KAPITEL 72
Als King und Michelle bei den Battles eintrafen, führten Williams und Chip Bailey sie sofort zur Stallung. Unterwegs berichtete Williams, was Sally zugestoßen war und was sich mit Eddie ereignet hatte. King wurde bleich, und er musste sich an den Zaun lehnen. Michelle stützte ihn mit ihrem heilen Arm.
»Du darfst jetzt nicht zusammenklappen.«
»Das Messer, mit dem Sally getötet wurde, stammt aus dem Werkzeugbestand der Stallung und ist am Tatort zurückgeblieben«, erklärte Bailey. »Gleiches gilt für die Harke. Sylvia ist gerade gefahren, aber nach ihrer Einschätzung muss Sally sehr schnell tot gewesen sein.«
»Können wir die Leiche sehen?«, fragte King.
»Das ist kein schöner Anblick, Sean«, gab Williams zur Antwort. »An deiner Stelle würde ich darauf verzichten.«
»Ich muss sie sehen«, beharrte King.
Widerwillig begleitete Williams ihn und Michelle zu der Toten.
»Mein Gott«, entfuhr es Michelle.
»Man könnte meinen, der Mörder hätte sie aus irgendeinem Grund gehasst«, sagte Williams. »Er hat immer wieder mit der Harke auf sie eingeschlagen.« Er blickte King an. »Vielleicht wusste Sally doch mehr, als sie zugegeben hat.«
»Kann sein«, murmelte King und drehte sich um. Während man Sallys Leichnam in einem schwarzen Leichensack fortbrachte, verharrte er vor dem Eingang der Stallung, in Gedanken versunken.
Als die Hecktüren des Ambulanzfahrzeugs sich mit blechernem Knall schlossen, wandte er sich erneut an Williams. »Dafür trage ich die Verantwortung. Ich habe sie gedrängt, mit der Wahrheit herauszurücken, und gar nicht in Erwägung gezogen, sie könnte deshalb in Gefahr geraten.«
»Für dich stand es gestern Abend auf Leben und Tod, Sean«, entgegnete Williams. »Du hattest gar keine Gelegenheit, die Sache gründlich zu durchdenken.«
»Wie geht es Eddie?«, erkundigte sich Michelle.
»Vorhin habe ich mit der Klinik telefoniert«, antwortete Bailey. »Er ist noch bewusstlos, aber über den Berg.«
»Weiß man schon, was es war?«
»Nein. Falls Sie mitkommen möchten, ich will nachher noch zur Klinik. Aber erst will ich noch einmal mit Dorothea sprechen. Und mit Savannah, obwohl ich gehört habe, sie wäre mit den Nerven am Ende.«
»Wenn du Recht behältst, was Canney betrifft, Sean, stehe ich in deiner Schuld«, sagte Williams auf dem Weg zum Kutschenhaus. »Ich wäre ihm nie auf die Schliche gekommen.«
»Das ist nur ein Teil des Puzzles, Todd«, versicherte King.
Dorothea empfing sie an der Haustür. Sie sah blass und verhärmt aus. Während Williams, King und Michelle ein paar tröstliche Worte sagten, musterte Chip Bailey Dorothea mit einer Mischung aus Zorn und Entschlossenheit. Alle versammelten sich im Wohnzimmer.
»Um welche Uhrzeit sind Sie und Eddie zu Bett gegangen?«, fragte Williams.
»Gegen halb eins. Eddie hatte im Atelier gearbeitet. Aber wir haben nicht sofort geschlafen, erst etwa eine Stunde später.« Dorothea lächelte verlegen. »Ich hätte nie geglaubt, dass die Aufregungen, die mit Mordermittlungen einhergehen, sich dermaßen vorteilhaft auf das Sexualleben auswirken können. Aber Eddie zeigt sich von seiner besten Seite, seit wir in diesem Schlamassel stecken.«
»In schwierigen Zeiten ist ein tüchtiger Mann schwer zu finden«, sagte Michelle gepresst.
»Genau das wird mir allmählich klar«, sagte Dorothea mit überraschender Offenheit.
»Er ist betäubt worden, Dorothea«, meldete Bailey sich zu Wort. »Ich habe mit den Klinikärzten geredet. Ihrer Aussage zufolge steht er unter dem Einfluss eines starken Betäubungsmittels.«
Plötzlich spiegelte sich Furcht auf Dorotheas Miene. »Diese Sache kann ich absolut nicht verstehen. Ich… Ich muss Ihnen sagen, dass ich völlig benommen war, als Savannah an die Tür hämmerte und ich aufwachte, und selbst jetzt fühle mich noch nicht richtig beieinander.«
Bailey musterte sie argwöhnisch. »Davon haben Sie heute früh aber nichts erwähnt.«
»Es ging alles so schnell«, erwiderte Dorothea. »Savannah war völlig verstört, Sally war tot, und ich konnte Eddie nicht wecken. Es war wie ein Albtraum.«
»Wann stand Savannah vor der Tür?«, fragte Bailey.
»Kurz nach acht. Ich weiß noch, dass ich im Flur auf die Uhr geschaut habe. Eddie und ich haben gestern zusammen zu Abend gegessen. Nach dem Essen haben wir uns ein Glas Wein gegönnt. Anschließend war er in seinem Atelier, um zu malen, und ich habe in meinem Büro Papierkram erledigt.«
»Können Sie uns die Reste der Mahlzeit und die Weinflasche zur Verfügung stellen?«, lautete Baileys nächste Frage.
»Reste gab es keine. Die Flasche steht hier noch irgendwo, glaube ich.«
»Ich wüsste es zu schätzen«, sagte Bailey, »wenn Sie mir die Flasche aushändigen, bevor ich gehe.«
Trotz erschien in Dorotheas Miene. »Was wollen Sie denn damit beweisen?«
Bailey maß sie mit kühlem Blick. »Irgendjemand hat Eddie gestern etwas untergejubelt, von dem er so stark betäubt wurde, dass er sich bis zur Stunde nicht davon erholt hat. Und noch wissen wir nicht, auf welchem Wege er das Betäubungsmittel unwissentlich eingenommen hat.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie das geschehen sein soll«, sagte Dorothea aufgebracht.
»Das herauszufinden ist meine Aufgabe«, sagte Bailey. »Sind von den Pillen, die Sie von Montgomery gekauft haben, welche im Haus?«
»Ich… Ich bin mir nicht sicher. Ich kann nachschauen.«
»Nein. Ich sage Ihnen, wie wir vorgehen. Ich lasse eine Hausdurchsuchung vornehmen. Haben Sie Einwände?«
Auf wackligen Beinen erhob sich Dorothea. »Ich möchte zuvor meinen Anwalt hinzuziehen.«
Auch Bailey stand auf. »Tun Sie das. Unterdessen besorge ich mir einen Durchsuchungsbeschluss. Für den Fall, dass Personen, die von den Ermittlungen betroffen sind, ausfliegen möchten, postiere ich einen meiner Agenten vor dem Haus. Und wir kennen Methoden, um Abflussrohre genau zu untersuchen und alles zu entdecken, was fortgeschüttet oder fortgespült wird.«
»Ihre Unterstellungen sind lachhaft«, rief Dorothea. »Ich habe Sally nicht ermordet, und ich habe auch meinen Mann nicht betäubt!«
»Zu dumm, dass bei Kyle Montgomery die Todesursache bisher nicht endgültig feststeht. Andernfalls säßen Sie jetzt vielleicht hinter Gittern. Dann hätten Sie ein lupenreines Alibi.«
Während Bailey das Zimmer verließ, richtete Dorothea einen kläglichen Blick auf King. »Sean, was geht hier vor?« Sie schwankte, doch King sprang vor und hielt sie fest, ehe sie auf den Fußboden stürzen konnte. King ließ sie auf die Couch sinken.
Er wandte sich an Michelle. »Hol Wasser!«
Michelle eilte aus dem Wohnzimmer. King hielt Dorothea unter aufmerksamer Beobachtung. Sie klammerte sich an seinen Arm.
»O Gott, mir ist so elend…«
»Ich werde Mason bitten, dass er sich um Sie kümmert.«
Dorothea krallte sich noch fester an Kings Arm. »Ich habe nichts verbrochen, Sean. Sie müssen mir glauben.«
Michelle kehrte mit Wasser zurück, und Dorothea trank es.
»Sie glauben mir doch?«, fragte sie kläglich.
»Ich will es mal so ausdrücken: Ich glaube Ihnen so weit, wie ich derzeit jedem glaube.«
Beim Hinausgehen bemerkten King, Michelle und Williams, dass Bailey mit einem seiner Kollegen sprach und auf das Kutschenhaus deutete. Sie gingen zu Bailey hinüber.
»Sie haben Dorothea wahrhaftig nichts geschenkt, Chip«, meinte Williams.
»Ich wusste nicht, dass sie besondere Rücksichtnahme verdient«, erwiderte der FBI-Agent.
»Sie hat einen scheußlichen Morgen hinter sich, und die vergangenen Tage waren auch nicht viel besser.«
»Warum sollte ich Mitleid für diese Frau aufbringen, wenn sie eine Verbrecherin ist?«
»Sie vermuten, dass sie ihren Ehemann betäubt, sich aus dem Haus geschlichen und Sally ermordet hat?«, fragte King.
»Ich halte es für durchaus möglich, dass sie Eddie betäubt und ein Mittäter Sally umgebracht hat, während er besinnungslos war. Die Stallung liegt so nahe am Kutschenhaus, dass Eddie es wahrscheinlich gehört hätte, wäre es zu einem Kampf gekommen. Er wäre Sally zu Hilfe geeilt, wenn sie geschrien hätte. Weil er betäubt war, konnte er das allerdings nicht.«
»Und wer soll Ihrer Ansicht nach Dorotheas Komplize gewesen sein?«
»Wenn ich das wüsste, könnten wir alle nach Hause gehen.«
»Und das Motiv für den Mord an Sally?«
»Sie wusste mehr, als sie irgendwem erzählt hat, Sie eingeschlossen. Sie wäre Juniors Alibi, hat sie behauptet. Dafür steht jedoch nur ihre eigene Aussage, die sie allerdings erst nach Juniors Tod gemacht hat. Er kann sie nicht mehr bestätigen. Aber mal angenommen, sie war in der Nacht des Einbruchs nicht mit Junior zusammen? Mal angenommen, sie hat in Wahrheit jemandem beim Einbruch Beihilfe geleistet oder den Einbruch selbst verübt?«
»Wenn es so war, weshalb hätte sie dann die Geschichte auftischen sollen, mit Junior zusammen gewesen zu sein?«, fragte Williams.
»Weil dadurch sie für die Zeit des Einbruchs ein Alibi hatte«, sagte King.
»Genau«, bekräftigte Bailey, wobei er Williams einen triumphierenden Blick zuwarf.
»Keine schlechte Theorie, Chip«, meinte King.
»Danke. Ich habe auch meine lichten Momente.« Bailey stieg ins Auto und fuhr davon.