Roman Podolny
Wer glaubt es?
Das Café war klein und gemütlich, wie die Handfläche, mit der du den Kopf stützt.Dafür war der Blick meines Tischnachbarn noch kälter als das soeben servierte Sahneeis, für mich etwas ungewohnt, da ich sonst als attraktive Frau gelte. Doch ich hätte nie erwartet, daß diese Augen so schnell warm würden, als er mit einem Nicken zum Fenstertisch hin sagte: »Die zwei dort haben sich bald in der Wolle.«
Zwei junge Männer warfen ihre Stühle beiseite
und packten einander am Kragenaufschlag.
»Gleich kommt der Milizionär ’rein«, fuhr mein Nachbar geschäftig
fort.
Der Milizionär trat ein und trennte die Kampfhähne.
»Jetzt wird sich die Kellnerin einmischen.«
Die Kellnerin schritt entschlossen an uns vorbei zum
Fenster.
»Und nun…«
Wie bei einer Reportage, nur daß er der Handlung ein wenig
Vorgriff. Das war lustig und ein wenig seltsam zugleich. Obwohl,
weshalb eigentlich?
Den Streit konnte er bestimmt anhand einiger zufällig aufgefangener
Worte erahnen. Der Posten sah die Kampfhähne durch das Fenster, und
zu erraten, daß die Kellnerin sich um die Rechnung kümmern würde,
war erst recht kein Problem. »Und jetzt«, sagte er, »machen wir uns
miteinander bekannt, stehen dann auf und gehen zusammen
hinaus.«
Abends, als wir uns verabschiedeten, sprach er – fragte nicht,
schlug nicht vor, sondern stellte einfach fest: »Morgen treffen wir
uns um sieben am Bolschoi-Theater.«
»Also, bis morgen, Viktor… und wie weiter?«
Sein Gesicht wurde für einen Augenblick feierlich.
»Meinen Nachnamen können Sie morgen in der Abendzeitung lesen.
Unter dem Gedicht auf Seite drei. Tschüs!«
Unterwegs zu diesem Wiedersehen kaufte ich die Zeitung. Darin war
nur ein Gedicht. Unter dem stand: Pawel Budkin. Aber – Pawel? Also
nicht er. Haben sie ihn angeführt… Haben’s versprochen, aber nicht
gedruckt.
»Guten Tag, Genosse Budkin!«
»Na, war der Name da, wo er hingehört?« Er freute sich.
»Aber… also, Sie heißen Pawel und nicht Viktor?«
»Nein, nein, genau Viktor… Ach, Sie dachten wohl, daß in der
Zeitung mein Gedicht erscheint? Aber
ich habe doch nur von der Unterschrift gesprochen, erinnern Sie
sich, vom Namen. Nur vom Nachnamen, ohne Vornamen.«
»Ist Pawel Ihr Bruder?«
»Ich bin der einzige Sohn. Und von Ihnen habe ich zum erstenmal
gehört, daß ich einen Poeten zum Namensvetter habe.«
»Na, nun reicht’s mir aber! Lügen Sie nicht.«
»Um Gottes willen, das geht gar nicht. Verstehen Sie, alles, was
ich sage, wird wahr. Unter einer kleinen Bedingung: daß man mir
glaubt.«
»Dann sagen Sie doch mal, daß es in wenigen Augenblicken anfängt zu
regnen.« Ich hob meine Augen zum Himmel.
»Sagen kann ich das schon, aber Sie glauben es mir ja doch nicht.
Also wären auch meine Worte nicht gelogen. Das, was sowieso keiner
glaubt, kann nie Lug und Trug sein. Oder lügen etwa die
Märchen?«
»Es ist also unbedingt notwendig, daß ich Ihnen glaube?«
»Sie oder auch jemand anders… Aber besser Sie!«
»Und wie haben Sie das bemerkt? Na, daß Sie nicht lügen
können?«
»Irgendwann habe ich einmal vor einer Bekannten geprahlt, daß ich
morgen die Norm mit zweihundert Prozent erfüllen würde. Dabei wußte
ich genau, daß ich das nicht kann. Damals schaffte ich gerade so
neunzig.
Und am Morgen kam mir dann eine Idee für so ’ne Vorrichtung. Zu
Schichtschluß sah ich nach – zweihundert Prozent erfüllt. Da erst
erinnerte ich mich, was ich gestern gequatscht hatte.
Seitdem weiß ich nicht mehr, was ich machen soll. Ich kam mal zu
spät zur Arbeit, habe gesagt, daß meine Mutter erkrankt ist, und
eine halbe Stunde später riefen sie mich aus dem Betrieb weg zu
ihr…
Ich habe mit Borka, das ist mein Kumpel, rumgeulkt, daß ihn seine
Ira anscheinend gar nicht liebt, und am nächsten Tag ist sie mit
einem andern zum Standesamt. Hab’ gesagt, daß Petrosjan zwei
Partien hintereinander verlieren wird – im Streit –, und habe es
gleich wieder vergessen, aber Tigran mußte sich durchquälen… Hatte
also jemand geglaubt…« Ich wühlte die Bücher durch. Sollte es
tatsächlich noch nie und bei niemandem etwas Ähnliches wie bei
Vitja gegeben haben?
Es stimmt, daß man schon lange glaubt, daß ein Gespräch über eine
nichtexistierende Krankheit eines Nahestehenden diese »herbeirufen«
könnte. Aber das ist doch Mystik! Oder vielleicht irgendwelche
psychologischen Gesetze? – Obwohl, die Sache mit der Zeitung hat
mit Psychologie rein gar nichts zu tun. Oder alles einfach als eine
Kette von Zufällen ansehen und nicht weiter überlegen…
Wir haben beide über eine Handbewegung gelacht, die ich mir bald
angewöhnt hatte: immer wenn er anfing, von etwas Zukünftigem zu
sprechen, gab ich ihm einen Klaps auf den Mund, und er brach mitten
im Wort ab. Aber manchmal kam doch etwas durch. Das Resultat? Ich
erhielt zum Geburtstag ein Buch, von dem ich schon lange geträumt
hatte. Ich bekam in allen Prüfungen Einsen. Ich gefiel seiner
Mutter sehr. Ich… Aber was heißt hier ich?
Er gewann eine Partie gegen Smyslow, kam ohne Niederlage durch das
Betriebsschachturnier, machte fünf Erfindungen, bekam drei Prämien,
brachte im Gewichtheben 120 kg zur Hochstrecke und schrieb ein
Gedicht (obwohl ich das letztere nicht geglaubt hatte). Dieses:
Ich versetze spielend Berge,
lenk’ Planeten aus der Bahn, weil’s für den, dem andre glauben,
kein »Unmöglich« geben kann.
Er war gut, sehr gut – der Mensch, der nicht lügen konnte. Vielleicht hat er auch noch andere Gedichte geschrieben. Ich weiß es nicht, denn genau zu dieser Zeit kam Igor von der Expedition zurück. Viktor traf uns zufällig auf der Straße, trat heran, grüßte, betrachtete ihn, mich und sagte: »Ihr liebt euch.« Und ging. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. Aber ich erinnere mich an ihn. Weil ich glücklich bin.
Sie wissen doch, Viktor konnte nicht lügen.