Rolf Krohn
Lichtspruch nach Tau
1Ein leises Knacken – Finsternis wallte auf. Nicht das schwächste Licht schimmerte, nirgends fand sich ein Gegenstand, an dem sich das suchende Auge hätte festhalten können. Matte, bunte Schlieren schwammen vorüber, flossen ineinander, ständig die Farbe wechselnd.
Lichtpunkte tanzten heran, durchstießen den Schleier, dehnten sich zu Strichen, schwollen an zu zitternden Kreisen. Das Beben erstarb, die Kreise formten sich zu sanft gekrümmten Sechsecken. Ein Wabengitter entstand. Jetzt trat das Bild zurück; die Anzahl der bunten Waben nahm zu, eine riesige Facettenfläche bildete sich.
Sie schien mir vertraut. Woher kannte ich
sie?
Abermals geriet das Bild in Bewegung und glitt zurück. Wände
schoben sich ms Blickfeld. Ich befand mich in einem langgestreckten
Raum. Und da standen… Menschen!
Laute drangen an mein Ohr.
»… Die Schiffe schweigen noch immer. Ob sie wohl jemals senden
werden?«
»Die Theorie sagt es. Aber der vorausberechnete Wert hat eine
Unschärfe – nach jeder Seite um etwa dreißig Tage.«
Eine Gestalt aus der Gruppe wandte sich um. Ihr kantiges Gesicht
kam mir ebenfalls bekannt vor.
»… Distanzen sind ungeheuer. Die kleinste Ungenauigkeit – und
unvorhersehbare Folgen! Wir müssen uns auf die Technik der Vorväter
verlassen. Es geht nicht anders.« Er deutete auf die Facettentafel.
»In einigen Tagen wissen wir, ob sich der Aufwand lohnte. Entweder
schweigt das Schiff Nulldrei, dann ist der Versuch mißlungen. Wenn
es sich aber meldet…«, er ließ die Blicke in die Runde schweifen,
»dann steht Ihre Stunde bevor! Wer die Prüfungen am besten besteht,
reist nach Tau Ceti. Vielleicht Sie, Jean, oder Sie,
Victor?«
Er schaute mich an. Kälte rieselte in meine Adern. Victor – war ich
das? Aber was sollte…?
Das Bild verblaßte. Eine tiefe, suggestive Stimme erklang: »Victor,
Sie dürfen noch nicht fragen! Das könnte Ihnen und Ihrer Mission
schaden. Bleiben Sie ganz ruhig, und erinnern Sie sich. Nichts
erzwingen! Entspannen Sie sich vollkommen, lassen Sie Ihrem
Gedächtnis Zeit! Gehen Sie der Reihe nach vor, Victor. Denken Sie
daran, wie man zu den Sternen flog – denken Sie langsam!«
2
Gewiß… natürlich! Man hatte den Mars, die Venus erreicht, sogar
etliche Jupitermonde besucht. Der Weg schien vorgezeichnet: Rakete,
Ionenschiff, Photonenschiff.
In Wirklichkeit lagen die Probleme anders. Ein Lichtjahr Weg verlangt zehn Jahre Flug und mehr, selbst wenn man die Zeitdehnung berücksichtigt. Die Sterne aber liegen noch viel weiter. Darum wurde das Generationenraumschiff konzipiert: Nicht die Kinder, nein – Enkel oder gar Urenkel würden das Ziel erreichen, und deren ferne Nachkommen müßten einst nach der Erde suchen…
Als man dies verworfen hatte, traten die Hibernatoren in den Mittelpunkt des Interesses. In den medizinischen Zentren nützten sie fraglos. Doch von da aus den Sprung zur Langstreckenraumfahrt zu wagen wäre mehr als riskant, wäre verantwortungslos gewesen.
Auch von Kyborgs war zeitweise die Rede, von menschlichen Gehirnen, mittels Apparaten versorgt. Die Lebenserwartung wäre um ein vielfaches gestiegen. Flugzeit und Existenzdauer hätten übereingestimmt. Wenigstens glaubten das die Erfinder. Aber auch dieser Plan verschwand stillschweigend in den Akten, als man sich die Konsequenzen überlegte.
Eines verschwand indessen nicht: die Idee des künstlichen Organismus, der von einem Menschenhirn gelenkt wurde. Schließlich wurde sie auf neuartige Weise verwirklicht. Man erfand den Lichtspruch.
Schon bald erwies sich, daß der Raumflug auf diese Weise mit einem nahezu unendlichen Radius betrieben werden konnte.
3Die Erinnerung zerriß mit einem Schlag. Eine emotionslose Stimme meldete sich: »Hier spricht das Steuerzentrum des Raumschiffs CONQUISTADORE. Ich begrüße Sie an Bord, Victor. Die erste Phase des psychologischen Reaktivierungsprogramms ist abgeschlossen. Bisher verlief alles ordnungsgemäß. Keine Defekte.«
Die Anlage schwieg wieder. So unpersönlich ihre Worte auch klangen, ich spürte Erleichterung. Ich befand mich auf dem Schiff, also war das Unternehmen gelungen! Jetzt erst begriff ich die Zusammenhänge. Die Psychologen hatten das schrittweise Hinführen erfunden, um den Astronauten zum neuen Problemkreis zu leiten. Andernfalls wäre ein Schock unbegrenzten Ausmaßes eingetreten. Sich unvermittelt im All zu erleben – von einer Sekunde zur nächsten –, das überstand die widerstandsfähigste Psyche nicht.
Doch warum vermochte ich nichts zu sehen, zu hören, zu fühlen? Wieder erklang die tiefe, eindringliche Stimme: »Nichts erzwingen, Victor! Denken Sie nach, und lassen Sie Ihrem Gehirn Zeit, sich selbst zu ordnen! Verkrampfen Sie sich nicht, entspannen Sie sich!«
4
Sah ich da nicht plötzlich mein Zimmer? Ja, ich erkannte es wieder!
Dort – der schimmernde Projektionskristall! Gleich mußte ein Bild
darin… Da war es bereits!
Schwärze erfüllte den Raum und nahm mich gefangen. Ein fluoreszierendes Fadenkreuz schwebte dreidimensional im Nichts. Wie ein Punkt leuchtete in der Mitte ein Stern – die Sonne Tau Ceti.
Zehn Sekunden später erschien das nächste Foto. Während seines Fluges hatte das Raumschiff es angefertigt und, am Ziel angelangt, zur Erde gesendet – aus elf Lichtjahren Entfernung.
Bild folgte auf Bild, der Lichtpunkt wuchs. Schließlich zeigte ein Leuchtpfeil auf kaum sichtbare Fünkchen: Planeten! Ein unsichtbar bleibender Kommentator erläuterte, was den Bordrechner bewogen hatte, gerade den zweiten Planeten anzusteuern.
Darauf folgten Bilder von dessen Oberfläche. Sie zeigten Wolkenfelder – gab es dort Wasser? –, Kontinente und… Meer! Ich hielt den Atem an.
Diagramme über die Zusammensetzung der Atmosphäre wurden eingeblendet: Kohlensäure, Zyanwasserstoff, Stickstoff, Wasserdampf und Staubteilchen.
Eine Hoffnung zerbrach. Zyanwasserstoff, also Blausäure, war das tödlichste Gift für alle Sauerstoffatmer.5
Das Bild erlosch. Überrascht wurde ich mir bewußt: Das Raumschiff
CONQUISTADORE kreiste um Tau Ceti II, und ich befand mich darin.
Der Lichtspruch war gelungen!
Da stockte ich. Wie war ich eigentlich hierhergekommen? Per Lichtspruch – das war ein Wort, keine Erklärung. Dumpf ahnte ich, daß ein Problem auf mich zukam.
Lichtspruch? Ich bestehe doch nicht aus Licht. Materie aber bewegt sich stets langsamer als Licht. Da steckt ein Widerspruch…
»Geduld!« sagte die tiefe Stimme. »Geduld, Victor. So schnell geht es nicht. Die Systeme arbeiten gründlich, aber langsam. – Erinnern Sie sich an die Lichtspruchanlage auf dem Mond? Hatten Sie dort nicht zwei Besucherinnen…? Konzentrieren Sie sich auf diese Erinnerung!«
6»Eine so moderne Anlage… und dann fast hundert Jahre alt? Glaub ich einfach nicht!«
Die Stimme war sehr jung. Ich drehte mich um. Zwei Mädchen waren hereingekommen. Richtig, man hatte uns den Schulausflug zum Mond angekündigt. Sicherlich wußten sie nicht, daß ich Mitarbeiter am Institut war.
»Diese Anlage wurde erst vor vierzehn Jahren in Betrieb genommen«, sagte ich. »Die erste, die vordem hier stand, reichte nur bis zum Ganymed.«
»Und wie weit kommen Sie hiermit?«»Demnächst wird sich das erste Raumschiff
melden – von der Sonne Tau Ceti.«
Ungläubig schauten sich die beiden an. Konnten sie sich darunter
nichts vorstellen?
»Habt ihr von dem riesigen Laser gehört? Wart ihr am Sender?«
Sie nickten. »Bloß in die Computerzentrale hat
man uns nicht
hineingelassen. Ist da so wenig Platz?«
»Gar keiner. Zwischen den Apparaten kommt man kaum durch. Wenn dort ein Astronaut zur Abtastung fertiggemacht wird, beschwert sich der Arzt, weil er sich überall blaue Flecke holt.«
»Tut das Abtasten weh?« fragte das eine Mädchen. Offensichtlich hatte sie das kleine Abzeichen an meiner Jacke entdeckt.
»Nein, man merkt überhaupt nichts.«Ich hatte mich in den Sessel zu setzen und gegen die Rükkenstütze zu lehnen. Ein Assistent hob mir den Meßring auf den Kopf und führte die Apparatur heran, bis der optische Abstandsmesser warnte. Alles Weitere übernahm das steuernde Elektronenhirn…
7Wie eine Tür glitt die psychologische Sperre vorbei, der sogenannte Hypno-Block.
Da niemals ein Mensch oder etwas sonstwie Massebehaftetes mit Lichtgeschwindigkeit reisen würde, hatte man das Wesentliche zu den Sternen gefunkt, das Gehirn. Ein kompliziertes Gerät tastete die Hirnrinde des Astronauten ab und übertrug die elektrischen Muster Schicht für Schicht auf ein Magnetband. Zum Schluß wurde die Aufzeichnung verschlüsselt und mit dem Riesenlaser zu dem Raumschiff gesendet, das um einen Planeten des Zielsterns kreiste.
Übel war nur, daß beim Abtasten der inneren die äußeren Hirnschichten gelöscht wurden. Befand sich der gesamte Inhalt auf dem Magnetband, wäre der Astronaut tot gewesen – hätte man ihn nicht mittels besonderer Geräte am Leben gehalten. Nach dem Ende des Abtastens wurde das Band in umgekehrter Richtung abgespielt und damit jeder Nervenzelle der ursprüngliche elektrische Impuls zurückgegeben. Seit dem ersten Versuch hatte dieses Verfahren fehlerlos funktioniert.
Den Ärzten indessen gefiel das keineswegs. Sie wußten immer noch nicht, welche Bedeutung den einzelnen Zellgruppen zukam. Man übertrug alles, wie man einen Text in einer fremden Sprache auf einem Tonband registriert, ohne etwas davon zu verstehen.
8
»Hier spricht das Steuerzentrum des Raumschiffs CONQUISTA-DORE. Die
Lernphase ist abgeschlossen. Konzentrieren Sie sich jetzt auf die
äußeren Sinneseindrücke! Die entsprechenden Zentren werden
eingeschaltet!«
Bunte Nebel vor meinen Augen – allmählich
schälten sich Konturen heraus.
Ja, da war alles. So hatte ich es mir vorgestellt: ein kleiner,
dämmriger Raum, Schaltpulte, Kontrolleuchten. Flimmernd grüßten die
Bildschirme des Bordradars und der Fernsehsysteme. In einer Ecke
entdeckte ich die silbernen Fassungen, die den schimmernden
Kristall der Videoprojektionsanlage hielten. Flüchtig schoß es mir
durch den Kopf: Heute gab es keine Stäbe mehr, man benutzte
Kraftfelder. Dies erinnerte mich daran, wie alt das Schiff war. Und
dennoch arbeitete es zuverlässig. Tiefe Dankbarkeit gegenüber der
Technik erfüllte mich.
Rechts Anzeigetafeln. Ziffern glommen auf, wechselten in langsamer
oder rascher Folge. Die Bezeichnungen daneben sagten, was angezeigt
wurde. In weiser Voraussicht hatten die Erbauer die seinerzeit
entstehende Standardsprache benutzt. Klug war das gewesen, denn
heute beherrschte kaum jemand mehr die alten Dialekte. Ich wußte
nicht einmal, was CONQUISTADORE bedeutete, obwohl man es mir daheim
sicherlich erklärt hatte.
Die Stimme des Steuerzentrums klang nun anders. Ich spürte, sie kam von den Tafeln. Also hörte ich mit den eigenen Ohren!
Unwillkürlich fragte ich: »Wie lange dauert der
Vitalisationszyklus noch?«
»Zweiundzwanzig Sekunden«, erklärte die Maschine. »Noch ein
Programmpunkt ist zu klären. Kontrollmessungen müssen vorgenommen
werden.«
Eine kurze Pause trat ein, dann sagte der Computer: »Das letzte
System ist eingeschaltet. Sie können aufstehen und sich bewegen,
Victor. Die Reaktivierungsautomatik wurde abgetrennt.«
9
Mit einer raschen Bewegung wollte ich mich erheben. Die Muskeln
gehorchten mir aber nur widerwillig, als ob mein Körper gelähmt
wäre. Erstaunt blickte ich an mir hinab – und erschrak. Ich sah
Metall und Plast!
Und jetzt erinnerte ich mich auch des letzten Geheimnisses der Lichtspruchtechnik: Das Muster eines menschlichen Gehirns mußte in etwas anderes eingebettet werden. Daher befand sich im Raumschiff ein Roboter mit einem großen, unprogrammierten Elektronenhirn. Wenn dies die im Lichtspruch codierten Impulse aufgenommen hatte, wurde es zum zweiten Ich des Astronauten – und der künstliche Körper war dann sein Leib.
Einer Halbmaschine können die Knie nicht weich werden. Daher hielt ich mich aufrecht und gab mir Mühe, möglichst rasch den neuen Existenzzustand zu akzeptieren und innerlich zu verarbeiten. Glücklicherweise hatte ich das trainiert, dennoch dauerte es eine Weile. Die eckigen Bewegungen meines neuen Körpers machten mir zu schaffen. Etliche Schritte lehrten indes mein Gehirn, wie es zu befehlen habe, damit die Beine richtig standen. Arme, Hände und Finger würden mir – davon war ich überzeugt – noch Schwierigkeiten bereiten.
»Ich erwarte Ihre Weisungen, Victor!« sagte das Elektronenhirn des Raumschiffs. Stelzbeinig trat ich zum Kontrollpult, um fürs erste die Vitalisationsanlage stillzulegen.
»Sind seit der Abstrahlung des ersten Berichts an die Erde technische Defekte eingetreten?« Das war eine Standardfrage, aber die wichtigste – schließlich hing davon ab, was mir zu tun verblieb.
»Die Leistungsfähigkeit der Solarzellen sank um fünfKomma-vier Prozent. Staubteilchen haben die Elemente beschädigt. Sonst keine Leistungsminderungen. – Inzwischen wurden die Batterien aufgeladen und zur Hauptsendung vorbereitet.«
Geschafft! Alles stand zum besten. Der Mensch Victor, Mitarbeiter am Institut für Astronautik, war in der Verkleidung eines Roboters an der Sonne Tau Ceti erschienen, um die vorderste Front irdischen Wissens auf elf Lichtjahre hinauszuschieben.
Welch eine Großtat der Technik!10
Die Arbeit begann. Ich wandte mich den Meßgeräten zu und ließ mir die Daten des Planeten durchsagen, soweit Neues vorlag.
»Ungewöhnliche Erscheinungen?«
»Drei schwere Vulkanausbrüche der Kategorie F, einundvierzig der
Kategorie G, fünfhundertundsieben der Kategorie E. An Beben wurden
registriert: zweiundsiebzig der Kategorie…«
»Danke, die Zahlen behalte für dich!«
Gab es wirklich keine Anzeichen für Leben auf dieser Welt? Der
giftigen Atmosphäre zum Trotz… vielleicht…?
»Sind Erscheinungen erfaßt worden, die nicht auf
tektonisch-vulkanische Bewegungen zurückzuführen sind?«
»Nein.«
Also kein Leben. Es konnte ja auch keins geben.
Und ein Nichtsauerstoff-Leben? Wir hatten darüber gesprochen, als
die Daten von Tau Ceti II vorlagen. Theoretisch war eine solche
Existenzform durchaus denkbar, doch schien es fraglich, ob ich sie
erkennen würde, selbst wenn ich sie fand. Falls ich Glück hatte,
vor allem genügend Zeit…
»Wenn du die durchschnittliche Strahlungsquote der Sonne
voraussetzt, um die Batterien nachzuladen – wie lange könnte ich
existieren? Denke an den Meteorstaub!«
Der Computer antwortete sofort: »In der Umlaufbahn drei Monate,
wenn das Schiff seine Bahn nicht ändert. Bei Manövern entsprechend
weniger.«
Ein Vierteljahr! Und dort unten drehte sich ein ganzer Planet. Wie
sollte ich in dieser kurzen Zeitspanne vom Orbit aus etwas
entdecken, was die Automatik in zweiundzwanzig Jahren nicht
registrieren konnte? Freilich, sie besaß keine Maßstäbe.
Und wenn mein Nachfolger die Suche fortsetzte? Theoretisch
erlaubten die Apparate unendlich viele Vitalisationen in den
Roboterkörper. Ich könnte ihm vieles hinterlassen…
»Wie groß sind die statistischen Aussichten, daß nach
zweiundzwanzig Jahren die zweite Reaktivierung gelingt?«
»Siebenunddreißig Prozent«, erwiderte das Steuerzentrum. »Es kann
um vier Punkte schwanken. Aufgrund der vorliegenden Daten über
Mikrometeoriten und der zu erwartenden Abnutzung der Apparaturen
wird keine weitere Übertragung empfohlen.«
Alles klar! Nach meinem… Abschalten würde das Raumschiff unbemannt
bleiben.
»Nach Leben brauchen Sie nicht zu suchen«, hatte der Projektleiter
bei der letzten Besprechung erklärt. »Die Voraussetzungen sind
derart negativ, daß das uneffektiv wäre. Sie müssen mit Ihrer
Betriebszeit haushalten, sie optimal nutzen. Der Planet ist groß.
Selbst wenn es irgendwo Mikroorganismen gibt: Sie würden sie erst
nach Monaten entdecken – also nicht entdecken. So lange reicht die
Energie nicht!«
»Was aber, wenn sich dennoch irgendwelche Erscheinungen gezeigt
haben, die auf Leben deuten? Zweiundzwanzig Jahre sind eine lange
Zeit!«
»Das glaube ich Ihnen, Victor«, erwiderte der andere nachsichtig.
»Aber eine Illusion kann keine Arbeitsgrundlage sein. Gut, wenn –
dann müssen Sie an Ort und Stelle entscheiden. Doch wenn nicht, und
das ist allzu wahrscheinlich – das Forschungsprogramm ist das
Effektivste, also auch das Beste für Sie.«
11
Das Programm war eindeutig. Victor II sollte astronomische
Messungen vornehmen, die Fotos aus dem Orbit sortieren und
auswerten, damit ein ausführlicher Bericht zur Erde gesendet werden
konnte. Es galt, das Wichtigste herauszufinden, für das gesamte
Material reichte die Sendezeit keinesfalls. So lautete die
Anweisung, sie war logisch.
Aber war sie auch sinnvoll? Fotografien und Messungen auswerten konnte auch das Elektronenhirn des Raumschiffs, wenn ich ihm Anleitung dazu gab. Wollte ich mich darauf beschränken, wäre meine Lichtspruchreise nach Tau überflüssig gewesen.
»Kann ich mehr herausfinden als das Steuerzentrum? Schwerlich, zumal in der mir verbleibenden Zeitspanne. Andererseits – ich kann doch nicht einfach die Anweisung übertreten!«
Wenn ich landete – die mobile Einheit erlaubte es zwar, doch es gab keine Rückkehr! Ich müßte auf dem Planeten verbleiben, meine Lebensdauer würde nach Tagen zählen, vielleicht bloß nach Stunden. Immerhin, die Chance, Leben zu finden, wäre größer als beim Verbleiben in der Umlaufbahn.
»Kann man das gegeneinander
aufwiegen?«
Das Programm verneinte es.
Sobald keine Vitalisation mehr möglich war, sollte das
Raumschiff auf einem vorher zu bestimmenden Platz niedergehen und mit seinem großen Sender als Navigationshilfe für spätere Flüge dienen – sozusagen als Funkfeuer. Die mobile Einheit sollte diesen Landepunkt erkunden.
Jetzt aber fiel mir etwas auf: Vom Roboter Victor war keine Rede mehr!12
Niemand konnte mir raten. Die anderen saßen elf Lichtjahre entfernt. Ich war allein wie niemand zuvor, die elektronische Kopie eines Menschen namens Victor.
Hatten jene, die das großartige Verfahren der Lichtspruchtechnik austüftelten, auch an die Einsamkeit des Astronauten gedacht?
Nimm dich zusammen, Victor! Du stehst hier im
Namen der Menschheit, erweise dich ihrer würdig!
Große Worte! Ich kreiste in einer veralteten Rakete um einen toten
Planeten und sammelte Daten. – Sobald ich sie der fernen Erde
zugefunkt hatte, würde ich sterben, und niemand fragte nach
mir.
»Was bin ich denn eigentlich? Ein Mensch – ein Roboter?«
Schaute ich an mir hinab, war da Metall und Plast. Menschen sahen
nie so aus. Ein Roboter andererseits würde dem vorgegebenen
Programm folgen und keine Zweifel nähren. Er käme nicht einmal auf
den Gedanken, vielleicht doch zu landen – entgegen der Anweisung
seiner Schöpfer.
»Bin ich demnach ein Monstrum? Opfer gar einer wissenschaftlichen
Leistung? Das kommt der Wahrheit zweifellos näher. Meine Erbauer
paßten nicht die Technik dem Menschen, sondern den Menschen der
Technik zu. Zupressen – ein treffenderes Wort!«
Hilflos schaute ich die stummen Anzeigetafeln
an, als wenn da ein Ratgeber wäre. Kontrollichter blinkten
gleichgültig.
»Schluß mit dem Grübeln! Ich handle als Mensch. Ein Risiko ist da,
ich sehe es; aber der Nutzen für die Erde wird größer sein. Sollen
sie mich zu Hause verurteilen – ich lande!«
Gefaßt wandte ich mich dem Steuerzentrum des Schiffs zu. »Mach die mobile Einheit klar zum Abtrennen und zur Landung!«
Lämpchen flackerten, die Elektronik überprüfte sämtliche Funktionen. Auf einer Facettenfläche rückten farbige Lichtpunkte zusammen und vereinigten sich zu einer grünen Linie. Das bedeutete Startbereitschaft.
»Stell den provisorischen Bericht für die Erde zusammen. Wenn ich mich innerhalb einer Stunde nicht melde, sendest du diesen Rapport mit der Information über den Unfall. Eventuelle diesbezügliche Daten kannst du anfügen.«
»Jawohl«, erwiderte die Maschine
gleichmütig.
»Nach dem Ablegemanöver gebe ich weitere Anweisungen von Bord der
mobilen Einheit aus. Die Funkverbindung ist stabil?«
»Die Geräte sind in Ordnung«, erhielt ich zur Antwort. »Während des
Fluges der Probenrakete traten keine Störgeräusche auf. Die
Strahlungsgürtel werden den Kontakt nicht behindern, es wurden
dementsprechende Frequenzen ausgesucht.«
Ohne das zu wollen, bewunderte ich die Konstrukteure der
CONQUISTADORE. Sie hatten hervorragende Arbeit geleistet – weitaus
großartiger noch, wenn man das damalige Niveau bedachte. Indes –
war es nicht dennoch fragwürdig, mich dieser Technik
unterzuordnen?
»Ich brauche einen Landeplatz, an dem möglicherweise auch das
Schiff niedergehen kann, denn nachher werde ich keinen großen
Aktionsradius haben.«
»Angaben liegen vor. Eine planetologische Prognose kann aber nur
auf fünf Jahre vorgenommen werden.«
Wenn ich landete, würde ich keine fünf Tage mehr leben! Aber ich
mußte an die Erde und an spätere Raumschiffe denken. Sie brauchten
das Funkfeuer auf Tau Ceti II.
»Das Bild!«
Die Panoramakarte des Planeten leuchtete auf. Fremd sah sie aus,
wirkte aber dennoch vertraut. Auch hier gab es Gebirge und Wüsten
und Klippen und Meere…
»Hast du Flutwellen infolge von Seebeben registriert? Traten in den
Wüsten Sandstürme auf? Gibt es Zonen gefährlicher
Strahlung?«
Der Computer bejahte und füllte sogleich einen Sichtschirm mit
einer langen Liste von Koordinaten und Zeitangaben – unnütze Daten
für mich. Ich ließ sie sofort löschen.
»Dann streiche alle Gebiete, in denen solche Risiken vorliegen. Was
bleibt danach als planetologisch stabil übrig?«
Zahlreiche helle Punkte glommen auf der Karte. Immer noch waren es
zu viele, als daß der Rechner mir die Entscheidung abnehmen
könnte.
Eine Stelle fiel mir besonders auf. Es handelte sich um eine fast
ebene Hochfläche inmitten eines riesigen Kontinentalblokkes. Nicht
weit entfernt strömte ein kleiner Fluß vorbei. Nach einigen
Kilometern stürzte er in zahllosen Katarakten in die Vorberge
hinab, wo er sich mit anderen Wasserläufen vereinigte.
In solcher Höhe konnte es kaum Sandstürme geben. Die Struktur
schien stabil zu sein. Im übrigen, das Schiff vertrug einiges und
würde nicht beim ersten Bodenzittern zusammenbrechen.
Den Spezialaufnahmen nach handelte es sich um ein basaltähnliches
Gestein. Wahrscheinlich aber wich die chemische Zusammensetzung
beträchtlich ab, denn hier gab es keine Sauerstoffatmosphäre. Das
mußte sich auf die gebirgsbildenden Prozesse auswirken.
Der Bach…! Wasser! Wenn hier überhaupt Leben existierte, dann in
der Nähe von Wasser. Mir kam eine Idee, wie ich das Programm doch
noch erfüllen und zugleich das tun könnte, was meines Erachtens das
Allerwichtigste war.
»Dort wird gelandet – Koordinatenpunkt T neun!«
13
Ein Beben ging durch den metallenen Rumpf. Es war vollbracht. Die
mobile Einheit des irdischen Raumschiffs CONQUISTADORE hatte den
Planeten eines anderen Sterns erreicht und war auf ihm gelandet.
Ich konnte aussteigen – als erster Mensch in einer fremden Welt
unter einer anderen Sonne.
Aber ich konnte mich nicht darüber freuen. Alles wirkte flau. Lag es daran, daß ich eine elektronische Kopie war? Vermochte sich Victor II nicht zu freuen, weil er kein Herz besaß, sondern nur einen Taktgeber? Oder hatte ich das Pathos so lange beschworen, bis es zur Phrase geworden war?
Ernüchtert machte ich mich an meine Arbeit. Die Funkverbindung zum Schiff im Orbit war stabil. In einer neuen Umlaufbahn schwebte es nunmehr scheinbar über dem Äquator des Planeten. Selbsttätig richteten sich die Antennen ein. Hier oben auf der Hochebene befanden sich keine natürlichen Hindernisse.
Die kleine Lampe der Außentür leuchtete. Ich bemerkte es erst jetzt. Schwerfällig und ein bißchen müde erhob ich mich und betätigte das Schloß. Lautlos schwang die Klappe auf. Ein Schwall fremder Luft strömte herein. Sofort begannen die Warnindikatoren zu blinken, denn sie registrierten das giftige Zyan. Fast glaubte auch ich es zu spüren, doch das war Einbildung. Sauerstoff, Stickstoff oder Blausäure – mir nützte das eine so wenig, wie mir das andere zu schaden vermochte. Ich war eben nicht Victor.
Vor dem Ausstieg dehnte sich ein welliges, braun-grau schattiertes Hochland. Steinig und öde war es. Der Weg die Leiter hinab fiel mir nicht schwer, dann stand ich endlich auf dem Planeten und schaute unwillkürlich zum Himmel hinauf, an dem die fremde Sonne schien.
Sie sah so aus wie unsere, vielleicht etwas
kleiner und blasser, aber das konnte täuschen. Nicht ein Wölkchen
fand sich am Firmament, die Hochebene lag über der Wolkengrenze.
»Victor, du Narr! Freust du dich nicht?«
Stumm und steif starrte ich in die Runde. Wie ein Denkmal
stand ich da und wartete auf…. ja worauf eigentlich? Träge kroch die Zeit dahin. Windstöße ließen hier und da kleine Staubfontänen wirbeln. Bald brachen sie zusammen – wie meine Illusionen von dem »historischen Augenblick«.
Schließlich raffte ich mich auf. Ich ging zur Rakete, um die Analysegeräte herauszunehmen. Die Konstrukteure konnten nicht ahnen, daß das Forschungsprogramm die Bodenproben mittlerweile für nebensächlich hielt, weil niemand mehr an Leben glaubte. Sie hatten alles vorbereitet.
Auf einen Knopfdruck öffnete sich eine Klappe, der Apparat glitt hervor. Zweiundneunzig Proben würde er analysieren und die gespeicherten Ergebnisse dem Raumschiff übergeben. Meine Aufgabe war es, die Steine, Sandprisen oder Wasserbecher heranzuholen. Die Automatik erledigte alles Weitere. Sie fertigte Fotos bei verschiedenfarbigem Licht an – einschließlich Röntgen- und Gammaquanten –, lieferte Mikroaufnahmen und eine Spektralanalyse. Ich war – ja, was war ich dabei? Zuschauer? Nein – Handlanger!
14»Wozu bin ich hergekommen? Um die Sterne zu besuchen? Wie großsprecherisch! Nein, man schickte mich her, damit ich die Automatik mit Material versorge. Eine absurde Situation…. aber liegt nicht das gesamte Unternehmen Lichtspruch ähnlich verzerrt?«
Ich konnte nicht viel geraderücken. Doch wenn ich meinem Dasein wenigstens einen geringen Sinn geben wollte, mußte ich nach Leben suchen. Wo zuerst? Am Ufer.
Die mobile Einheit stand etwa zweihundert Meter von einem Bach entfernt, wahrscheinlich einem Zufluß jenes Flüßchens, das ich auf der Luftaufnahme gesehen hatte. Ich erreichte es bald.
Ein steiniges Bett, bunte Sandkörner schillerten, vereinzelt lagen größere Stücke. Das Wasser floß rasch, bildete Strudel und kleine Schnellen.
Ich nahm Kiesel und Sand auf, schöpfte Wasser in einen Becher und eilte zur Rakete zurück. Die Analyse würde eine Weile dauern; bis die Resultate vorlagen, gab es für mich nur eins – warten.
15
»Es sind keine Makromoleküle nachweisbar. Das Wasser enthält
Mineralsalzlösungen und Blausäure. Organische Verbindungen –
Zyanide ausgenommen – gibt es nicht!«
Aus! Diese Welt war tot! Wenn sich keine potentiellen Nahrungsmittel im Wasser befanden, konnte niemand sie verzehren und so weiter. Eine Kette ohne Anfang.
»Vielleicht sind auf einem anderen Kontinent und unter günstigeren Bedingungen…« Ich beendete den Satz nicht. Was hätte mir selbst die Gewißheit genützt? Ich war hier eingesperrt auf einem Hochplateau, das ich nie mehr verlassen konnte.
Mein Wagnis war umsonst! Ich hatte lediglich bestätigt, was ohnehin zu vermuten war. Tau Ceti II gehörte zu den toten Planeten.Wäre es nicht gescheiter gewesen, ich hätte die
Anweisungen der Erde befolgt? Jedenfalls würde ich dann länger
leben.
»Nein, Victor«, sagte ich mir. »Sinnlos war es nicht. Ich habe
etwas erfahren, auch wenn es ein negatives Resultat ist. Diese Welt
scheint nicht tot zu sein, sie ist
es!«
Und dennoch! Mußte man mich dazu
hierherschicken? War ich dafür nicht zu gut?
Gedankenlos füllte ich das Magazin des Analysators mit neuen
Proben. Zeit zum Nachdenken hatte ich im Überfluß – jetzt, da das
Ergebnis feststand.
An einem war nicht zu rütteln: Das Unternehmen war fehlerlos verlaufen. Ich war ins Raumschiff übertragen worden, bei der Vitalisation gab es keine Störungen, das Landemanöver war einwandfrei. An alles hatten die Konstrukteure gedacht.
An alles?In mir nagte ein Zweifel, auch wenn ich keinen Namen für ihn fand. Was war ich eigentlich? Ein Blick auf das Analysegerät vor mir sagte es: Mittel zum Zweck.
»Nein, das ist unsinnig!« Ich konnte das nicht akzeptieren. Victor – zumindest Victor I – war ein Mensch. Selbst sein Abbild durfte nicht einfach Werkzeug sein. War vielleicht… schon der Zweck fragwürdig?
16Noch während ich die nächsten Proben einsammelte, begriff ich.
»Ich bin betrogen worden. Man schickt mich auf ein Unternehmen ohne Wiederkehr und mit wenig Sinn, mein Vater aber, das heißt mein Bruder…. also Victor I wird gerühmt!«
Auf Tau Ceti II war niemand, der mir recht gegeben oder widersprochen hätte. Niemand hörte mir zu.»Victor, du bist doch nicht etwa – neidisch auf Victor?«
Rasch wollte ich verneinen, aber es war etwas Wahres darin. Zumindest beneidete ich den, der mit den gleichen geistigen Fähigkeiten ausgestattet war wie ich und dem es vergönnt war zu leben. Zu leben, während ich in kurzem sterben mußte, ohne daß jemand einen Gedanken daran verschwendete! Vielleicht war er sogar stolz auf meine Tätigkeit und hielt sie für seine Leistung!
»Du müßtest hier sein, Victor I, um die Wahrheit zu erleben. Mag sein, du wärest weniger stolz. Was hat man mit deinem Verstand getan! Er assistiert einer Maschine!«
Er würde diese Anklage niemals hören.
Vielleicht lebte er nicht mehr. Elf Jahre sind lang. – Trotzdem
blieb es Unrecht.
Mein Leben war begrenzt, der Tod stand vor der Tür. Sobald der
Funkspruch mit den Resultaten an die Erde gesendet worden war,
schaltete sich die Elektronik meines Körpers automatisch aus.
Exitus.
Ich durfte damit nicht lange warten, denn die Energieversorgung
durch die mobile Einheit war mangelhaft. Wenn das Schiff landen
würde… Aber zuvor mußte es die Sendung
abstrahlen. Von hier aus ging das nicht. Die Erde war zu weit
entfernt, als daß eine dämpfende Atmosphäre dasein dürfte. »Victor
II, du mußt sterben. Du mußt bald sterben!«
Mechanisch füllte ich den Analysator
auf.
»Sollte ich mich nicht einfach hinsetzen und das Ende erwarten?
Oder der CONQUISTADORE den Funkspruch befehlen? Dann hätte ich es
hinter mir. Was hindert mich eigentlich daran? Die Anweisung? Was
geht mich das Programm von Leuten an, die mich ausgesetzt
haben?«
Wer war ich? Ein Roboter gewiß nicht! Doch falls ich mich als
Mensch empfand, mußte ich mich dann nicht auch wie ein Mensch
verhalten?
Es war entschieden.
Ich sammelte neue Proben, schaute nach Wissenswertem aus. Selbst
das winzigste Detail konnte wesentlich sein. Die Tätigkeit war
stumpfsinnig und unbefriedigend, doch es gab keine andere, und
darum war sie meine Pflicht. Ein Befehl, den niemand mir geben
konnte als ich selbst!
17
Ein lauter Hupton schallte durch die tote Welt des Planeten. Ich
grub gerade ein Loch, um tiefer liegende Steine zutage zu fördern.
Warum rief mich die mobile Einheit?
Rasch war ich an der Tür und schaute auf das Kommandopult. Ein Funksignal vom Raumschiff im Orbit! Daß es sich ungerufen meldete!
»Was gibt es?«»Radarkontakt im Sektor GS 404-67«, berichtete das Steuerzentrum in seiner gewohnten Gleichgültigkeit. »Ein schnellfliegender metallischer Körper auf elliptischer Umlaufbahn. Voraussichtlicher Ankunftstermin in der Warnzone C: minus neunzehn Minuten. Aktuelle Geschwindigkeit, bezogen auf das Schiff: dreiundzwanzig Kilometer pro Sekunde.«
»Ein Meteor?« Warum wich das Schiff nicht selbsttätig aus oder zerstörte den Klumpen?»Elf Prozent Unsicherheit. Nach Analyse der Bahnelemente hätte der Körper bereits beim vorigen Umlauf registriert werden müssen. Das war nicht der Fall. Es besteht die Möglichkeit, daß es sich um eine korrigierte Flugbahn handelt.«
Das erklärte die Verfahrensweise des Steuerzentrums, mir aber war nichts klar. Sollte tatsächlich…? Sollte ich das Glück haben…?
Ich ließ die Bodenproben liegen und stieg in die Kanzel. Der Bordrechner projizierte das Objekt als langsam dahinziehenden Leuchtpunkt auf einen Schirm.
Als sich die CONQUISTADORE meldete, erschrak ich.»Achtung! Der Körper hat die Bahn geändert. Bremsmanöver mit zwei G kontinuierlich. Soeben wurden Radarsignale registriert. Sie sind nicht mit den eigenen identisch – ein Raumschiff!«
Ungerufene Erinnerungen drängten sich vor: die vielen Gespräche der Astronauten untereinander – und immer der Wunsch, auf intelligentes Leben zu treffen. Würden wir uns so um die Arbeit im Institut bemüht haben, wenn niemand im stillen gehofft hätte, daß gerade er die Fremden treffen würde?
Dort, einige hundert oder tausend Kilometer entfernt, flogen sie. Sie hatten den Kurs geändert, die CONQUISTADORE angepeilt. Eindeutig, sie hatten mich entdeckt. Bald würden sie wissen, wo sich der Pilot befand.
Mein Flug hatte also doch einen Sinn!
»Achtung! Neues Manöver! Warnzone B erreicht! Die Meteoritenabwehr
wurde bereits blockiert. Ich bitte um Anweisungen!« meldete sich
das Steuerzentrum.
Alles war klar. Meine Anwesenheit zu verleugnen wäre verbrecherisch
gewesen. Mißverständnisse mochte es geben, doch welchen Haß oder
welche feindlichen Absichten sollten die Fremden mir gegenüber
haben?
»Sende die üblichen Kennsignale!« entschied ich. »Benutze einen
Richtstrahl, damit sie wissen, daß wir ihr Schiff gesehen haben!
Wir müssen bedachtsam vorgehen.«
»Achtung, das fremde Schiff sendet Normcodesignale! Es handelt sich
um ein Raumschiff von der Erde. Im Speicher ist dieser Typ nicht
registriert.«
Unmöglich! Wie konnte eine Rakete von der Erde hier bei Tau Ceti
erscheinen? Sie hätte den Lichtstrahl einholen müssen, der mich
hierherbefördert hatte!
»Du irrst dich!«
»Soeben erhalte ich einen Funkspruch«, lautete die Antwort des
Elektronenhirns. »Ich schalte um!«
Wieder ein Knacken, dann eine menschliche Stimme: »N sieben an die
mobile Einheit des Basisschiffs CONQUISTADORE! Nulldrei, hört man
mich?« Obwohl der Sprecher ebenfalls gleichmütig redete, war der
Unterschied zum Tonfall des Steuerzentrums unverkennbar.
»Victor II hört«, erwiderte ich müde. »Der Empfang ist einwandfrei.
– Meine Landung verlief vorschriftsmäßig. Ich empfehle Ihnen, etwas
weiter nördlich aufzusetzen.«
»Mache ich. Du kannst zuschauen, es ist nicht
gefährlich!«
Das klang siegesbewußt, fast überheblich. Ich lauschte seinen
Worten nach, ohne etwas zu verstehen. Da war ein Raumschiff und ein
Mensch darin. Woher kam er? Was wollte er?
Seiner Versicherung zum Trotz blieb ich in der Kabine. Warum unnütz
etwas riskieren?
18
Am Himmel erschien ein glimmender Punkt. Er wuchs und dehnte sich
zu einem Spindelkörper. Das Raumschiff war blendendweiß. Sein Heck
lief in fünf große Spreizfüße aus.
Höchstens noch hundert Meter! Ich sah keine Stichflammen bremsender Triebwerke, und doch verlangsamte sich der Fall immer mehr. An dem Ort, wo das Schiff landen wollte, warf eine unsichtbare Kraft Steine und Sand beiseite. Dann berührte die Spindel den Boden.
Ich hörte nur das Prasseln niederfallender Kiesel und aufgewirbelten Sandes. Offenbar arbeitete das Antriebsaggregat lautlos – mir schwindelte fast bei dem Gedanken, was das bedeuten konnte.
»Unsinn, auch das rascheste Raumschiff vermag
die Logik nicht zu überholen!«
Im weißen Rumpf öffnete sich eine Klapptür. Eine Leiter wurde
ausgefahren, und eine Gestalt in orangefarbenem Skaphander stieg
aus dem Schiff. Auf dem Boden schaute sie sich kurz um, entdeckte
die mobile Einheit und kam heran. Ich ging ihr entgegen.
Etliche Schritte voneinander verharrten wir stumm und musterten
uns. Zwar vermochte ich durch das verspiegelte Glas seines Helms
nicht das Mienenspiel meines Gegenübers zu erkennen, das war
nebensächlich. Natürlich ein Mensch, was sonst!
Wie aber sah ich aus! In meiner Gestalt fand sich nichts
Humanoides. Man hatte Victor II zweckmäßig gebaut, optimal für
seine Aufgaben zugeschnitten, gewiß; nur schön war er nicht
geworden. Stützen, Streben, Kabelstränge, nirgendwo eine
Verkleidung. Ich sollte funktionieren, aber nicht
aussehen.
Ich schämte mich zutiefst. War das ein Repräsentant der fernen
Erde? Kaum etwas sah dem Menschen so unähnlich wie ich. – Zum Glück
hatte ich wenigstens meinen inneren Frieden gefunden.
»Ishimatsu heiße ich«, sagte mein Besucher. Er hatte eine farblose,
leise Stimme. »Nun, ist alles gut gegangen?«
Diese Begrüßung ärgerte mich.
»Wie kommen Sie hierher?« fragte ich. »Es ist doch nicht möglich,
schneller zu fliegen als das Licht. Oder hat man
inzwischen…?«
»Man hat, man hat! Unsere Raumschiffe sind besser geworden. Der
Raumsprung, verstehst du? Ein Lichtjahr oder zehn oder hundert – es
ist egal.«
Ich verstand ihn nicht. Raumsprung – ein neues Wort, ebenso
wohlklingend wie seinerzeit Lichtspruch, aber fremd.
»Es ist natürlich schade, daß deine Arbeit umsonst war. Doch das
läßt sich nie vermeiden, das Gute wird vom Besseren abgelöst. – So,
und nun kannst du einsteigen. Ich bringe dich nach Hause. Auf der
Erde brauchst du nicht an Energiemangel zu sterben. Gut, nicht
wahr? Wir haben alles berechnet. Beinahe hättest du uns einen
Strich durch den Plan gemacht. Deine unvorhergesehene Landung! Aber
es ist ja gut ausgegangen. Wollen wir nicht mehr davon reden. Darf
ich bitten, Victor II?«
19
Im ersten Moment wollte ich »Sofort!« sagen. Der zweite Augenblick
hieß mich schweigen.
Was sollte ich auf der Erde? In einem Museum
landen, zu nichts mehr nütze? Von Neugierigen begafft
werden?
»Ich fliege nicht mit«, sagte ich nach einer langen Pause. »Ich
bekam einen Auftrag, er ist noch nicht ausgeführt. Auf der Erde
wäre ich nutzlos, ein Monstrum. Hier… Ich müßte mich verachten,
wenn ich die Aufgabe im Stich ließe!«
Ishimatsu fuhr zusammen, ich bemerkte es trotz seines Skaphanders. »Machen Sie keinen Unsinn, Victor! Wir brauchen Sie!«
Ich hob ein paar Steine auf. »Braucht der Analysator mich nicht? Meine Lebenszeit ist begrenzt, ich will sie nicht verschwenden. Verstehen Sie, ich möchte nützlich sein bis zum Ende.«
Der Pilot sprach mit einemmal anders. Seine
lässige Arroganz verschwand.
»Victor II«, sagte er eindringlich, fast beschwörend. »Ich bin nur
Ihretwegen hierhergeflogen.«
»Ach?« Ich tat verwundert. »Warum haben Sie Victor I nicht
mitgebracht? Hat er Angst, mir in die Augen zu sehen?«
»Sie haben natürlich recht«, meinte Ishimatsu nach einer Pause.
»Ich bin erstaunt, daß Ihnen das klar wurde – mit der
Lichtspruchtechnik gab es Ärger. Wir verwenden sie nicht mehr; das
liegt auch an Problemen wie dem, das Sie lösten.
Ich komme nicht der Forschungsergebnisse halber. Sie sind unwichtig geworden. Schon vor langer Zeit untersuchten unsere Raumschiffe sämtliche Planeten dieses Systems. Darum hätte niemand Ihren Bericht ausgewertet.
Aber wir brauchen Sie – nicht die
planetologischen Daten von Tau Ceti II. Sie, genauer gesagt: Ihr
Gehirn!«
»Wie bitte?«
Ishimatsu zögerte weiterzusprechen. »Victor I ist verunglückt.
Darum geht es eigentlich.«
»Was habe ich damit zu tun?«
»Als Ihr erstes Ich mit einem Flugzeug abstürzte«, fuhr der
Astronaut fort, »wurde er schwer verletzt. Es versteht sich von
selbst, daß die Ärzte ihn retteten. Körperlich ist er
wiederhergestellt. Indes wurde sein Gedächtnis fast zerstört, und
seine Psyche weist schwere Traumen auf.
Nach langer Diskussion blieben nur zwei Alternativen bestehen:
Entweder hätte man ihn geistig annullieren müssen, so daß er
gewissermaßen von vorn anfinge. Das würde gegen die Gesetze
verstoßen. Die andere Möglichkeit ist die, sein Gehirn mit den
alten Unterlagen neu zu füllen. Jene alten Unterlagen, das sind
Sie, Victor II!«
Das änderte freilich alles. Meine Verärgerung über den Betrug gab
mir keinesfalls das Recht, ein Menschendasein aufs Spiel zu setzen.
Es ging um mehr als um die Empfindlichkeit eines
Mensch-Maschine-Monstrums. Überdies hatte die Erde begriffen, was
sie angerichtet hatte.
Im gleichen Moment wurde ich mir all der Probleme und Widersprüche
bewußt, die diesem Plan entgegenstanden. Ich war nicht mehr jener
Victor II. Ich hatte hinzugelernt, etwas erlebt – andererseits
mindestens elf Jahre Entwicklung auf der Erde versäumt.
»Sollte das so einfach sein? Den Erkenntnisprozeß, den ich
durchmachen mußte, kennt Victor I nicht. Wäre er in der Lage, ihn
durchzustehen? Wenn nicht – welche Schäden können dabei
entstehen?«
Der Pilot zuckte mit den Schultern. »Ich bin Astronaut, weder
Mediziner noch Psychologe. Im Institut hat man mir die Lage
beschrieben. Ich erhielt den Auftrag hierherzufliegen, um Sie
abzuholen. Nicht mehr und nicht weniger. Anfangs habe ich wohl
etwas von oben herab geredet. Es tut mir leid. Ich hatte nicht
bedacht, welche Schwierigkeiten Sie überwinden mußten. Wir kennen
so etwas ja nicht mehr…«
Ishimatsu schwieg. Reglos und dennoch ungeduldig wartete er an der Tür seines Apparates.
Unwillkürlich schaute ich ein letztes Mal über die Hochfläche. Sie lag so gleichgültig da wie zuvor. Hundert Meter entfernt stand meine mobile Einheit – nunmehr Schrott, obgleich alles noch funktionierte. Weit über mir kreiste die CONQUISTADORE und wartete auf einen Befehl, den niemand mehr erteilen würde.
Ich nahm Abschied von einer lebensfeindlichen
Welt. Sie hatte mich viel gelehrt. Ich war ein anderer
geworden.
»Eines ist richtig«, sagte ich so leise, daß der Pilot es nicht
hören konnte, »die Idee vom Lichtspruch war ein blindes Gleis. Aber
es gibt ja andere Linien, beispielsweise den Raumsprung. Ob der
wohl auch…«
Was hatte Jean seinerzeit zu Victor I gesagt, als alle auf den Ruf
der Basisschiffe warteten? Das Unmögliche fordert am meisten
heraus!
»Ich komme wieder!« murmelte ich. »Und ich werde die
Fremden finden. Mit dem Raumsprung wird es
möglich sein!« Entschlossen drehte ich mich um und trat zur Leiter.
Ishi
matsu bedeutete mir stumm, ich möge als erster
hinaufsteigen.
Auf halbem Wege schoß mir plötzlich ein bohrender Gedanke
durch den Kopf.
»Sagen Sie, aber bitte ehrlich: Wenn Victor I nicht verunglückt wäre – hätte man sich auch dann
für mich interessiert?« Der Pilot antwortete nicht.
Ich stieg in die weiße Rakete. In wenigen Augenblicken
würde ich zu Hause sein.