Günter Braun Johanna Braun

Briefe, die allerneueste Literatur betreffend

Sehr geehrter Herr Aristodemos,

Sie meinen, es gehöre kein Mut dazu, sich mit einem um 2400 Jahre Jüngeren in ein Gespräch einzulassen, und ich bewundere Ihre Gelassenheit, mit der Sie so leichthin bemerken, daß, solange Menschen auf der Erde leben, sie sich auch menschlich verhalten werden, das wäre auch in 5000 Jahren nicht anders, und wenn sie sich anders verhielten, wären sie eben keine Menschen, sondern andere Lebewesen; Sie räumen ein, daß dann ein Dialog eventuell schwierig werden könnte. Schwieriger hätte ich es, der sich um 2400 Jahre zurückversetzen muß, denn wie es wirklich gewesen war, so Ihre Theorie, das weiß nachher keiner mehr genau, während die Zukunft immerhin eine Anzahl Möglichkeiten böte. Mag man die Zeiten vor- oder zurückverschieben, was ja seit der Erfindung der Zeitmaschine durch einen gewissen H. G. Wells theoretisch kein Problem mehr ist… Ach ja, Sie sind mir auch da schon ins Wort gefallen, wie ich gerade lese, indem Sie behaupten, bei Ihnen wäre es sogar praktisch möglich gewesen, mittels Ihrer vielen Zukunftsdeuter, Wahrsager und Orakelverkünder einen Blick in die Zukunft zu werfen und natürlich auch zurück, und so habe dieser H. G. Wells nichts Besonderes geleistet, sondern nur wieder einmal alte Ware neu verpackt. Lassen wir das. Tun wir so und sprechen wir so, als wären wir beide präsent, die Gegenwart wäre doch eine Zeitebene, auf der wir uns verständigen könnten. Aber da finden Sie als sokratischer Dialektiker wieder einen Einwand. Eine Gegenwart ist ja schon, kaum ist das Wort ausgesprochen, keine Gegenwart mehr. Ich glaube, es wird schwierig sein, mit Ihnen zu verkehren.

Wie ich auf Ihren Namen gekommen bin?
Ich stieß beim Lesen der Schrift des Herrn Platon »Das Gastmahl« auf Sie. Sie waren es, der über die damaligen Vorgänge, nach unserer Zeitrechnung handelt es sich um das Jahr 416 vor, so anschaulich berichtete, Herr Platon schrieb es nachher auf. Sie gaben die dort gehaltene Rede des Lustspieldichters Aristophanes wieder, wir würden ihn heute Stückeschreiber nennen, aber besonders lebendig schilderten Sie, wie das Gastmahl zu Ende ging. Ich will es Ihnen noch einmal ins Gedächtnis rufen.
Die meisten Gäste sind bereits betrunken, von draußen brechen wie zufällig neue herein, die Stimmen werden lauter und unartikulierter, dann wird es zeitweise still, als ob das Ende der Zecherei angebrochen wäre, plötzlich kommt neuer Lärm auf. Das Auf- und Abschwellen der Lautstärke geht noch lange, wie es am Ende solcher Gelage immer ist.
Einige aber sind in ein Gespräch vertieft. Abgesondert von der Mehrheit, erörtern sie ihre Probleme, stetig dabei trinkend. Das sind, wie Sie berichteten, der Tragödiendichter Agathon, der aus Anlaß seines Tragödien-Sieges geladen hatte, Aristophanes und der Philosoph Sokrates. Der Morgen bricht an, die Lerchen singen schon, die drei gießen sich aus einem großen Krug Wein ein, sie diskutieren, und sie stimmen darin überein, daß ein Dichter sowohl die Komödie als auch die Tragödie meistern soll. Sokrates hat sie dazu überredet, und Sie lassen offen, ob Aristophanes und Agathon dem trinkfesten Philosophen überhaupt noch folgen können. Zuerst sei dann Aristophanes eingeschlafen, danach Agathon. Sokrates überhaupt nicht, er brachte die beiden zur Ruhe, stand auf, ging ins Lyzeum, badete dort und legte sich erst gegen Abend hin. Sie wären ihm gefolgt.
Nun meine ich, einer, der so wie Sie an allem mit wachem Sinne teilhatte, wäre dazu berufen, mit mir über diesen Aristophanes zu diskutieren. Leider wissen wir heute trotz unserer Fähigkeit, uns theoretisch in andere Zeiten vor- oder zurückzuversetzen, sehr wenig über ihn. Man erzählt, er soll so um 445 vor geboren sein und nach 388 gestorben, wohl in Athen, er soll auch Land auf der Insel Aigina besessen haben, zeitweise in Athen Ratsherr gewesen sein, ein Sohn wurde Schauspieler. Welche Frauen er liebte, wie er lebte vor allem wovon, das ist unbekannt. Sein Leben liegt im Nebel. Dagegen lassen seine Ansichten, seine Meinungen, seine Entwürfe von Gegenwelten nichts an Deutlichkeit übrig.
Heute nennt man Literatur, die andere Welten entwirft, utopische Literatur, unter anderem, es gibt viele Namen dafür. Das Wort Utopia, das zwar aus dem Griechischen zusammengesetzt wurde, wird Ihnen unbekannt sein, es ist eine neulateinische Bildung und erst im Mittelalter aufgekommen. Herzlich Ihr Klaus Meier

Dionysien 423

Lieber Freund Klausmeier,
es ist also doch nicht so einfach für Sie, sich zurückzuversetzen, denn nach Ihrer Zeitrechnung, wenn ich mich nicht täusche, befinde ich mich erst im Jahre 423. Da können Sie nicht von einem Gastmahl reden, das erst 416 stattfinden wird, und es kommt hinzu, daß mir sowohl ein Herr namens Platon als auch einer namens Agathon unbekannt ist. Immerhin freut es mich zu hören, daß es die besagten Menschen einmal geben wird. Und daß ich an einem Gastmahl mit meinem geliebten Lehrer Sokrates teilnehmen werde, auch zusammen mit diesem Aristophanes, der auf dreckige Weise meinen verehrten Sokrates in seinem Machwerk »Die Wolken« in den Schmutz gezogen hat.

Ich war dabei, und ich muß Ihnen sagen, daß dieser Sokratesverleumder nun auch noch die Frechheit besaß, in diesem Sudelstück ethische, künstlerische – oder wie man sie auch nennen mag – Gebote zu verkünden, und das Widerwärtige erscheint mir dabei, daß eine ethische Verkündung Hand in Hand ging mit einer Verleumdung des Sokrates. Das kann ich nun am besten beurteilen. Sokrates hat nie etwas mit diesen hier überall ihr Unwesen treibenden Sophisten, diesen Wortumdrehern, im Sinne gehabt, sondern seine ganze Tätigkeit richtet sich ja eben gegen diese Leute, indem er sie zur Rede stellt, sie der Begriffsverwirrung und der philosophischen Taschenspielerei überführt. Das ist sein Lebensinhalt, Athen von diesen käuflichen Wort- und Rechtsverdrehern zu befreien. Wie kann man da so niederträchtig sein und gerade ihm das Gegenteil von dem anlasten, was er in Wirklichkeit tut. Aber die Athener haben es dem Aristophanes gezeigt. Nach der Aufführung des Stückes erhob sich Sokrates im Theater, er wollte, daß sie ihn mit dem von A. Ausgedachten verglichen. Sokrates erhielt großen Beifall. Das verantwortungslose Schundstück dieses – wie nennt er sich doch gleich – fiel durch. Das kommt davon, wenn man sich als Verkünder ethischer Gebote aufbläst, selbst aber diesen Grundsätzen entgegenhandelt. Ich möchte bloß wissen, was Sie an diesem drittklassigen Schreiberling finden. Für völlig unglaublich halte ich Ihre Prophezeiung, Sokrates und ich würden mit ihm einige Jahre später bei einem Symposion zusammen dialogisierenderweise an einem Tisch sitzen. Ich fürchte, die Menschen werden die Kunst des Wahrsagens in Ihrem Zeitalter verlernt haben.

Die Bezeichnung Utopia finde ich scheußlich, und wenn Sie davon sprechen, daß es bei Ihnen jetzt eine Literatur gibt, die solche Utopias schildert, dann ist mir das vollkommen unverständlich. Ich fürchte, die Menschheit wird in den kommenden Jahrtausenden nicht nur das Wahrsagen, sondern auch das Denken verlernen. Utopia bedeutet Nichtland, und utopische Literatur also Nichtlandsliteratur, also eine Literatur ohne Umgebung, ohne Atmosphäre, damit ohne Menschen, ohne Charaktere und schließlich ohne Sprache. Falls sie überhaupt schreibbar ist, kann ich mir vorstellen, daß da keine Lerchen singen, keine Blumen blühen, keine Kinder spielen, keine außergewöhnlichen Leute herumlaufen wie mein Lehrer Sokrates, und menschliche Wesen, falls es die da überhaupt gibt, werden den Schatten der Unterwelt gleichen. Wie soll da geliebt werden? Die Frauen werden keinen Busen haben und die Männer keinen Phallos.

Ihr Aristodemos

Lieber Aristodemos,
nun halten Sie mal die Luft an. Sonst wären Sie für mich ein
Beweis dafür, daß große Dichter von ihren Zeitgenossen verkannt werden, weil diese zu beschränkt sind und nicht über
ihren täglichen Kleinkram hinwegsehen können.
Ich finde es sehr gut, wie Aristophanes seine literarische
Arbeit auffaßt. Lassen Sie es sich von mir, dem 2400 Jahre Jüngeren, noch einmal ins Gedächtnis rufen. Er erklärte sinngemäß:
»Umsonst baute ich darauf, daß meine Zuschauer etwas
von der Komödie verstünden, aber was für Stücke haben sie
heute wieder bevorzugt? Und mit Preisen bedacht? Billiges,
albernes Zeug. Ich würde es als Betrug empfinden, nur um die
Zuschauer zum Lachen zu bringen, die alten, immer wieder
aufgewärmten Späße hervorzuholen, als da sind: die angenähten, dicken baumelnden Schwänze, mit denen man vielleicht
kleine Kinder erschrecken kann. Ich will auch nicht dauernd
über Glatzköpfe lachen lassen oder über tapernde Greise, genausowenig wie ich es lustig finde, wenn die da auf der Szene
wie Verrückte herumhopsen und juhu schreien. Das soll lustig
sein?
Wenn ich auf etwas vertraue, dann auf das Epische.« Und lassen Sie mich, lieber Aristodemos, erklären, was Aristophanes mit diesem Begriff meint: Das, was die Worte ausdrücken oder erzählen, wie es die Worte sagen und schließlich
welch Geschehen sie wiedergeben, das, was mittels Worten
berichtet wird, dem Gang der Handlung nach, der Geschichte
also, aber auch der Art und Weise, wie die Worte es auszudrücken vermögen und welchen Sinn sie hineinzulegen imstande sind.
»Ich will auch nicht«, fuhr A. fort, »zwei- oder dreimal dasselbe bringen. Immer versuche ich außergewöhnliche, bisher
unbekannte, auch ungewohnte Ideen vorzustellen. Kein Charakter soll dem anderen gleichen, sie sollen unterschieden
sein.«
Und: »Als ich zum Beispiel dem Kleon auf den Bauch getreten habe, habe ich es als erster getan. Nachdem er aber gefallen ist, kein Wort mehr über ihn. Andere Schreiber jedoch finden da kein Ende. Wenn sie einmal eine Figur zur Zielscheibe
genommen haben, zum Beispiel diesen Lampenfabrikanten
Hyperbolos, können sie sich nicht mehr bremsen, auf seiner
Mutter trampeln sie schon herum. Wenn einer ein Stück auf
diesen armen Hyperbolos gemacht hat, kommen die anderen
und machen wieder Stücke auf ihn, das wird dann zur Mode. Wenn aber die Zuschauer über alte Hüte immer wieder und
wieder lachen, dann will ich ihren Beifall nicht haben.« Gerade das habe ich mir notiert, weil ich solche Prinzipien
auch für eine utopische Literatur für wünschenswert halten
möchte. Denn ich trage Sorge, daß belletristische Literatur zur
Fachliteratur werden könnte. Der spezialisierte Autor zieht
auch den spezialisierten Leser nach sich. Und es wäre denkbar, daß eine Sparte utopische Literatur sich wiederum in Untersparten teilte, etwa in Weltraum-, in biologische Verwandlungs-, in Zeitmaschinenutopie. Dann gäbe es zum Beispiel
Spezialisten für utopische Zeitmaschinenliteratur. Eine solche
Sektenliteratur wird eine entfremdete Literatur, die dann nur
Eingeweihten verständlich bleibt. Eine Sekte erklärt ja ihre Lebensmaxime als alleingültig. Alles andere, was diese ihre
Hauptmaxime nicht berührt, ihr entgegensteht, wird ausgeklammert, weggeschnitten, sogar verketzert. Sektenmitglieder
unterliegen einem Kastrationskomplex, der ihnen die sinnliche
Befriedigung ersetzt. Gegen solche leider nichtutopischen
Möglichkeiten sehe ich den von uns verehrten A. als Heilmittel.
Ich möchte nicht auf dem Begriff utopische Literatur beharren, denn, lieber Aristodemos, ich lebe in einem Land, in dem
die Leute die Neigung haben, sich allzugerne auf haargenaue
begriffliche Bestimmungen einzulassen, wobei sie sich so sehr
im einzelnen verfisseln, daß sie die Hauptsache aus dem Auge
verlieren. Nennen wir sie Literatur, die Phantasiewelten
schafft: andere Welten, Gegenwelten entwirft oder große Erfindungen vorwegzunehmen versucht. Ihr Klaus Meier

Dionysien 420

Lieber Freund Klausmeier, ich halte Ihnen ja zugute, daß Sie als der 2400 Jahre Jüngere
nicht über Ihren Schatten springen können und Sie in diesem
A. nach so langer Zeit eine große Persönlichkeit sehen, die er
gar nicht gewesen ist. Wir betrachten ihn mit den nüchternen
Augen der Gegenwart. Was er da an ethischen Absichten verkündete, mag sich edel anhören, ist aber Eigenloberei. Und Sie
werden doch nicht die Weisheit vergessen haben, daß Eigenlob stinkt. Denken Sie doch an diese armseligen Regierungen,
wir haben genug davon hinter uns, die dauernd mit ihren angeblichen Erfolgen prahlen.
Sokrates und seine Leute finde ich kühner, indem sie diese
Prahlhänse der Eigenverdienste Auge in Auge zur Rede stellen. Sind Ihnen da keine Beispiele mehr überliefert? Was soll da diese Verjüngungsgeschichte namens »Geras«,
die A. gerade aufführen ließ. Ist es überhaupt wünschenswert,
daß sich die Menschen verjüngen lassen? Und was heißt das
überhaupt, verjüngen? Sind Sie, der um 2400 Jahre Nachgeborene der Jüngere, oder sind Sie der Ältere? Als Einzelwesen
betrachtet, mögen Sie der Jüngere sein, als Teil der Menschheit
sind Sie jedoch der Ältere, denn die Menschheit ist um 2400
Jahre älter geworden. Da kommen die Begriffe jünger oder
älter durcheinander.
Sich verjüngen zu lassen, bedeutet das nicht, auf Erfahrungen zu verzichten und letzten Endes auf Weisheit? Und wie ist
es in Wahrheit? Die Jungen würden gern älter sein und die
Alten gern jünger. Weise aber will keiner sein.
Doch zurück zu A. So spielt also dieser Viel- und Schnellschreiber mit menschlichen Wunschvorstellungen, ohne dabei
zu berücksichtigen, daß diese unreif und unbedacht sind. Das
nenne ich verantwortungslos.
Ich will Ihnen da noch ein Beispiel vorführen. In seinem albernen Reißer »Der Frieden« läßt er den Bauern Trygaios mit
einem Mistkäfer zum Olymp fliegen, um die Friedensgöttin
auf die Erde zu holen. Was können die Menschen nicht alles
schon: laufen, reiten, fahren, sich fahren lassen, tauchen,
schwimmen? Nur fliegen möchten sie noch.
Es klingt zunächst einleuchtend. Wenn man Pferde vor einen Wagen spannen kann, um sich ziehen zu lassen, warum sollte man nicht auch Vögel mit Leinen vor einen Korb spannen, sich reinsetzen und in die Lüfte ziehen lassen. Mehrere kräftige Vögel wie Adler müßten das schaffen. Es wäre ein Problem der Abrichtung. Schließlich ist es schon gelungen, Vögel für die Jagd abzurichten. So denkt das ungebildete Volk, und Aristophanes, auf Beifall erpicht, löst das Problem. In seiner Komödie. Es war im Theater sehr schön anzusehen, wie sich der Trygaios auf den Mistkäfer setzte und in die Luft stieg, mittels eines Strickes, der, vielen unsichtbar, vom Kran in die Höhe gehoben wurde. Viele glaubten da, der Schauspieler fliege wirklich. Wir Philosophen aber sehen das wissenschaftlich, wir kennen das physikalische Gesetz, alles Leichte steigt nach oben, und da der Mensch nicht leicht ist, auf keinen Fall leichter als die Luft, ist es unmöglich für ihn, zu fliegen. Aber ein phantasternder Komödienschreiber darf natürlich in seinen Stücken solche Naturgesetze mißachten. Da fliegt eben der Mensch, auch wenn es wissenschaftlich unmöglich ist. Da
wird eben XY verjüngt. Weil es die Zuschauer gerne sehen. Wenn Sie schon den Begriff utopische Literatur prägten,
dann ist die Schreiberei dieses A. eine solche, eine Unliteratur,
eine Nichtliteratur, die sich nur durch eins auszeichnet, durch
die Anmaßung, Literatur sein zu wollen.
Ihr Aristodemos

Lieber Aristodemos,
auch Sie waren mit Ihrer Wahrsagekunst nicht auf der Hö
he. Die Menschen können heute fliegen, sogar auf den Mond.
Und ich möchte behaupten, auch dank Ihrem so verketzterten Aristophanes. So wissenschaftlich Ihre These, alles Leichte steige nach oben, auch klingen mag, im Grunde genommen ist
sie nach heutigen Erkenntnissen unhaltbar.
Haltbar dagegen die Phantasterei des A. sowohl was das
Fliegen als auch was die Verjüngung betrifft, denn die durchschnittliche Lebenserwartung des Menschen liegt heute höher
als zu Ihren Zeiten.
Ich möchte Ihnen sehr gerne das Erlebnis eines Fluges vermitteln, Sie sollten dabei wählen dürfen zwischen einem Ballonflug, einem Segelflug oder dem Flug in einer Maschine, die
1000 Kilometer in einer Stunde zurücklegt. Soweit wir es aus
unserem Jahrtausend zurückverfolgen können, war Fliegen
ein Traum des Menschen, ich denke nur an die Geschichte von
Dädalus und Ikarus, ein Traum, den die Dichter nährten. Und
so sagt uns dieser A. etwas. Ich kann aber nicht glauben, daß
er Ihnen nichts gesagt haben soll. Ihr Klaus Meier

Dionysien 414

Lieber Freund Klausmeier, im Grunde genommen berührt mich die Frage überhaupt
nicht, ob die Menschen fliegen können oder nicht, sie ist letzten Endes zweitrangig. Denn für uns ist wichtig, ob der
Mensch weiser geworden ist oder nicht. Einem Unweisen
nützt Fliegenkönnen nichts. Ich möchte es Ihnen wirklich nicht
unterstellen, ich will mich auch nicht bemühen, so weit in die
Zukunft zu schauen, aber ich könnte mir denken, daß unweise
Menschen das Fliegen mißbrauchten, um Gift oder Feuer auf die unter ihnen befindlichen Städte und Menschen zu werfen. In einem Kriege. Und solange die Menschen noch nicht weise geworden sind, werden mehr Fluggeräte, das kann ich Ihnen ohne ein Orakelzeichen weissagen, für Vernichtungszwecke gebraucht werden als zum In-der-Luft-Herumfliegen, etwa um
sich an der Schönheit der Welt zu erfreuen.
Mittlerweile ist das eingetreten, was Sie vorausgesagt haben. Sokrates und auch ich haben tatsächlich mit dem bis dahin verabscheuten Aristophanes an einer Tafel gesessen und
auf den Sieg des Dichters Agathon getrunken. Und wir hatten
sehr gute Dialoge an dem Abend. Mein Lehrer Sokrates und
ich stimmen darin überein, daß Aristophanes in der letzten
Zeit eine Entwicklung durchgemacht hat, er wird weiser, und
das kann auch nicht anders sein, seit er unter unseren Einfluß
geraten ist.
Mit seinem Stück »Die Vögel« hat er endlich einen Versuch
unternommen, eine richtige Gegenwelt zu entwerfen. Wenn es
ihm auch noch nicht gelungen ist, aber man braucht die Hoffnung nicht mehr aufzugeben, daß aus ihm noch ein nützlicher
Dichter wird.
Zwei Athener, des Lebens in dieser Stadt überdrüssig, suchen sich ein neues Land. Es sind ja schlimme Zeiten, der
Krieg ist wieder in vollem Gange, aber schlimmer ist die
Angst, als Staatsfeind verhaftet zu werden. Jeder beschuldigt
jeden. Unseren vielen Hermesstatuen wurden in einer Nacht
die Nasen und manchen sogar die Köpfe abgeschlagen. Und
da kam dieser Anzeiger Diokleides, der dreihundert Männer
beim Lichte des Vollmonds hat in die Stadt schleichen sehen
und der viele Namen als Denkmalsschänder angab. Bekränzt
wurde er als Retter des Vaterlandes herumgefahren, und ihm zu Ehren gab es im Rathaus ein Festessen. Zugleich setzten
Massenverhaftungen ein, die Folter wurde wieder zugelassen. Auch ich hatte Angst um mein Leben. Ich schlief mal hier,
mal dort, immer darauf bedacht, schnell fliehen zu können,
falls die Greifer meinen Namen nannten, und dabei wußte ich,
daß in der besagten Nacht, in der die Verstümmelung der
Denkmäler geschehen war, kein Mond schien, Neumond war
es, aber die Leute waren so hysterisch, daß sie darauf nicht
hörten. Da konnte man noch so oft sagen, wie kann der D. im
Vollmond etwas gesehen haben, wenn da gerade Neumond
war. Nun ist der Irrtum offenbar geworden. Diokleides, der
einstmals Bekränzte, ist längst hingerichtet. Dafür sterben jetzt
andere, die unschuldig sind.
Die Prozesse dauern an, da will man hier in dieser Stadt
nicht mehr sein. So ist die Ausgangssituation bei den »Vö
geln«. Nirgendwo auf der Erde gibt es einen Ort, wo man hinkönnte, überall Streit, Krieg, falsche Beschuldigungen, Miß
gunst, Mangel.
Die Utopie des A. – Sie sehen, lieber Klausmeier, ich gebrauche Ihren Ausdruck – ist abstrakt, zwischen Erde und
Himmel angesiedelt. Im Reich der Vögel wollen sich die beiden Athener niederlassen, sie gründen eine Wolkenvogelstadt,
Wolkenkuckuckshausen. Beachten Sie die Grundlagen, auf
denen dies Reich der Phantasie errichtet sein soll:
Um hier zu leben, braucht man kein Geld, sagt der Vorvogel.
Dadurch bekommt man das Leben frei von Betrug, entgegnet der ehemalige Athener.
»Nichts wäre besser und wünschenswerter, als wenn man Flügel hätte. Wer von euch Zuschauern ein schönes Leben
führen möchte, der komme zu den Vögeln.«
Das soll man philosophisch auslegen. Sich weg von hier
denken und dabei neue Maßstäbe setzen. »Denn was bei euch
nach den Gesetzen strafbar ist und als schändlich gilt, hier bei
uns Vögeln ist es erlaubt. Wer zum Beispiel bei euch mit einem
Brandmal an der Stirn auf der Flucht ist, hier bei uns wird er
als buntgefiederter Vogel aufgenommen, und wer als Sklave
sein Leben allein, ohne menschlichen Anhang, fristen muß, bei
uns hier findet er seine Brüder, und ein Großvater stellt sich
auch noch ein.«
Dennoch kann ich nicht verhehlen, daß ich zwischen Zustimmung und Ablehnung schwankte. Es lag meiner Meinung
nach an einer nicht genug logischen Denkweise, wie sie Dichtern oder Stückeschreibern eigen ist. Statt nun ganz klar und
eindeutig einen Grundsatz darzulegen, läßt A. vieles zwielichtig und zweideutig, und das kann ich nur auf seine ideologische Unklarheit zurückführen.
Gut, wenn A. fragwürdige Gestalten vorführt, die sich da
oben gleich niederlassen wollen, kaum ist diese Wolkenkukkucksstadt gebaut, und die er vertreiben läßt, wie diesen honigseimzüngigen Lobdichter. Auch daß der Priester gehen
muß, weil er zuviel Opfer verlangt, gefiel mir, genau wie dieser Orakeldeuter mit seinen Bauernfängertricks – »Das Orakel
sagt, man soll mir einen Mantel und neue Sandalen geben« –
damit ausgetrickst wird, daß der Vogelstadtathener ihm ein
anderes Orakel entgegenhält: »Das Orakel sagt, wenn solche
Gauner wie du eintreffen, soll man sie durchprügeln.« Für wesentlicher halte ich, daß Baumeister Meton, der die Luft vermessen will, »um jedem sein eignes Stück zuzuteilen«, also wieder Eigentum zu schaffen, des Vogellandes verwiesen wird. Nur ist Meton, der dafür herhalten muß, ein ehrenwerter
Athener Bürger, dem man so nicht beikommen dürfte. A. läßt auch den Regierungsbeauftragten (»Ich bin hier als
Vertreter der obersten Aufsichtsbehörde für diese Stadt bestimmt worden«) und den Gesetzblatthändler (»Ich habe ein
Bündel Gesetze anzubieten«) hinausprügeln, aber hier hätte er
doch deutlich machen müssen, daß ein Gemeinwesen ohne
Gesetze nicht leben kann. Es kommt auf die richtigen Gesetze
an. Sokrates und ich bemühen uns, da klare Begriffsbestimmungen zu schaffen, indem wir immer wieder die Frage stellen, was ist gut, was ist schlecht, für den einzelnen Menschen
wie für das Gemeinwesen. Aber der A. läßt diese Leute alle
unbekümmert wegjagen, wir brauchen euch nicht.
Und dann diese Worte: »Ihr menschliches Schattenwesen,
aus Lehm gebacken, ihr vergänglichen Schemen, ihr schwächlichen Zwerge, unflügge Eintagsfliegen…« – ist das nicht zu
herabwürdigend?
Nun ja, die »Vögel« erhielten den zweiten Preis. Besser als
nichts.
Ihr Aristodemos

Lieber Aristodemos,

Sie gehen an das Stück von A. heran wie ein Fleischer, der ein Schwein zerlegt. Dies Stück eignet sich für einen Braten, daraus machen wir eine Wurst, das werfen wir den Hunden vor, und das ist nicht zu gebrauchen. Ist Ihnen und Ihrem hochverehrten Lehrer Sokrates einmal bewußt geworden, daß es sich bei den »Vögeln« um ein Kunstwerk handelt, um liebenswürdigste und phantasievollste Kunst? Da kritteln Sie nun aus Ihrer beschränkten Alltagssicht an Einzelheiten herum: Das hat er nicht richtig gesehen und das auch nicht, und der Meton war eigentlich so. Wir heutzutage wissen nicht, wer dieser Meton war, wollen es auch nicht wissen, für uns ist er im Stück ein Baumeister, der alles vermessen, einteilen, zuteilen, begrenzen, eingrenzen, festlegen will. Solche gibt es immer noch, und darum wissen wir vielleicht besser als Sie, wer und was gemeint ist. Ich hatte nicht solch beschränkten Sinn bei den kunstfreudigen Athenern erwartet. Werden sie uns doch als Beispiel vorgehalten. Ich verliere schon fast die Lust, Ihnen weiter zu schreiben.

Ihr Klaus Meier

 

Dionysien 411

Lieber Klausmeier, auch ich hätte lieber heute als morgen den Briefwechsel mit
Ihnen, dem nachgeborenen Ewiggestrigen, aufgegeben, wenn
mich nicht die Überzeugung triebe, daß ich Sie doch eines Besseren belehren kann. Und muß. Denn schließlich ist es die
Wahrheit, die Sokrates und ich lehren, und dieser Wahrheit
kann sich eben auf die Dauer keiner verschließen. Auch kein
Aristophanes, der nur deshalb die Jahrtausende überdauerte,
weil zufällig von ihm einige Stücke übriggeblieben sind. Nur
so kann ich es mir erklären, daß er Sie noch mit seinen unausgegorenen Gedanken beschäftigt.
Aber ich bin gewiß, durch sein letztes armseliges Stück,
dem er den Titel »Lysistrate« gegeben hat, wird Sie der Mann
selbst von seiner Nichtigkeit überzeugen. Unterhaltungskomödianten, die um die Gunst der Menge buhlen müssen, werden diesen Stoff immer wieder den Zuschauern aufbraten, des
bin ich gewiß.
Schon die Geschichte dieses allzu einfachen Schwanks, eine
Utopie im schlechten Sinne des Wortes, sagt jedem genug, der
denken kann und es auch will.
Die Frauen beschließen, den Männern so lange ihre Dienste
zu verweigern, bis die Frieden schließen, vor allem wollen sie
sich des Geschlechtsverkehrs enthalten. Sie reizen die Männer
auf, entkleiden sich kunstvoll und langsam, heizen die Begehrlichkeit an und lassen die armen Gatten mit gesteiften
Schwänzen abziehen.
Darüber muß ich lachen, denn welchen Mann, von einfältigen Gemütern abgesehen, kann das berühren. Wie lebensfremd ist doch dieser Einfall, der nur beweist, auf welch niedriger Ebene dieser A. seine geschlechtlichen Bedürfnisse zu
befriedigen pflegt. Männer von höherer Geistigkeit vermischen sich doch nur mit Frauen, damit der Nachwuchs nicht
ausbleibt, und wenn ich Sokrates recht verstanden habe, so
tritt er für einen Beischlaf mit den Frauen deshalb ein, damit
Athen nicht ausstirbt. Das ist eine Pflicht, der die Männer zu
genügen haben, gleichwie, mit geschlossenen Augen und ohne
Gefühl. Wahre Liebe jedoch ist nur unter Männern möglich.
Das ist eine Liebe, in der sich geistiger Genuß mit der sinnlichen Freude an schönen Körpern mischt, denn was ist dieser
weibliche Körper gegen die kraftvolle Anmut eines schönen,
den Raubtieren vergleichbaren Körpers eines Jünglings, besonders wenn mit ihm Gespräche vorausgegangen sind, an die
zurückzudenken Gewinn und Genuß zugleich bringt. Wer es
je mit wachen Sinnen genossen hat, wird keine Freude daran
finden, bei einem Weibe zu liegen. Bei den Weibern Getändele,
Gekreisch und Gespräche über das Thema, wo sie das Geld für
das morgige Essen hernehmen sollen.
Aber A. kehrt das unbekümmert um. Hören Sie nur, wie er
die Lysistrate sprechen läßt:
»Immer mußten wir Frauen, gefügig wie wir sind, im Krieg
mit Geduld hinnehmen, was ihr Männer plantet und ausführtet. Mucksen durften wir nicht. Uns gefiel das gar nicht. Nur
als Beobachter saßen wir eingeschlossen in unseren Wohnungen, und wir bekamen dann mit, was ihr wieder für Dummheiten auskochtet, wenn ihr über wichtige Dinge beraten habt.
Manchmal kam es uns hoch, wenn wir euch dann fragten, was
hat denn eure Versammlung heute in Sachen des Friedens beschlossen? Was wird denn nun an die Säule geschlagen? Was
geht’s dich an, antwortete ärgerlich-mürrisch der Mann. Halt’s
Maul und schweig! Und ich schwieg.«
Und danach läßt A. die Dialoge auf Weiberart führen, also
auf Hausfrauenebene. Da kommen diese Einwände: »Wir
Frauen geben unsere Kinder und hätten deshalb ein Recht
mitzureden. Aber ihr Greise, ihr elenden« (als ob alle Männer,
die regieren, Greise wären), »ihr gebt gar nichts. Im Gegenteil,
ihr greift sogar die Staatsrücklagen an. Ihr führt uns noch in
den Untergang. Und da wollt ihr euer Maul aufreißen.« »Wenn du mir zu nahe kommst«, sagt Lysistrate zum Anführer, »schlag’ ich dir mit dem ungegerbten Schuh die Zähne
ein.«
So wird alles auf den Kopf gestellt. Kein Wort davon, daß
die Staatsrücklagen dazu dienen, das Heer auszurüsten, um
endlich diesen welthistorischen Krieg zu beenden. Kein Wort
davon, daß, wenn sich die Männer nicht immer durch das
Gewimmer der Frauen hätten beirren lassen, alles, aber auch
alles daranzusetzen, der Krieg schon längst gewonnen wäre. Natürlich kommt es vor, daß im Kriege Männer fallen, angenehm ist das nicht, aber die Frauen können doch neue gebä
ren.
Man darf die großen Folgen der Politik nicht mit der Suppenlogik einer einfältigen Hausfrau lösen.
Bedauerlich an dieser mißratenen Komödie ist, daß sich ein
Mann dazu hergeben mußte, sie zu schreiben. Wenn das eine
Utopie sein soll: einen Menschenteil, der biologisch gar nicht
dazu in der Lage ist, zum mitbestimmenden Teil des Staates
zu machen, dann ist es eine Nichtgeschichte, leeres Stroh. Und wie billig das alles gemacht ist. Wo sind denn da die
großartigen ethischen Vorsätze dieses Schreibers? Was versteht der schon von Liebe, wenn die sich nur im Geschlechtsverkehr erschöpft. Ist das nicht geistlos, einen Mann hochzubringen und ihn dann unter biologischen Qualen unbefriedigt
abziehen zu lassen? Kann man darüber lachen? In diesem
Stück wird die Wirklichkeit völlig verzerrt dargestellt. Auf
solcher Ebene kann man nicht mehr dialogisieren.
Und noch ein anderer Gesichtspunkt. Ist es in solchen
Kriegszeiten, wo es auf den Sieg unserer Vaterschaft über das
barbarische Sparta ankommt, nicht Landesverrat, Friedensdemagogie zu betreiben?
Einem Dichter verzeiht man vieles. Viel zuviel. Die Dichtkunst, wo immer sie auch auftritt, muß nützlich sein. Sie muß
der Besserung des Menschengeschlechtes dienen. Sie kennen
sicher dieses Stück. Ich brauche Sie nicht mehr von der Bedeutungslosigkeit dieses Machwerks zu überzeugen. Es richtet
sich selbst.
Ihr Aristodemos

Ach, lieber Aristodemos,
wie sich die Zeiten ändern. Heute versuchen wir, Eiferer
davon zu überzeugen, daß Männer, die auf Grund einer Veranlagung einen Widerwillen gegen das weibliche Geschlecht
empfinden und nur mit ihresgleichen Freundschaft schließen,
nicht unbedingt zu verdammen sind. Und wir tun auch nicht
die Argumente der Lysistrate als Küchenlogik ab, sondern
meinen eher, daß es schändlich sei, Leben zu vernichten. Übrigens weiß kaum ein Mensch etwas von Ihrem Peloponnesischen Krieg, den Sie welthistorisch nennen. Und wer
sich heutzutage damit etwas befaßt, meint eher, dieser Krieg
wäre um der Kultur der Griechen willen besser unterblieben.
Er wird als sinnlos angesehen.
Was mich aber unsicher und auch ein wenig hilflos macht,
ist, daß ich trotz aller aufgewandten Mühe, mich mit Ihnen
dank unserer Fähigkeit theoretisch in andere Zeiten zu versetzen, keine Verbindung mehr mit Ihnen herstellen kann. Sie
bleiben unauffindbar. Ich fürchte fast, Sie sind im Peloponnesischen Krieg umgekommen oder an den Folgen dieses ruhmlosen Unternehmens gestorben. Vielleicht an Hunger? Schließlich hat der von Ihnen so mit Widerspruch und Abneigung aufgenommene Aristophanes noch einige weitere
Stücke geschrieben, in denen er neue Gegenwelten entwirft,
etwa in der »Ratsversammlung der Frauen«, wo es ja nicht nur
um Krieg und Frieden geht, sondern um einen neuen Plan, die
Gesellschaft anders zu organisieren.
»Alles wird künftig Gemeingut sein, und allen wird alles
gehören. Jeder wird sich genauso wie die anderen ernähren, es
wird weder Reiche noch Arme geben. Und es wird nicht einer
viel Land besitzen und der andere noch nicht mal ein Fleckchen Erde, worin er sich begraben lassen kann. Sklaven werden nicht gehalten und auch nicht Diener… nie mehr wird aus
Not ein Mensch verkommen. Denn alles ist Eigentum aller,
Brot, Kuchen, Fleisch, Wein, Erbsen… Und auch die Frauen
werden für alle dasein und mit dem schlafen, mit dem sie es
wünschen, und von dem ein Kind empfangen. Gerichtsverhandlungen wird es in Zukunft nicht mehr geben, und auch
stehlen wird keiner, denn wozu sollte er’s, wenn alles auch
ihm gehört. Es ist auch nicht zu befürchten, daß man nachts
überfallen wird, denn jeder besitzt das, was er braucht. Und
die Stadt wird als eine große Wohnung für alle eingerichtet,
die trennenden Wände werden niedergerissen, damit jeder
den anderen besuchen kann. Gerichtssäle, die Paläste und Hallen der Regierung werden für alle geöffnet, und die steinernen
Tribünen sind dazu da, um Spottlieder auf Feiglinge zu singen, aber auch Loblieder auf tapfere Leute.«
Ich weiß doch, daß Sokrates und sicher auch Sie nicht viel
vom persönlichen Eigentum hielten. Sagte nicht Ihr Lehrer,
wenn er über den mit Waren gefüllten Markt ging, ich sehe da
immer wieder, wieviel ich nicht brauche?
Höre ich jetzt ganz schwach Ihre Stimme, oder täusche ich mich? Stelle ich mir nur vor, daß Sie sprächen? Sehr schön, sehr gut, aber führt A. in diesem Stück nicht den Gegenbeweis, daß solch eine andere Welt unmöglich sei? Sagt nicht ein Bürger, als er nun aufgefordert wird, sein Hab und Gut zum Gemeinsamen zu tun, »meinen Besitz soll ich abliefern? Ich bin doch kein Trottel, der gegen seinen Vorteil handelt! Denn man sieht es doch, nicht geben wollen, nur nehmen! Und schließlich: Wie stell’ ich es an, daß ich meinen Besitz halte, aber doch
von dem großen Teil auch ein Stück abbekomme?«
Und geht das Stück nicht damit aus, daß sich drei alte Weiber um einen jungen Mann raufen, der aber nichts von ihnen
wissen will, sondern lieber eine Junge möchte?
Ja, lieber Aristodemos, es ist nun einmal so, daß ein Stück,
noch dazu ein utopisches, Möglichkeiten durchspielt. Das ist
es, was diese Art Literatur so reizvoll macht, die Frage, was
wäre, wenn. Ich hätte aber doch noch einiges gerne von Ihnen
gewußt – und wie Sie darüber denken. Aber Sie sind wohl
nicht mehr zu erreichen.
Ihr Klaus Meier

Lieber Aristodemos,

auch Aristophanes entschwindet jetzt ins Unerreichbare, als ob er in einen Nebel hineinginge.
So davongehend, kommt mir auch A.s letzte Utopie vor, in der der blinde Gott des Reichtums Plutos auftaucht, der sehend gemacht wird, damit er den Reichtum gerechter verteilen kann. »Denn die wurden reich, die Volksredner, die Betrüger, die Denunzianten, aber wer ehrlich und anständig war, der blieb arm. Muß man denn ein Schurke werden, um zu Wohlstand zu gelangen?«
Viele Fragen und keine rechte Antwort. Sagt nicht der blinde Gott Plutos, »wenn sie reich geworden sind, werden sie alle schlecht«? Und behauptet nicht die Göttin der Armut, sie bringe den Menschen erst dazu, sich anzustrengen, und schaffe damit Reichtum? Und noch ein schönes Detail. Wie der Blinde von seiner Krankheit geheilt wird und er wieder sehen kann. Eine medizinische Wunschvorstellung, an der immer noch und nicht ganz ohne Erfolg gearbeitet wird.
Das Stück läuft nachher auseinander. Eine alternde Frau bettelt um die Liebe eines jungen Mannes. Ihre Wünsche werden schließlich erfüllt, der junge Mann wird in der Nacht zu ihr kommen.
Es war immer sehr viel, was Sie gegen A. einzuwenden hatten. Sie sahen das aus Ihrer Sicht, die ich respektieren will, aber aus unserer Sicht können wir, glaube ich, doch behaupten, es sind alles die Probleme, mit denen wir uns immer noch herumschlagen: die gerechte Verteilung des von Menschen Geschaffenen, die Gleichberechtigung für die Frauen, die Abschaffung des Krieges, aber auch die Kunst, bislang unheilbar Kranke wieder gesund zu machen. Fliegen indes können wir bereits.
Es kommt mir vor, als wäre A. mit seinen anderen, gerechteren Welten gegenwärtig. Was aber seine Zeit und auch ihn selbst ganz persönlich angeht, so erscheinen sie mir so nebelhaft, daß ich manchmal daran zweifle, ob sie überhaupt existiert haben. Und sie selbst, der Sie doch auch, wie Philosoph Platon berichtet, dagewesen sind, wo bleiben Sie, wo sind Sie jetzt? Der der »Kleine« genannt wurde. Und stimmt es, daß Sie eine Vorliebe für den Tragödiendichter Sophokles hatten? Das schreibt über Sie ein gewisser Xenophon.
Das Gespräch mit Ihnen wurde nicht zu Ende geführt, es hat einen offenen Schluß, wie vielleicht alle Gespräche, die ins Wesentliche gehen.

Ich verabschiede mich von einer Fiktion. Ihr Klaus Meier