Rolf Krohn

Lichtspruch nach Tau

1

Ein leises Knacken – Finsternis wallte auf. Nicht das schwächste Licht schimmerte, nirgends fand sich ein Gegenstand, an dem sich das suchende Auge hätte festhalten können. Matte, bunte Schlieren schwammen vorüber, flossen ineinander, ständig die Farbe wechselnd.

Lichtpunkte tanzten heran, durchstießen den Schleier, dehnten sich zu Strichen, schwollen an zu zitternden Kreisen. Das Beben erstarb, die Kreise formten sich zu sanft gekrümmten Sechsecken. Ein Wabengitter entstand. Jetzt trat das Bild zurück; die Anzahl der bunten Waben nahm zu, eine riesige Facettenfläche bildete sich.

Sie schien mir vertraut. Woher kannte ich sie?
Abermals geriet das Bild in Bewegung und glitt zurück. Wände schoben sich ms Blickfeld. Ich befand mich in einem langgestreckten Raum. Und da standen… Menschen!
Laute drangen an mein Ohr.
»… Die Schiffe schweigen noch immer. Ob sie wohl jemals senden werden?«
»Die Theorie sagt es. Aber der vorausberechnete Wert hat eine Unschärfe – nach jeder Seite um etwa dreißig Tage.«
Eine Gestalt aus der Gruppe wandte sich um. Ihr kantiges Gesicht kam mir ebenfalls bekannt vor.
»… Distanzen sind ungeheuer. Die kleinste Ungenauigkeit – und unvorhersehbare Folgen! Wir müssen uns auf die Technik der Vorväter verlassen. Es geht nicht anders.« Er deutete auf die Facettentafel. »In einigen Tagen wissen wir, ob sich der Aufwand lohnte. Entweder schweigt das Schiff Nulldrei, dann ist der Versuch mißlungen. Wenn es sich aber meldet…«, er ließ die Blicke in die Runde schweifen, »dann steht Ihre Stunde bevor! Wer die Prüfungen am besten besteht, reist nach Tau Ceti. Vielleicht Sie, Jean, oder Sie, Victor?«
Er schaute mich an. Kälte rieselte in meine Adern. Victor – war ich das? Aber was sollte…?
Das Bild verblaßte. Eine tiefe, suggestive Stimme erklang: »Victor, Sie dürfen noch nicht fragen! Das könnte Ihnen und Ihrer Mission schaden. Bleiben Sie ganz ruhig, und erinnern Sie sich. Nichts erzwingen! Entspannen Sie sich vollkommen, lassen Sie Ihrem Gedächtnis Zeit! Gehen Sie der Reihe nach vor, Victor. Denken Sie daran, wie man zu den Sternen flog – denken Sie langsam!«

2
Gewiß… natürlich! Man hatte den Mars, die Venus erreicht, sogar etliche Jupitermonde besucht. Der Weg schien vorgezeichnet: Rakete, Ionenschiff, Photonenschiff.

In Wirklichkeit lagen die Probleme anders. Ein Lichtjahr Weg verlangt zehn Jahre Flug und mehr, selbst wenn man die Zeitdehnung berücksichtigt. Die Sterne aber liegen noch viel weiter. Darum wurde das Generationenraumschiff konzipiert: Nicht die Kinder, nein – Enkel oder gar Urenkel würden das Ziel erreichen, und deren ferne Nachkommen müßten einst nach der Erde suchen…

Als man dies verworfen hatte, traten die Hibernatoren in den Mittelpunkt des Interesses. In den medizinischen Zentren nützten sie fraglos. Doch von da aus den Sprung zur Langstreckenraumfahrt zu wagen wäre mehr als riskant, wäre verantwortungslos gewesen.

Auch von Kyborgs war zeitweise die Rede, von menschlichen Gehirnen, mittels Apparaten versorgt. Die Lebenserwartung wäre um ein vielfaches gestiegen. Flugzeit und Existenzdauer hätten übereingestimmt. Wenigstens glaubten das die Erfinder. Aber auch dieser Plan verschwand stillschweigend in den Akten, als man sich die Konsequenzen überlegte.

Eines verschwand indessen nicht: die Idee des künstlichen Organismus, der von einem Menschenhirn gelenkt wurde. Schließlich wurde sie auf neuartige Weise verwirklicht. Man erfand den Lichtspruch.

Schon bald erwies sich, daß der Raumflug auf diese Weise mit einem nahezu unendlichen Radius betrieben werden konnte.

3

Die Erinnerung zerriß mit einem Schlag. Eine emotionslose Stimme meldete sich: »Hier spricht das Steuerzentrum des Raumschiffs CONQUISTADORE. Ich begrüße Sie an Bord, Victor. Die erste Phase des psychologischen Reaktivierungsprogramms ist abgeschlossen. Bisher verlief alles ordnungsgemäß. Keine Defekte.«

Die Anlage schwieg wieder. So unpersönlich ihre Worte auch klangen, ich spürte Erleichterung. Ich befand mich auf dem Schiff, also war das Unternehmen gelungen! Jetzt erst begriff ich die Zusammenhänge. Die Psychologen hatten das schrittweise Hinführen erfunden, um den Astronauten zum neuen Problemkreis zu leiten. Andernfalls wäre ein Schock unbegrenzten Ausmaßes eingetreten. Sich unvermittelt im All zu erleben – von einer Sekunde zur nächsten –, das überstand die widerstandsfähigste Psyche nicht.

Doch warum vermochte ich nichts zu sehen, zu hören, zu fühlen? Wieder erklang die tiefe, eindringliche Stimme: »Nichts erzwingen, Victor! Denken Sie nach, und lassen Sie Ihrem Gehirn Zeit, sich selbst zu ordnen! Verkrampfen Sie sich nicht, entspannen Sie sich!«

4
Sah ich da nicht plötzlich mein Zimmer? Ja, ich erkannte es wieder! Dort – der schimmernde Projektionskristall! Gleich mußte ein Bild darin… Da war es bereits!

Schwärze erfüllte den Raum und nahm mich gefangen. Ein fluoreszierendes Fadenkreuz schwebte dreidimensional im Nichts. Wie ein Punkt leuchtete in der Mitte ein Stern – die Sonne Tau Ceti.

Zehn Sekunden später erschien das nächste Foto. Während seines Fluges hatte das Raumschiff es angefertigt und, am Ziel angelangt, zur Erde gesendet – aus elf Lichtjahren Entfernung.

Bild folgte auf Bild, der Lichtpunkt wuchs. Schließlich zeigte ein Leuchtpfeil auf kaum sichtbare Fünkchen: Planeten! Ein unsichtbar bleibender Kommentator erläuterte, was den Bordrechner bewogen hatte, gerade den zweiten Planeten anzusteuern.

Darauf folgten Bilder von dessen Oberfläche. Sie zeigten Wolkenfelder – gab es dort Wasser? –, Kontinente und… Meer! Ich hielt den Atem an.

Diagramme über die Zusammensetzung der Atmosphäre wurden eingeblendet: Kohlensäure, Zyanwasserstoff, Stickstoff, Wasserdampf und Staubteilchen.

Eine Hoffnung zerbrach. Zyanwasserstoff, also Blausäure, war das tödlichste Gift für alle Sauerstoffatmer.

5
Das Bild erlosch. Überrascht wurde ich mir bewußt: Das Raumschiff CONQUISTADORE kreiste um Tau Ceti II, und ich befand mich darin. Der Lichtspruch war gelungen!

Da stockte ich. Wie war ich eigentlich hierhergekommen? Per Lichtspruch – das war ein Wort, keine Erklärung. Dumpf ahnte ich, daß ein Problem auf mich zukam.

Lichtspruch? Ich bestehe doch nicht aus Licht. Materie aber bewegt sich stets langsamer als Licht. Da steckt ein Widerspruch…

»Geduld!« sagte die tiefe Stimme. »Geduld, Victor. So schnell geht es nicht. Die Systeme arbeiten gründlich, aber langsam. – Erinnern Sie sich an die Lichtspruchanlage auf dem Mond? Hatten Sie dort nicht zwei Besucherinnen…? Konzentrieren Sie sich auf diese Erinnerung!«

6

 

»Eine so moderne Anlage… und dann fast hundert Jahre alt? Glaub ich einfach nicht!«

Die Stimme war sehr jung. Ich drehte mich um. Zwei Mädchen waren hereingekommen. Richtig, man hatte uns den Schulausflug zum Mond angekündigt. Sicherlich wußten sie nicht, daß ich Mitarbeiter am Institut war.

»Diese Anlage wurde erst vor vierzehn Jahren in Betrieb genommen«, sagte ich. »Die erste, die vordem hier stand, reichte nur bis zum Ganymed.«

»Und wie weit kommen Sie hiermit?«

»Demnächst wird sich das erste Raumschiff melden – von der Sonne Tau Ceti.«
Ungläubig schauten sich die beiden an. Konnten sie sich darunter nichts vorstellen?
»Habt ihr von dem riesigen Laser gehört? Wart ihr am Sender?«

Sie nickten. »Bloß in die Computerzentrale hat man uns nicht
hineingelassen. Ist da so wenig Platz?«

»Gar keiner. Zwischen den Apparaten kommt man kaum durch. Wenn dort ein Astronaut zur Abtastung fertiggemacht wird, beschwert sich der Arzt, weil er sich überall blaue Flecke holt.«

»Tut das Abtasten weh?« fragte das eine Mädchen. Offensichtlich hatte sie das kleine Abzeichen an meiner Jacke entdeckt.

»Nein, man merkt überhaupt nichts.«

Ich hatte mich in den Sessel zu setzen und gegen die Rükkenstütze zu lehnen. Ein Assistent hob mir den Meßring auf den Kopf und führte die Apparatur heran, bis der optische Abstandsmesser warnte. Alles Weitere übernahm das steuernde Elektronenhirn…

7

 

Wie eine Tür glitt die psychologische Sperre vorbei, der sogenannte Hypno-Block.

Da niemals ein Mensch oder etwas sonstwie Massebehaftetes mit Lichtgeschwindigkeit reisen würde, hatte man das Wesentliche zu den Sternen gefunkt, das Gehirn. Ein kompliziertes Gerät tastete die Hirnrinde des Astronauten ab und übertrug die elektrischen Muster Schicht für Schicht auf ein Magnetband. Zum Schluß wurde die Aufzeichnung verschlüsselt und mit dem Riesenlaser zu dem Raumschiff gesendet, das um einen Planeten des Zielsterns kreiste.

Übel war nur, daß beim Abtasten der inneren die äußeren Hirnschichten gelöscht wurden. Befand sich der gesamte Inhalt auf dem Magnetband, wäre der Astronaut tot gewesen – hätte man ihn nicht mittels besonderer Geräte am Leben gehalten. Nach dem Ende des Abtastens wurde das Band in umgekehrter Richtung abgespielt und damit jeder Nervenzelle der ursprüngliche elektrische Impuls zurückgegeben. Seit dem ersten Versuch hatte dieses Verfahren fehlerlos funktioniert.

Den Ärzten indessen gefiel das keineswegs. Sie wußten immer noch nicht, welche Bedeutung den einzelnen Zellgruppen zukam. Man übertrug alles, wie man einen Text in einer fremden Sprache auf einem Tonband registriert, ohne etwas davon zu verstehen.

8
»Hier spricht das Steuerzentrum des Raumschiffs CONQUISTA-DORE. Die Lernphase ist abgeschlossen. Konzentrieren Sie sich jetzt auf die äußeren Sinneseindrücke! Die entsprechenden Zentren werden eingeschaltet!«

Bunte Nebel vor meinen Augen – allmählich schälten sich Konturen heraus.
Ja, da war alles. So hatte ich es mir vorgestellt: ein kleiner, dämmriger Raum, Schaltpulte, Kontrolleuchten. Flimmernd grüßten die Bildschirme des Bordradars und der Fernsehsysteme. In einer Ecke entdeckte ich die silbernen Fassungen, die den schimmernden Kristall der Videoprojektionsanlage hielten. Flüchtig schoß es mir durch den Kopf: Heute gab es keine Stäbe mehr, man benutzte Kraftfelder. Dies erinnerte mich daran, wie alt das Schiff war. Und dennoch arbeitete es zuverlässig. Tiefe Dankbarkeit gegenüber der Technik erfüllte mich.
Rechts Anzeigetafeln. Ziffern glommen auf, wechselten in langsamer oder rascher Folge. Die Bezeichnungen daneben sagten, was angezeigt wurde. In weiser Voraussicht hatten die Erbauer die seinerzeit entstehende Standardsprache benutzt. Klug war das gewesen, denn heute beherrschte kaum jemand mehr die alten Dialekte. Ich wußte nicht einmal, was CONQUISTADORE bedeutete, obwohl man es mir daheim sicherlich erklärt hatte.

»Sie können jetzt sprechen, Victor!«

Die Stimme des Steuerzentrums klang nun anders. Ich spürte, sie kam von den Tafeln. Also hörte ich mit den eigenen Ohren!

Unwillkürlich fragte ich: »Wie lange dauert der Vitalisationszyklus noch?«
»Zweiundzwanzig Sekunden«, erklärte die Maschine. »Noch ein Programmpunkt ist zu klären. Kontrollmessungen müssen vorgenommen werden.«
Eine kurze Pause trat ein, dann sagte der Computer: »Das letzte System ist eingeschaltet. Sie können aufstehen und sich bewegen, Victor. Die Reaktivierungsautomatik wurde abgetrennt.«

9
Mit einer raschen Bewegung wollte ich mich erheben. Die Muskeln gehorchten mir aber nur widerwillig, als ob mein Körper gelähmt wäre. Erstaunt blickte ich an mir hinab – und erschrak. Ich sah Metall und Plast!

Und jetzt erinnerte ich mich auch des letzten Geheimnisses der Lichtspruchtechnik: Das Muster eines menschlichen Gehirns mußte in etwas anderes eingebettet werden. Daher befand sich im Raumschiff ein Roboter mit einem großen, unprogrammierten Elektronenhirn. Wenn dies die im Lichtspruch codierten Impulse aufgenommen hatte, wurde es zum zweiten Ich des Astronauten – und der künstliche Körper war dann sein Leib.

Einer Halbmaschine können die Knie nicht weich werden. Daher hielt ich mich aufrecht und gab mir Mühe, möglichst rasch den neuen Existenzzustand zu akzeptieren und innerlich zu verarbeiten. Glücklicherweise hatte ich das trainiert, dennoch dauerte es eine Weile. Die eckigen Bewegungen meines neuen Körpers machten mir zu schaffen. Etliche Schritte lehrten indes mein Gehirn, wie es zu befehlen habe, damit die Beine richtig standen. Arme, Hände und Finger würden mir – davon war ich überzeugt – noch Schwierigkeiten bereiten.

»Ich erwarte Ihre Weisungen, Victor!« sagte das Elektronenhirn des Raumschiffs. Stelzbeinig trat ich zum Kontrollpult, um fürs erste die Vitalisationsanlage stillzulegen.

»Sind seit der Abstrahlung des ersten Berichts an die Erde technische Defekte eingetreten?« Das war eine Standardfrage, aber die wichtigste – schließlich hing davon ab, was mir zu tun verblieb.

»Die Leistungsfähigkeit der Solarzellen sank um fünfKomma-vier Prozent. Staubteilchen haben die Elemente beschädigt. Sonst keine Leistungsminderungen. – Inzwischen wurden die Batterien aufgeladen und zur Hauptsendung vorbereitet.«

Geschafft! Alles stand zum besten. Der Mensch Victor, Mitarbeiter am Institut für Astronautik, war in der Verkleidung eines Roboters an der Sonne Tau Ceti erschienen, um die vorderste Front irdischen Wissens auf elf Lichtjahre hinauszuschieben.

Welch eine Großtat der Technik!

 

10

Die Arbeit begann. Ich wandte mich den Meßgeräten zu und ließ mir die Daten des Planeten durchsagen, soweit Neues vorlag.

»Ungewöhnliche Erscheinungen?«
»Drei schwere Vulkanausbrüche der Kategorie F, einundvierzig der Kategorie G, fünfhundertundsieben der Kategorie E. An Beben wurden registriert: zweiundsiebzig der Kategorie…«
»Danke, die Zahlen behalte für dich!«
Gab es wirklich keine Anzeichen für Leben auf dieser Welt? Der giftigen Atmosphäre zum Trotz… vielleicht…?
»Sind Erscheinungen erfaßt worden, die nicht auf tektonisch-vulkanische Bewegungen zurückzuführen sind?«
»Nein.«
Also kein Leben. Es konnte ja auch keins geben.
Und ein Nichtsauerstoff-Leben? Wir hatten darüber gesprochen, als die Daten von Tau Ceti II vorlagen. Theoretisch war eine solche Existenzform durchaus denkbar, doch schien es fraglich, ob ich sie erkennen würde, selbst wenn ich sie fand. Falls ich Glück hatte, vor allem genügend Zeit…
»Wenn du die durchschnittliche Strahlungsquote der Sonne voraussetzt, um die Batterien nachzuladen – wie lange könnte ich existieren? Denke an den Meteorstaub!«
Der Computer antwortete sofort: »In der Umlaufbahn drei Monate, wenn das Schiff seine Bahn nicht ändert. Bei Manövern entsprechend weniger.«
Ein Vierteljahr! Und dort unten drehte sich ein ganzer Planet. Wie sollte ich in dieser kurzen Zeitspanne vom Orbit aus etwas entdecken, was die Automatik in zweiundzwanzig Jahren nicht registrieren konnte? Freilich, sie besaß keine Maßstäbe.
Und wenn mein Nachfolger die Suche fortsetzte? Theoretisch erlaubten die Apparate unendlich viele Vitalisationen in den Roboterkörper. Ich könnte ihm vieles hinterlassen…
»Wie groß sind die statistischen Aussichten, daß nach zweiundzwanzig Jahren die zweite Reaktivierung gelingt?«
»Siebenunddreißig Prozent«, erwiderte das Steuerzentrum. »Es kann um vier Punkte schwanken. Aufgrund der vorliegenden Daten über Mikrometeoriten und der zu erwartenden Abnutzung der Apparaturen wird keine weitere Übertragung empfohlen.«
Alles klar! Nach meinem… Abschalten würde das Raumschiff unbemannt bleiben.
»Nach Leben brauchen Sie nicht zu suchen«, hatte der Projektleiter bei der letzten Besprechung erklärt. »Die Voraussetzungen sind derart negativ, daß das uneffektiv wäre. Sie müssen mit Ihrer Betriebszeit haushalten, sie optimal nutzen. Der Planet ist groß. Selbst wenn es irgendwo Mikroorganismen gibt: Sie würden sie erst nach Monaten entdecken – also nicht entdecken. So lange reicht die Energie nicht!«
»Was aber, wenn sich dennoch irgendwelche Erscheinungen gezeigt haben, die auf Leben deuten? Zweiundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit!«
»Das glaube ich Ihnen, Victor«, erwiderte der andere nachsichtig. »Aber eine Illusion kann keine Arbeitsgrundlage sein. Gut, wenn – dann müssen Sie an Ort und Stelle entscheiden. Doch wenn nicht, und das ist allzu wahrscheinlich – das Forschungsprogramm ist das Effektivste, also auch das Beste für Sie.«

11
Das Programm war eindeutig. Victor II sollte astronomische Messungen vornehmen, die Fotos aus dem Orbit sortieren und auswerten, damit ein ausführlicher Bericht zur Erde gesendet werden konnte. Es galt, das Wichtigste herauszufinden, für das gesamte Material reichte die Sendezeit keinesfalls. So lautete die Anweisung, sie war logisch.

Aber war sie auch sinnvoll? Fotografien und Messungen auswerten konnte auch das Elektronenhirn des Raumschiffs, wenn ich ihm Anleitung dazu gab. Wollte ich mich darauf beschränken, wäre meine Lichtspruchreise nach Tau überflüssig gewesen.

»Kann ich mehr herausfinden als das Steuerzentrum? Schwerlich, zumal in der mir verbleibenden Zeitspanne. Andererseits – ich kann doch nicht einfach die Anweisung übertreten!«

Wenn ich landete – die mobile Einheit erlaubte es zwar, doch es gab keine Rückkehr! Ich müßte auf dem Planeten verbleiben, meine Lebensdauer würde nach Tagen zählen, vielleicht bloß nach Stunden. Immerhin, die Chance, Leben zu finden, wäre größer als beim Verbleiben in der Umlaufbahn.

»Kann man das gegeneinander aufwiegen?«
Das Programm verneinte es.
Sobald keine Vitalisation mehr möglich war, sollte das

Raumschiff auf einem vorher zu bestimmenden Platz niedergehen und mit seinem großen Sender als Navigationshilfe für spätere Flüge dienen – sozusagen als Funkfeuer. Die mobile Einheit sollte diesen Landepunkt erkunden.

Jetzt aber fiel mir etwas auf: Vom Roboter Victor war keine Rede mehr!

 

12

Niemand konnte mir raten. Die anderen saßen elf Lichtjahre entfernt. Ich war allein wie niemand zuvor, die elektronische Kopie eines Menschen namens Victor.

Hatten jene, die das großartige Verfahren der Lichtspruchtechnik austüftelten, auch an die Einsamkeit des Astronauten gedacht?

Nimm dich zusammen, Victor! Du stehst hier im Namen der Menschheit, erweise dich ihrer würdig!
Große Worte! Ich kreiste in einer veralteten Rakete um einen toten Planeten und sammelte Daten. – Sobald ich sie der fernen Erde zugefunkt hatte, würde ich sterben, und niemand fragte nach mir.
»Was bin ich denn eigentlich? Ein Mensch – ein Roboter?«
Schaute ich an mir hinab, war da Metall und Plast. Menschen sahen nie so aus. Ein Roboter andererseits würde dem vorgegebenen Programm folgen und keine Zweifel nähren. Er käme nicht einmal auf den Gedanken, vielleicht doch zu landen – entgegen der Anweisung seiner Schöpfer.
»Bin ich demnach ein Monstrum? Opfer gar einer wissenschaftlichen Leistung? Das kommt der Wahrheit zweifellos näher. Meine Erbauer paßten nicht die Technik dem Menschen, sondern den Menschen der Technik zu. Zupressen – ein treffenderes Wort!«

Hilflos schaute ich die stummen Anzeigetafeln an, als wenn da ein Ratgeber wäre. Kontrollichter blinkten gleichgültig.
»Schluß mit dem Grübeln! Ich handle als Mensch. Ein Risiko ist da, ich sehe es; aber der Nutzen für die Erde wird größer sein. Sollen sie mich zu Hause verurteilen – ich lande!«

Gefaßt wandte ich mich dem Steuerzentrum des Schiffs zu. »Mach die mobile Einheit klar zum Abtrennen und zur Landung!«

Lämpchen flackerten, die Elektronik überprüfte sämtliche Funktionen. Auf einer Facettenfläche rückten farbige Lichtpunkte zusammen und vereinigten sich zu einer grünen Linie. Das bedeutete Startbereitschaft.

»Stell den provisorischen Bericht für die Erde zusammen. Wenn ich mich innerhalb einer Stunde nicht melde, sendest du diesen Rapport mit der Information über den Unfall. Eventuelle diesbezügliche Daten kannst du anfügen.«

»Jawohl«, erwiderte die Maschine gleichmütig.
»Nach dem Ablegemanöver gebe ich weitere Anweisungen von Bord der mobilen Einheit aus. Die Funkverbindung ist stabil?«
»Die Geräte sind in Ordnung«, erhielt ich zur Antwort. »Während des Fluges der Probenrakete traten keine Störgeräusche auf. Die Strahlungsgürtel werden den Kontakt nicht behindern, es wurden dementsprechende Frequenzen ausgesucht.«
Ohne das zu wollen, bewunderte ich die Konstrukteure der CONQUISTADORE. Sie hatten hervorragende Arbeit geleistet – weitaus großartiger noch, wenn man das damalige Niveau bedachte. Indes – war es nicht dennoch fragwürdig, mich dieser Technik unterzuordnen?
»Ich brauche einen Landeplatz, an dem möglicherweise auch das Schiff niedergehen kann, denn nachher werde ich keinen großen Aktionsradius haben.«
»Angaben liegen vor. Eine planetologische Prognose kann aber nur auf fünf Jahre vorgenommen werden.«
Wenn ich landete, würde ich keine fünf Tage mehr leben! Aber ich mußte an die Erde und an spätere Raumschiffe denken. Sie brauchten das Funkfeuer auf Tau Ceti II.
»Das Bild!«
Die Panoramakarte des Planeten leuchtete auf. Fremd sah sie aus, wirkte aber dennoch vertraut. Auch hier gab es Gebirge und Wüsten und Klippen und Meere…
»Hast du Flutwellen infolge von Seebeben registriert? Traten in den Wüsten Sandstürme auf? Gibt es Zonen gefährlicher Strahlung?«
Der Computer bejahte und füllte sogleich einen Sichtschirm mit einer langen Liste von Koordinaten und Zeitangaben – unnütze Daten für mich. Ich ließ sie sofort löschen.
»Dann streiche alle Gebiete, in denen solche Risiken vorliegen. Was bleibt danach als planetologisch stabil übrig?«
Zahlreiche helle Punkte glommen auf der Karte. Immer noch waren es zu viele, als daß der Rechner mir die Entscheidung abnehmen könnte.
Eine Stelle fiel mir besonders auf. Es handelte sich um eine fast ebene Hochfläche inmitten eines riesigen Kontinentalblokkes. Nicht weit entfernt strömte ein kleiner Fluß vorbei. Nach einigen Kilometern stürzte er in zahllosen Katarakten in die Vorberge hinab, wo er sich mit anderen Wasserläufen vereinigte.
In solcher Höhe konnte es kaum Sandstürme geben. Die Struktur schien stabil zu sein. Im übrigen, das Schiff vertrug einiges und würde nicht beim ersten Bodenzittern zusammenbrechen.
Den Spezialaufnahmen nach handelte es sich um ein basaltähnliches Gestein. Wahrscheinlich aber wich die chemische Zusammensetzung beträchtlich ab, denn hier gab es keine Sauerstoffatmosphäre. Das mußte sich auf die gebirgsbildenden Prozesse auswirken.
Der Bach…! Wasser! Wenn hier überhaupt Leben existierte, dann in der Nähe von Wasser. Mir kam eine Idee, wie ich das Programm doch noch erfüllen und zugleich das tun könnte, was meines Erachtens das Allerwichtigste war.
»Dort wird gelandet – Koordinatenpunkt T neun!«

13
Ein Beben ging durch den metallenen Rumpf. Es war vollbracht. Die mobile Einheit des irdischen Raumschiffs CONQUISTADORE hatte den Planeten eines anderen Sterns erreicht und war auf ihm gelandet. Ich konnte aussteigen – als erster Mensch in einer fremden Welt unter einer anderen Sonne.

»Victor, du bist am Ziel!« sagte ich mir. »Verstehst du, du bist angekommen! Du bist auf dem Planeten, den du erreichen wolltest, elf Lichtjahre von deiner Heimat entfernt!«

Aber ich konnte mich nicht darüber freuen. Alles wirkte flau. Lag es daran, daß ich eine elektronische Kopie war? Vermochte sich Victor II nicht zu freuen, weil er kein Herz besaß, sondern nur einen Taktgeber? Oder hatte ich das Pathos so lange beschworen, bis es zur Phrase geworden war?

Ernüchtert machte ich mich an meine Arbeit. Die Funkverbindung zum Schiff im Orbit war stabil. In einer neuen Umlaufbahn schwebte es nunmehr scheinbar über dem Äquator des Planeten. Selbsttätig richteten sich die Antennen ein. Hier oben auf der Hochebene befanden sich keine natürlichen Hindernisse.

Die kleine Lampe der Außentür leuchtete. Ich bemerkte es erst jetzt. Schwerfällig und ein bißchen müde erhob ich mich und betätigte das Schloß. Lautlos schwang die Klappe auf. Ein Schwall fremder Luft strömte herein. Sofort begannen die Warnindikatoren zu blinken, denn sie registrierten das giftige Zyan. Fast glaubte auch ich es zu spüren, doch das war Einbildung. Sauerstoff, Stickstoff oder Blausäure – mir nützte das eine so wenig, wie mir das andere zu schaden vermochte. Ich war eben nicht Victor.

Vor dem Ausstieg dehnte sich ein welliges, braun-grau schattiertes Hochland. Steinig und öde war es. Der Weg die Leiter hinab fiel mir nicht schwer, dann stand ich endlich auf dem Planeten und schaute unwillkürlich zum Himmel hinauf, an dem die fremde Sonne schien.

Sie sah so aus wie unsere, vielleicht etwas kleiner und blasser, aber das konnte täuschen. Nicht ein Wölkchen fand sich am Firmament, die Hochebene lag über der Wolkengrenze. »Victor, du Narr! Freust du dich nicht?«
Stumm und steif starrte ich in die Runde. Wie ein Denkmal

stand ich da und wartete auf…. ja worauf eigentlich? Träge kroch die Zeit dahin. Windstöße ließen hier und da kleine Staubfontänen wirbeln. Bald brachen sie zusammen – wie meine Illusionen von dem »historischen Augenblick«.

Schließlich raffte ich mich auf. Ich ging zur Rakete, um die Analysegeräte herauszunehmen. Die Konstrukteure konnten nicht ahnen, daß das Forschungsprogramm die Bodenproben mittlerweile für nebensächlich hielt, weil niemand mehr an Leben glaubte. Sie hatten alles vorbereitet.

Auf einen Knopfdruck öffnete sich eine Klappe, der Apparat glitt hervor. Zweiundneunzig Proben würde er analysieren und die gespeicherten Ergebnisse dem Raumschiff übergeben. Meine Aufgabe war es, die Steine, Sandprisen oder Wasserbecher heranzuholen. Die Automatik erledigte alles Weitere. Sie fertigte Fotos bei verschiedenfarbigem Licht an – einschließlich Röntgen- und Gammaquanten –, lieferte Mikroaufnahmen und eine Spektralanalyse. Ich war – ja, was war ich dabei? Zuschauer? Nein – Handlanger!

14

»Wozu bin ich hergekommen? Um die Sterne zu besuchen? Wie großsprecherisch! Nein, man schickte mich her, damit ich die Automatik mit Material versorge. Eine absurde Situation…. aber liegt nicht das gesamte Unternehmen Lichtspruch ähnlich verzerrt?«

Ich konnte nicht viel geraderücken. Doch wenn ich meinem Dasein wenigstens einen geringen Sinn geben wollte, mußte ich nach Leben suchen. Wo zuerst? Am Ufer.

Die mobile Einheit stand etwa zweihundert Meter von einem Bach entfernt, wahrscheinlich einem Zufluß jenes Flüßchens, das ich auf der Luftaufnahme gesehen hatte. Ich erreichte es bald.

Ein steiniges Bett, bunte Sandkörner schillerten, vereinzelt lagen größere Stücke. Das Wasser floß rasch, bildete Strudel und kleine Schnellen.

Ich nahm Kiesel und Sand auf, schöpfte Wasser in einen Becher und eilte zur Rakete zurück. Die Analyse würde eine Weile dauern; bis die Resultate vorlagen, gab es für mich nur eins – warten.

15
»Es sind keine Makromoleküle nachweisbar. Das Wasser enthält Mineralsalzlösungen und Blausäure. Organische Verbindungen – Zyanide ausgenommen – gibt es nicht!«

Aus! Diese Welt war tot! Wenn sich keine potentiellen Nahrungsmittel im Wasser befanden, konnte niemand sie verzehren und so weiter. Eine Kette ohne Anfang.

»Vielleicht sind auf einem anderen Kontinent und unter günstigeren Bedingungen…« Ich beendete den Satz nicht. Was hätte mir selbst die Gewißheit genützt? Ich war hier eingesperrt auf einem Hochplateau, das ich nie mehr verlassen konnte.

Mein Wagnis war umsonst! Ich hatte lediglich bestätigt, was ohnehin zu vermuten war. Tau Ceti II gehörte zu den toten Planeten.

Wäre es nicht gescheiter gewesen, ich hätte die Anweisungen der Erde befolgt? Jedenfalls würde ich dann länger leben.
»Nein, Victor«, sagte ich mir. »Sinnlos war es nicht. Ich habe etwas erfahren, auch wenn es ein negatives Resultat ist. Diese Welt scheint nicht tot zu sein, sie ist es!«

Und dennoch! Mußte man mich dazu hierherschicken? War ich dafür nicht zu gut?
Gedankenlos füllte ich das Magazin des Analysators mit neuen Proben. Zeit zum Nachdenken hatte ich im Überfluß – jetzt, da das Ergebnis feststand.

An einem war nicht zu rütteln: Das Unternehmen war fehlerlos verlaufen. Ich war ins Raumschiff übertragen worden, bei der Vitalisation gab es keine Störungen, das Landemanöver war einwandfrei. An alles hatten die Konstrukteure gedacht.

An alles?

In mir nagte ein Zweifel, auch wenn ich keinen Namen für ihn fand. Was war ich eigentlich? Ein Blick auf das Analysegerät vor mir sagte es: Mittel zum Zweck.

»Nein, das ist unsinnig!« Ich konnte das nicht akzeptieren. Victor – zumindest Victor I – war ein Mensch. Selbst sein Abbild durfte nicht einfach Werkzeug sein. War vielleicht… schon der Zweck fragwürdig?

16

 

Noch während ich die nächsten Proben einsammelte, begriff ich.

»Ich bin betrogen worden. Man schickt mich auf ein Unternehmen ohne Wiederkehr und mit wenig Sinn, mein Vater aber, das heißt mein Bruder…. also Victor I wird gerühmt!«

Auf Tau Ceti II war niemand, der mir recht gegeben oder widersprochen hätte. Niemand hörte mir zu.

 

»Victor, du bist doch nicht etwa – neidisch auf Victor?«

Rasch wollte ich verneinen, aber es war etwas Wahres darin. Zumindest beneidete ich den, der mit den gleichen geistigen Fähigkeiten ausgestattet war wie ich und dem es vergönnt war zu leben. Zu leben, während ich in kurzem sterben mußte, ohne daß jemand einen Gedanken daran verschwendete! Vielleicht war er sogar stolz auf meine Tätigkeit und hielt sie für seine Leistung!

»Du müßtest hier sein, Victor I, um die Wahrheit zu erleben. Mag sein, du wärest weniger stolz. Was hat man mit deinem Verstand getan! Er assistiert einer Maschine!«

Er würde diese Anklage niemals hören. Vielleicht lebte er nicht mehr. Elf Jahre sind lang. – Trotzdem blieb es Unrecht.
Mein Leben war begrenzt, der Tod stand vor der Tür. Sobald der Funkspruch mit den Resultaten an die Erde gesendet worden war, schaltete sich die Elektronik meines Körpers automatisch aus. Exitus.
Ich durfte damit nicht lange warten, denn die Energieversorgung durch die mobile Einheit war mangelhaft. Wenn das Schiff landen würde… Aber zuvor mußte es die Sendung abstrahlen. Von hier aus ging das nicht. Die Erde war zu weit entfernt, als daß eine dämpfende Atmosphäre dasein dürfte. »Victor II, du mußt sterben. Du mußt bald sterben!«

Mechanisch füllte ich den Analysator auf.
»Sollte ich mich nicht einfach hinsetzen und das Ende erwarten? Oder der CONQUISTADORE den Funkspruch befehlen? Dann hätte ich es hinter mir. Was hindert mich eigentlich daran? Die Anweisung? Was geht mich das Programm von Leuten an, die mich ausgesetzt haben?«
Wer war ich? Ein Roboter gewiß nicht! Doch falls ich mich als Mensch empfand, mußte ich mich dann nicht auch wie ein Mensch verhalten?
Es war entschieden.
Ich sammelte neue Proben, schaute nach Wissenswertem aus. Selbst das winzigste Detail konnte wesentlich sein. Die Tätigkeit war stumpfsinnig und unbefriedigend, doch es gab keine andere, und darum war sie meine Pflicht. Ein Befehl, den niemand mir geben konnte als ich selbst!

17
Ein lauter Hupton schallte durch die tote Welt des Planeten. Ich grub gerade ein Loch, um tiefer liegende Steine zutage zu fördern. Warum rief mich die mobile Einheit?

Rasch war ich an der Tür und schaute auf das Kommandopult. Ein Funksignal vom Raumschiff im Orbit! Daß es sich ungerufen meldete!

»Was gibt es?«

»Radarkontakt im Sektor GS 404-67«, berichtete das Steuerzentrum in seiner gewohnten Gleichgültigkeit. »Ein schnellfliegender metallischer Körper auf elliptischer Umlaufbahn. Voraussichtlicher Ankunftstermin in der Warnzone C: minus neunzehn Minuten. Aktuelle Geschwindigkeit, bezogen auf das Schiff: dreiundzwanzig Kilometer pro Sekunde.«

»Ein Meteor?« Warum wich das Schiff nicht selbsttätig aus oder zerstörte den Klumpen?

»Elf Prozent Unsicherheit. Nach Analyse der Bahnelemente hätte der Körper bereits beim vorigen Umlauf registriert werden müssen. Das war nicht der Fall. Es besteht die Möglichkeit, daß es sich um eine korrigierte Flugbahn handelt.«

Das erklärte die Verfahrensweise des Steuerzentrums, mir aber war nichts klar. Sollte tatsächlich…? Sollte ich das Glück haben…?

Ich ließ die Bodenproben liegen und stieg in die Kanzel. Der Bordrechner projizierte das Objekt als langsam dahinziehenden Leuchtpunkt auf einen Schirm.

Als sich die CONQUISTADORE meldete, erschrak ich.

»Achtung! Der Körper hat die Bahn geändert. Bremsmanöver mit zwei G kontinuierlich. Soeben wurden Radarsignale registriert. Sie sind nicht mit den eigenen identisch – ein Raumschiff!«

Ungerufene Erinnerungen drängten sich vor: die vielen Gespräche der Astronauten untereinander – und immer der Wunsch, auf intelligentes Leben zu treffen. Würden wir uns so um die Arbeit im Institut bemüht haben, wenn niemand im stillen gehofft hätte, daß gerade er die Fremden treffen würde?

Dort, einige hundert oder tausend Kilometer entfernt, flogen sie. Sie hatten den Kurs geändert, die CONQUISTADORE angepeilt. Eindeutig, sie hatten mich entdeckt. Bald würden sie wissen, wo sich der Pilot befand.

Mein Flug hatte also doch einen Sinn!
»Achtung! Neues Manöver! Warnzone B erreicht! Die Meteoritenabwehr wurde bereits blockiert. Ich bitte um Anweisungen!« meldete sich das Steuerzentrum.
Alles war klar. Meine Anwesenheit zu verleugnen wäre verbrecherisch gewesen. Mißverständnisse mochte es geben, doch welchen Haß oder welche feindlichen Absichten sollten die Fremden mir gegenüber haben?
»Sende die üblichen Kennsignale!« entschied ich. »Benutze einen Richtstrahl, damit sie wissen, daß wir ihr Schiff gesehen haben! Wir müssen bedachtsam vorgehen.«
»Achtung, das fremde Schiff sendet Normcodesignale! Es handelt sich um ein Raumschiff von der Erde. Im Speicher ist dieser Typ nicht registriert.«
Unmöglich! Wie konnte eine Rakete von der Erde hier bei Tau Ceti erscheinen? Sie hätte den Lichtstrahl einholen müssen, der mich hierherbefördert hatte!
»Du irrst dich!«
»Soeben erhalte ich einen Funkspruch«, lautete die Antwort des Elektronenhirns. »Ich schalte um!«
Wieder ein Knacken, dann eine menschliche Stimme: »N sieben an die mobile Einheit des Basisschiffs CONQUISTADORE! Nulldrei, hört man mich?« Obwohl der Sprecher ebenfalls gleichmütig redete, war der Unterschied zum Tonfall des Steuerzentrums unverkennbar.
»Victor II hört«, erwiderte ich müde. »Der Empfang ist einwandfrei. – Meine Landung verlief vorschriftsmäßig. Ich empfehle Ihnen, etwas weiter nördlich aufzusetzen.«
»Mache ich. Du kannst zuschauen, es ist nicht gefährlich!«
Das klang siegesbewußt, fast überheblich. Ich lauschte seinen Worten nach, ohne etwas zu verstehen. Da war ein Raumschiff und ein Mensch darin. Woher kam er? Was wollte er?
Seiner Versicherung zum Trotz blieb ich in der Kabine. Warum unnütz etwas riskieren?

18
Am Himmel erschien ein glimmender Punkt. Er wuchs und dehnte sich zu einem Spindelkörper. Das Raumschiff war blendendweiß. Sein Heck lief in fünf große Spreizfüße aus.

Höchstens noch hundert Meter! Ich sah keine Stichflammen bremsender Triebwerke, und doch verlangsamte sich der Fall immer mehr. An dem Ort, wo das Schiff landen wollte, warf eine unsichtbare Kraft Steine und Sand beiseite. Dann berührte die Spindel den Boden.

Ich hörte nur das Prasseln niederfallender Kiesel und aufgewirbelten Sandes. Offenbar arbeitete das Antriebsaggregat lautlos – mir schwindelte fast bei dem Gedanken, was das bedeuten konnte.

»Unsinn, auch das rascheste Raumschiff vermag die Logik nicht zu überholen!«
Im weißen Rumpf öffnete sich eine Klapptür. Eine Leiter wurde ausgefahren, und eine Gestalt in orangefarbenem Skaphander stieg aus dem Schiff. Auf dem Boden schaute sie sich kurz um, entdeckte die mobile Einheit und kam heran. Ich ging ihr entgegen.
Etliche Schritte voneinander verharrten wir stumm und musterten uns. Zwar vermochte ich durch das verspiegelte Glas seines Helms nicht das Mienenspiel meines Gegenübers zu erkennen, das war nebensächlich. Natürlich ein Mensch, was sonst!
Wie aber sah ich aus! In meiner Gestalt fand sich nichts Humanoides. Man hatte Victor II zweckmäßig gebaut, optimal für seine Aufgaben zugeschnitten, gewiß; nur schön war er nicht geworden. Stützen, Streben, Kabelstränge, nirgendwo eine Verkleidung. Ich sollte funktionieren, aber nicht aussehen.
Ich schämte mich zutiefst. War das ein Repräsentant der fernen Erde? Kaum etwas sah dem Menschen so unähnlich wie ich. – Zum Glück hatte ich wenigstens meinen inneren Frieden gefunden.
»Ishimatsu heiße ich«, sagte mein Besucher. Er hatte eine farblose, leise Stimme. »Nun, ist alles gut gegangen?«
Diese Begrüßung ärgerte mich.
»Wie kommen Sie hierher?« fragte ich. »Es ist doch nicht möglich, schneller zu fliegen als das Licht. Oder hat man inzwischen…?«
»Man hat, man hat! Unsere Raumschiffe sind besser geworden. Der Raumsprung, verstehst du? Ein Lichtjahr oder zehn oder hundert – es ist egal.«
Ich verstand ihn nicht. Raumsprung – ein neues Wort, ebenso wohlklingend wie seinerzeit Lichtspruch, aber fremd.
»Es ist natürlich schade, daß deine Arbeit umsonst war. Doch das läßt sich nie vermeiden, das Gute wird vom Besseren abgelöst. – So, und nun kannst du einsteigen. Ich bringe dich nach Hause. Auf der Erde brauchst du nicht an Energiemangel zu sterben. Gut, nicht wahr? Wir haben alles berechnet. Beinahe hättest du uns einen Strich durch den Plan gemacht. Deine unvorhergesehene Landung! Aber es ist ja gut ausgegangen. Wollen wir nicht mehr davon reden. Darf ich bitten, Victor II?«

19
Im ersten Moment wollte ich »Sofort!« sagen. Der zweite Augenblick hieß mich schweigen.

Was sollte ich auf der Erde? In einem Museum landen, zu nichts mehr nütze? Von Neugierigen begafft werden?
»Ich fliege nicht mit«, sagte ich nach einer langen Pause. »Ich bekam einen Auftrag, er ist noch nicht ausgeführt. Auf der Erde wäre ich nutzlos, ein Monstrum. Hier… Ich müßte mich verachten, wenn ich die Aufgabe im Stich ließe!«

Ishimatsu fuhr zusammen, ich bemerkte es trotz seines Skaphanders. »Machen Sie keinen Unsinn, Victor! Wir brauchen Sie!«

Ich hob ein paar Steine auf. »Braucht der Analysator mich nicht? Meine Lebenszeit ist begrenzt, ich will sie nicht verschwenden. Verstehen Sie, ich möchte nützlich sein bis zum Ende.«

Der Pilot sprach mit einemmal anders. Seine lässige Arroganz verschwand.
»Victor II«, sagte er eindringlich, fast beschwörend. »Ich bin nur Ihretwegen hierhergeflogen.«
»Ach?« Ich tat verwundert. »Warum haben Sie Victor I nicht mitgebracht? Hat er Angst, mir in die Augen zu sehen?«
»Sie haben natürlich recht«, meinte Ishimatsu nach einer Pause. »Ich bin erstaunt, daß Ihnen das klar wurde – mit der Lichtspruchtechnik gab es Ärger. Wir verwenden sie nicht mehr; das liegt auch an Problemen wie dem, das Sie lösten.

Ich komme nicht der Forschungsergebnisse halber. Sie sind unwichtig geworden. Schon vor langer Zeit untersuchten unsere Raumschiffe sämtliche Planeten dieses Systems. Darum hätte niemand Ihren Bericht ausgewertet.

Aber wir brauchen Sie – nicht die planetologischen Daten von Tau Ceti II. Sie, genauer gesagt: Ihr Gehirn!«
»Wie bitte?«
Ishimatsu zögerte weiterzusprechen. »Victor I ist verunglückt. Darum geht es eigentlich.«
»Was habe ich damit zu tun?«
»Als Ihr erstes Ich mit einem Flugzeug abstürzte«, fuhr der Astronaut fort, »wurde er schwer verletzt. Es versteht sich von selbst, daß die Ärzte ihn retteten. Körperlich ist er wiederhergestellt. Indes wurde sein Gedächtnis fast zerstört, und seine Psyche weist schwere Traumen auf.
Nach langer Diskussion blieben nur zwei Alternativen bestehen: Entweder hätte man ihn geistig annullieren müssen, so daß er gewissermaßen von vorn anfinge. Das würde gegen die Gesetze verstoßen. Die andere Möglichkeit ist die, sein Gehirn mit den alten Unterlagen neu zu füllen. Jene alten Unterlagen, das sind Sie, Victor II!«
Das änderte freilich alles. Meine Verärgerung über den Betrug gab mir keinesfalls das Recht, ein Menschendasein aufs Spiel zu setzen. Es ging um mehr als um die Empfindlichkeit eines Mensch-Maschine-Monstrums. Überdies hatte die Erde begriffen, was sie angerichtet hatte.
Im gleichen Moment wurde ich mir all der Probleme und Widersprüche bewußt, die diesem Plan entgegenstanden. Ich war nicht mehr jener Victor II. Ich hatte hinzugelernt, etwas erlebt – andererseits mindestens elf Jahre Entwicklung auf der Erde versäumt.
»Sollte das so einfach sein? Den Erkenntnisprozeß, den ich durchmachen mußte, kennt Victor I nicht. Wäre er in der Lage, ihn durchzustehen? Wenn nicht – welche Schäden können dabei entstehen?«
Der Pilot zuckte mit den Schultern. »Ich bin Astronaut, weder Mediziner noch Psychologe. Im Institut hat man mir die Lage beschrieben. Ich erhielt den Auftrag hierherzufliegen, um Sie abzuholen. Nicht mehr und nicht weniger. Anfangs habe ich wohl etwas von oben herab geredet. Es tut mir leid. Ich hatte nicht bedacht, welche Schwierigkeiten Sie überwinden mußten. Wir kennen so etwas ja nicht mehr…«

20

 

Ishimatsu schwieg. Reglos und dennoch ungeduldig wartete er an der Tür seines Apparates.

Unwillkürlich schaute ich ein letztes Mal über die Hochfläche. Sie lag so gleichgültig da wie zuvor. Hundert Meter entfernt stand meine mobile Einheit – nunmehr Schrott, obgleich alles noch funktionierte. Weit über mir kreiste die CONQUISTADORE und wartete auf einen Befehl, den niemand mehr erteilen würde.

Ich nahm Abschied von einer lebensfeindlichen Welt. Sie hatte mich viel gelehrt. Ich war ein anderer geworden.
»Eines ist richtig«, sagte ich so leise, daß der Pilot es nicht hören konnte, »die Idee vom Lichtspruch war ein blindes Gleis. Aber es gibt ja andere Linien, beispielsweise den Raumsprung. Ob der wohl auch…«
Was hatte Jean seinerzeit zu Victor I gesagt, als alle auf den Ruf der Basisschiffe warteten? Das Unmögliche fordert am meisten heraus!

»Kommen Sie, Victor!«

 

»Ich komme wieder!« murmelte ich. »Und ich werde die

Fremden finden. Mit dem Raumsprung wird es möglich sein!« Entschlossen drehte ich mich um und trat zur Leiter. Ishi
matsu bedeutete mir stumm, ich möge als erster hinaufsteigen.
Auf halbem Wege schoß mir plötzlich ein bohrender Gedanke
durch den Kopf.
»Sagen Sie, aber bitte ehrlich: Wenn Victor I nicht verunglückt wäre – hätte man sich auch dann für mich interessiert?« Der Pilot antwortete nicht.
Ich stieg in die weiße Rakete. In wenigen Augenblicken
würde ich zu Hause sein.