Dmitri Bilenkin

Das gibt’s nicht

Wenn er experimentierte, war Professor Arzinowitsch durchdringend wie Schwefelsäure und hart wie Molybdänstahl. Aber selbst Stahl ermüdet einmal. An jenem Tag setzten ihm die vor seinen Augen flimmernden schwarzen Pünktchen so zu, daß er gegen seine Gewohnheit nach dem Fahrrad griff und losradelte, um frische Luft zu schnappen.

Vom Wissenschaftlerstädtchen war es nur ein Katzensprung bis hinaus zu den Feldwegen der umliegenden Dörfer, und schon nach kurzer Zeit befand sich der Professor in einer ihm unbekannten Gegend. Die Sonne schien friedlich; links von dem staubigen Weg wuchsen kleine Kiefern, rechts grünte Hafer, und ihm entgegen kam ein Mensch geflogen.

Genauer gesagt: Der Mensch ließ sich von dem leisen Windhauch treiben und ruderte, ausgestreckt wie ein Frosch, nur ein wenig mit Armen und Beinen. Seine zerdrückten Hosen beulten sich über den Knien.

Der Professor bremste. Da sieht man mal wieder, wie überarbeitet ich bin, schoß es ihm durch den Kopf. Jetzt habe ich schon Halluzinationen.

Als der Wind abflaute, blieb der Mensch in einer Höhe von etwa anderthalb Metern über Arzinowitsch hängen. Der Professor betrachtete ihn mit zurückgeworfenem Kopf. Dabei tat er sich selbst furchtbar leid. »Sagen Sie«, fragte er schließlich, »können Sie Halluzinationen deuten?«
»Nein«, erwiderte der Mensch heiser, »das kann ich nicht.« »Ja, natürlich«, stimmte Arzinowitsch zu. »Da Sie selbst eine Halluzination sind, können Sie das begreiflicherweise nicht. Mir geht es leider nicht anders, denn ich bin kein Fachmann auf diesem Gebiet.«

»Ich bin keine Halluzination«, entgegnete der Mensch. »Ich bin Sidorow. Ich kann Ihnen meinen Ausweis zeigen.«
Er klopfte gegen die Taschen seiner herabbaumelnden Kutte, und seine Miene verdüsterte sich.
»Hab’ ihn im Jackett vergessen…«
Arzinowitsch nickte verständnisvoll.
»Das ist auch gar nicht anders möglich«, sagte er. »Optische und akustische Halluzinationen gehen ja vielleicht noch an, aber eine Halluzination, die ihren Ausweis vorweist, das ist, entschuldigen Sie schon, Nonsens.«
»Was?« fragte der Mensch zurück.
»Nonsens.«
»A-ah…«
Der Mensch schwieg verstört.
Auch der Professor versank in Gedanken. Er war verwirrt und bestürzt, aber auch gleichzeitig stolz darauf, daß er wie ein echter Wissenschaftler handelte: Er verlor nicht die Fassung, geriet nicht in Panik und glaubte auch nicht an Wunder. Er war ja selbst an allem schuld und konnte niemandem einen Vorwurf machen. Er hatte seine Kräfte nicht geschont und sich so überarbeitet, daß ihm etwas Derartiges einfach zustoßen mußte. Wenn nicht das, dann eben eine Hypertonie oder gar, Gott behüte, ein Infarkt. Er konnte sogar noch von Glück reden. Eine Halluzination bedeutete noch keinen kompletten Wahnsinn, sondern nur eine Art Neurose. Und auch die Behandlung war einfacher als die der Hypertonie und vor allem schmerzlos – nicht so wie beim Zahnarzt. Trotzdem war es schade, daß er kein Psychiater war: Eine solche Möglichkeit der Selbstbeobachtung verstrich ungenutzt! Übrigens würde er alles tun, was er konnte. Dazu war er als Wissenschaftler schließlich verpflichtet.
»Sie glauben also nicht an mich«, ertönte es von oben.
»Der Glaube ist eine wissenschaftsfremde Kategorie. Ich aber bin Wissenschaftler, und deshalb weiß ich, daß Sie ein irreales Produkt meines leider übermüdeten Bewußtseins sind.«
»Aber ich existiere doch!« rief der fliegende Mensch kläglich aus. »Ich habe Kinder!«
»Ich behaupte ja gar nicht, daß Sie nicht existieren. Sie existieren scheinbar.«
»Aber ich fliege!«
»Das ist es ja gerade. Der Mensch an sich kann nicht fliegen. Das wäre ein Wunder. Leute, die sich in der Physik schlecht auskennen, neigen in solchen Fällen zu Leichtgläubigkeit, wir aber wissen, daß in der Natur für Wunder kein Platz ist.«
»Irgendwo habe ich mal von dieser – wie hieß das doch – Antigravitation gelesen!«
»Der Nachteil populärwissenschaftlicher Publikationen besteht darin, daß sie Halbwissen verbreiten und eine Neigung zu Sensationen aufweisen«, bemerkte der Professor streng. »Eine Antigravitation in dieser Form schließt aus… Sie können sich nicht einmal vorstellen, was sie alles ausschließt.« »Nein, das kann ich nicht«, bekannte der Mensch. »Ich fliege einfach.«
»Da haben wir’s! Für jede ungewöhnliche Erscheinung gibt es eine rein wissenschaftliche Erklärung. Deshalb liegt Ihr Fall ganz klar. Selbst wenn der Antigravitation nichts widerspräche – wo steckt die Energiequelle, die Sie in die Lüfte gehoben hat? In Ihnen selbst? Lächerlich!«
»Vielleicht habe ich beim Mittagessen irgend etwas Falsches gegessen oder getrunken… Heutzutage ist doch in allem Chemie drin, und da wäre so etwas durchaus möglich…«
Der Professor wollte gerade den Mund öffnen, um zu einer Erwiderung anzusetzen, als ihn plötzlich der simple Gedanke schockierte, daß er hier Selbstgespräche führte!
Schließlich hatte er keinen Menschen, sondern eine Halluzination vor sich. Er aber redete laut.
Arzinowitsch schaute den fliegenden Menschen haßerfüllt an. Der schaukelte über ihm wie ein Luftballon. Und ständig ruderte er mit den Flossen, als versuche er zu tauchen. Seine Beine zappelten fahrig in der Luft; am rechten Fuß fehlte der Schuh, und aus der durchlöcherten Socke schaute ein Zeh heraus.
»Ich kann nicht mehr ’runter.« Seine Stimme klang gequält. »Seit ich vor einer halben Stunde aufgestiegen bin, fliege ich herum… Es zieht mich mit Gewalt nach oben… Einen Schuh habe ich schon verloren… Könnten Sie mir nicht helfen? Sie brauchten nur irgend etwas an mir festzuhaken und mich an eine der Kiefern heranzuziehen…«
Der Professor schloß die Augen.
Ein Forscher mußte unter allen Umständen ein Forscher bleiben, daran war nicht zu rütteln. Er aber war doch, was man auch sagen mochte, ein Fachmann anderen Profils! Ich werde bis hundert zählen und erst dann noch einmal hinsehen, entschied er. Das Objekt müßte sich transformieren.
»Dann bin ich also verloren«, seufzte eine Stimme über ihm. »Benachrichtigen Sie wenigstens meine Familie… meine Frau… in Malye Wysselki…«
Die Stimme entfernte sich langsam.
Ein Windhauch strich über das Gesicht des Professors. »Neunundsiebzig, achtzig, einundachtzig…«
Bei »hundert« schlug er die Augen auf. Das Objekt hatte sich transformiert. Es war verschwunden. Nur ganz weit oben am Himmel schimmerte ein dunkler Punkt – vielleicht ein Vogel, vielleicht auch etwas anderes.
Dann zerschmolz auch dieser Punkt. Das bodenlose Himmelsblau war leer.
Noch am selben Abend begab sich der Professor in die Poliklinik. Ein Psychiater mit der Miene eines Menschen, dem von vornherein alles klar ist, hörte ihn an, untersuchte ihn, kontrollierte seine Reflexe und brummte: »Bei euch Physikern ist nichts so wie bei normalen Menschen…« Seine Diagnose lautete: Die Nerven des Professors sind stark angegriffen, aber eine besondere Gefahr besteht nicht.
Einen Monat lang nahm der Professor Medikamente ein und führte ein geregeltes Leben. Halluzinationen suchten ihn nicht wieder heim.