Kirill Bulytschow

Der Dialog über Atlantis

Platon schickte sich an zu arbeiten. Zu diesem Zwecke tat er, was andere Schriftsteller und Gelehrte vor ihm und nach ihm in solchen Fällen taten: Er sagte dem Sklaven, unter gar keinen Umständen solle ihn jemand in den Areopag rufen, mochten selbst die Perser einfallen; in die Redaktion schickte er einen Jungen mit dem Versprechen, das Manuskript im November abzuliefern; er schaute zum Himmel, zählte die Möwen und verglich in Gedanken ihr Geschrei mit dem der Kritiker. Dann nahm er vom heißgeliebten, staubbedeckten Papyrus die schwere Muschel und tauchte die Pelikanfeder in das Tintenfaß mit der Aufschrift: »Von Freunden und Mitarbeitern zum dreißigsten Jahrestag der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Tätigkeit«.

In dem Moment kam die Schwiegertochter herein und sagte: »Platon, ich bin bei der Kosmetikerin. Die Frau von Aristoteles hat es arrangiert.«

»Geh«, sagte unfreundlich der große Gelehrte, der mit Aristoteles eine alte Rechnung zu begleichen hatte.
»Ich weiß nicht, bei wem ich Kritias lassen soll«, sagte die Schwiegertochter.

»Wozu sind denn die Sklavinnen da?«

»Die haben frei«, erwiderte die Schwiegertochter. »Du weißt doch, wie gutmütig ich bin.«
»Dann verschieb deinen Besuch bei der Kosmetikerin«, sagte Platon, liebevoll den Papyrus glättend.

»Unmöglich«, seufzte die Schwiegertochter. »Sie kennt das Geheimnis der ewigen Jugend. Sie wird schon nach Rom abgeworben.«

»In dieses unbedeutende Nest?«

»Aber eine Prophetin hat gesagt, daß Rom Zentrum eines bedeutenden Imperiums sein wird.«
»Was für ein Blödsinn!« empörte sich Platon. »Deine Prophetin hat keine Ahnung von Ökonomie. Rom liegt abseits der Handelswege.«
»Also behältst du Kritias eine Weile? Ich bleibe nicht lange.«
»Und wer macht die Arbeit?« begehrte Platon in ohnmächtigem Zorn auf.
Die Schwiegertochter ging.
Auf der Terrasse erschien der Schlingel Kritias. Platon entsann sich selten seiner Existenz und machte sich nur zuweilen Sorgen, daß der Junge von den Felsen stürzen könnte. Dann zerrte er Kritias vom Geländer fort und erzählte ihm das Märchen vom Knaben Ikarus, der nicht auf seinen Vater Dädalus gehört hatte und abgestürzt war.
Der Schlingel ging zum Großvater, tippte mit dem Finger an die Muschel und sagte: »Gib her. Ich mache ein Boot daraus. Damit fahr’ ich nach Iberien.«
»Die Muschel würde sinken«, sagte Platon. »Jeder Körper verliert soviel von seinem Gewicht, wie die von ihm verdrängte Flüssigkeit wiegt. Wasser wiegt weniger als die Muschel.«
»Du weißt eine Menge«, sagte Kritias verächtlich. »Aber zu den Soldaten nehmen sie dich nicht.«
»Das ist eine Verleumdung!« antwortete Platon. »Ich habe bei Korinth gekämpft.«
»Gib sie trotzdem her. Sonst schreie ich, daß du mich schlägst.«
»Ich kann nicht. Sie gehört zu einer unbekannten Spezies.«
»Dann erst recht.«
»In ihr liegt ein großes Geheimnis verborgen.«
»Ein Geheimnis?« interessierte sich Kritias. »Erzähle.«
»Die Sache ist die…« Platon versuchte angestrengt, sich ein genügend interessantes Geheimnis auszudenken. »Die Sache ist die… Diese Muschel ist das einzige, was von einem bedeutenden Land übriggeblieben ist.«
»Und wo ist das Land?«
»Wo? Natürlich im Meer versunken.«
Platon atmete auf. Der erste Schritt war getan.
»Alles ist versunken?«
»Alles.«
»Warum?«
»Das ist sehr lange her.«
Platon hoffte vergebens, daß diese Antwort den Schlingel zufriedenstellen würde.
»Aber wenn es so lange her ist, woher weißt du es?«
»Mir hat es ein ägyptischer Priester erzählt.«
»Und ihm?«
»Sein Großvater.«
»Ein ägyptischer Großvater?«
»Natürlich ein ägyptischer.«
»Und was hat der Großvater ihm erzählt?«
Kritias forderte Platons ganze Phantasie heraus. Der Gelehrte wollte nicht die Waffen strecken.
»Er hat ihm erzählt, wie der Gott Poseidon sich dort in ein einheimisches Mädchen verliebte und sich mit ihr auf einem großen Berg niederließ. Ihnen wurden fünf Zwillingspaare geboren, wie deiner Tante.«
»Die Tante hat nur ein Zwillingspaar, sie wurden nicht geboren, sondern der Storch hat sie gebracht.«
»Richtig«, besann sich Platon. »Poseidons Zwillinge wurden auch von Störchen gebracht. Von einem ganzen Schwarm Störche. Die Zwillinge wurden Könige und regierten der Reihe nach dieses Land.«
»Waren sie stark?«
»Stark. Wie Atlas. Hat dir deine Mutter von ihm erzählt?«
»Die Jungs haben mir von ihm erzählt. Er stützt den Himmel. Großvater, wer stützt aber den Himmel, wenn Atlas mal muß?«
Platon war verwirrt. Das wußte er nicht.
»Unwichtig«, wehrte er ab und beeilte sich mit der Fortsetzung der Erzählung. »Also, dieses Land hieß Atlantis.«
»Dort hat Atlas den Himmel gestützt?«
»Ja, dort.«
»Und hat er sich vor Wölfen gefürchtet?«
»Vor Wölfen? Natürlich hat er sich gefürchtet.«
»Und die Zwillinge haben sich gefürchtet?«
»Kritias, stör mich nicht. Unterbrich mich nicht. Sonst vergesse ich alles.«
»Großvater, was ist ein Sklerotiker?«
»Woher kennst du dieses Wort?«
»Mutti hat es gesagt.«
Kritias sah den Großvater mit unschuldigen schwarzen Augen an, und Platon konnte sich nicht entschließen zu fragen, aus welchem Anlaß die Mutter dieses Wort gebraucht hatte. Er fuhr fort: »Natürlich hat sich Poseidon vor den Wölfen gefürchtet. Er hat sogar seinen Berg mit einem Kanal umgeben, einem runden Fluß, damit der Wolf nicht seine Zwillinge fressen konnte.«
»Und wenn der Wolf über den Fluß springt?«
»Da hat Poseidon noch einen Kanal gegraben.«
»Und wenn der Wolf…«
»Er hat noch einen Kanal gebaut, und nun hör auf, mich zu unterbrechen.«
Unmerklich war Platon in Fahrt gekommen. Seit langem interessierte ihn das Problem der idealen Gesellschaftsordnung. Er erläuterte Kritias seine Ansichten zur sozialökonomischen Struktur von Atlantis und bemerkte nicht, daß Kritias sich zu langweilen begann und die kostbare Muschel wegnahm.
»Und dann«, beendete Platon seine Erzählung, »wurden die Götter wütend und sandten Atlantis einen Vulkanausbruch, eine Überschwemmung und andere Katastrophen. Ich muß dir sagen, mein Junge, daß ich pessimistisch in bezug auf die Schaffung eines idealen Staates bin. Und eines Tages war es soweit: bums!«
»Bums!« machte sich Kritias fröhlich vom Geländer bemerkbar. Er warf die Muschel hinunter und freute sich, als er sah, was für eine Fontäne sie verursachte.
»Was hast du getan!« Platon sprang auf. »Da hast du ja was Schönes angerichtet!«
»Nichts soll von Atlantis übrigbleiben. Du hast ja doch alles erfunden. Drei Kanäle und fünf Zwillingspaare! So zu lügen! Und hau mich nicht, ich erzähle es Mutter!«
»Ich schlage niemals Kinder«, sagte der große Gelehrte. »Und überhaupt, stör mich nicht bei der Arbeit. Ich bin nicht dein Kindermädchen! Du bekommst gleich eine Tracht, und dann werden wir sehen, wer von uns Sklerose hat!«
Kritias begriff, daß der Spaß zu Ende war, wimmerte leise und versuchte, einen Schmetterling zu erhaschen. Als nach einer Stunde der Verlagssklave kam, um das Manuskript zu holen, lag vor Platon bereits die Papyrusrolle, beschrieben in der unleserlichen Handschrift des bedeutenden Mannes. Zu Füßen des Philosophen schlummerte Kritias und träumte von einem Wolf, der sich gerade an die Zwillinge heranschlich.
»Bring es weg und laß es in die nächste Ausgabe setzen«, sagte Platon zu dem Sklaven.
Die Schwiegertochter kehrte erst abends zurück. Der Gelehrte bereitete das Essen selbst und legte den Wildfang schlafen…
Viele Jahre später erzählte der dick gewordene, bärtige Kritias seinen Freunden und Zechkumpanen: »Ich mit Schwung diese kleine Muschel übers Geländer, der Alte schreit: ›Halt! Weiter ist von Atlantis nichts übriggeblieben!‹ Darauf ich: ›Sei ruhig, Opa, du hast Sklerose.‹ Da ist er wütend geworden und hat über Atlantis geschrieben.«
Die Freunde sahen Kritias mitleidig an und glaubten ihm kein Wort. Sie rüsteten ein Schiff aus zur Suche nach dem verschwundenen Kontinent.