KAPITEL 18

»Das also ist ein Kutschenhaus«, sagte Michelle, als sie aus Kings Auto stieg und auf das ungefähr fünfhundert Quadratmeter große Gebäude aus roten Ziegeln blickte. »Ich habe mir so etwas immer viel größer vorgestellt«, fügte sie ironisch hinzu.

»Das dürfte von der Größe deines Wagens abhängen.« King betrachtete den silbernen Volvo-Kombi neueren Baujahrs, der im Fahrzeughof parkte. »Das ist Eddies Auto.«

»Lass mich raten. Du bist Hellseher?«

»Ich sehe nur, dass sich im Wagen die Uniform eines Soldaten der Konföderierten und eine Staffelei befinden.«

Eddie Battle öffnete ihnen die Tür und forderte sie auf, einzutreten. Er war ein großer Mann, fast eins neunzig, und mehr als zwei Zentner schwer, dabei aber sehr muskulös. Er hatte widerspenstiges dunkles Haar und strahlend blaue Augen, und sein Gesicht war kräftig und wettergegerbt. Das Haar hatte er vom Vater, den Mund und die Augen zweifellos von der Mutter, stellte Michelle fest. Doch er hatte nichts von ihrer Strenge und Kühle geerbt; seine jungenhafte Art hatte sogar etwas Sympathisches. Er wirkte wie ein in Würde gealterter kalifornischer Surfer.

Er schüttelte ihnen die Hand und führte sie ins Wohnzimmer. Seine muskelbepackten, geäderten Unterarme waren mit Farbe bekleckert, und er trug Kavalleriestiefel, in denen die verblassten Jeans steckten. Sein weißes Arbeitshemd wies mehrere Löcher und zahllose Farbflecken auf, und er war unrasiert. Er wirkte wie das genaue Gegenteil des Sohns eines reichen Mannes.

Er lachte leise, als Michelle auf seine Fußbekleidung starrte. »Ich wurde letzte Woche getötet, während eines schlecht geplanten Angriffs auf eine Stellung der Union in Maryland. Ich wollte in meinen Stiefeln sterben, und nun bringe ich offenbar nicht mehr die Energie auf, sie auszuziehen. Ich fürchte, die arme Dorothea ist inzwischen sehr böse auf mich.«

Michelle lächelte, und King sagte: »Sie fragen sich wahrscheinlich, was wir von Ihnen wollen…«

»Nein. Meine Mutter hat vor ein paar Minuten angerufen und mich über alles informiert. Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Wir waren nicht hier, als der Einbruch geschah. Dorothea war auf einem Maklertreffen in Richmond, und ich habe bei einer zweitägigen Großoffensive in Appomattox mitgekämpft. Anschließend bin ich nach Tennessee gefahren, um das erste Tageslicht über den Smoky Mountains zu erwischen. Ich habe dort ein Landschaftsbild gemalt«, erklärte er.

»Klingt ziemlich anstrengend«, sagte Michelle.

»Ist es aber nicht. Ich reite gern durch die Gegend, spiele Soldat und bekleckere mich mit Farbe. Ich bin ein kleiner Junge, der nie erwachsen werden musste. Ich glaube, es macht meinen Eltern Kummer, wenn sie sehen, was aus mir geworden ist, aber ich bin ein guter Künstler, auch wenn ich nie ein großer Künstler sein werde. Und an den Wochenenden stelle ich Kriegsszenen nach. Ich bin privilegiert und habe Glück gehabt, und das weiß ich auch. Deshalb versuche ich, anspruchslos und bescheiden zu sein. Und ich habe sehr viele Möglichkeiten dazu.« Er lächelte wieder und zeigte seine Zähne, die in Form und Farbe so makellos waren, dass Michelle zu dem Schluss gelangte, dass alle überkront waren.

»Sie sind sehr ehrlich, was Ihre Person betrifft«, sagte sie.

»Nun, ich bin der Sohn sagenhaft reicher Eltern und musste nie für meinen Lebensunterhalt arbeiten. Ich leiste mir keine Allüren, und was ich tue, das tue ich, so gut ich kann. Aber ich weiß, dass Sie nicht deswegen zu mir gekommen sind. Also stellen Sie Ihre Fragen.«

»Haben Sie Junior Deaver manchmal auf dem Anwesen gesehen?«, fragte King.

»Klar, er hat oft für meine Eltern gearbeitet. Junior hat auch einiges für Dorothea und mich getan, und wir hatten nie die geringsten Schwierigkeiten mit ihm. Deshalb verstehe ich nicht, warum er den Einbruch begangen hat. Er hat mit unserer Familie gutes Geld verdient, aber vielleicht war es trotzdem nicht genug. Ich habe gehört, dass es viele Beweise gibt, die Junior belasten.«

»Vielleicht zu viele«, erwiderte King.

Eddie sah ihn nachdenklich an. »Ich verstehe, was Sie meinen. Wahrscheinlich habe ich der Sache nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Wir waren in letzter Zeit sehr mit Familienangelegenheiten beschäftigt.«

»Ja. Tut uns Leid, was mit Ihrem Vater geschehen ist.«

»Es ist seltsam. Ich hatte immer gedacht, er würde uns alle überleben. Aber wer weiß, vielleicht schafft er’s ja wirklich. Der Alte versteht sich durchzusetzen.«

King zögerte kurz, bevor er sagte: »Meine nächste Frage könnte ein wenig seltsam erscheinen, aber ich muss sie stellen.«

»Wie es scheint, ist die ganze Sache ein wenig seltsam. Also fragen Sie einfach.«

»Ihr Vater hatte in seinem Schrank ein Geheimfach, aus dem etwas entwendet wurde. Ihre Mutter wusste nichts von diesem Fach und kann uns deshalb auch nicht sagen, was darin gewesen ist. Wussten Sie etwas darüber?«

»Nein. Soweit mir bekannt ist, haben meine Eltern keine Geheimnisse voreinander.«

»Und warum haben sie getrennte Schlafzimmer?«, warf Michelle ein.

Eddies strahlendes Lächeln verschwand. »Das ist ihre Sache. Es bedeutet nicht, dass sie nicht miteinander geschlafen oder sich nicht geliebt haben. Dad hat Zigarren geraucht und sein Zimmer nach seinen Vorlieben eingerichtet. Mutter kann Zigarrenrauch nicht ausstehen und hat ihre eigenen Vorlieben. Es ist ein großes Haus, und sie können darin tun und lassen, was sie wollen.«

King hob entschuldigend die Hände. »Ich habe Sie vor dieser Frage gewarnt.«

Eddie machte den Eindruck, als wollte er sie erneut anfahren, schien sich dann aber zusammenzureißen. »Ich weiß nichts von einem Geheimfach. Aber ich bin auch nichts Dads Vertrauter.«

»Hat er einen Vertrauten? Savannah vielleicht?«

»Savannah? Nein, meine kleine Schwester können Sie als potenzielle Informationsquelle von Ihrer Liste streichen.«

»Ich nehme an, sie war zu diesem Zeitpunkt auf dem College«, hakte Michelle nach.

»So ist es, aber das hat nichts damit zu tun.«

»Sie beide standen sich nicht besonders nahe, oder?«, fragte Michelle.

Eddie zuckte mit den Schultern. »Das sollte eigentlich niemanden verwundern. Ich bin fast doppelt so alt wie sie, und wir haben keine Gemeinsamkeiten. Ich war auf dem College, als sie geboren wurde.«

»Ihre Mutter erwähnte, was damals mit Ihnen geschehen ist«, sagte King.

»Ich erinnere mich kaum noch an Einzelheiten, um ehrlich zu sein«, erwiderte Eddie. »Ich habe den Mann, der mich entführt hat, nie gesehen, bis man mir seine Leiche zeigte.« Er stieß einen langen Atemzug aus. »Ich hatte verdammtes Glück. Als ich zurückkam, waren meine Eltern so glücklich, dass sie Savannah zeugten. Zumindest ist das die offizielle Familienanekdote.«

»Ihre Mutter hat gesagt, Chip Bailey wäre zu einem guten Freund der Familie geworden.«

»Er hat mir das Leben gerettet. Wie soll man eine solche Schuld jemals abtragen?«

King warf Michelle einen kurzen Blick zu. »Ich verstehe, was Sie meinen.«

Sie hörten, wie sich ein Wagen näherte, der mit quietschenden Reifen vor dem Haus hielt.

»Das dürfte Dorothea sein. Sie vergeudet nicht gern ihre Zeit, um von einem Ort zum anderen zu gelangen«, sagte Eddie.

Michelle blickte aus dem Fenster und sah den großen schwarzen BMW. Die Frau, die aus dem Wagen stieg, trug ein enges, kurzes schwarzes Kleid mit schwarzen Schuhen und schwarzen Strümpfen. Das Kostüm passte farblich sehr gut zum gewellten Haar. Sie nahm ihre Sonnenbrille ab, musterte kritisch Kings Wagen und marschierte dann zur Tür.

Als Dorothea den Raum betrat, wirkte sie – trotz des Schwarz – wie eine blasse Imitation von Remmy Battle. Michelle fragte sich, ob die jüngere Frau bewusst ihrer Schwiegermutter nachgeeifert hatte. Sie war modisch schlank mit runden Hüften, knackigem Hintern und langen, schlanken Beinen. Ihr Busen war unverhältnismäßig groß, was sie zweifellos professionellen Bemühungen verdankte. Ihr Mund war ein wenig zu breit für ihr Gesicht und der Lippenstift etwas zu rot für ihre blasse Haut. Die Augen waren mattgrün und besaßen einen durchdringenden Blick.

Nachdem sie die Begrüßungen und Vorstellungen hinter sich gebracht hatten, nahm Dorothea sich eine Zigarette und steckte sie an, während Eddie erklärte, weshalb King und Michelle gekommen waren.

»Ich fürchte«, sagte sie, »ich kann Ihnen nicht helfen, Sean.« Dorothea konzentrierte sich auf ihn und schien gewillt, Michelle völlig zu ignorieren. »Ich war verreist, als es geschah.«

»Richtig. Alle waren entweder nicht hier oder scheinen nichts bemerkt zu haben«, sagte Michelle, um die Frau zu reizen.

Deren mattgrüne Augen wanderten langsam in Michelles Richtung. »Tut mir Leid, wenn die Familie und das Personal ihre Zeitpläne nicht auf Junior Deavers kriminelle Machenschaften abgestimmt haben«, sagte sie in eisigem, herablassendem Tonfall. Hätte Michelle die Augen geschlossen, wäre sie überzeugt gewesen, dass Remmy Battle gesprochen hatte. Bevor Michelle das Feuer erwidern konnte, hatte Dorothea sich wieder an King gewandt. »Ich glaube, Sie sind auf der falschen Fährte.«

»Wir wollen nur dafür sorgen, dass kein Unschuldiger ins Gefängnis wandert.«

»Trotzdem glaube ich, dass Sie bloß Ihre Zeit vergeuden«, gab Dorothea zurück.

King stand auf. »Dann möchte ich Sie nicht länger belästigen«, sagte er freundlich.

Als Michelle und King durch die Tür getreten waren, hörten sie laute Stimmen aus dem Haus.

Michelle blickte ihren Partner an. »Ich wette, die Familienfeiern der Battles sind ein Riesenspaß.«

»Ich bin nicht versessen darauf, bei einer mitzumachen.«

»Haben wir es jetzt hinter uns?«, fragte Michelle.

»Nein, ich habe gelogen«, antwortete King. »Jetzt steht Lulu Oxley auf der Liste.«

Mit jedem Schlag der Stunde
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