KAPITEL 57
Auf dem Weg zu den Ställen sah King, dass sich ihm eine Reiterin näherte. Allerdings war es nicht Sally, sondern Savannah, die auf einem großen Wallach mit zwei weißfleckigen Vorderbeinen saß.
Savannah zügelte das Pferd und saß ab. Sie trug Jeans, Reitstiefel und eine Kordjacke.
»Ein schöner Tag zum Ausreiten«, stellte King fest.
»Ich kann dir ein Pferd satteln.«
»Ich bin seit langem nicht mehr geritten.«
»Ach, hör auf. Mit dem Reiten ist es doch wie mit dem Radfahren.«
King wies auf sein Sakko und die lange Stoffhose. »Dummerweise bin ich unpassend gekleidet. Wie wär’s ein andermal?«
»Na klar«, antwortete Savannah, obwohl sie sichtlich bezweifelte, dass er auf das Angebot zurückkommen würde.
»Ich schwatze nicht nur so daher, Savannah. Es ist mir ernst.«
»Fein. Willst du zu meiner Mutter?«
»Ich war schon bei ihr. Leider war es ein kurzes Gespräch.«
Savannah konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Und das wundert dich?«
»Nein, aber ich bin wohl ein unverbesserlicher Optimist.« Er schaute sich um. »Hast du Sally gesehen?«
»Sie ist drüben in der Stallung«, antwortete Savannah und zeigte über Kings linke Schulter hinweg. »Warum?«
»Ich habe mich bloß gefragt, wo sie steckt.«
Argwöhnisch betrachtete Savannah ihn; dann zuckte sie mit den Schultern. »Vielen Dank, dass du dich nach der Bestattung ein wenig mit mir zusammengesetzt hast.«
»War mir ein Vergnügen. Ich weiß, wie schwer das alles für dich gewesen ist.«
»Wahrscheinlich wird es noch schwieriger. Der FBI-Agent war wieder hier.«
»Chip Bailey? Was wollte er?«
»Natürlich erfahren, wo ich war, als Vater ermordet wurde.«
»Das ist bloß eine Standardfrage. Was hast du ihm gesagt?«
»Dass ich daheim war, in meinem Zimmer. Gesehen hat mich niemand, soviel ich weiß. Ich bin wohl eingeschlafen. Jedenfalls habe ich nicht gehört, dass meine Mutter hereingekommen wäre. Erst nach ihrer Rückkehr aus der Klinik wurde ich über Vaters Tod informiert.«
»Es erstaunt mich, dass sie dich nicht mitgenommen hat, nachdem die Klinik angerufen hatte.«
»Mein Schlafzimmer ist im zweiten Stock – im Verhältnis zu ihrem Zimmer praktisch am anderen Ende des Gebäudes. Und ich gehe oft abends aus und komme erst spät heim. Sie wird angenommen haben, ich sei fort, und hat sich die Suche erspart.«
»Du solltest dir nicht so viele Nächte um die Ohren hauen. Das ist schlecht für den Teint.«
»Macht nichts, solange ich noch den Schwung dazu habe. Schlapp und langweilig kann ich noch viele Jahre lang sein.«
»Ich bezweifle sehr, dass dich irgendwer jemals für schlapp halten wird. Hast du für die Zukunft denn schon irgendwelche Entscheidungen getroffen?«
»Mir liegt ein Stellenangebot einer großen Ölfirma vor, als Außentechnikerin tätig zu werden. Allerdings müsste ich nach Übersee. Ich denke noch darüber nach.«
»Auf alle Fälle wärst du die schönste Außentechnikerin, die man je gesehen hat.«
»Wenn du weiter so redest, komme ich noch auf den Verdacht, dass du ein Auge auf mich geworfen hast.«
»Ich bezweifle, dass ich dir gewachsen bin.«
»Vielleicht würdest du eine Überraschung erleben, Sean.«
Während Savannah ihres Weges ritt, folgten ihr Kings Blicke. Zeitweilig hatte er ihr besonderes Talent vergessen: Chemie. Und sie hatte – wie viele andere Beteiligte dieses bizarren Falls – kein Alibi für den Zeitpunkt, als man ihren Vater ermordet hatte. Und doch betraf dieser Fall nur einen Mord und einen Mörder. Was trieb der andere Täter zurzeit? Arbeitete er darauf hin, die Liste seiner Opfer zu verlängern?
King traf Sally im Stallgebäude an, wo sie gerade Mist aus den Boxen schaufelte.
Sie stützte sich auf den Stiel und wischte sich die schweißnasse Stirn.
»Wie ich gesehen habe«, sagte King, »reitet Savannah wieder.«
Sally senkte den Blick auf die Schaufel. »Ich habe nie erlebt, dass sie sich um diesen Teil der Pferdehaltung gekümmert hätte.«
King beschloss, unumwunden zur Sache zu kommen. »Ich habe dich am Grab beobachtet.«
»Mr Battle hatte einen großen Bekanntenkreis. Es waren massenhaft Leute da.«
»Nein, ich meine Junior Deavers Grab.«
Sally erstarrte. »Junior Deavers Grab?«, wiederholte sie.
»Wenn du keine eineiige Zwillingsschwester hast, hast du an seinem Grab gebetet.« Sally schaufelte weiter, während King sie musterte. »Du kannst es mir oder dem FBI erklären, es liegt ganz bei dir.«
»Ich habe keinen blassen Schimmer, wovon du redest, Sean. Weshalb sollte ich an Junior Deavers Grab beten? Ich habe dir doch erzählt, dass ich den Mann kaum kannte.«
»Darum frage ich dich ja ein zweites Mal, denn offenbar hast du ihn doch gekannt.«
»Du irrst dich.«
»Bist du sicher?«
»Ich habe heute noch einen Berg Arbeit vor mir.«
»Na gut, es ist deine Sache. Kennst du einen guten Anwalt?«
Sally stellte das Schaufeln wieder ein und sah King furchtsam an. »Wozu brauche ich einen Anwalt? Ich habe nichts Unrechtes getan.«
King nahm ihr die Schaufel aus der Hand und stellte sie zur Seite. Dann rückte er dicht an Sally heran und drängte sie gegen den Schlag einer Pferdebox. »Lass mich die Sache ganz klar ausdrücken: Wenn du wissentlich Informationen über Junior Deavers Tod oder den Einbruch verschweigst und nicht den Behörden meldest, begehst du ein Verbrechen, auf das Gefängnis steht. Und sobald du angeklagt wirst, brauchst du einen Rechtsanwalt. Falls du keinen Anwalt kennst, kann ich dir ein paar fähige Leute empfehlen.«
Sally schien jeden Moment in Tränen auszubrechen.
»Ich weiß nichts, Sean«, jammerte sie.
»Dann hast du auch keinen Grund zur Besorgnis. Aber wenn du mich anlügst, könntest du im Knast enden.« King reichte ihr die Schaufel zurück. »Da gibt’s zwar keine Pferde, aber auch viel Dreck, allerdings von der menschlichen Sorte.« Er zückte ein Kärtchen und steckte es Sally unter das Schweißband des Hutes. »Solltest du einsehen, dass ich Recht habe, wenn du darüber nachgedacht hast, ruf mich an. Ich kann dir helfen.«
Als er sich abwandte, nahm Sally das Kärtchen zur Hand und warf einen Blick darauf. Ihre Miene spiegelte Ratlosigkeit.