KAPITEL 26

Etwas später an diesem Abend stellte Kyle Montgomery, Sylvias Assistent und Möchtegern-Rockstar, seinen Jeep vor dem Leichenschauhaus ab und stieg aus. Er trug einen dunklen Mantel mit Sturmhaube und der Aufschrift »UVA«, zerknitterte Latzhosen und Wanderstiefel ohne Socken. Er bemerkte, dass Sylvias navyblaues Audi-Cabrio ebenfalls vor dem Gebäude stand. Er sah auf die Uhr. Fast zehn. So spät war sie normalerweise nicht mehr hier, aber sie musste ja noch das letzte Opfer sezieren. Diese Anwältin, erinnerte sich Kyle. Seine Chefin hatte ihn nicht gebeten, ihr dabei zu helfen, wofür er ihr zutiefst dankbar war. Doch aufgrund ihrer Anwesenheit konnte die Sache, wegen der Kyle gekommen war, ein wenig heikel werden, weil er nicht wusste, in welchem Raum Sylvia sich aufhielt. Wahrscheinlich in der Leichenhalle. Und falls sie in der Arztpraxis war und er ihr über den Weg lief, konnte er sich jederzeit eine Ausrede ausdenken. Kyle Montgomery zog seine Sicherheitskarte durch den Schlitz neben der Eingangstür, hörte, wie das Schloss sich klickend öffnete, und betrat Sylvias Praxis.

Nur die schwache Notbeleuchtung brannte. Er bewegte sich vorsichtig durch die vertraute Umgebung und hielt nur kurz inne, als er an Sylvias Büro vorbeikam. Auch hier brannte Licht, aber es hielt sich niemand im Zimmer auf.

Er betrat das Medikamentenlager des Büros, öffnete mit seinem Schlüssel einen Schrank und holte mehrere Fläschchen heraus. Aus jeder nahm er eine Pille und tat sie in verschiedene Plastiktütchen, die er zuvor mit einem schwarzen Filzstift beschriftet hatte. Später würde er sich ins Computersystem der Praxis hacken und die Inventarlisten fälschen, um seinen Diebstahl zu vertuschen. Kyle Montgomery nahm jedes Mal nur ein paar Pillen mit, sodass es nicht allzu schwierig war, seine Spuren zu verwischen.

Er wollte bereits gehen, als ihm einfiel, dass er während des Tages seine Brieftasche in seinem Spind in der Leichenhalle vergessen hatte. Er verstaute die Pillen in seinem Rucksack und schloss leise die Tür zwischen Praxis und Leichenhalle. Wenn er Sylvia begegnete, würde er einfach die Wahrheit sagen – dass er seine Brieftasche vergessen hatte. Montgomery kam an ihrem Büro im Leichenschauhaus vorbei. Es war leer. Er würde einen großen Bogen um den Obduktionssaal machen, der sich auf der Rückseite des Gebäudes befand, wo Sylvia mit ihrem stummen Patienten beschäftigt war. Er lauschte ein paar Sekunden, versuchte, das Geräusch der Stryker-Säge zu hören, oder fließendes Wasser, oder wie sterile Instrumente auf Metall klapperten, doch alles blieb still. Das war ein wenig seltsam, obwohl es bei einer Autopsie häufig sehr leise zuging. Schließlich beklagten die Toten sich nicht über das, was mit ihren Körpern angestellt wurde.

Dann aber war ein Geräusch zu hören. Kyle war sicher, dass es aus dem hinteren Bereich des Gebäudes kam. Vielleicht näherte sich seine Chefin. Er griff sich schnell seine Brieftasche und zog sich in den Schatten zurück. Plötzlich hatte er Angst, ihr zu begegnen, weil sie ihm möglicherweise unangenehme Fragen stellte. Sie konnte manchmal sehr direkt und unverblümt sein. Was war, wenn sie ihn aufforderte, seinen Rucksack zu öffnen? Er zog sich tiefer in die Nische zurück, während sein Puls in seinen Ohren rauschte. Stumm verfluchte er seine Unsicherheit. Einige Minuten vergingen. Schließlich fasste er den Mut, wieder ins schwache Licht hinauszutreten. Dreißig Sekunden später hatte er das Gebäude verlassen und fuhr los. Die gestohlenen Medikamente waren sicher in seinem Rucksack verwahrt.

Als er sein nächstes Ziel erreichte, stellte er fest, dass der Parkplatz ziemlich voll war. Er zwängte seinen Jeep zwischen zwei SUVs und stieg aus.

Im Aphrodisia pulsierte das Leben, und fast sämtliche Tische und Barhocker waren besetzt. Montgomery zeigte dem verschlafen wirkenden Türsteher seinen Ausweis und durfte den Raum mit den Tänzerinnen betreten. Dort hielt er sich ein paar Minuten lang auf, um die Damen zu bewundern. Die gut aussehenden, kaum bekleideten Frauen vollführten solch anzügliche Bewegungen an den Metallstangen, dass ihre Mütter vor Scham tot umgefallen wären – aber erst, nachdem sie ihre Töchter erdrosselt hätten. Montgomery genoss den Anblick in vollen Zügen.

Schließlich sah er auf die Uhr und ging dann zur Treppe, die in den zweiten Stock führte. Im Korridor trat er durch einen roten Vorhang, hinter dem sich ein Labyrinth aus kleinen Zimmern befand. Er blieb vor der ersten Tür stehen, klopfte in einem zuvor vereinbarten Rhythmus an und wurde unverzüglich zum Eintreten aufgefordert.

Montgomery verschloss die Tür und zögerte, weil er sich nicht zu weit in den dunklen Raum vorwagen wollte. Er war nicht zum ersten Mal hier, aber es war immer wieder ein riskantes Unterfangen.

»Hast du sie?«, fragte die Frau so leise, dass Montgomery sie kaum hörte.

Er nickte. »Hier drin. Alles, was du magst.« Er holte die Plastiktütchen hervor und hielt sie hoch, wie ein kleiner Junge, der seiner Mutter stolz einen toten Vogel zeigte.

Wie immer trug die Frau ein langes, fließendes Kleid und ein Kopftuch. Ihre Augen wurden von einer dunklen Sonnenbrille verdeckt, obwohl der Raum sehr schwach beleuchtet war. Offenbar wollte sie nicht erkannt werden. Montgomery hatte sich schon oft gefragt, wer sie sein mochte, hatte aber nie den Mut aufgebracht, sie zu fragen. Die Stimme klang vertraut, doch er konnte sie nicht zuordnen.

Eines Abends hatte er in seinem Jeep einen Zettel gefunden, auf dem stand, dass er eine bestimmte Nummer anrufen sollte, wenn er sich ein paar Dollar dazuverdienen wollte. Wer hätte ein solches Angebot ausgeschlagen? Er hatte sofort reagiert und den Hinweis erhalten, dass der Medikamentenvorrat in Sylvias Praxis zu einer lukrativen Einkommensquelle für ihn werden konnte. Auf dem Einkaufszettel standen starke Schmerzmittel und bewusstseinsverändernde Substanzen.

Da Montgomery keine Skrupel kannte, hatte er sich einverstanden erklärt, einen Versuch zu wagen. Er hatte seine Hausaufgaben gemacht, um die optimale Methode zu finden, wie er Zugang zu dieser Goldader erhalten konnte, und erkannt, dass es machbar war. Die Bedingungen wurden ausgehandelt; dann hatte Montgomery die Lieferungen aufgenommen und sein Einkommen beträchtlich gesteigert.

Das lange Kleid verhüllte die attraktive Figur der Frau nicht vollständig. Die intime Umgebung, das Bett im Hintergrund des Zimmers und die Tatsache, dass sie sich in einem Nachtclub befanden, brachten Montgomerys Blut wie jedes Mal in Wallung. In einer stets wiederkehrenden Phantasie betrat er selbstbewusst das Zimmer, viel größer und männlicher, als er in Wirklichkeit war. Er hielt der Frau die Pillen hin, wie er es auch jetzt tat, doch als die Frau sie nehmen wollte, packte er sie, lachte über ihren armseligen Versuch, sich zu wehren, und warf sie rücksichtslos aufs Bett. Dann fiel er über sie her und nahm sie immer wieder, bis tief in die Nacht. Ihre ängstlichen Schreie feuerten seine sexuelle Wildheit umso mehr an, bis sie ihm schließlich ins Ohr keuchte, dass sie es brauchte, dass sie ihn brauchte, ihren großen, starken Kyle…

Sogar jetzt spürte er, wie sich etwas in seiner Hose regte, als die erregenden Szenen in seinem Kopf abliefen. Er fragte sich, ob er jemals den Mut aufbringen würde, diese Phantasie auszuleben, bezweifelte es aber. Dazu war er viel zu feige. Die Frau legte das Bargeld auf den Tisch und nahm die Pillen entgegen. Dann gab sie ihm mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er gehen konnte.

Er verschwand, während er die Scheine zweimal zusammenfaltete und in seiner Hosentasche verschwinden ließ.

Montgomery würde erst später erkennen, dass er etwas Bedeutsames gesehen hatte, und zwar hauptsächlich deshalb, weil es keinen Sinn ergab. Aber bald schon würde er sich darüber wundern. Und irgendwann würde sein Erstaunen ihn zur Tat schreiten lassen. Doch in diesem Moment ging ihm nur die Frage durch den Kopf, was er mit dem Geld anstellen wollte, das er sich soeben verdient hatte. Montgomery neigte nicht zur Sparsamkeit, sondern gab sein Geld mit vollen Händen aus. Diesmal vielleicht für eine neue Gitarre? Oder einen neuen Fernseher mit kombiniertem CD-DVD-Player für seine kleine Wohnung? Als er schließlich in seinen Jeep stieg, hatte die Gitarre den Sieg davongetragen. Er würde sie gleich morgen bestellen.

Im Zimmer verschloss die Frau die Tür und nahm das Kopftuch und die Sonnenbrille ab. Sie zog die Schuhe aus und legte ihr Kleid ab. Darunter trug sie ein seidenes Mieder. Sie studierte die Aufschrift der Plastikbeutel, nahm eine Pille heraus, zerkleinerte sie und kippte das Pulver mit einem Glas Wasser hinunter, gefolgt von einem Schluck purem Bombay Sapphire zum Nachspülen.

Sie legte Musik ein, streckte sich auf dem Bett aus, verschränkte die Arme über der Brust und ließ sich von der Wirkung des Medikaments an einen anderen Ort versetzen, an dem sie, zumindest für einen kurzen Augenblick, glücklich sein konnte. Zumindest bis morgen, wenn die Realität des Lebens erneut auf sie einstürzen würde.

Sie zitterte, zuckte, stöhnte und lag dann wieder still. Schweiß drang aus jeder Pore ihres Körpers, als sie die volle Rauschwirkung erlebte und dann vom absoluten Hoch ins absolute Tief abstürzte. Während eines erhitzten Krampfanfalls riss sie sich das schweißgetränkte Mieder vom Leib und brach auf dem Boden zusammen, nur mit einem Slip bekleidet. Ihr Atem ging in schweren Stößen, ihre Brüste schlugen klatschend zusammen, als sie sich in künstlich hervorgerufener Ekstase hin und her wälzte. Ihre Nerven feuerten unter dem Stress der Überdosis wilde Impulse ab.

Trotzdem war sie glücklich. Zumindest bis morgen.

Mit jedem Schlag der Stunde
titlepage.xhtml
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_000.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_001.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_002.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_003.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_004.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_005.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_006.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_007.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_008.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_009.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_010.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_011.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_012.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_013.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_014.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_015.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_016.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_017.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_018.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_019.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_020.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_021.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_022.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_023.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_024.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_025.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_026.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_027.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_028.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_029.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_030.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_031.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_032.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_033.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_034.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_035.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_036.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_037.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_038.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_039.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_040.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_041.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_042.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_043.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_044.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_045.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_046.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_047.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_048.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_049.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_050.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_051.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_052.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_053.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_054.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_055.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_056.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_057.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_058.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_059.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_060.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_061.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_062.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_063.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_064.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_065.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_066.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_067.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_068.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_069.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_070.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_071.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_072.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_073.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_074.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_075.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_076.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_077.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_078.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_079.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_080.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_081.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_082.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_083.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_084.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_085.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_086.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_087.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_088.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_089.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_090.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_091.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_092.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_093.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_094.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_095.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_096.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_097.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_098.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_099.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_100.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_101.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_102.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_103.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_104.html
Mit_jedem_Schlag_der_Stunde_split_105.html