minuten auf dem Friedhof besprochen worden sein?«

Harry hob das Weinglas, als wollte er ihr zutrinken. »Remmy fackelt nicht lange. Vielleicht trifft sie nicht immer die richtigen Entscheidungen, aber wenn sie handelt, dann mit Nachdruck. Was das angeht, ist sie einer gewissen, mir gut bekannten Ermittlerin nicht unähnlich.«

Michelle schmunzelte über seine Bemerkung, wurde aber rasch wieder ernst. »Und auf was soll Remmys Sinneswandel zurückzuführen sein?«

»Wie gesagt, sie weiß oder ist zumindest der Meinung, dass Junior den Einbruch nicht begangen hat«, gab King zur Antwort. »Außerdem ist es völlig ausgeschlossen, Junior den Mord an Bobby anzulasten. Selbst wenn er die erforderlichen medizinischen Kenntnisse gehabt hätte – was allerdings nicht der Fall ist –, wäre er in der Klinik sofort aufgefallen. Außerdem hat meine Überprüfung ergeben, dass er für den Zeitpunkt der Ermordung Bobbys ein Alibi hatte.«

»Also musste Remmy einsehen, dass zwischen dem Mord an ihrem Ehemann und dem Verschwinden bestimmter Dinge aus dem Haus ein Zusammenhang besteht«, folgerte Michelle. »Wenn Junior das eine nicht getan hat, konnte er auch das andere nicht getan haben.«

»So ist es«, sagte Harry. »Das beweist uns, der Verdacht wurde absichtlich auf ihn gelenkt.«

King ließ den Blick über die Bücherwände des Zimmers schweifen und schaute anschließend durchs Fenster hinaus in den düsteren Nachmittag. Der Regen war stärker geworden. King sah, wie die Tropfen auf den Dächern der auf dem vorderen Parkplatz abgestellten Autos zerstoben.

»Als ich Remmy und Lulu zu Juniors Grab gefolgt bin«, sagte King, »habe ich dort einen dritten Trauergast bemerkt. Jemanden, mit dem ich nicht gerechnet hätte.«

»Wen?«, fragten Harry und Michelle wie aus einem Munde.

»Sally Wainwright.«

»Die Pferdepflegerin?« Auf Harrys Gesicht spiegelte sich Ratlosigkeit.

Michelle schnippte mit den Fingern. »Sean, an dem Tag, als wir das erste Mal mit Sally gesprochen haben, hast du sie gefragt, ob sie Junior kennt. Sie sagte, sie würde ihn vom Sehen kennen, aber du hast gleich gemerkt, wie nervös und ausweichend sie geredet hat.«

»Stimmt«, bestätigte King.

»Sie geht ans Grab eines Menschen, den sie nur vom Sehen kannte?«

»Ich muss mich wohl ein zweites Mal mit Sally unterhalten«, sagte King.

Harry gab mit einer Geste zu verstehen, King und Michelle sollten auf der Couch gegenüber vom Kamin Platz nehmen. Er selbst blieb vor ihnen stehen. »Für meine Begriffe steht eindeutig fest, dass der falsche Verdacht auf Junior gelenkt worden ist – und zwar von jemandem, der sich mit polizeilichen Ermittlungsmethoden auskennt.«

»Wie gehen wir weiter vor?«, fragte Michelle.

Ohne die Frage zu beantworten, blickte Harry auf eine altmodische Taschenuhr, die an einer dünnen Kette über seiner Weste hing.

»Das ist ein schönes Stück, Harry«, sagte Michelle.

»Sie hat meinem Großvater gehört. Da ich keinen Sohn habe, verwahre ich sie für meinen ältesten Neffen.« Liebevoll betastete er die schwere Uhr. »In dieser verworrenen Welt ist es ein Trost, die Tageszeit noch auf die gleiche Weise wie vor hundert Jahren ablesen zu können.« Er klappte den Deckel der Uhr zu und sah Michelle und King scharf an. »Also, inzwischen wird unten jeder ein paar Gläschen getrunken haben«, sagte er und kam dann auf Michelles Frage zurück. »Darum schlage ich vor, wir mischen uns unter die beschwipste Gesellschaft, um zu beobachten und zu lauschen. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass der Mörder sich im Haus aufhält. Vielleicht können wir an Informationen gelangen, durch die sich weitere Morde verhindern lassen.«

Sie beendeten die Besprechung und kehrten ins Erdgeschoss zurück.

Mit jedem Schlag der Stunde
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