Frank Petermann
Bordtagebuch
Der Bildschirm zeigte das Bild eines träge im All taumelnden Wracks, das gleißend das Scheinwerferlicht der LX-15 reflektierte.
Ludwig Bukas beendete mit einer Handbewegung die Diskussion. »Ich werde trotzdem aussteigen. Jan bleibt an Bord!« Ove Johannsen, Tim Tanner und Gert Holub standen wortlos auf und zogen ihre Raumanzüge über.
Jan versuchte es ein letztes Mal: »Du bist der Kommandant, Ludwig. Du hast die Pflicht, an Bord zu bleiben!«Aber Bukas stand schon im Skaphander an der Tür, sagte zu Tim und Gert, die noch zögerten: »Kommt!« Und er schloß den Helm.
Jan schüttelte den Kopf und drehte den Sessel zum Steuerpult.Mit traumhafter Sicherheit fand Ludwig Bukas
den Einstieg ins Innere des Wracks.
»Ich möchte wissen, was wir hier suchen«, sagte Tim.
Ludwig schwieg. Er öffnete die innere Schleusentür und schwebte
voran. Im Licht ihrer Helmscheinwerfer erblickten sie inmitten des
Raumes ein Wirrwarr von Streben und Stangen, an das in chaotischer
Unordnung elektronische Bauteile geheftet waren, scheinbar wahllos
mit bunten Drähten und Kabeln untereinander verbunden.
Ove und Gert brachen in Gelächter aus.
»Hier hat sich einer die Zeit mit abstrakter
Kunst vertrieben«, rief Gert atemlos.
Inzwischen versuchte Tim vergeblich, eine Tür zu öffnen, sie
bewegte sich nicht. Ludwig schob ihn beiseite, bückte sich und
löste eine verborgene Verriegelung. Er stieß die Tür auf und stand
im Observatorium des Wracks. Auf einer Liege, das Gesicht der
großen Klarsichtscheibe zugewandt, lag der Körper eines
Kosmonauten.
Erstaunt sahen die drei, wie Ludwig kurz verharrte, dann schnell
und sicher, als wäre er hier zu Hause, das Fach eines Wandschrankes
öffnete und ein schmales Buch entnahm.
1
Raumfahrer müssen mit der Gefahr leben, und für viele ist gerade
das der Grund, weshalb sie in ein Raumschiff steigen. Ich war
anders. Als man die Wahrscheinlichkeit meiner Rückkehr mit 0,998
errechnet hatte, war ich geradezu schockiert darüber, daß meine
friedfertigen Forschungen mich derart gefährden sollten.
Schließlich wollte ich lediglich einen Teleportationskanal der
großen Zivilisationen suchen und nicht ins Zentrum des Aldebaran
vordringen. Schon seit der Erfindung der drahtlosen
Masseteleportation vermutete man, daß sich hochentwickelte
Außerirdische ein Kommunikationssystem auf dieser Basis geschaffen
und diese bei uns in den Anfängen steckende Technologie so weit
entwickelt hatten, daß sie es als bequemes intergalaktisches
Verkehrsmittel benutzen konnten.
Ich war ein – zugegeben fanatischer – Anhänger dieser Hypothese und entschlossen, der Gefahr von zwei Tausendsteln Wahrscheinlichkeit ins Auge zu blicken und den experimentellen Nachweis zu erbringen. Wenn auch kein Held, ein Feigling war ich gewiß nicht.
Und als es dann wirklich geschah, im zweiten Jahr meiner Reise, schlief ich. Kein Ton der Alarmanlage hatte mich wekken, kein rhythmisch blinkendes Licht meinen Schlaf stören können. Frag mich keiner, wie das Unglück passierte. Ich weiß es nicht. Kein Stoß hatte das Raumschiff erzittern lassen. Ohne Ankündigung war etwas gekommen, hatte einen Teil der »Galaktik« glatt abgeschnitten und war damit im All verschwunden.
An jenem Morgen hatte ich die Augen geöffnet und wie immer lange nicht zu mir finden können. Mich zwangen keine unaufschiebbaren Pflichten. Den Tag teilte ich mir so ein, wie ich es für richtig hielt. Die Vorhaltungen des Bordcomputers ließen mich kalt, solange er nicht energisch wurde und mir einfach das Licht ausdrehte oder mich aus dem Bett kippte.
Ich stellte die Füße auf die Erde und verlangte Morgenmusik. Als sie ausblieb, störte mich das noch nicht. So ärgerte mich der Bordcomputer fast täglich, wenn er beleidigt war, weil ich einen seiner Programmpunkte übergangen hatte.
Ich begann eine Melodie zu pfeifen und absolvierte nach eigenem Takt meine Morgengymnastik. Im Badezimmer wurde mir der Spaß dann zu geschmacklos. Aus der Leitung fiel kein Tropfen Wasser, mein Schimpfen änderte nichts. Dann wurde es kühl in meiner Kabine, und die Beleuchtung trübte sich. Das war der Augenblick, in dem ich einen Verdacht schöpfte. Natürlich glaubte ich da noch nicht an etwas Ernstes. Wer wird denn gleich das Schlimmste befürchten. Aber ich bekam Angst um den Verstand meines Bordcomputers.
Ungewaschen zog ich mich an, eilte zur Tür – und lief dagegen. Die Lichtschranke hatte nicht reagiert. Aus irgendeinem Grund war die Havariesicherung in Aktion getreten.
Nie hatte ich gewußt, wozu ein Raumanzug in der Schlafkabine hing. Jetzt wurde mir das klar. Ohne Skaphander gab es kein Hinauskommen. Die Schlösser funktionierten nur, wenn auf beiden Seiten der Tür die gleichen Druckverhältnisse herrschten. In meiner Kabine atmete ich mühelos…
Schimpfend stieg ich in den Raumanzug. Noch immer hoffte ich auf einen bösen Streich meines Faktotums. Wer weiß, aus welcher Speichereinheit er dieses Programm gezogen hatte: Havarietraining oder ähnlicher Unsinn.
Über ein plombiertes Ventil ließ ich die Luft ausströmen, dann drückte ich vorsichtig gegen die Tür. Das Schloß rastete aus, und ich starrte in den Weltraum. Was sonst mit Ausfüllen von Protokollen und Fragebögen, mit wiederholten Zeremonien der Schleusendurchgänge und Desinfektionen verbunden war, hatte ich jetzt völlig problemlos vor meiner Schlafzimmertür: jederzeit freien Ausgang ins All.
Wenn ich heute so locker darüber schreiben kann, hat das seine Ursache. Als ich aber schwerelos an die Türfüllung geklammert hing, den Kopf in der Kabine, die Beine zwischen den Sternen und das Gefühl des freien Falls im Magen, war mir durchaus nicht nach Scherzen zumute. Unmittelbar an meiner Schwelle endete abrupt die künstliche Gravitation.
Ich hangelte in meine Kabine zurück, schloß die Tür und öffnete das Ventil, um wieder Luft einströmen zu lassen. Vergebens. Der Zeiger blieb ruhig auf Null. Mein Vorrat im Raumanzug reichte für vierzig Minuten, im Havarieschrank standen Flaschen für weitere Füllungen. Mir blieben sechs Stunden.
Neben den Sauerstoffflaschen fand sich ein Seil von ausreichender Länge, dessen eine Öse in den Haken am Gürtel meines Raumanzuges paßte. Das andere Ende klemmte ich behelfsmäßig in der Schranktür ein. So konnte ich meinen Ausflug sicher beginnen.
Der Schritt über die Schwelle war ein Sturz in bodenlose Tiefe, obwohl ich die Öffnung deutlich vor mir sah und ruhig vor der Kabine schwebte. Nur langsam gelang mir die Koordination meiner Sinne. Ich ließ mich vom Raumschiff abtreiben.
Dann sah ich: Meine Schlafkabine hatte sich etwa in der Mitte befunden. Vorn lagen die zentralen Einheiten, Kommandoraum, Laboratorium, Observatorium und die Steuerblöcke des Bordcomputers, hinten der Antriebssektor, die meisten Lagerräume und ein Großteil der Speicherkolonnen des Computers. Anstelle des Hecks sah ich die Sterne leuchten. Eine rätselhafte Kraft hatte die »Galaktik« mitten durchgetrennt. Wenige Zentimeter weiter, und ich hätte nie davon erfahren. So aber war ich zwischen Aufwachen und Morgenkaffee vor das Problem gestellt worden, mir mein weiteres Leben in einem Wrack einrichten zu müssen, zehn Lichtjahre von der Erde entfernt, antriebslos in einem abgelegenen Raumsektor.
Mein Verstand weigerte sich, den Fakt anzuerkennen. Mir war, als ginge mich das alles gar nichts an, beträfe einen Fremden. Es konnte nicht wahr sein, durfte nicht. Zwei Jahre Einsamkeit in einem Raumschiff – und dann zerstörte ein fast unwahrscheinlicher Zufall alle meine Hoffnungen.
Verzweiflung übermannte mich. Ich kam mir elend
und verlassen vor.
Ich schloß die Augen, bis ich farbige Blitze sah, dann blickte ich
erneut hin. Aber es gab keinen Zweifel: Ich hatte ein Wrack vor
mir.
Schon eine Stunde später erlitt ich den zweiten Schock.
Ich war in meine Kabine zurückgeklettert, hatte mich mit frischem Sauerstoff versorgt und versucht, zu den unversehrt gebliebenen Räumen vorzudringen. Die Gangmündung lag vor mir wie das Mundloch eines Stollens. Ich brauchte nur hineinzuschweben. Bis zur ersten Havarietür gelang mir das auch ohne Schwierigkeiten. Ich wußte inzwischen, wie diese Luken von außen zu öffnen waren. Eine Kleinigkeit hatte ich allerdings übersehen…
Die Verriegelung war kaum ausgerastet, da jagte mir die schwere Tür entgegen und schmetterte gegen meinen Helm. Erst ein schmerzhafter Ruck brachte mich wieder zur Besinnung. Das in die Schranktür geklemmte Seil hatte mich gerettet, als ich wie ein Geschoß, getrieben von der explosionsartig ausströmenden Luft, ins All gestoßen worden war.
Langsam zog ich mich zum Raumschiff zurück. Wieder waren Kubikmeter wertvoller Luft verloren, und ich hatte keine Vorstellung über die Vorräte, wußte nicht einmal, wo sich die Sauerstofftanks befanden. Zwei Jahre hatte ich ausreichend zu essen, zu trinken und zu atmen gehabt, ohne mir Gedanken darüber machen zu müssen, woher das alles kam. Mein Fachgebiet war die Masseteleportation, und ich benutzte das Raumschiff lediglich als Passagier. Pilot war der Bordcomputer. Er kümmerte sich auch um alle versorgungstechnischen Fragen.
Ich zog die Tür hinter mir ins Schloß und stand im Labor. Über dem nächsten Schott – dort ging es ins Observatorium – glimmte spärlich eine Lampe. Plötzlich hörte ich ein entferntes Zischen, das zusehends lauter wurde. Eine Automatik ließ Luft einströmen, und je höher der Druck wurde, um so deutlicher hörte ich es. Wenige Augenblicke später konnte ich schon den Helm absetzen.
Mein erster Blick galt dem Terrarium mit den Versuchstieren, und ich verstand nun, weshalb sie eine autarke Sauerstoffversorgung hatten. Munter sprang die Mäusefamilie durch die künstlichen Gänge hinter der Glasscheibe.
In diesem Labor hatte ich die meiste Zeit verbracht. Hier kannte ich jeden Quadratzentimeter. Erstaunt blickte ich jetzt um mich. Alles ruhte an seinem Platz. Selbst die mikroskopisch kleinen Chips, die ich mir am Vorabend auf einer Kupferplatte zurechtgelegt hatte, lagen unberührt in der von mir bestimmten Reihenfolge. Bei dem Zusammenstoß, wenn es überhaupt einen gegeben hatte, war es nicht zur geringsten Erschütterung gekommen.
Links neben dem Labor schloß sich die Kombüse an, und die interessierte mich momentan viel mehr als das Observatorium. Seit dem Aufstehen hatte ich keinen Bissen in den Magen bekommen, ganz zu schweigen von einem Schluck Kaffee. Aber auch hier leuchteten nur Notlämpchen, und ich zweifelte, ob die Küche mir meine Wünsche erfüllen würde. Trotzdem gab ich die Zahlenkombination für mein übliches Frühstück ein. Es dauerte länger als sonst, aber vielleicht war es nur mein Hunger, der mir die Zeit so dehnte. Als dann eine Tasse dampfenden, rabenschwarzen Kaffees vor mir stand und auf dem Teller eine Scheibe überbackener Toast duftend ausbrutzelte, sah meine Welt, wenn auch halbiert, viel freundlicher aus. Ich sprang aus dem Raumanzug und machte mich über den Morgenimbiß her.
Da wurde es heller, und sogar die Luft roch auf einmal anders, frisch und belebend. Welche dienstbaren Geister mochten da am Werke sein?
Ich hörte auf zu kauen.»Bordcomputer, hörst du mich?« fragte ich leise, ohne Hoffnung auf Antwort.
Es blieb lange still. Aber dann vernahm ich einen Ton, der wie Röcheln klang. Nach dem Zögern einer Schrecksekunde erkannte ich, der Bordcomputer mühte sich um Artikulation. Irgendwo fern begann ein Rasseln und Klirren, das schnell näher kam, in tiefes Brummen überging und plötzlich höchste Frequenzen erkletterte. Jetzt verstummten die Geräusche, und nur ab und zu konnte ich unrhythmisches Knacken hören, so als platzten Kastanien im Feuer.
Ich saß wie erstarrt und lauschte diesem inneren Kampf des Bordcomputers. Wer weiß, welche Zerstörungen die Havarie in seinen Synapsen angerichtet hatte, wie viele Speichereinheiten abgetrennt, welche Fehlschaltungen in seinen Ganglien entstanden waren?
Ich konnte nur sitzen und warten, warten und hoffen. Ohne ihn wäre ohnehin alles zu Ende.Eine klare Stimme schreckte mich auf, und ich
brauchte eine ganze Weile, ehe ich begriff.
»Professor!« rief die Stimme, sie war mir völlig unbekannt,
»Professor, wachen Sie auf! Der Bordcomputer spricht zu
Ihnen!«
Nur langsam erkannte ich die Zusammenhänge. Ein neues Bewußtsein
hatte sich organisiert. Auf der Basis der unverletzt gebliebenen
Einheiten und vorhandenen Speicher regenerierte sich das System
selbständig, allerdings war es bei weitem nicht mehr identisch mit
dem Computer, der zwei Jahre lang mein Raumschiff gesteuert hatte.
Im verlorenen Teil hatten sich viele Speichereinheiten befunden.
Was würde er mir jetzt noch nutzen?
3
Nach Tagen hatte ich mich eingerichtet. Das Labor diente mir als
Schlaf- und Wohnraum, wollte ich doch nicht jedesmal im Raumanzug
durchs All schweben. Mein alter Bordcomputer hätte sich mit solch
unordentlichen Verhältnissen niemals einverstanden erklärt. Heute
kümmerte ihn das nicht. Überhaupt hatte ich bei dieser Havarie
etwas Entscheidendes gewonnen: Freiheit. Endlich konnte ich tun und
lassen, was ich wollte. Er drehte mir nie das Licht aus, servierte
mein Essen, wann immer ich Hunger verspürte, ließ mich ohne
Fragebögen ins All und diskutierte meine Probleme zu jeder Tages-
und Nachtzeit. Mit den Speichereinheiten waren sämtliche
Überwachungs-, Kontroll- und Hygieneprogramme entschwunden, und er
hatte davon keine Ahnung.
Ich kniete mich in die Arbeit. Ich wußte, daß die intergalaktische Teleportationsstrecke, zu deren Suche ich ausgezogen war, hier irgendwo existieren mußte. Noch wenige Stunden vor der Havarie hatte ich…
Da kam mir ein Gedanke. Vielleicht war es gerade dieser Teleportationskanal gewesen, dem ich meine Lage verdankte? War ich in diesen Kanal hineingerast? Dann aber mußten meine Geräte, deren Empfindlichkeit ich in zweijähriger Arbeit enorm gesteigert hatte, unmittelbar vor dem Zusammenstoß etwas aufgezeichnet haben. Jede gerichtete Strahlung von Korpuskeln baut um sich ein Feld auf, ein meßbares.
Ich stürzte zu den Mikrodrähten und zerrte die Spule heraus, auf der sich die Impulse befinden mußten. Meine Finger zitterten, und ich brauchte eine Weile, bis ich den Schlitz fand, in den die Spule gehörte.
»Auswertung!« befahl ich.
»Wonach?« fragte der Computer phlegmatisch.
»Unmittelbar vor dem Zusammenstoß muß ein schwaches
Feld von Masseteleportationsstrahlung aufgenommen worden sein. Ich möchte die exakten Parameter und den Zeitpunkt wissen.«
»Welchen Zusammenstoß meinen Sie?«»Es gibt glücklicherweise nur einen!« rief ich,
wütend über diese vermeintliche Dummheit.
»In jeder Sekunde finden Tausende Zusammenstöße mit interstellarem
Wasserstoff statt«, belehrte er mich ruhig. »Nennen Sie die
laufende Nummer und den Ort des Zusammenstoßes, wenn ich
analysieren soll!«
Ich holte tief Luft. Er hatte ja recht. Aber seine Beckmesserei war
typisch für einen Fachidioten.
»Ich meine den Zusammenstoß, bei dem der größte Teil deiner
Speichereinheiten vernichtet worden ist.«
Seine Stimme klang beleidigt, als er sagte: »Welche
Speichereinheiten? Drücken Sie sich konkreter aus! Ich habe keine
Speichereinheiten verloren!«
Ich zwang mich zur Ruhe. Irgendwie mußte ich den Zeitpunkt der
Havarie genauer definieren, sonst bekam ich nie eine Analyse der
damaligen Strahlungsverhältnisse.
»BC«, sagte ich so sachlich wie möglich, »es hat sich eine Havarie
ereignet, bei der ein Teil unseres Raumschiffes mit allen
Antriebseinheiten, Vorratssektionen und vielen Speicherkolonnen
vernichtet worden ist.«
»Daran kann ich mich nicht erinnern«, sagte er knapp.
Entweder wußte er wirklich nicht, was passiert war, weil er sich in
seiner jetzigen Form erst nach der Havarie konstituiert hatte, oder
infolge einer autarken Schutzreaktion war das Geschehen ins
Nichtbewußte verdrängt worden, und dafür besaß ich keinen
Schlüssel.
Wie konnte ich an die Information kommen, die ich so dringend
brauchte? Natürlich gab es die Möglichkeit, das Band selbst
auszuwerten. 1015 Impulse… Nein, das
war kein gangbarer Weg.
Ich sagte: »BC, es muß auf dem Band eine Reihe von Signalen geben,
die sich von allen anderen unterscheiden, Signale, die noch nie von
uns aufgenommen wurden.«
»Programm verstanden«, sagte der Computer.
Ich atmete auf. Das wäre ja noch schöner gewesen, wenn der Verstand
eines Menschen vor einem bornierten Computertorso kapituliert
hätte.
Die Berechnungen zogen sich in die Länge. Eine Billiarde Bit
brauchte ihre Zeit, bis sie verglichen und geordnet, gruppiert und
klassifiziert waren. Selbst mein alter Bordcomputer hätte das nicht
im Handumdrehen geschafft.
In der Zwischenzeit setzte ich meine Arbeit an den Geräten
fort.
Bei Beginn meiner Reise beherrschten wir auf der Erde die
Teleportation unbelebter Materie technisch perfekt, und die meisten
Transportprobleme waren dadurch optimal gelöst worden. Eine Reihe
von Wissenschaftlern arbeitete an der Anwendung des Prinzips auch
für Lebewesen.
Seit meinem Start vor zwei Jahren hatte ich meine Zeit gut genutzt.
Was vor 120 Jahren Art Smirnow mit seiner TeleportTheorie
einleitete, hatte ich in der »Galaktik« fast zur Vollendung
gebracht. Vor zwei Monaten gelang mir die Teleportation einer
weißen Maus aus dem Labor in das Observatorium, und bis auf den
Umstand, daß ihrem Duplikat drei Zentimeter des Schwanzes fehlten,
hatten beide den Test gut überstanden. Dieser Versuch war mir ein
weiterer Beweis dafür, daß die hochentwickelten Zivilisationen das
Verfahren für den Transport von Menschen beherrschen mußten, daß
Art Smirnow mit der Voraussage der Teleportkanäle recht gehabt
hatte.
Nach meinem geglückten Versuch mit der Maus – zwei Tage danach war
sie allerdings an Nierenversagen verendet – wußte ich genau: Ich
würde den Teleportationskanal finden und, wenn sich Smirnow nicht
geirrt hatte, ganz dicht dran sein.
Und nun dieser Zwischenfall. Vielleicht war er die Folge meiner
Forschungen?
Mein kleines Rechenwunder schwieg sich weiter aus, und nur an den
flackernden Lämpchen des Regiepultes erkannte ich, daß es überhaupt
noch arbeitete.
Plötzlich verloschen die Lichter, dann hörte ich das Ergebnis der
Analyse.
»Wiederhole!« schrie ich. »Gib mir das schriftlich!«
Wenig später hatte ich die Kopie des Textes in der Hand.
»Raum-Zeit-Koordinaten 12,7 alpha – 132 – 20,2/81 – 13; unbekannte
Impulse eines gerichteten Feldes; schnell anwachsend bis über
Meßbereich, dann ausbleibend; Struktur der Impulse:…« Der Rest des
Blattes war mit endlosen Kolonnen algebraischer Ausdrücke bedeckt.
Die für mich bedeutsamen Ziffernfolgen und -kombinationen hatte ich
längst herausgefunden. Meine vage Vermutung hatte sich bestätigt.
Die Frage war jetzt nur noch, wie ich diese Tatsache hier in dem
treibenden Wrack für mich nutzen konnte. Sollte es möglich sein,
sich in den Teleportationskanal einzuschalten? Nicht für die Erde,
für mich selbst wäre der Erfolg wichtig gewesen, war es doch die
einzige Möglichkeit der Rettung, die ich momentan sah. Ich mußte
die Raum-Zeit-Koordinaten des Zusammenstoßes noch einmal
erreichen!
Ich fragte den Computer »Kannst du die augenblickliche Position der
›Galaktik‹ bestimmen?«
»Ja.«
Ich wartete, aber kein Zeichen verriet, daß der Computer an der
Arbeit war.
»Du sollst die Koordinaten bestimmen!« rief ich
ungeduldig.
»Auftrag erfolgte erst jetzt«, antwortete er
gleichgültig.
Das wäre mir mit meinem alten Bordaufseher nie passiert. Der wußte
immer, was ich wollte, las mir jeden Wunsch geradezu von den Augen
ab.
»Gegenwärtige Position: 11,9 alpha – 132 – 34,9/81 – 15«, sagte der
Computer wenig später.
Da wußte ich, was diese Koordinaten für mich bedeuteten. Ich ließ
mir trotzdem den integrierten Raum-Zeit-Winkel geben.
Das Ergebnis nahm mir allen Mut. Mit meinem havarierten Raumschiff,
ohne Antrieb und ohne Hauptgenerator, war es unmöglich, den
Teleportationskanal der Außerirdischen zu erreichen. Auf diese
Weise würde es keine Rettung für mich geben.
Aber vorhin, als ich auf das Ergebnis der Analyse wartete und mir
die Geschichte meines Unternehmens in Erinnerung zurückrief, da
hatte ich einen Gedanken gehabt, einen, den ich sofort im Ansatz
erstickte, einen Gedanken, der mich erschreckte. Aber der Test mit
der Maus war geglückt, und auf der Erde lauschten gigantische
Teleportantennen Tag und Nacht ins All, bereit, Besuch der
Außerirdischen zu empfangen. Lag dort die Möglichkeit? Gab es trotz
meinen geringen technischen und energetischen Mitteln Hoffnung?
Fieberhaft begann ich einen erneuten Versuch vorzubereiten. Ich brauchte Gewißheit darüber, daß der erste Erfolg mit der
weißen Maus kein Zufall gewesen war, daß meine Anlage unter allen Bedingungen sicher funktionierte. Noch fehlten mir konkrete Vorstellungen über das Danach, ich schob aber alle Gedanken daran energisch beiseite. Ich durfte mich jetzt nicht verzetteln.
Akkurat überprüfte ich die Schaltungen des kleinen Analysators, der ursprünglich nur für den Teleport unbelebter Materie gebaut gewesen war. Wieder und wieder hatte ich Veränderungen an Schaltungen und Bauteilen vorgenommen und in jeder Entwicklungsphase Dutzende weißer Mäuse verloren, bis zum ersten Erfolg vor zwei Monaten. Daß aus dem Synthetisator eine Maus sprang, der ein Stück des Schwanzes fehlte, störte mich nicht sonderlich. Die Ursache war mir sofort klar. Noch war der Analysator einfach zu klein, und Mäuse haben lange Schwänze. Den Mangel hatte ich inzwischen behoben. Nicht, daß ich Kurzschwanzmäuse gezüchtet hätte. Der Steuerstrahl tastete jetzt einen größeren Raum aus.
Bei den Versuchstieren herrschte wie immer lebhafte Betriebsamkeit. Nur die Meerschweinchen hockten träge in ihrer Ecke.
Ein Weibchen könnte ich noch gebrauchen, dachte
ich. Der Analysator müßte es schaffen.
Vorsichtig trug ich das Tier zum Gerät. Ruhig blieb es in dem
Glasquader sitzen.
Und noch einmal kontrollierte ich sämtliche Anschlüsse und
Meßpunkte, dann schaltete ich im Observatorium den Synthetisator
ein und ging ins Labor zurück.
»So, Susi«, sagte ich, »jetzt wird deine Familie Zuwachs bekommen.«
Nach einer Pause fügte ich hinzu: »Hoffentlich.«
Entschlossen zog ich den Hebel nach unten. Das grüne Lämpchen glomm
auf und verlosch wieder. Weiter war nichts zu beobachten. Was aber
sollte auch zu sehen sein? Jeder Körper besteht aus endlich vielen
räumlichen Schichtungen von Atomen, die in einem äußerst kleinen
Zeitraum als fixiert betrachtet werden können. Jedes Atom ist in
diesem winzigen Zeitabschnitt definiert in seinem chemischen,
physikalischen und biologischen Zustand, der exakt meßbar und in
die Sprache der Mathematik transformierbar ist. Der Analysator
ertastet den Körper mit einem gesteuerten Teleportationsstrahl Atom
für Atom, Schicht für Schicht, registriert die gefundenen Zustände
und strahlt sie mit Hilfe des Senders ab. Der ganze Vorgang dauert
einen Bruchteil der Zeit, die ein Elektron braucht, seinen Atomkern
zu umkreisen. Im Synthetisator werden die Signale decodiert. Aus
diesen Informationen entsteht ein genaues Abbild des
Originals.
Ein genaues Abbild des Originals…
Ich ging ins Observatorium und sah schon von der Tür aus im
Synthesekäfig das Meerschweinchen Susi II friedlich muffeln. Ich
hob es heraus, trug es ins Labor und setzte es neben Susi I.
Neugierig beschnüffelten sich die beiden. Der Versuch war geglückt,
und mir wurde plötzlich bewußt, weshalb ich die Gedanken an das
Danach bisher verdrängt hatte. Aller Tatendrang wich, Mutlosigkeit
und Niedergeschlagenheit ergriffen Besitz von mir.
Ein genaues Abbild des Originals…
Sie saßen beide auf dem Tisch vor mir, völlig identisch, ohne jedes
Unterscheidungsmerkmal.
Was sollte das alles? Die Möglichkeit meiner Rettung war Lug und
Trug, ich selbst hatte mich betrogen. Ja doch! Natürlich würde es
glücken, sogar ohne jedes Risiko für mich. Ich würde zurück zur
Erde gelangen, alle meine wichtigen Forschungsergebnisse retten
können. Aber den Nutzen hätte meine Kopie! Ich blieb hier im Wrack in unverändert
aussichtsloser Lage.
Wieder starrte ich auf die beiden Meerschweinchen. Welches war Susi
I und welches Susi II? Es gab keine Möglichkeit, sie zu
unterscheiden! Nicht meine Kopie würde die Erde betreten, ich
selbst wäre es!
Und mein Ich hier im Wrack?
Mit einer Armbewegung schleuderte ich den Analysator vom Tisch, und
unisono quiekten die beiden Tiere auf. Ich wollte nichts mehr
sehen, nichts mehr hören. Das alles war doch sinnlos!
Ich schleppte mich auf mein provisorisches Lager und schloß die
Augen. Geistig und körperlich war ich am Ende, und einen Ausweg sah
ich nicht.
Später riß ich das Siegel vom Schloß des Schränkchens mit den
Psychopharmaka. Ich schluckte ein starkes Antidepressivum. Nie
hätte ich geglaubt, dieses Mittel einmal zu benutzen.
Endlich konnte ich einschlafen. Vielleicht war es mehr eine
partielle Bewußtlosigkeit, in die ich hineinglitt. Wirklichkeit und
Phantasie begannen sich zu vermischen, und ich träumte…
Die unbedachte, jähzornige Armbewegung kostete mich fast eine Woche Arbeit. Kristalle waren zerstört, kleinste Verbindungen gelöst, ganze Schaltkreise unbrauchbar. Trotzdem verlor ich die Geduld nicht.
Der neue Teleportationsanalysator wurde ein imposantes Gebilde. Für zeitaufwendige Verkleidungen opferte ich weder Kraft noch Material. Nur die Funktion war wichtig. Ich baute ein Stahlgestell, an dem die einzelnen Partien wie Schwalbennester aneinander- und übereinanderklebten, ein nur von mir zu durchschauender Wirrwarr von Chips, Laserverbindungen, Kristallen und endlosen Verdrahtungen. Das Meisterstück wurde der neue, leistungsfähigere Generator und das auf meine Größe zugeschnittene Aufnahmeteil.
Sowenig wie möglich dachte ich an mein Problem.
Nur selten ging ich zu den Versuchstieren.
Schließlich konnte ich die letzten Handgriffe erledigen. Ich
stimmte noch zwei Schaltkreise aufeinander ab und überprüfte
routinemäßig die Kontakte. Ich schloß die Augen und schaltete
ein.
Erst als ich kein Zischen schmorender Isolierungen, kein Knistern
platzender Kristalle hörte, als ich durch die geschlossenen Lider
keine gleißenden Lichtbögen durchschlagender Hochspannung sah, erst
dann öffnete ich vorsichtig die Augen.
Die Zeiger der Meßgeräte blieben ruhig und zeigten die
Nennspannungen, die grüne Kontrollampe signalisierte
Arbeitsbereitschaft.
Noch aber waren mir die Sorgen nicht genommen, hatte ich doch schon manches Gerät erlebt, das äußerlich intakt und arbeitsbereit schien, aber nie funktionierte. Um sicherzugehen, brauchte ich noch einen Test.
In das Aufnahmeteil legte ich ein zerlesenes Buch, die »Reparaturanleitung für defekte Schraubendrehwerkzeuge«. Es bestand aus organischem Papier und eignete sich aus diesem Grunde bestens für den Versuch. Mäuse oder Meerschweinchen wollte ich nicht mehr benutzen, vervielfachte ich doch dadurch nur die Zahl der Lebewesen, die früher oder später mit dem Wrack untergehen mußten.
Energisch legte ich den Hebel um.
Das ganze Raumschiff begann zu klirren. Das Licht ging aus, und
über der Tür flammten die Notleuchten auf. Am Regiepult des
Computers begannen die Kontrollampen zu flakkern, aus dem
Lautsprecher drang asthmatisches Pfeifen.
»Totale Überlastung aller Systeme«, verstand ich.
Ich hätte es bedenken müssen. Der neue Analysator brauchte
wesentlich mehr Energie, dabei sendete ich nur mit schwacher
Leistung zum Observatorium hinüber.
Plötzlich wurde es ruhig. Der Bordcomputer aktivierte sich, die
Raumleuchten wurden hell, die Vibration hörte auf. Unversehrt lag
im Aufnahmeteil die Reparaturanleitung.
»Energiefluß normalisiert. Überlastungsursache unbekannt«, meldete
der Bordcomputer.
Langsam ging ich ins Observatorium hinüber. Im Synthetisator lag
ein Buch, zerlesen, schmutzig, ölfingerbefleckt:
»Reparaturanleitung für defekte Schraubendrehwerkzeuge«. Meine
neue, wesentlich größere und leistungsfähigere Anlage
arbeitete.
Um Energie zu sparen, wagte ich keinen weiteren Test. Ich wollte
die Sache zum Abschluß bringen. Ob ich auf der Erde ankam oder
nicht, hier würde sich nichts ändern. Ich hatte mein Möglichstes
getan, mich und mein Wissen zurückzubringen; das war meine Pflicht.
Leider würde ich nie erfahren können, ob ich tatsächlich…
Am Okular des großen Refraktors überprüfte ich die Stellung der
Richtungsantenne, koppelte sie mit dem Analysator und ging langsam
zurück ins Labor. Ich stellte mich in den aufgezeichneten Kreis,
holte tief Luft und verharrte einen Moment.
Dann zog ich den Hebel mit einem Ruck herunter.
6
Irgendwann kam ich zu mir. Im Raumschiff leuchteten nur die
Notlampen, mir war kalt, ich zitterte. Mir schmerzte jedes Glied.
Der Bordcomputer schwieg, das Regiepult zeigte kein Leben. Die
Sendung zur Erde hatte die letzten Energiereserven gekostet. Es
würde nun schnell zu Ende gehen. Auch die Küche hatte ihre Arbeit
eingestellt. Meine Rettung ist lediglich ein eleganter Selbstmord.
Ich bekomme nichts mehr zu essen, nichts mehr zu trinken. Ich
friere immer mehr, und die Luft wird breiig. Ich habe den Raumanzug
übergezogen und mich auf das Bett gelegt. Links neben mir steht der
Teleportationsanalysator.
Meine Aufzeichnungen…
Tim Tanner ließ das Buch sinken, aus dem er vorgelesen hatte, und
schaute sich um. Die Männer schwiegen. Jetzt wußten sie, wozu
dieses technische Monstrum da mitten im Raum gedient hatte. Vor
zwei Stunden, als sie das treibende Wrack der »Galaktik« entdeckt
hatten und eingestiegen waren, konnten sie nichts damit
anfangen.
»Ob die Heimkehr geglückt ist?« fragte Ove
Johannsen. »Wenn, dann muß es lange her sein. Ich habe nie davon
gehört«, sagte Tim. »Außerdem teleportieren wir auch heute nur
unbelebte Materie.«
»Die Verdopplung«, gab Gert zu bedenken. »Die Arbeiten sind
abgebrochen worden.«
»Wer ist er überhaupt gewesen?« wollte Tim Tanner wissen, und er
wies mit dem Kopf zum Observatorium.
Ludwig Bukas zeigte wortlos auf das Buch mit den
Aufzeichnungen.
Die drei Männer steckten die Köpfe zusammen und buchstabierten.
Dann fuhren sie auseinander und starrten ihren Kommandanten an.