Arkadi und Boris Strugazki

Wo das Getreide wogt

In einem »Institut für Magie und Zauberei«, wo die Magier ihre Zauberformeln mit Hilfe der höheren Mathematik berechnen, fliegende Teppiche und Tarnkappen als veraltet im Museum liegen (zusammen mit gravigenen Siebenmeilenstiefeln und dem rechten Augenzahn des Grafen Dracula) und Zauberei wie Wissenschaft im Verein zur Lösung großer Probleme eingesetzt werden, ist eine Zeitmaschine erfunden worden, mit der man zwar nicht in die wirkliche Vergangenheit oder Zukunft reisen kann, wohl aber in jene ideale Zukunft, die in utopischen und phantastischen Werken beschrieben ist.

Die Zeitmaschine erinnert im Aussehen an ein Fahrrad – wie seinerzeit Herbert Wells’ klassisches Modell. Gesteuert wird sie etwa wie ein Auto; sie hat ein Gaspedal, eine Bremse und ein Pedal für die Kupplung mit der Wirklichkeit. Ein Institutsmitarbeiter unternimmt eine Probefahrt mit der Maschine; nun erzählt er, was er dabei erlebt hat.

Anfangs bewegte sich die Maschine ruckweise, und ich hatte zu tun, mich im Sattel zu halten, indem ich mit den Beinen das Gestell umklammerte und mit aller Kraft die Lenkstange festhielt. Aus den Augenwinkeln nahm ich ringsum flüchtig prächtige, durchsichtige Bauwerke wahr, mattgrüne Ebenen und in dem grauen Nebel unweit des Zenits eine kalte Sonne, die keine Wärme spendete. Dann ging mir der Grund für das Rütteln und Rucken auf: Ich hatte den Fuß vom Gaspedal genommen, die Motorleistung reichte (ganz wie bei einem Auto) nicht aus, und die Maschine stieß in ihrer ungleichmäßigen Bewegung immer wieder auf die Ruinen antiker und mittelalterlicher Utopien. Ich gab mehr Gas, sofort wurde die Bewegung gleichmäßig, und ich konnte mich endlich bequemer hinsetzen und mich umschauen.

Mich umgab eine durchsichtige Welt. Riesige Bauten aus verschiedenfarbigem Marmor, mit Säulenreihen geschmückt, erhoben sich inmitten kleiner Häuschen von dörflichem Aussehen. Ringsum wogte bei völliger Windstille das Getreide. Auf der Wiese weideten wohlgenährte, durchsichtige Viehherden, auf den Anhöhen saßen graue Hirten von edler Gestalt. Wie ein Mann lasen sie Bücher und altertümliche Manuskripte. Dann tauchten neben mir zwei durchsichtige Menschen auf, stellten sich in Positur und begannen zu sprechen. Beide waren sie barfuß, mit Kränzen geschmückt und in faltenreiche Chitone gehüllt. Einer hielt in der rechten Hand einen Spaten, und mit der Linken umfaßte er eine Pergamentrolle. Der andere stützte sich auf eine Hacke und spielte zerstreut mit einem riesigen kupfernen Tintenfaß, das ihm am Gürtel hing. Sie sprachen streng der Reihe nach und, wie mir anfangs schien, miteinander. Doch sehr bald begriff ich, daß sie sich an mich wandten, obwohl keiner auch nur einen Blick in meine Richtung warf. Ich begann ihnen zuzuhören. Der mit dem Spaten legte lang und monoton die politischen Prinzipien des herrlichen Landes dar, dessen Bürger er war. Die Prinzipien waren überaus demokratisch, von irgendwelchem Zwang gegenüber den Bürgern konnte keine Rede sein (er unterstrich das mehrere Male mit besonderem Nachdruck), alle waren reich und sorgenfrei, und selbst der letzte Ackerbauer hatte mindestens drei Sklaven. Als er innehielt, um Atem zu holen und seine Lippen anzufeuchten, fiel der mit dem Tintenfaß ein. Er rühmte sich, soeben seine drei Stunden als Fährmann auf dem Fluß abgeleistet und von niemandem einen roten Heller dafür genommen zu haben, weil er überhaupt nicht wisse, was Geld sei, jetzt aber begebe er sich unter den Schirm der Arkaden, um der Wonne zu pflegen.

Sie sprachen lange – dem Tachometer nach zu urteilen, mehrere Jahre lang –, doch dann verschwanden sie plötzlich, und die Szene leerte sich. Durch die durchsichtigen Gebäude schien die Sonne hindurch. Unverhofft zogen dicht über der Erde schwere Flugapparate dahin, mit Flügeln, die hautüberspannt waren wie bei Pterodaktylen. Im ersten Moment schien es mir, als stünden sie alle in Flammen, dann aber bemerkte ich, daß der Rauch bei ihnen aus großen konischen Röhren kam. Schwerfällig mit den Flügeln schlagend, flogen sie über mir, es rieselte Asche herab, und einer ließ ein knorriges Holzscheit auf mich fallen.

An den luxuriösen Gebäuden ringsumher begann sich etwas zu verändern. Die Säulen wurden nicht weniger, und die Architektur blieb nach wie vor üppig und absonderlich, doch es tauchten neue Farbtöne auf, und der Marmor schien irgendein moderneres Material abzulösen, anstelle der blinden Statuen und Büsten aber erschienen auf den Dächern glänzende Vorrichtungen, die den Antennen von Radioteleskopen ähnelten. Die Straßen füllten sich mit Menschen und einer Unmenge Maschinen. Die Herden mit den lesenden Hirten verschwanden, das Getreide jedoch wogte noch immer, obwohl es unverändert windstill war. Ich trat auf die Bremse und hielt an.
Als ich mich umsah, wurde ich gewahr, daß ich mit der Maschine auf dem Band eines rollenden Fußwegs stand. Um mich herum wimmelte es nur so von den unterschiedlichsten Leuten. Die meisten dieser Menschen waren allerdings irgendwie unwirklich, viel weniger real als die mächtigen, komplizierten, nahezu lautlosen Mechanismen. Wenn daher so ein Mechanismus zufällig gegen einen Menschen fuhr, erfolgte kein Zusammenstoß. Die Maschinen interessierten mich kaum, wahrscheinlich deshalb, weil auf der Stirnverkleidung einer jeden ein fast bis zur Durchsichtigkeit begeisterter Erfinder saß, der ausführlich Aufbau und Zweck seines Geschöpfes erläuterte. Niemand hörte den Erfindern zu, sie schienen sich aber auch an keine bestimmte Person zu wenden.

Die Menschen zu betrachten war interessanter. Ich sah kräftige Burschen in Arbeitsanzügen, die einhergingen, die Arme um die Schultern der anderen geschlungen, fluchten und unmelodische Lieder zu schlechten Versen grölten. Immer wieder kamen Leute vor, die nur teilweise bekleidet waren, etwa mit einem grünen Hut und einem roten Jackett auf dem nackten Körper (und sonst nichts), mit gelben Schuhen und einer bunten Krawatte (weder Hemd noch Hosen, nicht einmal Unterwäsche) oder mit eleganten Schuhen an bloßen Füßen. Die anderen Leute verhielten sich ihnen gegenüber völlig ruhig, ich aber wunderte mich so lange, bis mir einfiel, daß manche Autoren etwa folgendermaßen zu schreiben pflegen: »Die Tür öffnete sich, und auf der Schwelle erschien ein kräftiger Mann mit flauschiger Mütze und dunkler Brille.« Es kamen auch Leute vor, die normal angezogen waren, allerdings Kleidung von seltsamem Schnitt trugen, und hier und da drängte sich durch die Menge ein braungebrannter bärtiger Mann in flekkenlos weißer Chlamys, in der einen Hand eine Erdhacke oder irgendein Kummet, Staffelei oder Federkasten in der anderen. Die Männer in den Chlamys sahen verwirrt aus, sie schreckten vor den vielfüßigen Mechanismen zurück und blickten gehetzt um sich.

Abgesehen vom Gemurmel der Erfinder, war es ziemlich still. Die meisten Leute schwiegen. An einer Ecke waren zwei junge Burschen mit einer mechanischen Vorrichtung beschäftigt. Der eine sagte voller Überzeugung: »Die Entwicklung des konstruktiven Denkens kann nicht stehenbleiben. Das ist ein Entwicklungsgesetz der Gesellschaft. Wir werden es erfinden. Unbedingt. Den Bürokraten wie Amtler und den Konservativen wie Hartkopf zum Trotze.« Der andere redete seins: »Ich habe herausgefunden, wie man hier abriebfeste Reifen aus polystruktureller Faser mit denaturierten Aminoverbindungen und ungesättigten Sauerstoffgruppen anwenden kann. Aber ich weiß noch nicht, wie der Regenerationsreaktor auf der Basis subthermischer Neutronen genutzt werden kann. Mischa, Mischenka! Was soll mit dem Reaktor werden?« Als ich mir die Vorrichtung ansah, erkannte ich in ihr mühelos ein Fahrrad.

Der Fußweg trug mich auf einen riesigen Platz voller Menschen und dicht bei dicht stehender Raumschiffe unterschiedlichster Konstruktion. Ich verließ den Fußweg und zog die Maschine herunter. Ich begriff nicht gleich, was vorging. Die Musik spielte, es wurden Reden gehalten, hier und da ragten aus der Menge lockige, rotwangige Jünglinge hervor, die mit Mühe ihrer widerspenstigen, ständig in die Stirn fallenden Haarsträhnen Herr wurden und mit eindringlicher Stimme Verse vortrugen. Die Verse waren entweder bekannt oder schlecht, doch aus den Augen der zahlreichen Zuhörer rannen reichlich vereinzelte Männer-, bittere Frauen- und helle Kindertränen. Rauhe Männer umarmten einander kräftig, wackelten mit den Wangenmuskeln und klopften sich gegenseitig auf den Rücken. Da viele nichts anhatten, erinnerte dieses Klopfen an Applaus. Zwei gesammelt dreinschauende Leutnants mit müden, doch gütigen Augen führten einen geschniegelten Mann an mir vorbei, dem sie die Arme auf den Rücken gedreht hatten. Der Mann wand sich und schrie etwas in gebrochenem Englisch. Anscheinend verriet er alle und erzählte, wie und für wessen Geld er die Bombe ins Triebwerk des Raumschiffs gelegt hatte. Ein paar kleine Jungen mit Shakespeare-Bänden in der Hand schlichen, verstohlen um sich blikkend, zu den Düsen des nächsten Astroplans. Die Menge bemerkte sie nicht.

Bald wurde mir klar, daß die eine Hälfte der Menge von der anderen Abschied nahm. Es war eine Art totaler Mobilmachung. Aus den Reden und Gesprächen entnahm ich, daß die Männer in den Weltraum aufbrachen – manche zur Venus, manche zum Mars, und einige mit schon ganz und gar entsagungsvollen Gesichtern wollten zu anderen Sternen und sogar ins Zentrum der Galaxis. Die Frauen blieben zurück, um auf sie zu warten. Viele stellten sich vor einem gewaltigen häßlichen Gebäude an, das die einen Pantheon, die anderen Refrigerator nannten. Mir ging durch den Kopf, daß ich gerade noch rechtzeitig gekommen war. Eine Stunde später hätte ich in der Stadt nur noch die auf Jahrtausende eingefrorenen Frauen angetroffen.

Dann erregte eine große graue Wand meine Aufmerksamkeit. Sie begrenzte den Platz im Westen, und hinter ihr stiegen Schwaden schwarzen Rauches auf.

»Was ist das da?« fragte ich eine schöne Frau mit Kopftuch, die schwermütig zum Pantheon-Refrigerator trottete.
»Die Eiserne Wand«, antwortete sie, ohne stehenzubleiben.
Von Minute zu Minute wurde es mir langweiliger. Alle um mich her weinten, die Redner waren schon heiser! Neben mir verabschiedete sich ein Jüngling im blauen Arbeitsanzug von einem Mädchen in einem rosa Kleid. Das Mädchen sagte monoton: »Ich möchte zum Staub der Sterne werden, ich würde als kosmische Wolke dein Raumschiff umarmen…« Der Jüngling war ganz Ohr. Dann erdröhnten über der Menge die vereinigten Orchester, meine Nerven kapitulierten, ich sprang in den Sattel und gab Gas. Ich bemerkte gerade noch, wie über der Stadt donnernd die Raumschiffe, Planetenschiffe, Astroplane, Ionenkreuzer, Photonenraumschiffe und Astromaten aufstiegen, dann versank alles außer der grauen Wand in phosphoreszierendem Nebel.

Nach dem Jahr 2000 begannen die Lücken in der Zeit. Ich flog durch eine Zeit ohne Materie. An solchen Stellen war es finster, und nur gelegentlich ertönten hinter der Wand Detonationen, und roter Feuerschein loderte auf. Von Zeit zu Zeit wuchs um mich wieder die Stadt empor, und jedesmal wurden ihre Gebäude höher, die sphärischen Kuppeln immer durchsichtiger und die Raumschiffe auf dem Platz immer weniger. Hinter der Wand stieg ununterbrochen Rauch auf.

Ich hielt zum zweiten Mal an, als der letzte Astromat vom Platz verschwunden war. Die Fußwege rollten. Lärmende Burschen in Arbeitsanzügen gab es nicht. Niemand fluchte. Auf den Straßen spazierten bescheiden, zu zweit oder zu dritt, irgendwelche farblosen Personen, die entweder sonderbar oder ärmlich gekleidet waren. Soviel ich verstand, sprachen alle von der Wissenschaft. Es sollte irgend jemand wiederbelebt werden, und ein Medizinprofessor, ein athletisch gebauter Intellektueller, der sehr ungewöhnlich aussah in seiner Weste, außer der er nichts am Leibe trug, erläuterte die Prozedur der Wiederbelebung einem grobschlächtigen Biophysiker, den er allen Passanten als den Autor, Initiator und Hauptausführenden dieser Idee vorstellte. Woanders wollte man ein Loch durch die Erde bohren. Das Projekt wurde gleich auf der Straße inmitten einer großen Menschenmenge erörtert, die Skizzen mit Kreide an die Wände oder aufs Trottoir gezeichnet. Ich schickte mich an zuzuhören, aber der Disput erwies sich als derart langweilig und noch dazu mit Ausfällen gegen einen mir unbekannten Fortschrittsfeind gespickt, daß ich mir die Maschine auf die Schulter lud und fortging. Es verwunderte mich nicht, daß die Erörterung des Projekts sofort unterbrochen wurde und sich alle ihren Angelegenheiten zuwandten. Doch dafür ließ sich, kaum daß ich stehengeblieben war, ein Bürger unbestimmten Berufs vernehmen. Völlig aus heiterem Himmel kam er auf die Musik zu sprechen. Sogleich liefen Zuhörer zusammen. Sie hingen an seinem Munde und stellten Fragen, die von kompakter Unwissenheit zeugten.

Plötzlich kam schreiend ein Mann die Straße entlanggelaufen. Ihm jagte ein spinnenförmiger Mechanismus nach. Nach den Schreien des Verfolgten zu urteilen, war das »ein selbstprogrammierender kybernetischer Roboter auf der Basis trigenischer Quatoren mit Rückkopplung, die sich gelöst hat und… O je, gleich wird er mich zerstückeln!« Seltsam – keiner zuckte auch nur mit einer Wimper. Offensichtlich glaubte niemand an einen Aufstand der Maschinen.

Aus einer Seitenstraße schossen zwei weitere spinnenförmige metallische Maschinen hervor, kleiner und nicht so grimmig aussehend. Ehe ich mich’s versah, hatte eine schnell meine Schuhe geputzt, die andere mein Taschentuch gewaschen und gebügelt. Eine große weiße Zisterne auf Raupenketten fuhr heran, blinkte mit zahlreichen Lämpchen und besprühte mich mit Parfüm. Schon war ich im Begriff abzufahren, doch da erscholl ein donnergleiches Krachen, und vom Himmel fiel eine riesige rostige Rakete auf den Platz. Gleich begann man in der Menge zu sprechen:

»Das ist der ›Stern der Träume‹!«
»Ja, das ist er!«
»Klar, er ist es! Er ist doch vor zweihundertachtzehn Jahren

gestartet, alle haben ihn längst vergessen, aber dank der Einsteinschen Zeitverkürzung bei der Bewegung mit lichtnaher Geschwindigkeit ist die Besatzung nur um zwei Jahre gealtert!«

»Dank wem? Ach so, Einstein… Jaja, ich erinnere mich. Das hatten wir in der Schule in der zweiten Klasse.«
Aus der verrosteten Rakete kam mit großer Mühe ein einäugiger Mann hervor, dem der linke Arm und das rechte Bein fehlten.
»Ist das die Erde?« fragte er gereizt.
»Die Erde! Die Erde!« antwortete man ihm aus der Menge. Auf den Gesichtern begann sich ein Lächeln auszubreiten.
»Gott sei Dank«, sagte der Mann, und alle tauschten Blicke. Entweder verstanden sie ihn nicht, oder sie taten nur so.
Der verstümmelte Raumpilot stellte sich in Positur und ließ eine Rede vom Stapel, in der er die gesamte Menschheit aufforderte, Hals über Kopf auf den Planeten Hosch-ni-Hosch bei dem Stern Eoella in der Kleinen Magellanschen Wolke zu fliegen, um daselbst die Brüder im Verstand zu befreien, die unter der Herrschaft eines grimmigen kybernetischen Diktators dahinvegetatierten (er sagte tatsächlich: dahinvegetatierten). Das Geheul von Düsen erstickte seine Worte. Auf dem Platz gingen noch zwei Raketen nieder, sie waren ebenfalls verrostet. Aus dem Pantheon-Refrigerator kamen reifbedeckte Frauen gelaufen. Es begann ein Gedränge. Ich begriff, daß ich in die Epoche der Rückkehr geraten war, und trat schleunigst aufs Gaspedal.
Die Stadt verschwand und erschien lange nicht wieder. Es blieb die Wand, hinter der mit deprimierender Einförmigkeit Brände loderten und Feuerschein aufflackerte. Ein seltsamer Anblick war das: völlige Leere und nur die Wand im Westen. Doch da flammte endlich ein helles Licht auf, und sofort hielt ich an.
Ringsumher breitete sich ein menschenleeres, blühendes Land. Es wogte das Getreide. Wohlgenährte Viehherden zogen vorbei, doch gebildete Hirten waren nicht zu sehen. Am Horizont schimmerten silbern die bekannten Kuppeln, Viadukte und Spiralrampen. Ganz nah erhob sich nach wie vor im Westen die Wand.
Jemand berührte mich am Knie, und ich zuckte zusammen. Neben mir stand ein kleiner Junge mit tiefliegenden, leuchtenden Augen.
»Was willst du denn, Kleiner?« fragte ich.
»Ist dein Apparat beschädigt?« erkundigte er sich mit melodischer Stimme.
»Zu Erwachsenen muß man ›Sie‹ sagen«, belehrte ich ihn.
Er war sehr erstaunt, dann erhellte sich seine Miene. »Ach ja, ich erinnere mich. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, war das in der Epoche der Zwangsweisen Höflichkeit so üblich. Insofern das Duzen mit deinem emotionalen Rhythmus disharmoniert, bin ich zu jeder für dich rhythmischen Anrede bereit.«
Ich wußte nicht, was ich erwidern sollte, und da hockte er sich einfach vor die Maschine hin, faßte sie an verschiedenen Stellen an und sagte ein paar Worte, von denen ich nicht das geringste verstand. Ein netter kleiner Junge war das, ausgesprochen sauber, sehr gesund und gepflegt, aber für sein Alter kam er mir denn doch gar zu ernst vor.
Hinter der Wand krachte es ohrenbetäubend, und wir wandten uns beide um. Ich sah, wie eine unheimliche schuppenüberzogene Tatze mit acht Fingern sich an die Mauerkrone klammerte, sich zusammenkrampfte, sich öffnete und verschwand.
»Hör mal, Kleiner«, sagte ich, »was ist das für eine Wand?«
Er bedachte mich mit einem ernsten, schüchternen Blick. »Das ist die sogenannte Eiserne Wand«, antwortete er. »Die Etymologie dieser beiden Wörter ist mir leider nicht bekannt, aber ich weiß, daß die Wand zwei Welten trennt: die Welt der Humanistischen Phantasie und die Welt der Angst vor der Zukunft.« Er schwieg eine Weile und fügte dann hinzu: »Die Etymologie des Wortes ›Angst‹ kenne ich auch nicht.«
»Interessant«, sagte ich. »Ob man nicht einmal hineinsehen könnte? Was das für eine Welt der Angst ist?«

»Gewiß kann man. Dort ist der Kommunikationsgang. Befriedige deine Neugier.«
Der Kommunikationsgang hatte das Aussehen eines niedrigen Torbogens, der mit einer Panzertür verschlossen war. Ich ging hin und faßte unentschlossen nach der Klinke. Der Junge rief mir nach: »Ich muß dich warnen. Wenn dir dort etwas passiert, kommst du vor den Rat der Hundertvierzig Welten.«
Ich öffnete die Tür einen Spalt. Trrach! Peng! Wauh! Aiji-jiji! Du-du-du-du-du! Alle meine fünf Sinne wurden gleichzeitig verletzt. Ich sah eine hübsche, nackte, langbeinige Blondine mit einer obszönen Tätowierung zwischen den Schulterblättern, sie feuerte aus zwei automatischen Pistolen auf einen häßlichen dunkelhaarigen Mann, aus dem bei jedem Treffer das Blut spritzte. Ich hörte das Dröhnen von Explosionen und das nervenzerreißende Gebrüll von Ungeheuern. Ich roch den unbeschreiblichen Gestank faulenden, verbrannten eiweißfremden Fleisches. Der glühende Wind von einer nahen Kernexplosion versengte mein Gesicht, und auf der Zunge spürte ich den widerlichen Geschmack in der Luft verstreuten Protoplasmas. Ich sprang zurück und schlug krampfhaft die Tür zu, wobei ich mir beinahe den Kopf eingeklemmt hätte. Die Luft erschien mir belebend, die Welt herrlich. Der Junge war verschwunden. Ich brauchte einige Zeit, um wieder zu mir zu kommen, doch dann erschrak ich plötzlich bei dem Gedanken, dieser Bengel könnte womöglich gegangen sein, um sich bei seinem Vereinigten Rat zu beschweren, und eilte zur Maschine.
Wieder umschloß mich die Dämmerung der raumlosen Zeit. Doch ich behielt die Eiserne Wand im Auge; die Neugier plagte mich. Um keine Zeit zu verschwenden, sprang ich gleich eine Million Jahre in die Zukunft. Über der Wand wuchs ein Dickicht von Atompilzen empor, und ich war froh, als es auf meiner Seite der Wand wieder hell wurde. Ich bremste und stöhnte auf vor Enttäuschung.

Unweit ragte der riesige Pantheon-Refrigerator auf. Vom Himmel senkte sich ein verrostetes, kugelförmiges Raumschiff herab. Ringsum war es menschenleer, es wogte das Getreide. Die Kugel setzte auf, heraus kam der blaugekleidete Pilot von vorhin, und auf der Schwelle des Pantheons erschien, ganz voller roter Flecken vom langen Liegen, das Mädchen in Rosa. Sie strebten aufeinander zu und faßten sich an den Händen. Ich wandte den Blick ab – es wurde mir peinlich. Der blaue Pilot und das rosa Mädchen ergingen sich in einer Rede.

Um mir die Füße zu vertreten, ging ich von der Maschine weg, und da erst bemerkte ich, daß der Himmel über der Wand ungewöhnlich klar war. Weder das Dröhnen von Explosionen noch das Krachen von Schüssen war zu hören. Ich faßte Mut und ging zum Kommunikationsgang.

Auf der anderen Seite der Wand erstreckte sich ein völlig ebenes Feld, bis zum Horizont von einem tiefen Graben durchschnitten. Links vom Graben war keine lebende Seele zu sehen, das Feld war dort von niedrigen Metallkuppeln bedeckt, die Kanalisationsdeckeln ähnelten. Rechts vom Graben galoppierten Reiter fern am Horizont. Dann wurde ich gewahr, daß am Rande des Grabens ein stämmiger Mann mit gebräuntem Gesicht in einer metallischen Rüstung saß und die Beine baumeln ließ. Vor seiner Brust hing an einem langen Riemen so etwas wie eine Maschinenpistole mit sehr dickem Lauf. Der Mann kaute langsam, spuckte des öfteren aus und betrachtete mich ohne sonderliches Interesse. Ich hielt die Tür fest und betrachtete ihn ebenfalls, ohne mich jedoch zum Sprechen zu entschließen. Gar zu seltsam sah er aus, irgendwie ungewohnt. Wild. Wer weiß, was das für einer war.

Nachdem er mich lange genug angeschaut hatte, holte er aus der Rüstung eine flache Flasche hervor, zog den Korken mit den Zähnen heraus, nahm einen Schluck aus der Flasche, spuckte wieder in den Graben und sagte mit heiserer Stimme: »Hallo! You from that side?«

»Ja«, antwortete ich. »Das heißt yes.«
»And how is it going on out there?«

»Soso«, sagte ich und lehnte die Tür an. »And how is it going on here?«
»It’s O. K.«, sagte er phlegmatisch und schwieg wieder.
Nachdem ich eine Weile gewartet hatte, fragte ich, was er hier tue. Anfangs antwortete er widerwillig, doch dann kam er ins Reden. Es stellte sich heraus, daß links vom Graben die Menschheit ihre letzten Tage unter der Ferse grimmiger Roboter erlebte. Die Roboter waren klüger als die Menschen geworden, hatten die Macht an sich gerissen, genossen alle Freuden des Lebens, die Menschen aber waren von ihnen unter die Erde verbannt und an die Fließbänder gestellt worden. Rechts vom Graben, auf dem Gebiet, das er bewachte, hatten Ankömmlinge aus einem benachbarten Universum die Menschen versklavt. Die Fremden hatten gleichfalls die Macht an sich gerissen, eine Feudalordnung errichtet und machten durchweg Gebrauch vom Recht der ersten Nacht. Sie lebten wie Gott in Frankreich, aber wer bei ihnen in Gnade stand, für den fiel auch was ab. Zwanzig Meilen weiter, wenn man am Graben entlangging, lag ein Gebiet, wo die Menschen von Ankömmlingen vom Atair versklavt worden waren, von vernunftbegabten Viren, die sich im Körper des Menschen ansiedelten und ihn tun ließen, was ihnen beliebte. Noch weiter westlich befand sich eine große Kolonie der Galaktischen Föderation. Die Menschen dort waren ebenfalls versklavt, lebten aber gar nicht so schlecht, weil Seine Exzellenz der Statthalter sie mästete und aus ihnen die Leibgarde Seiner Majestät des Galaktischen Imperators A-u MMMDLXII. rekrutierte. Außerdem gab es Gebiete, die von intelligenten Parasiten, intelligenten Pflanzen und intelligenten Mineralien versklavt worden waren. Und schließlich lagen hinter den Bergen Gebiete, die noch jemand anders versklavt hatte, doch darüber waren allerlei Märchen im Umlauf, an die kein vernünftiger Mensch glauben konnte…
Hier wurde unser Gespräch unterbrochen. Über die Ebene zogen in geringer Höhe mehrere untertassenförmige Flugapparate, aus denen, sich drehend und sich überschlagend, Bomben fielen. »Es geht schon wieder los«, knurrte der Mann, legte sich mit den Füßen zu den Detonationen, hob die Maschinenpistole und feuerte auf die Reiter, die am Horizont entlanggaloppierten. Ich sprang zurück, schlug hastig die Tür hinter mir zu, lehnte mich mit dem Rücken dagegen und lauschte eine Zeitlang dem Heulen, Brüllen und Krachen der Bomben. Der Pilot in Blau und das Mädchen in Rosa auf den Stufen des Pantheons waren noch immer nicht mit ihrem Dialog fertig. Vorsichtig warf ich noch einen Blick durch die Tür: Über der Ebene breiteten sich langsam die Feuerkugeln der Explosionen aus. Eine nach der anderen wurden die Metallkuppeln aufgeklappt, heraus krochen bleiche, zerlumpte Menschen mit grimmigen, bärtigen Gesichtern, eiserne Brechstangen in den Händen. Meinen Gesprächspartner schlugen die Panzerreiter mit langen Schwertern kurz und klein, er brüllte und wehrte sich mit der Maschinenpistole…
Ich schloß die Tür und schob sorgfältig den Riegel vor.

Dann kehrte ich zur Maschine zurück und stieg in den Sattel. Ich wollte noch Jahrmillionen weiter in die Zukunft reisen und die sterbende Erde sehen, wie Wells sie beschrieben hat. Doch da klemmte zum ersten Mal irgend etwas in der Maschine, die Kupplung ließ sich nicht lösen. Ich trat aufs Pedal, trat ein zweites Mal, dann stieß ich aus ganzer Kraft dagegen, etwas zersprang, klirrte, das wogende Getreide richtete sich kerzengrade auf, und ich erwachte gleichsam. Ich saß auf dem Vorführstand im kleinen Konferenzsaal unseres Instituts, und alle blickten voller Andacht auf mich.

»Was ist mit der Kupplung?« fragte ich und schaute mich nach der Maschine um. Die Maschine war weg. Ich war allein zurückgekehrt.