KAPITEL 84

»Und der Junge ist sicher, dass es sein Vater war?«, fragte King zum dritten Mal.

Die Ermittler saßen im Polizeirevier und erörterten die Ereignisse, die sich in der Nacht zuvor im Haus der Robinsons zugetragen hatten.

»Seiner Aussage nach ja«, antwortete Williams. »Und ich wüsste nicht, weshalb er lügen sollte.«

»Aber er hat auch gesagt, er hätte im Obergeschoss auf dem Treppenabsatz gestanden und hinunter ins Dunkel geschaut.«

»Sein Vater hat ein paar Worte mit ihm gewechselt«, erwiderte Williams. »Er nannte den Namen des Jungen, wusste über die Brüder Bescheid, dass einer von ihnen noch ein Kleinkind ist, und kannte sogar den Namen von Tommys Teddybär. Wer anders als der Vater soll es gewesen sein?« King gab keine Antwort; er lehnte sich zurück und spielte mit dem Stift in seiner Hand. »Und wir haben im Haus sämtliche Gegenstände gefunden, die man den vorherigen Mordopfern weggenommen hat«, fügte Williams hinzu.

»Sind Fingerabdrücke darauf?«, fragte King.

»Nein. Aber das überrascht mich nicht. Auch an den anderen Tatorten wurden keine Fingerabdrücke entdeckt.«

»Kommt mir seltsam vor, alle Beweise im eigenen Haus aufzubewahren. Warum sollte jemand es der Polizei so leicht machen?«

»Es war nicht leicht. Wir hatten verdammtes Glück, dass wir darauf gestoßen sind. Der Deputy hat die Sachen nur deshalb gefunden, weil auf dem Rohr die Abdeckung schief aufgeschraubt war, während sie bei den anderen Rohren korrekt saß. Er hatte im Keller nach Hinweisen gesucht, wie der Täter ins Haus gelangt sein könnte. Dabei ist ihm diese Unregelmäßigkeit aufgefallen.«

»Und welche Angaben macht Robinson?«

»Er habe das Haus um Mitternacht verlassen und sei auf halber Strecke nach D.C. gewesen, als der Anruf kam.«

»Hat er nirgends gehalten?«

»Nein. Ungefähr um die Tatzeit wurde er angeblich über das Handy seiner Frau auf seinem eigenen Handy angerufen. Wir haben das nachgeprüft. Es stimmt. Aber er könnte im Haus gewesen sein und selbst beide Handys benutzt haben.«

»Aber eingetroffen ist er erst eine Stunde später als die Polizei?«, meinte King mit hartnäckiger Skepsis.

»Er kann durch die Gegend gefahren sein, um sich ein Alibi zu verschaffen. Und er machte nicht den Eindruck, als würde der Tod seiner Frau ihm das Herz zerreißen. Er ist mit den Kindern ins Haus eines Verwandten abgezogen.«

»Und was für ein Motiv sollte er haben, alle diese Leute umzubringen?«

»Nun, er ist ein Serienmörder in Gestalt eines biederen Vaters und Ehemanns. Es wäre nicht der erste derartige Fall. Er hat seine Opfer ausgewählt und sie ermordet.«

»Und was ist mit der Beziehung zwischen Deaver, Canney und Battle?«

»Entweder purer Zufall, oder dieser Zusammenhang besteht gar nicht.«

»Und wie lautet die Theorie«, fragte King, »weshalb er seine Frau erschlagen hat?«

»Vielleicht war sie misstrauisch geworden«, gab Bailey zur Antwort. »Darum musste er sie beseitigen, bevor ihr Argwohn ihm gefährlich werden und sie ihn als Serienkiller entlarven konnte. Der Mann war häufig nachts auf den Straßen unterwegs – überaus günstig für einen Serienmörder. Gegenwärtig überprüfen wir, wo er sich während der verschiedenen Tatzeiten aufgehalten hat. Sicher, es war riskant, die Frau im eigenen Haus zu töten. Aber möglicherweise hatte er das Gefühl, keine andere Wahl zu haben. Hätte der kleine Junge ihn nicht gesehen, wäre nie ein Verdacht auf ihn gefallen.«

»Für mich ist die Sache klar«, sagte Williams. »Er ist der Täter.«

»Warum hat er seinen Sohn am Leben gelassen, obwohl der Junge ihn gesehen hat?«, fragte King.

»Vielleicht hat sogar ein solches Ungeheuer noch gewisse Hemmschwellen«, erwiderte Bailey. »Oder er dachte sich, sein Sohn ist im Halbschlaf und vergisst die kurze Unterhaltung. Oder dass niemand dem Jungen Glauben schenkt, wenn er davon redet. Sie sind doch Anwalt. Ein Strafverteidiger könnte mit einem kindlichen Zeugen Schlitten fahren.«

King schwieg verdrossen. Bailey beobachtete ihn aufmerksam. »Ihre Partnerin hat erwähnt, Sie hätten gesonderte Nachforschungen betrieben. Haben Sie was herausgefunden?«

In der Frage des FBI-Agenten klang gerade genug Häme an, um bei King den Wunsch zu wecken, den Mann zu erwürgen. Als würde Michelle es spüren, legte sie ihm beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. »Nur die Ruhe«, flüsterte sie.

»Ist das die Stelle, wo ich sagen muss: Du kannst mich mal, Michelle?«, raunte King, stand auf und sagte: »Nun, wenn er der Täter ist, gratuliere ich Ihnen. Halten Sie uns auf dem Laufenden.« Er holte sein Deputy-Abzeichen heraus. »Soll ich die Dienstmarke abgeben, Chef?«

»Nein. Offiziell ist der Fall noch nicht abgeschlossen. Erst brauchen wir ein Geständnis oder weitere Indizien.«

»Gut, momentan ist es mir nämlich recht, Deputy zu sein. Es könnte sich vorteilhaft auswirken.«

Er verließ das Konferenzzimmer.

»So was nennt man kollegial«, sagte Bailey.

Sofort fühlte Michelle sich zu Kings Verteidigung bemüßigt. »Es steht noch nicht mit absoluter Sicherheit fest, dass Robinson der Täter ist.«

»Aber es kann nicht mehr lange dauern«, entgegnete Bailey.

Michelle stand auf, um ebenfalls zu gehen.

»Ach, Michelle«, fügte Bailey hinzu, »seien Sie doch so nett und informieren Sie uns auch weiterhin über die Fortschritte, die Sie beide machen. Ganz bestimmt erweisen sie sich als bahnbrechend für die Ermittlungen.«

»Das ist die geistreichste Bemerkung, die ich von Ihnen gehört habe, seit ich Sie kenne, Chip.«

Michelle folgte King auf dem Weg nach draußen. »Was denkst du?«, fragte sie ihn.

»Sollen sie Robinson doch einsperren. Im Gefängnis ist er wahrscheinlich sicherer.«

»Aber du hältst ihn nicht für den Täter?«

»Ich weiß, dass er nicht der Täter ist.«

»Dann kennst den wahren Mörder?«

»Ich komme ihm allmählich auf die Spur. Hast du eine Gelegenheit gefunden, noch mal mit den Battles zu sprechen?«

»Bis jetzt nicht. Soll ich es trotzdem versuchen?«

King überlegte einen Moment, wobei er mit den Fingern auf die Motorhaube ihres Wagens trommelte.

»Nein, wir kürzen das Verfahren ab. Die Zeit wird immer knapper.«

»Du meinst, dass der Kerl weitermordet?«

»Er hat alles so arrangiert, dass die Polizei denkt, der Mörder säße im Knast. Das ist sozusagen sein Abgesang. Allerdings besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Robinson für mindestens einen der Morde ein Alibi hat. Aber je länger wir warten, umso geringer wird die Aussicht, den wahren Mörder zu überführen.«

»Warum soll Robinson hinter Gittern bleiben, wenn der wahre Täter deiner Meinung nach nicht die Absicht hat, weitere Morde zu begehen?«

»Würde man Robinson freilassen, würde man ihn sehr bald mit einer Kugel im Kopf in einer Gasse finden, da bin ich sicher. Und in seiner kalten, toten Hand hält er gut sichtbar einen Zettel, auf dem fein säuberlich steht: Ich war es.«

»Und was fangen wir nun an?«

King öffnete die Tür des Wagens. »Es ist höchste Zeit, dass wir zuschlagen. Wollen wir hoffen, wir treffen ins Schwarze.«

Mit jedem Schlag der Stunde
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