Viktor Kolupajew

Was für komische Bäume

Zuerst war da nur ein großes Nichts, dann versank er in eine Art Dämmerzustand. Das Bewußtsein entglitt ihm immer wieder, obwohl ein Gedanke bereits hartnäckig in ihm bohrte und die anderen, noch schlafenden Abschnitte seines Hirns zu wecken suchte. Dieser Gedanke war der Befehl, zu sich zu kommen. Mit einem Rest des Bewußtseins klammerte er sich an diesen Gedanken wie an einen rettenden Strohhalm. Einen Augenblick lang war sein Bewußtsein von einem Pfeifen und Dröhnen erfüllt, das jedoch nicht lange anhielt. Danach trat hallende Stille ein, und er kam endgültig zu sich.

Er lag unter einer durchsichtigen Haube, die sich hob und beiseite rückte, sobald er die Besinnung wiedererlangte. So blieb er noch etwa eine Minute liegen, während er spürte, wie sich die Muskeln seines Körpers strafften und sein Gedächtnis die vergangenen Ereignisse zu rekonstruieren begann, bis es sich all das vergegenwärtigt hatte, was in seiner Situation von Belang war. Darauf sprang er leichtfüßig von der Empore. Nun erinnerte er sich an alles. Ihm war klar, daß das Wiederbelebungssystem irgendwo einen Fehler aufwies. Diesen unangenehmen Augenblick des Übergangs zum Leben hätte er nicht spüren dürfen.

Wie mag es bei den Kindern aussehen? dachte er. Ihre Kabine befand sich nebenan. Während er auf die Tür des Navigationszentrums zuging, überflog er mit einem Blick sämtliche Leuchtindikatoren.
Außer einem grünen Auge, das ihm wie um Nachsicht heischend zuzwinkerte, war alles in Ordnung. Das war sein Indikator. Nun gut. Er wird dieser Sache auf den Grund gehen, sobald sie mit den Vorbereitungen auf den Rückflug beginnen. Jetzt erst einmal zu den Kindern.

Als er die Tür zum Kinderzimmer öffnete, sah er auf den ersten Blick, daß hier alles in bester Ordnung war. Genauer gesagt, in Unordnung. Die Kinder bewarfen sich mit Kissen, und der Raum war von ihrem fröhlichen Gekreisch erfüllt. Offensichtlich hatten sie den »Übergang« gut überstanden.

»Papa!« rief Wina. »Wir haben Sandro mit Kissen bombardiert! Aber er hat angefangen.«
»Ja, ich habe angefangen«, bekannte Sandro. »Ich war so froh, die beiden aber kamen gar nicht aus der Knete. Irgendwie mußte ich sie doch aufmuntern.«
»Sind wir schon am Ziel, Vater?« fragte Osa. Sie war die Älteste und machte sich, ohne eine Aufforderung des Vaters abzuwarten, daran, das Kinderzimmer aufzuräumen.
»Ja«, erwiderte der Vater. »Wir sind da, das Raumschiff hat die Satellitenbahn um den Planeten erreicht. Wenn ihr euch beeilt, könnt ihr ihn auf dem Panoramabildschirm betrachten.«
»Ich bin erster!« rief Wina.
»Ich glaube eher«, berichtigte sie der Vater, »daß du letzter sein wirst. Allein dein Bett kostet dich noch eine Unmenge Zeit.«
»Ich helfe ihr, Vater«, sagte Sandro.
»Ich gebe euch fünf Minuten, um fertig zu werden. Beeilt euch. Aber ich erwarte, daß das Zimmer dann vollständig aufgeräumt ist.«
Er verließ den Raum, froh darüber, daß die Kinder den »Übergang« so gut überstanden hatten. Was aber war mit seiner Apparatur los? Woher kam dieses Dröhnen und Pfeifen? Diese Gedanken beschäftigten ihn auf dem Weg zum Navigationszentrum des Raumschiffes und auch noch dort, während er auf die Kinder wartete.
Er war mit der Konstruktion des Raumschiffes gut vertraut und konnte sich deshalb nicht erklären, woher dieses Dröhnen kam.
Da aber ging die Tür auf, und die Kinder eilten herein.
Osa ernst und konzentriert, im vollen Bewußtsein dessen, daß sie gleich etwas Interessantes und Lehrreiches zu sehen bekommen würde. Sandro entschlossen, voller Energie, bereit, sich auf das kleinste Zeichen hin aus dem Raumschiff zu stürzen, um als erster die Oberfläche des Planeten zu betreten. Wina ungeduldig und darauf brennend, mit diesem interessanten Spielzeug zu spielen, das sich Planet nannte.
Der Vater brachte sie in den Drehsesseln unter. Er erinnerte jetzt an einen Zauberkünstler, der sich auf den interessantesten, zugkräftigsten Trick seines Programms vorbereitet.
»Papa, dauert’s noch lange?« Winas Geduld ging zu Ende.
»Es ist soweit«, sagte der Vater. »Gleich werdet ihr den Planeten sehen!« Er drückte auf einen Knopf. Die Klappen, die den Bildschirm verdeckten, öffneten sich, schoben sich zusammen und verschwanden. Ihren Blicken bot sich eine durchsichtige Hemisphäre – vor ihnen, zu ihren Füßen und über ihren Köpfen.
Wina konnte nicht länger an sich halten und kreischte vor Begeisterung auf. Sandro neigte sich mit dem ganzen Körper vor. Osa erstarrte verblüfft in einer unbequemen Haltung.
Vor ihnen schwebte eine nebelverhangene Kugel, eine reglose, in Dunst gehüllte Kugel. Die Sonne beschien gerade die ihnen zugewandte Seite des Planeten. Durch die Lücken in den spiralförmig angeordneten Wolkenschichten schimmerten die hellblauen Punkte der Ozeane, hellbraun getönte Wüstenstreifen, Bergketten und die blendend hellen Polkappen.
Ja! Für diesen Anblick hatte es sich gelohnt, durch Hunderte von Lichtjahren zu rasen. Der Vater machte Aufnahmen, die Kinder schwiegen und starrten mit weit aufgerissenen Augen auf dieses Wunder.
»Wollt ihr euch den Planeten näher ansehen?« fragte der Vater.
»Ich möchte ihn betreten«, erklärte Sandro entschieden.
»Das hat noch Zeit. Schließlich sind wir nicht für fünf Minuten hergekommen.«
»Papa, werden wir wirklich unseren Fuß auf den Planeten setzen?« rief Wina freudig aus.
»Was meinst du, wozu wir die Raumanzüge mitgenommen haben?« fragte Osa. »Wir werden nicht nur unseren Fuß auf ihn setzen, sondern sogar auf ihm herumlaufen.«
»Das werden wir«, bestätigte der Vater, »aber wenn wir dort unten sind, können wir nur einen kleinen Teil des Planeten betrachten, während man von hier oben einen größeren Überblick hat.«
»Aber wir sind doch noch sehr weit von ihm entfernt«, sagte Sandro.
»Wir werden bald tiefer gehen und ihn uns von allen Seiten ansehen.«
»Wie heißt der Planet eigentlich?« fragte Osa.
»Ich habe in den Sternenatlanten nachgeblättert«, erwiderte der Vater. »Er hat einen sehr merkwürdigen Namen, der sich nicht in unsere Sprache übersetzen läßt. Das ergäbe keinen Sinn.«
»Wir können ihm doch einen neuen Namen geben«, schlug Sandro vor.
»Nein, mein Sohn, der Planet hat schon einen Namen.«
Der Vater setzte sich ans Navigationspult, und das Raumschiff geriet in Bewegung. Es umkreiste den Planeten und näherte sich ihm in Spiralen. Bald befanden sie sich direkt über den Wolken und erspähten, wenn die Wolkendecke aufriß, Flüsse, Seen, Wälder, Felder und sogar Städte. Richtige Städte! Nun, natürlich waren das ein wenig seltsam anmutende, kleinere und größere, ganz und teilweise zerstörte Städte. Einige von ihnen aber wirkten völlig unversehrt.
»Vater«, sagte Sandro. »Gibt es hier eine Zivilisation?«
»Ja«, erwiderte der Vater. »Zumindest hat es sie einmal gegeben.«
»Wenn sie noch vorhanden ist, müßten wir etwas von ihr bemerken. Wollen wir uns eine der Städte näher ansehen?«
»Einverstanden«, entgegnete der Vater. Das Raumschiff hielt in einer Höhe von zehn Kilometern. Alle vier starrten gebannt auf den Bildschirm.
In der Stadt konnte man keinerlei Bewegung wahrnehmen. Ihre Augen begannen bereits zu ermüden, als Osa sagte: »Die Punkte dort! Sie verschieben sich.«
»Was für Punkte?« riefen alle aufgeregt.
»Die Punkte dort, die wie kleine Kreuze aussehen.«
»Das ist eine Täuschung«, sagte Sandro.
»Nein, das ist keine Täuschung.« Wina stand ihrer Schwester bei. »Sie sind ein Stück weitergerückt.«
Sie setzten ihre Beobachtungen noch eine Zeitlang fort und gelangten zu der Schlußfolgerung, daß sich die Gegenstände tatsächlich bewegten, wenn auch so langsam, daß man es kaum wahrnehmen konnte. Der Vater verglich sie mit den Gebäuden. Es waren Objekte derselben Größenordnung.
»Das können kaum die Bewohner der Städte sein«, meinte der Vater. »Sie würden gar nicht in die Gebäude hineinpassen. Außerdem bewegen sie sich nicht über den Boden des Planeten. Seht ihr die Schatten unter ihnen? Sie befinden sich über der Oberfläche.«
»Gibt es hier denn keine Lebewesen?« fragte Wina niedergeschlagen. Zu gern hätte sie einen lebenden, waschechten Planetenbewohner gesehen.
»Gehen wir weiter ’runter«, schlug der Vater vor.
Alle stimmten zu. Das Raumschiff hielt in einer Höhe von fünfhundert Metern, inmitten der schwebenden, nicht auf die Oberfläche hinabfallenden fliegenden Kreuze. Die Straßen der Stadt waren jetzt deutlich zu erkennen. In ihnen herrschten Ruhe und völlige Reglosigkeit. Nicht einmal die Wolken änderten hier ihre Form. Es war Osa, die das feststellte.
»Was für eine tote, starre, schlafende Welt«, sagte der Vater. »Aus einer Höhe von mehreren hundert Kilometern sieht sie bedeutend schöner aus.«
»Seht nur, seht!« rief Wina plötzlich. »Dort wächst ein Baum!«
»Ja«, stimmte der Vater zu. »Das hat große Ähnlichkeit mit einem Baum. Aber mit einem toten Baum.«
»Nein, nein! Ihr schaut in die falsche Richtung! Dort unten, direkt unter uns, ein Stück weiter links. Sehr ihr, wie er seine Äste ausstreckt?«
»Der schwarze Strauch dort?« fragte der Vater.
»Ja, ja. Aber das ist kein Strauch«, sagte Sandro. »Es sieht mehr nach einem Baum aus.«
»Das ist aber ein merkwürdiger Baum«, bemerkte Osa.
»Ja. Was für komische Bäume das hier sind! Sie wachsen direkt vor unseren Augen!«
Der Baum schoß tatsächlich vor ihren Augen in die Höhe. Dann krümmten sich seine geraden Äste, die in einem unterschiedlichen Winkel zur Oberfläche angeordnet waren, nach und nach und sanken herab. Der ganze Baum schrumpfte allmählich ein und verschwand.
»Da ist noch einer!« rief Sandro.
»Dort auch!«
»Sie leben, Vater. Landen wir und sehen sie uns näher an, ja?«
»Etwas später«, erwiderte der Vater. »Hier ist eine Stadt. Wir landen besser in einer unbebauten Gegend.«
Diese Bäume wollten ihm nicht recht gefallen. Sie wuchsen nicht dort, wo es sich für Bäume gehörte, sondern auch mitten auf den Fahrbahnen und auf den Dächern der Gebäude. Er lenkte das Raumschiff nach Norden. In der Tiefe erblickten sie hier und da noch mehr dieser seltsamen Bäume und öde, halbzerfallene Städte.
Von neuem vernahm er jenes unbekannte Dröhnen und Pfeifen, und sein Herz krampfte sich schmerzlich zusammen. Er dachte, daß er die Kinder vielleicht lieber nicht hätte hierherbringen sollen. Es wäre besser gewesen, einen anderen, länger bekannten Planeten mit Attraktionen und einem Ausflugsbüro, mit Hotels und Exkursionsführern auszuwählen. Das nächste Mal würden sie einen anderen Planeten besuchen, einen, der nicht so seltsam und totenstarr war.
Aus unerfindlichen Gründen erinnerte er sich plötzlich an seinen von fröhlichen und tapferen Menschen besiedelten Heimatplaneten, an seine Freunde und Bekannten, an seine Frau, die sich gerade auf einer großen Expedition befand, und an sein Haus am Steilufer des blauen Meeres. Nein. Mochten die Kinder diesen ungewöhnlichen Planeten ruhig kennenlernen.
Sie wählten einen Platz auf einer grünen, starren Lichtung. In der Ferne lag ein sanfter Hügel, über den sich eine schmale, vielleicht von Tieren gegrabene oder vom Wasser ausgewaschene Rinne schlängelte.
Der Vater entnahm Luftproben und stellte fest, daß die Luft zum Atmen gut geeignet war. Er selbst beschloß, ohne Raumanzug auszusteigen, die Kinder aber hielt er an, die ihren anzulegen. Außerdem nahmen sie die Raketentornister für den Fall mit, daß sie sich einmal rascher fortbewegen müßten. Die Kinder waren nach wie vor aufgeregt und neugierig, nur der Vater war ein wenig besorgt. Dieser Planet flößte ihm eine unerklärliche Unruhe ein.
Endlich betraten sie die Oberfläche des Planeten. Die Raumanzüge behinderten ihre Bewegungen nicht, und die Kinder hüpften umher, schlugen Purzelbäume, haschten einander und schrien vor Freude. Das Ungewöhnliche der Situation wurde noch dadurch verstärkt, daß ringsum vollkommene Stille herrschte, daß sich kein Lufthauch regte und keinerlei Bewegung festzustellen war.
Da erblickte der Vater plötzlich einen fliegenden Gegenstand. Er segelte von Westen her auf sie zu. Der Gegenstand wies eine längliche Form auf. In einem sehr sanften Bogen ging er auf die Oberfläche nieder.
»Seht nur!« rief er.
Die Kinder hielten inne und beobachteten ebenfalls den fliegenden Gegenstand.
»Was ist das?« fragte Osa.
»Ein Vogel«, schlug Wina vor.
»Nein«, sagte Sandro. »Er hat keine Flügel.«
Wieder vernahm der Vater ein durchdringendes Pfeifen. Aber dieses Pfeifen war jetzt in ihm selbst, denn ringsum herrschte nach wie vor eine ideale Stille.
Als der Gegenstand herabgefallen war, wühlte er sich in den Boden ein, der sich augenblicklich regte und hob, als dränge etwas von innen aus ihm heraus. Plötzlich riß die Oberfläche auf, und aus ihr reckten sich Triebe hervor – schwarze, aus Knötchen, Kugeln und unregelmäßigen Parallelepipeden bestehende Triebe. Sie wuchsen zusehends und verwandelten sich in einen hohen Baum, der an eine schöne Fontäne erinnerte. Die einen Triebe brachen bereits wieder ab und sanken zu Boden, während andere gerade erst aus dem Boden schossen und die dritten schon an die zehn Meter hoch wuchsen. Keine Sekunde lang blieb der Baum ohne Bewegung. Alles an ihm bebte, regte sich, lebte, wuchs und starb nach und nach wieder ab. Dieses stürmische Wachstum bildete einen solchen Kontrast zu der übrigen, erstarrten, schlafenden Welt, daß es unwillkürlich Begeisterung und Freude weckte.
Der Baum hatte offensichtlich den Höhepunkt seiner Entwicklung erreicht und begann zu schrumpfen, zu zerbröckeln und in kleine Klümpchen zu zerfallen. Als eines dieser Klümpchen dicht an der Schulter des Vaters vorbeiflog, gelang es ihm, es zu greifen. Es war ein kleiner Brocken jenes wundersamen Baumes. Der Brocken war hart wie Stahl und fühlte sich warm, ja sogar heiß an.
Der Vater ließ den Brocken auf seiner Handfläche tanzen und schob ihn dann in seine Jackentasche.
»Ein Baum! Das ist ein Baum!« riefen die Kinder und sammelten die Bröckchen ein, in die der Baum zerbarst.
»Seht mal, da kommt noch einer!« rief Sandra.
Alle drehten die Köpfe in die Richtung, in die der Junge wies. Wieder flog ein länglich geformter Gegenstand auf sie zu.
»Das ist der Samen!« sagte der Vater. »Nun ja, der Samen dieses seltsamen Baumes. Schaut, er ist vom zugespitzt, um besser in den Boden eindringen zu können. Außerdem dreht er sich um seine eigene Achse. Er schraubt sich wie ein Korkenzieher in die Erde und läßt einen neuen Baum wachsen.« Der Vater war mit seinen Erklärungen sehr zufrieden. Nun fügte sich alles in seine Hypothese ein. »Seht ihr, wie er sich in den Boden hineinfrißt? Gleich werden die Triebe zum Vorschein kommen.«
Natürlich behielt der Vater recht. Wieder reckten sich schwarze, lebende, sich regende Halme aus dem Erdboden.
Plötzlich tauchten in der Luft gleich mehrere dieser Samen auf, und immer neue kamen herangeflogen! Sehr viele waren es bereits. Sie näherten sich langsam und lautlos und schraubten sich in die Erde, die sich an vielen Stellen aufwölbte, um anfangs zerbrechliche Halme und bald darauf hohe Bäume aufschießen zu lassen. Das war bereits ein ganzer Wald. In einer Breite von mehreren hundert Metern erstreckte er sich vom nördlichen bis zum südlichen Horizont.
»Bäume! Was für komische Bäume!«
Während manche Bäume gerade erst anfingen zu wachsen, zerfielen andere bereits wieder in ihre Bestandteile, die langsame Kreise um jene Stelle beschrieben, wo der Samen niedergegangen war. Diese Bestandteile konnte man ebenfalls als Samen betrachten, weil sie einen neuen, winzigen Baum von nur wenigen Zentimetern Höhe aufsprießen ließen.
»Das ist prima!« riefen die Kinder. Ja, so etwas hatten sie noch nicht gesehen. Überhaupt gab es wohl kaum einen Menschen, der das je gesehen hatte. Ein Wall aus aufschießenden und niedersinkenden Bäumen rollte auf sie zu. Nun erreichte er bereits die flache Rinne und ließ sie hinter sich zurück.
»Papa«, sagte Wina. »Ich möchte dorthin. Ganz tief ins Dikkicht hinein.«
»Ich auch«, unterstützte sie Sandro.
»Mir ist das ein wenig unheimlich«, bekannte Osa.
»Nein«, sagte der Vater. »Dorthin gehen wir nicht. Schließlich wissen wir nicht genau, was das eigentlich ist. Außerdem habe ich den Eindruck, daß es dort sehr heiß sein muß. Hier, faßt mal an.« Der Vater fing einen langsam vorübersegelnden Brocken von einem der Bäume auf. »Seht ihr, er ist warm. Und dort gibt es sehr viele davon. Euch würde heiß werden.«
»Wir haben doch die Raumanzüge an!« widersprach Sandro.
»Das sind nur leichte Schutzanzüge. Ihr habt doch die Wärme des kleinen Brockens gespürt?«
»Woher kommen die Samen?« fragte Wina.
»Von dort.« Sandro wies mit der Hand auf den Wald.
»Das ist mir klar, daß sie von dort kommen. Mich interessiert, wie sie entstehen. Wachsen sie auf Bäumen?«
»Ja, wirklich, wir sollten uns das einmal ansehen«, schlug der Vater vor. Ihm war es darum zu tun, die Kinder für eine gewisse Zeit von hier fortzubringen. »Schaltet die Tornister ein. Es geht hoch und nach Westen.«
Sie flogen gleichzeitig auf. Auch aus der Höhe bot sich ihnen ein malerisches Bild. Sie überquerten einen Streifen dieses einzigartigen, nie zuvor gesehenen Waldes und flogen, sich nach den schwebenden Samen orientierend, weiter.
»Hier liegt eine gewisse Gesetzmäßigkeit vor«, stellte der Vater fest. »Die Samen fliegen nicht ziellos umher, sie streben alle zu diesem Graben, zu dieser Rinne oder wie man es nennen mag. Vielleicht füllt er sich zur Regenzeit mit Wasser, und dann reifen die Samen darin?«
Als sie etwa zehn Kilometer weitergeflogen waren, erblickten sie vor sich eine Reihe schlanker Baumstämme.
»Ich wette, daß sie von hier kommen«, sagte Sandro.
»Da brauchen wir gar nicht erst zu wetten«, meinte Wina. »Das sieht man doch auf den ersten Blick.«
»Mir gefällt das nicht«, erklärte Osa.
»Ach! Dann hättest du zu Hause bleiben sollen«, sagte Sandro.
»Sandro, wie kannst du so etwas sagen?« wies ihn der Vater zurecht.
Die Baumstämme waren völlig glatt und wiesen keinerlei Äste oder Zweige auf. Und auch die in einem Winkel von dreißig Grad zur Vertikale geneigten Bäume wirkten leblos und düster. Sie regten sich nicht und schienen sich nur ein wenig zu ducken, wenn die Samen aus ihnen herausschossen.
»Nein, das hier ist nicht so interessant«, sagte Sandro. »Jener andere, lebende Wald gefiel mir besser. Da gab’s einfach mehr zu sehen.«
»Guckt mal, auch hierher kommen Samen geflogen!« rief Osa.
»So, jetzt haben wir’s verpaßt«, brummte Sandro unzufrieden. »Während wir hierhergeflogen sind, haben die Bäume dort wahrscheinlich auch angefangen, Samen auszustreuen. Fliegen wir zurück. Ich möchte mir das ansehen.«
»Ich auch«, erklärte Wina.
»Ich möchte ins Raumschiff zurück«, sagte Osa müde.
»Na gut«, stimmte der Vater zu. »Fliegen wir zurück und sehen uns an, was dort inzwischen mit unserem Wald geschehen ist. Und dann geht’s ab ins Raumschiff. Schließlich haben wir heute noch nicht einmal gefrühstückt. Einverstanden?«
»Einverstanden«, erklärten die Kinder. Natürlich waren sie alle schon ein wenig müde.
Sie kehrten an jene Stelle zurück, an der sich die wundersamen, ungewöhnlichen, nichts Bekanntem gleichenden Bäume üppig entfalteten. Sie betrachteten sie jetzt aus einer Höhe von mehreren Dutzend Metern.
Nur dieser Wald lebte. Außer ihm regte sich nichts. In dem schmalen, langen Graben – das war aus der Höhe gut zu erkennen – zeichneten sich fünfzackige Gebilde ab, deren einer Zacken verkürzt war. Wenn ein sich von den Bäumen lösendes Klümpchen auf sie niederfiel, begann auch dieses zu wachsen. Überhaupt waren die Bäume, wie der Vater bemerkte, verblüffend agil. Sie wuchsen überall empor, auf lehmigem und steinigem Boden und sogar über diesen unregelmäßig gezackten Sternen. Nun hatte der wandernde Waldstreifen bereits jene Stelle erreicht, an der sie noch vor wenigen Minuten gestanden hatten, und er schob sich immer weiter voran.
»Ins Raumschiff«, kommandierte der Vater. »Jetzt wird gefrühstückt und ausgeruht. Dann setzen wir die Erkundung fort.«
Während sie zum Raumschiff flogen, stellten sie fest, daß das Feld von zwei weiteren, parallel zueinander verlaufenden Linien durchquert wurde – zwei Kanälen.
Bald darauf befanden sie sich wieder im Raumschiff. Der Vater setzte sich in den Sessel vor dem Pult, und das Raumschiff stieg senkrecht empor, bis es eine Höhe von fünf Kilometern erreichte.
Im Speiseraum wartete bereits das Frühstück auf sie. Aufgewühlt von dem Gesehenen, redeten alle aufeinander ein: »Und der eine Baum… Seltsamerweise haben sie überhaupt keine Blätter… Der Baum… Die Stämme… Hast du gesehen…«
»Diese fünfzackigen Sterne sahen aus wie Menschen«, sagte Wina.
»Was?« Der Vater fuhr auf. »Was hast du gesagt?«
»Sie sahen aus wie Menschen.«
»Ja, ja, das stimmt«, bestätigten Osa und Sandro.
»Merkwürdig«, meinte der Vater nachdenklich. »Na gut. Geht in den Saal und ruht euch ein wenig aus. Ich habe noch etwas in der Navigationszentrale zu erledigen.«
»Wird’s lange dauern, Papa?« fragte Wina.
»Nein, nein. Ich beeile mich. Vielleicht fliege ich noch einmal hinunter. Aber macht euch keine Sorgen.«
In seinem Kopf ertönte wieder jenes Dröhnen. Dieses Dröhnen hätte nicht dasein dürfen! Als es nachließ, stahl sich ein unsinniger, dummer, schrecklicher Gedanke in sein Hirn. Nein! Das durfte nicht sein! Er schloß sich in der Navigationszentrale ein, schaltete den Bildschirm an und nahm die Kassette aus der Rapidkamera, um sie in den Bildwerfer zu stecken, überlegte es sich dann jedoch anders und brachte die Kassette an einer gut sichtbaren Stelle an, damit sie jedem, der hereinkäme, sofort ins Auge fiele.
Dann legte er den Tornister an und stellte am Navigationspult die Startzeit ein. Für den Fall, daß ihm etwas zustieße, sollte der Start in fünfzehn Minuten automatisch erfolgen. Anschließend stimmte er den automatischen Anlasser auf den Rhythmus seines Gehirns ein, falls ein plötzlicher Start nötig werden sollte, bevor er wieder in das Raumschiff zurückgekehrt wäre, und begab sich in die Schleusenkammer. Fünfzehn Minuten würden ausreichen. Er stürzte sich in die Tiefe.
Je näher er, die Schalthebel des Raketentornisters bedienend, der Planetenoberfläche kam, um so stärker wurde das Pfeifen, Heulen und Dröhnen in seinem Kopf. Er hatte die Oberfläche fast erreicht, als irgend etwas mit der Zeit geschah. Sie begann ihren Lauf rapide zu beschleunigen. Die Bäume, die sich zuvor im Verlauf von zehn Minuten entfaltet hatten, wuchsen und starben jetzt innerhalb von ein bis zwei Sekunden.
Während er auf den Boden des Grabens fiel, spürte er, wie sich ein Geschoßsplitter in seine Brust bohrte. Sein Kopf barst fast von dem Pfeifen und Heulen, dem Dröhnen der Einschläge, dem feinen Surren der Splitter. Er wollte aufstehen, konnte es jedoch nicht. Kaum hatte er sich ein wenig aufgerichtet, als er auch schon wieder zu Boden sank.
Gut, daß die Kinder das nicht miterleben, konnte er gerade noch denken. Sie sind Tausende Kilometer weit fort von hier. In Sibirien… Wie mag die Frau dort allein mit den dreien fertig werden? Saschka, Soja und Valentina… Hoffentlich müssen sie so etwas nie erleben…
Er lag da und spürte, wie eine heiße Woge über seine Brust flutete. Sein Blick war in den Zenit gerichtet, wo ein regloses Pünktchen schwach blinkte. In diesem Augenblick gesellte sich zu dem allgemeinen Dröhnen und Heulen ein weiterer Laut – ein monotones Brummen. Dieses Brummen ging von den sich nähernden, von Jagdfliegern gedeckten Bombern mit Hakenkreuzen auf den Tragflächen aus. Plötzlich lösten sich drei Bomber aus dem Verband und strebten in die Höhe.
Sandro, Osa, Wina… Sie werden es nicht schaffen.
»Start«, flüsterte er.
»Wassja, was hast du?« krächzte der neben ihm liegende Soldat. »Warum willst du aufstehen? Der Befehl ist noch nicht gekommen…«
»Start, Sandro, Start!« Er richtete sich ein wenig auf den Ellenbogen auf – unrasiert, grau, schrecklich anzusehen. Der schmutzige Uniformmantel war auf der Brust von Blut durchtränkt.
Er sah noch, wie das glänzende Pünktchen des Raumschiffes in die Höhe schoß.
»Lieg du nur still, Wassja, lieg still. Wir gehen gleich zum Angriff vor.«
Da wuchs einer jener seltsamen schwarzen Bäume einer Fontäne gleich vor ihm auf, und Dutzende seiner winzigen Bestandteile drangen in seinen Körper ein.
Das letzte, was er vernahm, war: »Vorwärts…«
Das Universum bäumte sich auf, kippte um und erlosch.
Die Welt, aus der er hierhergeflogen war oder die er sich innerhalb weniger Augenblicke vielleicht einfach ausgedacht hatte, und die Welt, in der er lebte, versanken für ihn für alle Zeit.
Aus den Schützengräben aber strömte eine vorwärts flutende Woge vom Lärm betäubter, schmutziger, ergrimmter, brüllender Soldaten…