KAPITEL 68

King wälzte sich unruhig im Bett und stöhnte leise, während das Hausboot kaum merklich schaukelte. Glut tobte in seinem Hirn. Dennoch erwachte er nicht. Aber ihn quälte kein Albtraum. Sein Körper wurde nach und nach der Fähigkeit beraubt, Sauerstoff aufzunehmen. Langsam und lautlos nahte der Tod.

Michelles Scheinwerfer durchstachen die Dunkelheit, als sie den Wagen zur Anlegestelle lenkte, hielt und ausstieg. Dann eilte sie die Treppe zum Hausboot hinunter.

»Sean?«, rief sie und klopfte an die Tür des Boots. »Sean?« Sie blickte sich um. Sein Auto stand am Ufer. Er musste daheim sein. »Sean?«

Michelle rüttelte am Türgriff. Die Tür war abgesperrt. Auf dem Laufgang umrundete sie das Hausboot und spähte durch ein Fenster ins Innere. Sehen konnte sie allerdings nichts. Sie pochte an das Fenster, von dem sie wusste, dahinter lag sein Schlafzimmer.

»Sean?« Sie glaubte, Geräusche zu hören, und lauschte angestrengter.

Es war ein Stöhnen.

Michelle rannte zurück zur Tür und stemmte die Schulter dagegen, doch das Schloss gab nicht nach. Sie trat zurück und versetzte der Tür einen wuchtigen Tritt, sodass das Schloss aus dem Türrahmen gesprengt wurde. Mit gezückter Waffe stürmte Michelle ins Innere. Sofort verspürte sie Beklemmung, und ihre Furcht wuchs sich zur Panik aus. Während sie durch das dunkle Hausboot irrte, fühlte sie plötzliche Kälte in den Gliedern. Mehrere Male stolperte sie, bis sie einen Kippschalter fand. Schlagartig vertrieb helles Licht die Finsternis.

»Sean?«, rief Michelle. »Sean?«

Sie fand ihn und versuchte ihn zu wecken, doch er kam nicht zu sich. Obwohl sie selbst immer mühsamer atmete, zerrte sie ihn aus dem Bett, durchs Schlafzimmer und durch das Hausboot ins Freie. Dann lag er reglos auf dem Deck, das Gesicht kirschrot verfärbt. Kohlenmonoxidvergiftung. Sie beugte sich über ihn, strich sich das Haar aus der Stirn und machte sich an eine Mund-zu-Mund-Beatmung.

»Atme, Sean, atme! Du sollst atmen!«

Unaufhörlich blies sie ihm Luft in die Lungen, bis ihr vor Anstrengung schwindelte. Trotzdem ließ sie nicht nach.

»Atme! Los doch, Sean, bitte! Tu’s für mich! Tu mir das nicht an! Komm schon, du Mistkerl, atme!«

Sie fühlte seinen Puls; dann streifte sie sein T-Shirt hoch und lauschte auf seinen Herzschlag. Er war kaum noch zu hören. Nochmals blies sie Luft in seine Lungen; dann opferte sie wertvolle Sekunden, um die Polizei anzurufen. Anschließend mühte sie sich weiter mit der Beatmung ab. Für den Fall eines Herzstillstands bereitete sie sich innerlich auf Herzmassage vor. Aber noch schlug das Herz, sie konnte es hören. Würden nur seine Lungen wieder arbeiten! Michelle beatmete ihn, bis sie selbst das Bewusstsein zu verlieren drohte.

Endlich zeigte sich Wirkung. Sein Brustkorb hob und senkte sich, unmerklich zuerst, dann kräftiger und regelmäßiger, und allmählich wich die rote Färbung aus seinem Gesicht. Michelle eilte ins Hausboot, holte Wasser und spritzte ihm etwas auf die Wangen. Wo blieb der Notarzt? Eigentlich müsste er schon da sein. Kings Zustand besserte sich zwar, doch jederzeit konnte es zu einem Rückfall kommen. Und wenn er längere Zeit unter Sauerstoffmangel gelitten hatte, bestand die Gefahr, dass er sich eine Hirnschädigung zugezogen hatte. Rasch verdrängte Michelle diesen erschreckenden Gedanken.

Sie schüttete ihm das restliche Wasser ins Gesicht, richtete sich auf, um neues zu holen, senkte den Blick – und erstarrte. Zwischen ihren Brüsten sah sie den Laser-Punkt einer Waffe, die auf ihr Herz zielte.

Doch nun kannte sie kein Zögern mehr. Sie war es leid, sich von einem Mörder, der ihnen stets einen Schritt vorausblieb, zur Närrin machen zu lassen. Blitzartig sprang sie zur Seite, riss gleichzeitig die Pistole heraus und feuerte. Sie leerte das ganze Magazin, streute die Schüsse in weitem Umkreis, um auf diese Weise den Killer zu treffen, der so vielen Menschen so viel genommen hatte.

Michelle rollte sich ab und kam hinter dem Schanzkleid des Hausboots zu liegen. Mit fliegenden Fingern zog sie das leere Magazin aus der Waffe und schob ein Reservemagazin hinein. Mit einem Ruck lud sie durch und spähte übers Schanzkleid. In diesem Moment hörte sie Schritte, die sich rasch entfernten. Gerade wollte sie die Verfolgung aufnehmen, als King ein lautes Stöhnen ausstieß. Michelle eilte an seine Seite. Sämtliche Gedanken an den fliehenden Mörder verflogen. King versuchte sich aufzusetzen. Er atmete stoßweise. Einen Moment später musste er sich heftig übergeben. Michelle tauchte einen Lappen ins Wasser des Sees und wischte ihm das Gesicht ab, während sie ihn fest an sich drückte.

»Bleib sitzen, Sean, bleib sitzen, es wird alles gut. Ich bin da. Lehn dich an. Ich passe auf dich auf.« Sie versuchte die Tränen des Glücks zurückzuhalten, ließ ihnen dann aber freien Lauf, während sie ihren Partner in den Armen hielt.

»Was ist geschehen?«, fragte King mit matter Stimme. »Verdammt, was ist passiert…?«

»Später. Der Notarzt ist unterwegs.«

Benommen schaute King sie an, während sie seinen Kopf in ihren Schoß bettete.

»Bist du wohlauf?«, fragte er matt.

Da erst bemerkte Michelle, dass ein Schuss sie getroffen hatte. Sie spürte keinen Schmerz – noch nicht –, sah aber das Blut, das an ihrem Arm hinunterrann. Sie betastete das Loch im Ärmel der Bluse, wo das Geschoss eingedrungen war. Offenbar nur ein Streifschuss; die Kugel schien nicht im Arm zu stecken. Michelle riss den unteren Teil des Ärmels ab und wickelte den Fetzen straff um den Arm, um die Blutung zu stillen.

»Michelle – alles klar?«, fragte King, diesmal dringlicher, obwohl er inzwischen die Augen geschlossen hatte.

»Mir ging es noch nie besser«, log sie.

Mit jedem Schlag der Stunde
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