Fritz Reinel

Das Profil

Auf dem Rückflug von der Nordgalaktischen Tagung über die Standardisierung von Schlüsselringen fiel mir ein, meinen Freund Rick Palmer zu besuchen, der nach seinem Ärger mit den Omikronen auf den kleinen Planeten Pi umgesiedelt war. Den kurzen Umweg von knapp 800 Millionen Kilometern würde ich bequem in der Reisekostenabrechnung unterbringen können, und die Zeit spielte auch keine Rolle, da ich mit der Rakete M 412 flog. Die M 412, das war die mit dem nach unten gebogenen Auspuff, hatte ein enormes Anzugsvermögen und war anderthalbmal schneller, als es die Raumverkehrsordnung zuließ.

Schon von weitem erkannte ich, daß die unbewachten Parkbahnen über dem Planeten Pi wie üblich sämtlich besetzt waren. Ich mußte also notgedrungen auf eine der bewachten ausweichen. Der alte Wächter empfahl mir, Fotoapparat, Taschenrechner und ähnliche Kleinigkeiten mitzunehmen, da er nicht überall gleichzeitig aufpassen könne, kassierte aber trotzdem ungerührt die Gebühr. Ich packte also alles in meine Landefähre, stieg um und stand kurze Zeit später Rick Palmer gegenüber.

»Du hast Glück«, sagte er, »mich hier anzutreffen, denn ich bin eben von einer längeren Dienstreise zurückgekommen, auf der ich eine tragikomische Geschichte erlebt habe.«

»Erzähle«, ermunterte ich ihn.
»Dazu muß ich aber etwa fünfzig Jahre zurückgehen, denn eigentlich fing schon damals alles an. Die Geschichte spielt in einem dir sicherlich unbekannten Ort. Ich hole nur rasch noch etwas zu trinken.«

Wir machten es uns in den breiten Sesseln bequem. Das Städtchen Pix liegt an einem riesigen Klärteich, der vor undenklichen Zeiten mal ein Meer war, in dem man baden konnte; aber daran erinnert sich kaum noch jemand. Pix besitzt drei uralte Minarette, die sämtliche modernen Bauwerke weit überragen, und eine Brücke über einen fünfzig Zentimeter breiten Bach, die der Baumeister aus sportlichem Ehrgeiz in Handarbeit anfertigen ließ, weshalb der Bau auch zwanzig Jahre dauerte. Das Städtchen Pix beherbergt außerdem die kleinste, älteste und darum stolzeste Universität des Kosmos.
Die Pixer Biologen beschäftigen sich in ihrer reichlich bemessenen Forschungszeit (damals, im Jahre 2030, hatte man wirklich noch viel Zeit für die Forschung) mit der Aufzucht von Orchideen. Die Chemiker entwickelten immer neue und bessere Düngemittel für Orchideen, die Physiker knobelten an einer orchideengerechten, wuchsfördernden Beleuchtung herum, die Archäologen stellten fest, wo Orchideen früher am besten wuchsen, die Geographen vermaßen, wo sie heute am besten gedeihen, die Künstler meißelten sie in Stein – naturalistisch und abstrakt –, die Pharmazeuten preßten Pillen aus Orchideen, die Mediziner gaben sie ihren Patienten zu schlukken und veranstalteten Mammutkonferenzen zur Klärung der Frage, ob die Kranken trotz oder wegen der Pillen gestorben seien. Und die Mathematiker berechneten Form und Farbe jeder neuen Züchtung notwendig und hinreichend näherungsweise.
Jeder Student, jeder Assistent und jeder Professor hatte irgendwie mit Orchideen zu tun. Keine Universität konnte eine so schnurgerade Profillinie, eine derart konsequent interdisziplinär orientierte Forschung aufweisen wie diese. Orchideen schmückten Zimmer, Foyers, Fenster und Gärten. Sogar in den Hörsälen standen sie; dort allerdings unter einer dicken Schicht von Kreidestaub versteckt, aber das machte ihnen nichts aus, denn sie entstammten einer besonders widerstandsfähigen Variante.
Die Liebe zu dieser Blume war allseitig, tief und endgültig. Sie ging sogar so weit, daß die angewelkten und aus der Mode gekommenen Orchideen, von denen die zahlreichen Blumenläden vollstanden, in der Mensa als Frischsalat serviert und mit großem Appetit verzehrt wurden.
Die Forschung lief auf vollen Touren, weil der Export immer neue Sorten verlangte und weil man auf dieser hohen Kulturstufe unmöglich mit den lächerlichen zwanzigtausend Arten auskommen konnte, welche die Natur freiwillig hervorgebracht hatte. Außerdem, so stellte die Wissenschaft fest, war die Natur bei einer unökonomischen Handwerkelei stehengeblieben. Die Aufzucht mußte viel schneller und billiger werden, großtechnisch möglich sein und anpassungsfähige Arten liefern. Man brauchte Orchideen für die Polargebiete, für Wüsten und Urwälder; Orchideen mußten in die Hochgebirge und in die Aquarien. Orchideen zur Hochzeit, zum Begräbnis, für die kleine Familienfeier und den globalen Gedenktag. Und man brauchte massige, wuchtige Exemplare, schlanke, hoch wie Pappeln, ebenso nötig wie winzig kleine, die samt Hydrotopf als Ohrclip getragen werden konnten.
Das war nur die dekorative Funktion der Orchidee. Sie sollte aber außerdem noch als Küchengewürz, Vitaminpräparat, Abführmittel, Karnickelfutter, Schalldämpfstoff und Grundsubstanz für Lippenstifte funktionieren. Eine Sorte gab es, von der – so steht es in einer vierhundert Seiten dicken Dissertation – wurden die sich zur Plage vermehrenden Haustauben steril, wenn sie sie fraßen; aber sie fraßen sie nicht, die boshaften Viecher. Warum? Das galt es zu erforschen. Das und noch vieles andere, woraus im Handumdrehn ein Programm zur Erforschung aller denkbaren, undenkbaren und sonstigen Komplexe hervorging, die möglicherweise mit Orchideen zusammenhingen, mit dem Ziel, diese Pflanze zu einem Hauptbestandteil des Lebens auf dem ganzen Planeten und im Rest des Universums zu machen. Es bedurfte nur elf Senatssitzungen, bis das Programm von allen Sektionen akzeptiert, vom Rektor befürwortet, vom Maxisterium genehmigt und feierlich als Profillinie für die nächsten fünfzig Jahre verabschiedet werden konnte.
Nach achtundvierzig der ersten fünfzig Orchideenjahre fragte ein ziemlich junger Assistent der mathematischen Sektion, eben erst an die Pixer Uni gekommen und kaum in die Anfangsgründe der Theorie niederer Parasiten in höheren Topologien n-dimensionaler Raumverschlingungen eingedrungen, warum eigentlich die ganze Universität sich mit Orchideen beschäftigte. Diese Frage kam ihm in den Sinn, als er in der Frühstückspause gemütlich sein mit Orchideenbutter bestrichenes Orchideenbrötchen kaute. Die anderen hörten ihn kaum, da er mehr laut gedacht als gesprochen hatte und gar keine Antwort erwartete, denn die Frage, das stand für ihn Sekunden später schon fest, war wissenschaftlich irrelevant. Einer, der ihn verstanden hatte, meinte, diese Frage sei durchaus eines Pausengesprächs wert, mehr aber auch nicht. Nach und nach schalteten seine Kollegen sich ein, diskutierten für und gegen einen Wechsel der Forschungsthematik, nannten auch neue Aufgaben, aber keiner dachte im Ernst daran, den geliebten Orchideen Lebewohl zu sagen. Am Ende der Pause herrschte die Meinung vor, daß diese Frage einen interessanten Disput im kleinen Kreis verspreche. Damit ging man auseinander.
Durch einen Zufall erfuhr vierzehn Tage später der Forschungsgruppenleiter davon, setzte die Frage als Punkt fünf auf die Tagesordnung, schlug selbst Neuerungen vor und notierte sich einiges aus der munter fließenden Diskussion. Aber auch auf dieser Sitzung wurde das Problem rein hypothetisch erörtert, ohne jede praktische Konsequenz.
In der turnusmäßigen Dienstbesprechung der Sektionsleitung, eine Woche später, sagte der Direktor unter Punkt Verschiedenes, daß es in der Gruppe Raumverschlingungen einen Querkopf gebe, der unbequeme Fragen stelle. Aber dem einmal aufgeworfenen Problem dürfe man nicht ausweichen, sondern müsse den Abteilungsleiter bei der Argumentation unterstützen. Also ordnete er an, daß der Stellvertreter für Forschung sich gelegentlich in diese Gruppe zu begeben und eine Aussprache herbeizuführen habe, deren Ziel sein müsse, der Abteilung die Größe des bestätigten Forschungsplanes farbig zu schildern und den Querkopf wieder in das Kollektiv einzugliedern.
Die Forschungsgruppe, zuerst ärgerlich wegen der Störung, amüsierte sich bald über das ängstliche Gebaren des Stellvertreters und heizte aus Spaß die Stimmung ein bißchen an. Die Folge davon war, daß der Stellvertreter zu seinem Direktor flüchtete und atemlos berichtete, die Abteilung erstrebe mehr Entscheidungsfreiheit und sehe sich schon nach anderen Aufgaben um.
Am nächsten Tage bereits setzte der Rektor seinen Prorektor für Prognose in Marsch. Diesen Titel führte der Mann nicht etwa, um wissenschaftliche Voraussagen zu machen – nichts lag ihm ferner als das –, dieser Titel verpflichtet ihn nur, Optimismus zu verbreiten. Dazu war er bestens geeignet, sozusagen ein Naturtalent, denn sein wohlgenährter, aber äußerst beweglicher Körper, seine helle, durchdringende Stimme und sein zuversichtliches Lächeln ließen in der Tat jeden Mißmut ersterben. Er konnte stundenlang ohne Manuskript sprechen, und nur wenige wußten, daß er sich kaum vorbereitete. Ganz anders als der erste Prorektor, der Wort für Wort ablas und nach spätestens einer halben Stunde keinen Zweifel mehr darüber ließ, daß er nicht nur nicht reden, sondern auch nicht schreiben konnte.
Dieser unerreichte Prognostiker veranlaßte eine Sektionsvollversammlung, stürmte mit drei hochdotierten Leuten kurz vor der Mittagspause in den Hörsaal und lockte eines nach dem anderen der nun schon ziemlich handfesten Argumente aus der Versammlung heraus. Das dauerte keine halbe Stunde. Dann ergriff er das Wort und ließ es erst nach vier Stunden wieder los, worauf auch die hitzigsten Revoluzzer vor Hunger kein Wort mehr herausbrachten. Seinem Rektor empfahl er, die Sektion konsequent zur Disziplin anzuhalten, da sie drohe, ihn, den Rektor, nicht wiederzuwählen, falls er nicht eine Überprüfung der Profillinie veranlasse. Außerdem sei dringend anzuraten, den Sektionsdirektor zur Verantwortung zu ziehen.
Eine Stunde später war das Maxisterium für Universitätswesen in Aufruhr. Auf seinen zahlreichen Fluren flüsterte man sich zu, die Pixer Uni fühle sich an die Weisungen des Maxisters nicht mehr gebunden und habe seine unverzügliche Absetzung bereits beantragt.
Das Maxisterium war sich einig, daß sofort umfassende disziplinarische Maßnahmen an der rebellierenden Uni durchzuführen seien und als erstes, abschreckendes Beispiel der Rektor rückwirkend von seinem Amt entpflichtet werden müsse. Noch bevor der Maxister das Geringste von den Vorfällen erfuhr, teilten seine Mitarbeiter die attraktiven Posten der Pixer Universität vorsorglich unter sich und ihren Freunden auf. Niemand wagte, den Maxister von der außerordentlichen Gefahr zu unterrichten, die auf ihn zustürmte. Vielleicht mangelte es an Mut, vielleicht ergötzte man sich jetzt schon an dem zu erwartenden Schauspiel seiner Absetzung und wollte die Lawine rollen lassen, bis sie nicht mehr aufzuhalten sei. Aber schließlich winkten einige, die sowieso keinerlei Aussichten auf den Maxistersessel hatten, den Wissenschaftlichen Sekretär des Hohen Amtes in ein abseits gelegenes Zimmer und teilten ihm hastig alles mit, was sie wußten, das Fehlende durch ihre reichliche Phantasie ergänzend.
Der Wissenschaftliche Sekretär klemmte sich eine beliebige der zahlreichen Mappen, in denen äußerst dringende, unerledigte Vorgänge abgeheftet waren, unter den Arm und spazierte zu seinem Vorgesetzten hinein. Nach einer Viertelstunde konzentrierter Arbeit war die Akte um ein Blatt dicker und somit vorläufig erledigt. Der Maxister setzte seine Brille ab und fragte seinen Sekretär: »Ist sonst noch was?«
»Wir sollten gelegentlich daran denken, daß die Uni Pix seit fast fünfzig Jahren Orchideen züchtet.«
»Sehr erfolgreich, die Pixer. Dank ihrer hervorragenden Forschungsergebnisse exportieren wir an mehr als achtzig Planeten.«
»Ja, aber die entscheidenden Erkenntnisse gewannen sie in den ersten zehn Jahren. Später sind ihre Berichte zwar immer dicker geworden, aber es stand nichts Verwertbares mehr drin.«
»Wird wohl Zeit, daß wir Ihnen eine neue Profillinie geben.«
»Ja, das denke ich auch«, pflichtete der Sekretär ihm bei, »nur…«
»Nur?«
»Das haben die Pixer auch schon gemerkt.«
»Na, um so besser. Veranlassen Sie, daß auf der nächsten Dienstbesprechung erste Vorstellungen über neue Themen vorliegen.«
»Vermutlich hat die Uni schon welche.«
»Dann soll der Rektor sie hier vortragen. Erfreuliche Aktivität. Hätte ich dem kleinen Häuflein gar nicht zugetraut.«
»Ja«, seufzte der Sekretär, »im Prinzip haben Sie recht, leider ist der Zeitpunkt äußerst ungünstig. Ich fürchte, gerade jetzt können wir keine Änderung beschließen. Es scheint an der Uni ein bißchen laut zuzugehen.«
»Krawall?«
»Schlechte Leitungstätigkeit, heißt es. Verschiedene Namen wurden genannt.«
»Welche?«
»Ich weiß nichts Genaues, aber die Kritik beschränkt sich nicht auf Universitätsangehörige.«
Der Maxister verstand, daß nur er damit gemeint sein konnte. Einen Augenblick lang glaubte er durchgreifen zu müssen, Disziplin zu erzwingen, um seinen Stuhl zu retten, aber dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Wir beide fahren hin, hören uns die Argumente an, sammeln Vorschläge und erarbeiten gemeinsam eine neue Forschungsrichtung. Einsatz aller modernen Mittel der Planung. Unser Rechenzentrum soll… Wie heißt doch gleich der neue Programmingenieur?«
»Rick Palmer?«
»Genau den. Holen Sie ihn her. Ich will ihn sofort sprechen.«
Der Maxister behielt trotz seiner angekratzten Autorität die Übersicht. Gewitzt durch Erfahrung in seinem hohen Amt, wußte er sehr wohl, daß man Hitzköpfe durch nichts schneller abkühlt als durch sogenannte sachliche Argumente. Läßt man diese Argumente durch einen raffiniert programmierten Elektronenrechner aus einer unübersehbaren Flut einander widersprechender Analysen und Prognosen zusammendichten, dann wirken sie geradezu märchenhaft sachlich. Deshalb sagte er: »Palmer, meine Hoffnung ruht auf Ihnen und Ihrem schlauen Automaten. In vier Wochen brauche ich eine hiebund stichfeste Optimallösung, die ausweist, welche Universität sich am besten für die Orchideen eignet. Aber in drei Jahren will ich produktionsreife Neuzüchtungen sehen, und mehr als fünfzig Millionen darf der ganze Spaß nicht kosten. Es wäre natürlich auch nicht schlecht, wenn alles beim alten bliebe. Noch Fragen?«
Ich hatte keine mehr, denn für die paar Millionen würde ihm der Senat höchstens einen Bericht liefern mit der einzigen, aber genial verpackten Aussage, daß es für die paar Millionen nicht zu machen sei.
Es war kein Problem für mich, den Automaten zu veranlassen, wie das Spieglein, Spieglein an der Wand jedesmal zu antworten, daß die allerschönsten Orchideen immer und ewig aus Pix kommen würden. Ich stellte mir meinen Maxister vor, wie er mit unendlichem Bedauern um die Mundwinkel dem Rektor zu verstehen gab, daß die unbestechlichen Elektronengehirne der traditionsreichen Universität leider nichts anderes zu bieten hätten. Und gegen diesen Sachzwang sei selbst ein Maxister machtlos.
Als ich ihm mein Ergebnis vorlegte, sagte er: »Sie haben ganze Arbeit geleistet, wirklich, aber sachliche Argumente hin und her, über kurz oder lang werden die Pixer doch wieder anfangen zu meckern. Die Karre ist verfahren, wenn der Forschungsrat nicht die Mittel bewilligt. Wieviel brauchen wir eigentlich?«
Meine Antwort, daß der Rechner erst bei zweihundert Millionen erste Varianten ausspucke, ließ ihn zusammensacken.
Aber er fing sich schnell wieder und sagte entschlossen: »Jetzt gehe ich erst mal in Urlaub. Vielleicht fällt mir dann ein, wie ich das Geld lockermache.«
Wenig später schickte er mir die Fotokopie einer prachtvollen Urkunde, auf der im schönsten Timessatz stand:

Der Nordgalaktische Rat verleiht den

Jubiläumspreis
für 50 Jahre profilgerechte Forschung der Universität Pix
in Anerkennung höchster Verdienste um die Familie Orchidaceae ein Jahr vorfristig.
Die Universität Pix ist berechtigt, ihr Forschungsprofil der nächsten 50 Jahre selbst zu wählen.

An den Rand hatte er schwungvoll geschrieben: Orchideen gewählt, 200 Mio gespart, schönes Wetter hier, Gruß K.