Dmitri Bilenkin

In allen Universen

Rechts war der Abhang blendendweiß, links von undurchdringlicher Schwärze. Sie fuhren auf dem Grunde der Schlucht unmittelbar an der Grenze von Licht und Dunkelheit, Hitze und Kälte, jedoch empfanden sie die Unterschiede zwischen den Extremen nicht. Das Licht war grausam reglos, so auch die Dunkelheit; hier wie dort kahles Gestein; der gleichförmig düstere Himmel schwankte über dem Fahrzeug, den Windungen der Schlucht folgend. Sogar die Steine klapperten unter den Raupenketten nicht so wie auf der Erde, sondern stärker, härter. Der Schall wurde vom Metall geleitet und nur vom Metall; das Vakuum entzog ihm die gewohnten Obertöne.

Die Menschen waren in Skaphander gehüllt, und die Skaphander umgab eine weitere Hülle, das Gehäuse des Geländewagens. Bereits fünf Stunden im Skaphander, in dem die Luft eine andere ist, gefiltert, chemisch, unangenehm fade. Und draußen Finsternis und Flamme, erstarrtes Feuer lebloser Materie. Nicht eine einzige irdische Farbe!

Der Kopf im Helm schien schon fremd. Der Körper ermüdete von der Unbeweglichkeit mancher Muskeln und vom dumpfen Kampf der übrigen gegen das Rütteln. Alles – Gedanken, Gefühle, der Körper – lechzte nach Erholung vom Mond, nach dem Anblick eines einzigen grünen Grashalms. Davon konnte man aber nur träumen.

»Jetzt ist es schon ganz nah«, sagte Preobrashenski und leckte sich die Lippen. Er saß hinter dem Steuer, unerschütterlich wie ein Felsen, und selbst der Skaphander auf seinen Schultern war nicht abgerundet, sondern eckig.

»Ganz nah…«, wiederholte Kramer für sich.

Nah war es allerdings schon vor einer Stunde gewesen. Sie wollten einfach, daß es nah wäre. Und so fuhren sie denn auf dem kürzesten Wege, als Geologen konnten sie schließlich ihre Route selbst wählen.

Bei dem Wort »nah« lebte Romanow auf, und mit begeisterter Stimme begann er, über die petrographische Zusammensetzung des zu beiden Seiten blinkenden Gesteins zu reden. Er sprach nicht deshalb darüber, weil irgend etwas Neues seinen Verstand erregte, und auch nicht, um den anderen die Zeit vertreiben zu helfen. Wie jeder Neuling fürchtete er, nicht genügend Begeisterung zu bekunden, fürchtete, daß man ihn der Gleichgültigkeit gegenüber der Mondgeologie verdächtigen könnte. Sie waren alle Enthusiasten, nur pflegten sie sich nicht laut darüber zu äußern, wie es nicht üblich ist, laut über die Liebe zu sprechen; hingegen war es Brauch, den Mond zu schmähen, und in solchen Augenblicken wie jetzt haßten sie ihn aufrichtig. Aber Romanow kam das gar nicht in den Sinn.

»Halt endlich den Mund!« entfuhr es Preobrashenski. Romanow stockte.
»Ja«, sagte Kramer und versuchte die peinliche Situation zu

überbrücken. »Das ist nicht so einfach mit dem Mond.«

Er schwieg. Nirgends sonst empfanden sie die Ohnmacht des Wortes wie hier. Die einfachsten Wörter erhielten einen anderen emotionalen Inhalt als auf der Erde.

Die Dunkelheit auf dem Mond war nicht jene, nach der die Menschheit einst diesen Begriff geprägt hatte. Ebensowenig das Licht und vieles andere. Deshalb sprachen sie nicht gern über den Mond. Ihre Mondbeschreibungen blieben Lüge, wie sorgfältig auch immer sie die Worte wählten. Richtig verstehen konnte sie nur jemand, der selbst auf dem Mond gewesen war. Aber ihm brauchte man es nicht zu erzählen.

Kramer beschränkte sich darauf, Romanow auf die Schulter zu klopfen. Jener lächelte verwirrt und dankbar hinter seinem durchsichtigen Helm.

Liebten sie wirklich den Mond? Ja, auf der Erde konnten sie ohne ihn nicht leben. Haßten sie ihn? Ja, wenn sie ihm allein gegenüberstanden.

Die Schlucht wand sich bergab, und plötzlich, als sie den nächsten Vorsprung umfuhren, sahen sie es.
Wie aus einem Munde schrien sie auf.
Der Geländewagen blieb mit einem Ruck stehen.
Alles war hier wie in anderen Talkesseln: flammendrote Lichtkeile am Abhang, von Dunkelheit zerrissen, unwegsames Steingeröll und jene lautlose Mondwelt, die man wahnsinnig gern mit einem Schrei durchbrechen möchte.
Doch etwas war hier anders – der Felsen. Wie eine Tarnkappe bedeckte ihn der Schatten, und trotzdem schimmerte in ihm eine Öffnung. Sie strahlte von innen her: So leuchtet in stockfinsterer Nacht das Fenster eines Hauses.
Schweigend krochen alle drei aus dem Fahrzeug. Mit jedem Schritt wurde das Unwahrscheinliche immer unwahrscheinlicher. Schließlich befanden sie sich vor dem Eingang, und alle drängte es, sich die Augen zu reiben.

Es gab keine Schwelle. Die eckigen Mondsteine wurden mit einemmal, ohne jeden Übergang, von abgeschliffenen Kieselsteinen abgelöst. Und wo die Kiesel lagen, begann eine andere Welt. In ihr gab es einen Himmel, ein Gespinst von Federwolken, einen See inmitten von Felsen und einen Wald.

Die Sonne ließ sich hinter den Wolken erraten, eine bernsteinfarbene Sonne am gelben Himmel. Ihre diffusen Strahlen trugen Ruhe und Frieden in sich. Strohgelber Widerschein lag auf dem Wasser, richtigem Wasser, das zärtlich zum Bade in Wärme und Stille rief.

Zwischen dem See und den Bäumen, deren lange orangefarbene Blätter direkt aus den Stämmen wuchsen, zog sich ein kleiner Streifen feinen, seidigen Sandes hin, ein Sand, den man unaufhörlich von einer Hand in die andere rinnen lassen möchte. Hinter dem Wald sprangen Felsen vor, nachdenklich wie uralte Philosophen.

Aber in diesem See, diesem Himmel, in diesen Felsen war etwas Größeres als nur weiser Friede. In ihnen war jene Schönheit, die Ruhe verströmt und den Blick weitet. Eine Berührung mit ihr spülte die Schlacken weg, alles Schmutzige, alle Müdigkeit.

Sie fühlten sich wie in einem durchsichtigen Strom, alle drei. Sie waren dort, am bernsteinfarbenen Ufer, führten ein bedächtiges Gespräch mit den Felsen, dort nickten ihnen die Blätter der Bäume zu, dort ließen sie feinen Sand durch die Finger rinnen, dort waren sie glücklich.

Sie standen da und vergaßen die Zeit.

Kramer verspürte nicht einmal den Wunsch, jene Welt zu betreten – so stark war der Zauber.
»Dort sind die Außerirdischen!« Die heisere Stimme Preobrashenskis weckte ihn. »Ihr Stützpunkt!«
Der Zauber fiel von ihnen ab. Kramer sah, wie Preobrashenski ungestüm vorwärts schritt, um an das Ufer des Sees zu treten, und wie die Leere plötzlich seinen Schritt zurückwarf.
Preobrashenski schwankte und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren.
Schnell näherte sich Romanow und tastete geschäftig den Raum vor sich ab. Nichts, schien es, schützte den Eingang, und trotzdem stießen die Hände gegen eine unsichtbare Wand.
Die ersehnte Welt der Fremden war unerreichbar.
So mußte es auch sein nach den Gesetzen der Logik, sie verstanden das und unterdrückten ihre Enttäuschung.
»Still«, sagte Preobrashenski. »Machen wir uns an die Arbeit.«
Schulter an Schulter standen sie am Eingang, und jeder hörte den lauten Atem des andern. Die Entdeckung legte sich wie eine schwere Last auf ihre Schultern.
Es war vorbei, sie konnten nicht mehr froh und unbeschwert auf den See schauen, und das war traurig, aber unvermeidlich.
So wunderschön er auch gewesen sein mochte, jetzt gehörte er der Forschung und der kalten Analyse.
Sie berechneten den Flächeninhalt des Eingangs, maßen die Radioaktivität des Felsens und des Hindernisses, ermittelten die Stärke des vom See reflektierten Lichts, taten routiniert alles, was zu tun war. Aber irgend etwas in ihnen protestierte gegen diese Tätigkeit. Sie arbeiteten um so verbissener und konzentrierter.
Unterdessen änderte sich nichts jenseits des Hindernisses. Wie vordem flimmerte einladend das Wasser, floß weich das Licht, lag sanft das Ufer da.
Sie drehten einen Film.
»Wir müssen die Festigkeit des Hindernisses abschätzen«, sagte Preobrashenski.
Romanow lief hastig zum Fahrzeug, schleppte den Bohrer herbei, hob ihn vor die Brust und schaltete den Motor ein. Der funkelnde Stachel traf, sich drehend und zuckend, auf die Leere.
Am Ende des Bohrers erschien ein spinnwebartiges Gebilde.
Vor Erregung erstarrt, sah Kramer, wie sich von der vibrierenden Spitze her, einander kreuzend, schwerelose Fäden ausbreiteten.
»Halt!« schrie Preobrashenski mit entstellter Stimme auf.
Aber Romanow hatte schon von sich aus den Bohrer weggeschleudert, als hätte er sich die Hände verbrannt.
Zu spät.
Nicht das Hindernis war geborsten. Die Bruchlinien wuchsen, erfaßten den See, die Felsen, den Wald, den Himmel. Die Welt zerfiel wie ein Diamant unter einem Hammerschlag. Sie zerbröckelte, verblaßte, verlosch…
Und erlosch völlig. Ein nochmaliges Auflodern, und das letzte Wölkchen verschwand.
Finsternis lag vor den Menschen.
Als sie betäubt, verständnislos mit zitternder Hand die kleinen Lampen einschalteten, erblickten sie eine kahle Steinfläche, wo eben noch der See gewesen war.
Bestürzt und vergebens, in verzweifelter Hoffnung, tasteten sie über die Fläche. Der Stein war überall spiegelglatt. Unter den Fingern blätterte schwarze Emaille ab, die hier und dort den Felsen noch bedeckte.
Sie nahmen diese Emaille auf wie eine Handvoll Asche nach einer Feuersbrunst.
Für die Analysen war sie unbedingt notwendig.
Und nachdem alles Erforderliche getan war, das ganze Ritual der Autopsie, ging Preobrashenski zur Seite, setzte sich an die flache Scholle und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
»Ich nehme an, daß das für die Fremden so eine Art Fernseher war…«, sagte Romanow unsicher. »Wer konnte denn wissen…«
Preobrashenskis Schultern zuckten.
Kramer hob sein Gesicht zum Himmel.
Dort leuchtete in pechschwarzer Finsternis der ewige Bogen der Milchstraße.
»Nein«, sagte Kramer dumpf, mit unerschütterlicher Gewißheit. »Nein, das war kein Stützpunkt. Auch kein Fernseher. Jene Welt war allzu schön, Technik konnte sie nicht so erschaffen…« Er stockte. »So menschlich.«
Kramer schwieg, blickte zum Himmel und sah ihn nicht. Niemand unterbrach ihn.
»Wir haben uns eingeredet, daß die Größe jeder Zivilisation sich vor allem in der Technik verkörpert«, sagte er schnell. »Warum? Die Fremden sind auch keine Roboter. Hier auf dem Rastplatz, fern von zu Hause, fühlen sie wie wir, und da erschufen sie aus dem Stegreif, was ihnen fehlte: das Bild der heimatlichen Natur. Freunde, das war ein Gemälde.«
Preobrashenski erhob sich, blickte versonnen auf den Felsblock, als bewahrte er noch die Wärme jener seltsamen Wesen, die vor ihnen hier gewesen waren.
»Macht euch fertig«, sagte er und drehte sich jäh um.
Dann klopfte er Kramer leicht auf die Schulter. »Deine Hypothese hat natürlich etwas für sich. Aber sie ist logisch anfechtbar.«
Kramer nickte.
»Ja, selbstverständlich. Und trotzdem bleibt, Millionen Jahre entfernt, auf fremden Planeten und in anderen Galaxien, im Reich jeder Supertechnik der Künstler immer Künstler, und unter dem Eindruck des Augenblicks zeichnet er, gleich wo, womit und worauf. Er muß es einfach tun, das ist die ganze Logik.«