KAPITEL 49
Der Tag, an dem Robert E. Lee Battle beerdigt werden sollte, begann mit einem klaren blauen Himmel, der sich jedoch bald bezog. Als die Prozession den Friedhof erreicht hatte, fiel leichter, warmer Regen. Die schwarz uniformierte Armee der Trauergäste versammelte sich unter einem riesigen weißen Zelt um das frisch ausgehobene Loch.
King sah viele bekannte, aber auch etliche unbekannte Gesichter. Es hieß, dass sich auf den Privatflugplätzen von Charlottesville und Lynchburg die Learjets drängten, mit denen Freunde der Battles gekommen waren, um dem Patriarchen die letzte Ehre zu erweisen. Doch viele waren vermutlich durch morbide Neugier angelockt worden.
Michelle saß neben King. Sie trug tatsächlich ein Kleid! King verkniff sich jeden Kommentar. Von seiner letzten Stichelei tat ihm immer noch der Arm weh.
Die Battles saßen in der ersten Reihe, Eddie und Savannah zu beiden Seiten ihrer Mutter. Neben Eddie kam Chip Bailey und am Ende der Reihe Dorothea mit verschränkten Armen. Mason stand ein Stück daneben, den Blick auf die verschleierte Remmy gerichtet. Stets der treue Diener, dachte King.
Auf der anderen Seite Kings saß Harry Carrick. Er war so gepflegt wie immer gekleidet, und sein weißes Haar kam vor dem Hintergrund seines schwarzen Anzugs noch besser zur Geltung. Er hatte Michelle mit einem Küsschen auf die Wange und King mit einem festen Händedruck begrüßt, bevor er Platz genommen hatte.
»Ziemlich viele Leute«, flüsterte King ihm zu. Michelle beugte sich herüber, um mithören zu können.
»Bobby und Remmy hatten viele Freunde und Geschäftspartner. Rechnen wir die Neugierigen und Schadenfrohen hinzu, kommt eine beachtliche Menge zusammen.«
»Also kann ich davon ausgehen, dass der Fall Junior Deaver abgeschlossen ist«, sagte King.
»Darauf läuft es praktisch hinaus. Schließlich wäre es sinnlos, einen Toten wegen Einbruchs zu verurteilen.«
»Praktisch, aber…«, sagte King und beobachtete seinen Freund aufmerksam.
»Aber wenn meine Vermutung zutrifft und Junior unschuldig war, würde ich gern den wahren Dieb zur Strecke bringen.«
»Sie möchten, dass wir die Ermittlungen fortsetzen?«
»Ja, Sean. Schließlich geht es auch um seine Familie. Warum sollten seine Kinder in dem Glauben aufwachsen, dass ihr Vater ein Dieb war, wenn es gar nicht stimmt?«
»Jetzt haben wir sogar ein gesteigertes persönliches Interesse, den Fall aufzuklären.«
»Das verstehe ich. Nachdem Junior ermordet wurde…«
»Genau. Was machen Sie nach der Trauerfeier?«
»Ich bin bei den Battles eingeladen«, antwortete Harry.
»Wir auch. Vielleicht können wir uns dort in einer ruhigen Ecke zusammensetzen und unsere weitere Vorgehensweise diskutieren.«
»Ich freue mich schon darauf.« Dann lehnten sie sich zurück und hörten zu, wie der Pfarrer über den Toten sprach, über die Wiederauferstehung und das ewige Leben. Es regnete weiter, wodurch die düstere Stimmung des Nachmittags noch deprimierender wurde.
Als die langatmige Predigt endlich vorbei war, trat der Pfarrer vor, um der Familie sein Beileid auszusprechen. Kings Blick wanderte über die Gruppe hinaus, die sich um das Grab versammelt hatte, und suchte systematisch die Umgebung ab. Er benutzte dieselbe Technik, die er im Secret Service beim Personenschutz angewendet hatte. Damals hatte er nach potenziellen Attentätern gesucht, nun hielt er nach jemandem Ausschau, der bereits zum Mörder geworden war.
King entdeckte sie, als sie hinter der kleinen Anhöhe auf der rechten Seite auftauchte.
Lulu Oxley war ganz in Schwarz gekleidet, trug im Gegensatz zu Remmy Battle aber keinen Schleier. Dann fiel es King plötzlich wieder ein. Heute war auch Juniors Beerdigung. Und in der näheren Umgebung gab es nur diesen Friedhof. Dann kamen hinter Lulu auch Priscilla Oxley und die drei Deaver-Kinder zum Vorschein.
»Ach du Scheiße«, flüsterte King. Michelle hatte sie ebenfalls gesehen. Harry bemerkte sie erst, als King ihn darauf hinwies, und zuckte zurück. »Großer Gott!«, entfuhr es ihm.
Lulu drehte sich um und gab ihrer Mutter und den Kindern ein Zeichen, dass sie zurückbleiben sollten. Sie gehorchten sofort. Lulu ging weiter. King, Michelle und Harry erhoben sich gleichzeitig, um ihr den Weg abzuschneiden. Andere Gäste waren ebenfalls auf sie aufmerksam geworden, wie das Raunen verriet, das durch die Menge ging.
Als sie die Frau erreichten, etwa zwanzig Meter von den Battles entfernt, sagte King: »Lulu, das sollten Sie auf keinen Fall tun.«
»Gehen Sie mir aus dem Weg, verdammt!«, erwiderte Lulu in einem Tonfall, der King verriet, dass sie getrunken hatte.
Harry griff nach ihrem Arm. »Lulu, hören Sie zu. Sie werden mir jetzt zuhören!«
»Warum sollte ich? Ich habe Ihnen schon mal zugehört, und jetzt ist Junior tot!« Auf King machte sie den Eindruck, als würde sie im nächsten Moment zusammenbrechen oder eine Waffe ziehen und auf alles feuern, was Kleidung trug.
»Sie erreichen überhaupt nichts, wenn Sie sich hier einmischen«, sagte Harry. »Mrs Battle ist ebenfalls in Trauer.«
»Sie sollte in der Hölle schmoren für das, was sie getan hat!« Sie versuchte ihren Arm aus Harrys Griff zu befreien, doch irgendwie gelang es dem älteren Mann, sie festzuhalten.
Seine Stimme war ganz ruhig. »Es gibt nicht den geringsten Beweis, dass sie etwas mit Juniors Tod zu tun hatte. Im Gegenteil, alles deutet darauf hin, dass er von derselben Person ermordet wurde, die auch all die anderen auf dem Gewissen hat, einschließlich Bobby Battle. Mrs Battles Ehemann wurde vom selben Mörder getötet wie der Ihre.«
»Dann hat sie vielleicht auch ihren Mann umbringen lassen. Ich weiß es nicht. Aber sie hat Junior bedroht, und nun ist er tot.«
King blickte sich um und sah, dass Remmy Battle ihren Schleier gehoben hatte und in ihre Richtung schaute. Dann wurden Kings schlimmste Befürchtungen wahr. Remmy ging zu Mason, sagte etwas zu ihm, zeigte auf die Gruppe und kam dann im Schutz eines Regenschirms zu ihnen herüber.
»O Mann, das wird ja immer besser«, murmelte King. Alle anderen Trauergäste sahen zu und warteten auf den folgenschweren Zusammenstoß der Witwen.
Remmy hatte sie mit langen, zielstrebigen Schritten schnell erreicht. King trat ihr sofort in den Weg, um sie vor Lulu abzuschirmen.
»Gehen Sie mir aus dem Weg, Sean! Das hier geht Sie nichts an.« Ihr Südstaatenakzent war so ausgeprägt wie nie zuvor. Zumindest hatte King sie noch nie so erlebt. Ihre Haltung und ihr Tonfall duldeten keinen Widerspruch, und King tat widerstrebend, was sie von ihm verlangte.
Harry war die nächste Barriere, doch es brauchte nur einen strengen Blick von Remmy, um auch ihn zur Seite zu scheuchen. Michelle versuchte es gar nicht erst, weil sie sofort die Sinnlosigkeit eines solchen Unterfangens erkannte.
Nun stand Remmy genau vor Lulu, die ihren Blick erwiderte und mit leicht zitternden Beinen dastand. Tränen liefen ihr übers Gesicht, das zu einer hasserfüllten Fratze verzerrt war.
Ohne sich zu den anderen umzudrehen, sagte Remmy: »Ich möchte unter vier Augen mit Mrs Oxley reden. Wir müssen uns über Dinge unterhalten, die nur uns beide etwas angehen.«
»Ich habe nichts mit dieser…«, begann Lulu.
Remmy hob eine Hand, doch King, der ihr Gesicht nicht sehen konnte, vermutete, dass es wahrscheinlich der Blick der älteren Frau war, der die normalerweise unbeugsame Lulu davon abhielt, ihre Schimpfkanonade abzufeuern.
»Bitte lassen Sie uns miteinander reden«, sagte Remmy mit deutlich ruhigerer Stimme.
Die drei entfernten sich zögernd. King blieb in der Nähe und hielt sich bereit, falls die Frauen übereinander herfallen sollten.
Remmy nahm Lulus Arm und hielt ihn fest. Zuerst wollte die andere Frau sich ihr entziehen, dann aber beugte Remmy sich vor und redete auf sie ein, obwohl keiner der anderen mithören konnte, was gesprochen wurde. So ging es längere Zeit weiter, und King beobachtete verwundert, wie Lulus Miene sich entspannte. Noch erstaunlicher war, dass Lulu sich nach ein paar Minuten an Remmy festhielt, um sich zu stützen. Schließlich beendeten die beiden Frauen ihr Gespräch und kamen auf King zu.
»Die Oxleys werden an der Trauergesellschaft in unserem Haus teilnehmen«, sagte Remmy. »Aber vorher werde ich Junior noch die letzte Ehre erweisen.«
Als sie sich gemeinsam entfernten, sah King, dass Mason zu Priscilla und den Kindern gegangen war und sie zur Limousine der Battles führte.
»In meinen mehr als siebzig Lebensjahren habe ich noch nie etwas so Seltsames und Unerklärliches wie das hier erlebt«, sagte Harry verdutzt.
Als die beiden Frauen hinter der Anhöhe verschwanden, sagte King zu seinen zwei Begleitern: »Ihr bleibt hier.« Dann folgte er den beiden Witwen im Dauerlauf.
Über Juniors Grab war kein Zelt gespannt worden, und es war in jeder Hinsicht wesentlich bescheidener als die letzte Ruhestätte von Bobby Battle. Es war wie das Hilton im Vergleich zu einem Billigmotel, ungeachtet der Tatsache, dass beide Männer gleichermaßen tot waren.
Die einzigen Anwesenden waren die zwei Männer, deren Aufgabe darin bestand, den Holzsarg im Loch zu versenken und ihn mit zwei Metern Erde zu bedecken. King beobachtete das Geschehen aus der Deckung einer großen Statue, die eine Mutter mit Kind darstellte. Er sah, wie Remmy mit den Totengräbern sprach, die respektvoll nickten und sich zurückzogen. Dann knieten beide Frauen auf dem grünen Kunstrasen vor dem Sarg, hielten sich an den Händen und beteten gemeinsam. Sie blieben mehrere Minuten lang am Grab. Als sie sich erhoben, trat Remmy an den Sarg und legte eine rote Rose darauf ab. Lulu nickte den Männern zu, die wieder vortraten, während die beiden Frauen Arm in Arm davongingen.
King blieb in Deckung, als sie an der Grabstelle mit der Statue vorbeikamen, und beobachtete, wie sie hinter der Anhöhe verschwanden. Dann wandte er sich wieder Juniors Grab zu. Die Friedhofsarbeiter waren zu ihrem Pick-up gegangen, vermutlich um ihre Schaufeln zu holen. King überlegte, ob er hinübergehen sollte, um Junior die letzte Ehre zu erweisen. Er hatte den Mann nicht besonders gut gekannt, doch seine Frau und seine Kinder hatten ihn offenbar sehr geliebt. Jeder Mann sollte ein solches Erbe hinterlassen. Auf Bobby Battles Beerdigung hatte King nicht viele Tränen gesehen, obwohl die Veranstaltung wesentlich kostspieliger gewesen war.
Er wollte sich gerade entfernen, als er plötzlich innehielt und sich tiefer hinter die Statue duckte. Jemand war aus einer Baumgruppe in der Nähe hervorgekommen. Die Person näherte sich mit schnellen Schritten dem Grab und schaute sich die ganze Zeit nervös um. Das verstohlene Auftreten der Gestalt deutete auf Schuldgefühle hin. King konnte nicht erkennen, wer es war, nicht einmal, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, da die Person eine Hose, eine lange Jacke und einen tief ins Gesicht gezogenen Cowboyhut trug.
Als die Person vor dem Grab kniete, wagte King sich näher heran, um mehr erkennen zu können. Dann nahm die Person den Hut ab, um den Kopf im Gebet zu senken. Es schien sich um eine Frau zu handeln, wenn man nach dem langen, hochgebundenen Haar ging. Doch aus dieser Perspektive konnte King das Gesicht nicht erkennen. Sollte er hinübergehen und die Person ansprechen? Das wollte er nicht riskieren. Er dachte kurz nach; dann zog er sich wieder hinter die Statue zurück. Er hob einen kleinen Stein auf, zielte und warf ihn auf einen großen Grabstein, der mehrere Meter rechts von ihm stand. Das Ergebnis war so, wie er gehofft hatte.
Die Frau blickte sich um, als sie das Geräusch hörte, mit dem der Stein die Grabstelle traf, sodass King ihr Gesicht sah. Sie setzte den Hut wieder auf und lief zur Baumgruppe zurück.
Für King gab es keinen Grund, ihr zu folgen. Er wusste, wer sie war.
Aber warum in aller Welt betete Sally Wainwright, die Pferdepflegerin der Battles, an Junior Deavers Grab?