Bernd Ulbrich

In eigenem Auftrag

Stotternd dröhnten die Triebwerke. Dann setzten sie endgültig aus. Gaswirbel packten den Raumschiffkoloß und schleuderten ihn in die Tiefe. Die Temperatur der Außenhaut stieg. Der Ky meldete den Ausfall der Triebwerkssteuerung. Das Raumschiff sackte steil weg.

Niemals je hatte er sich so vom Glück verlassen gefühlt. Der Magen drängte nach oben. Er versuchte das Würgen zu bekämpfen. Er atmete tief und wollte sich mit einem Lächeln Mut zusprechen. Er hatte viel gewagt, um hierherzukommen. Jetzt durfte ihn das Glück nicht verlassen. Er überließ sich dieser Suggestion und hoffte mit fataler Zuversicht. Seine Bewegungen erschienen ihm sicher, seine Anordnungen unfehlbar. Tatsächlich jedoch war außer seinem Leben nichts mehr zu retten. In fünfundzwanzigtausend Meter Höhe gelang es ihm, den Sturz abzufangen.

Ein feuriger Schatten schoß durch die Wolken. Ihm entgegen hob sich ein Gebirge.
Redcroft beobachtete das Spiel der Anzeigen. Als das Rasen der Atmosphäre so schmerzhaft in den Ohren schrillte, daß der Laut eigentlich nur noch im Krachen des Aufschlags enden konnte, riß er durch manuell bemessene Schübe der Bugdüsen die Rakete hoch. Wie Wäschestücke im Wind flatterten die Tragflächen. Aber die Superlegierung hielt. Er war sich nicht bewußt, daß ihm der Schweiß ausbrach und seinen Körper überströmte. Seine Existenz war ihm in Vergessenheit geraten. Sein Denken und Fühlen bezog sich auf Vergangenes. Er handelte wie ein Automat von Moment zu Moment. Ein vergangener Schmerz belebte eine Hoffnung. Eine unstillbare Sehnsucht wütete in ihm. Mit seinem Tod würde sie sterben.
Unglaublich knapp glitt der Flugkörper über einen Kamm, dessen jenseitiger Abhang mit sanftem Schwung in die Ebene fiel. Redcrofts Knie zitterten vor Hoffnung.
Kreischend rissen die vier Schichten der Panzerung auf. Jedoch überschlug sich die Rakete nicht. Ihr Rumpf schrammte berstend über den Fels. In seinen verwitterten Bereichen hinterblieb eine Furche.

Auf dem Rücken eines Steinwalls kam das kosmische Geschoß zur Ruhe. Einen Herzschlag lang umgab es völlige Stille. Dann brach das Raumschiff in der Mitte auseinander.

Redcroft, der voreilig die Gurte gelöst hatte, wurde gegen die Bruchkante einer Verschalung geschleudert. Der Wucht des Anpralls war selbst das Material des Skaphanders nicht gewachsen. Eine metallene Kralle riß ihn von der linken Schulter bis in die Höhe des Herzens auf.

Über ihm an der Decke war ein Licht, das da nicht hingehörte. Immerhin, ein Licht. Er tastete über die Fetzen seines Anzugs. Seine Nase war verklebt und zwang ihn, durch den Mund zu atmen. Er schmeckte Blut und etwas Unbekanntes. Ich atme, dachte er. Aber das hast du doch gewußt: Das ist ein Sauerstoffplanet. Erstaunlich ist nur eins, daß du noch am Leben bist. Du bist verdammt dreist, mein Junge. Ein Leben lang warst du dreist, und das ist nun die Rechnung. Er grinste. Stöhnend und umständlich arbeitete er an seiner Befreiung. Im Stehen taumelte er ein wenig, aber das war schnell vorbei. Den Schutzanzug warf er von sich und ließ die Teile mit gleichgültiger Verachtung da liegen, wo sie gerade zu Boden fielen. Der Schmerz aus dem Innern seines Körpers schien ihm kein Signal für ernsthafte Verletzungen zu sein. Er tastete über die Glieder. Dann bückte er sich mühsam und raffte die leere, nutzlose Hülle zusammen. Sorgsam hängte er sie an eine schräg wegbrechende Wand. Indes er noch eine Falte glattzog, murmelte er: »Das Ende sieht so schlimm nicht aus, nicht wahr.«

Vom heimatlichen Sonnensystem befand er sich lichtjahreweit entfernt. Aber er konnte atmen. Lebensmittel und Wasser besaß er reichlich, und irgendwo im Kosmos hatte man höchstwahrscheinlich seinen Notruf aufgefangen. Er war schwankend, ob er das jetzt schon Glück im Unglück nennen sollte. Es war vielleicht verfrüht. Er konnte seinen Ausflug nicht mehr verheimlichen, und laut Paragraph siebenundzwanzig der Raumflugordnung, Absatz vier, war die Landung auf Planeten der D-Zonen ohne eine Sondererlaubnis nur im Notfall gestattet. Sein Notfall war die Folge, und es würde schon einigen Genies bedürfen, um das umzudrehen.

Seufzend sah er sich um. Er mußte die Zentrale nicht verlassen, um zu wissen, daß der Transporter nie wieder fliegen würde. Sein Notfall hatte Neugier geheißen, aber wahrscheinlich würde man es vor Gericht nicht einmal so nennen. Es ist, was es ist, sagte sich Redcroft, ein grober Verstoß gegen die Dienstordnung »K«. Sie werden mir die Geschichte des Verstoßes nachweisen. Mein Recht wird liquidiert. Aber was würde das beweisen? Meine Schuld? Ich muß mich beeilen, dachte er, wenn ich herausbekomme, was es mit den DPlaneten auf sich hat, werde ich die Frage, wen Schuld trifft, beantworten können.

Konnte ihm jemand verbieten, neugierig zu sein? War es denn seine Schuld, daß ihm die Geschichte mit den D-Planeten eines Tages fragwürdig vorgekommen war?

Als Kommandant auf modernsten Forschungs- und Passagierkreuzern, dauerten seine Reisen oft Wochen und Monate. Er gehörte zu denen, die weiter als jemals Menschen ins All vordrangen, Hunderte, Tausende von Lichtjahren weit. Unter seinem Kommando wurden Expeditionen befördert und für Nachschub gesorgt. Er flog im Liniendienst zwischen den besiedelten Planeten. Die Geschwindigkeiten waren gewachsen und mit ihnen die Entfernungen. Die Raumschiffe waren moderner geworden, komfortabel, technisch perfekt. Während langer Flugphasen hatte ein Kommandant nicht viel zu tun. Die Gespräche erschöpfen sich. Was gab es schon für weltbewegende Probleme, über die man reden konnte, in der Hoffnung, etwas Neues, Weltbewegendes zu äußern.

Da kamen ihm eines Tages die D-Planeten in den Sinn, aber er fand keine Gesprächspartner. Es erschien niemandem widersprüchlich, daß sie Tausende von Lichtjahren weit im All ihr Leben riskierten, während vor ihrer Haustür ein paar Planetensysteme existierten, die niemand betreten durfte, über die niemand sprach.

Die Besatzung eines Großraumschiffes führte ein relativ selbständiges Dasein. Aber über die Notwendigkeiten kosmischer Disziplin hinaus bestimmten so unsinnige Dinge wie das Abfassen einer täglichen Erfolgsmeldung ihr Leben. Manchmal beneidete Redcroft die Leute, die mit ihnen flogen, um irgendwo unbekannte Welten zu erforschen. Die hatten einen Auftrag. Er begriff die Notwendigkeit, sich selbst einen Auftrag zu geben.

Der Gedanke fraß sich in ihm fest. In einsamen Stunden, wenn er der immer wiederkehrenden Themen des Alltags müde war, versank er in Nachdenken, und seine Phantasie malte ihm die abenteuerlichsten Bilder aus, Vorstellungen seiner Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Vertrauen, nach Heiterkeit. Das mündete in einen vagen Plan, sich selbst Geborgenheit zu schaffen, indem er sich vertraute und im Erfolg des Abenteuers Heiterkeit empfand.

Er kehrte auf die Erde zurück und begann Leute, die sein Vertrauen besaßen, über die D-Planeten zu befragen. Es kam nichts dabei heraus. Entweder konnten oder wollten sie ihm keine Auskunft geben. Eigentlich aber, verdächtigte er sie, schützen sie nur Desinteresse vor. Sie beleidigten ihn, indem sie seine Fragen bagatellisierten. Er überwand das Gefühl der Kränkung und fand ihr Verhalten merkwürdig. Nun waren die D-Planeten nicht mehr aus seinem Denken wegzuwischen.

Selbst Freunde begegneten ihm seltsam beschwichtigend mit dem Satz: Es wird schon seinen Grund haben. Die Aggressiveren unter ihnen fragten: Warum sollen wir uns über etwas den Kopf zerbrechen, das wir nie erleben werden? Die gekünstelte Aggressivität wie die Lapidarität versetzten ihn in eine kaum noch bezähmbare Wut. Seine Freundin Claire sagte, irgend etwas werde es dort geben, was für Menschen schädlich sei, Giftgase, Mikroorganismen oder noch Schlimmeres.

Unter Vorwänden verschaffte er sich Zugang zu Speichern und Archiven. Allein, er fand nur Daten, die zur Klärung keinen Schritt weiterhalfen. Es waren Angaben allgemeiner Natur, physikalische und astronomische Parameter, Abrisse über Fauna und Flora. Er konnte in den Darstellungen nichts Absonderliches entdecken, und das verschwiegene Verbot erschien ihm noch fragwürdiger, ja verdächtig.

Er wandte sich um Hilfe an das Sekretariat des Stellvertreters des Generalingenieurs der Kosmosflotte. Sein Name war dort nicht unbekannt. Er bekam einen kurzfristigen Termin.

Am Morgen des Tages war ihm klar, daß aus dem Spiel nun unwiderruflich Ernst würde. Die heutige Begegnung würde ihn an einen Scheideweg führen. Mit einemmal war er sich nicht sicher, ob er den Ernst wirklich wollte. Eine wahnsinnsstille Heiterkeit bedrängte ihn, die Kraftprobe zu Ende zu führen. Da waren die Jahre, die in treuer Pflichterfüllung vergangen waren, da war ein ironischer Fatalismus, sich selbst zu beweisen. War er nicht ein mündiger Mensch, der sich Rechte erworben hatte, das Recht, Aufschluß zu erhalten über seine Welt, über D-Planeten, und selbst zu entscheiden, wo ihn eine Gefahr bedrohte? Er rasierte sich und stutzte ein wenig den Schnurrbart.

Die Sekretärin empfing ihn mit attraktiver Freundlichkeit. Ihr Augenaufschlag begleitete ihn durchs Zimmer. Die Tür schnitt den Duft ihres Parfüms und ihre Blicke hinter ihm ab.

Der Generalmajoringenieur stemmte sich hinter dem Schreibtisch hoch. Die Klimaanlage kühlte den Raum, aber sein massiges Gesicht war feucht von Schweiß. Als ahne er, daß er die Fragen seines Besuchers nicht würde beantworten können, fiel sein Entgegenkommen schwermütig aus und seine Gesten plump.

Anstelle einer Begrüßung äußerte er: »Ich empfange Sie nur wegen Ihrer prononcierten Stellung in der Flotte. Verstehen Sie, verehrter Kapitän, es ist unüblich, den Grund seines Besuchs nicht anzugeben. Sie müssen doch ein Mensch sein, der Disziplin über alles schätzt.« Er bot ihm einen Platz an. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich habe schlechte Erfahrungen gemacht«, erwiderte Redcroft, das Schema eines Gesprächs zwischen Vorgesetztem und Untergebenem durchbrechend. »In der Regel befanden sich die Leute, die ich vor der Zeit über meine Absicht informierte, auf einer Dienstreise zum Alpha-Centauri, oder sie weilten justament zur Kur in den Schwefelbädern der Venus.«

Der Atem des Generalmajors ging heiser. Aber er lächelte. Die Augen in dem nicht vor Freundlichkeit glänzenden Gesicht blickten klein und kühl. »Bitte, sprechen Sie sich aus.«

»Ich habe nur eine Frage: Was hat es mit den D-Planeten auf sich?«

Der Mann ihm gegenüber stieß die Luft hervor, was wie ach, ach klang. Jedoch, er lachte, und die Zähne hinter seinen Lippen blitzten schmal hervor. »Es ist verboten, auf ihnen zu landen. Was weiter? Deshalb haben Sie sich herbemüht?«

»Ich möchte wissen, warum es verboten ist. Es handelt sich durchweg um unbewohnte Sauerstoffplaneten.«
»Ach.« Jetzt klang ein harter, klingender Ton in dem Luftstoß mit. »Darf ich zurückfragen, weshalb Sie glauben, dieses Wissen könnte Sie in irgendeiner Hinsicht bereichern?«
»Ich habe einfach ein Recht darauf«, sagte Redcroft.
»Ein Recht?« Der General verzog angewidert das Gesicht. »Sie sind ein erwachsener Mensch, und ich will mir die Mühe machen, mit Ihnen nicht wie mit einem Untergebenen zu reden. Es gibt Tatsachen, wüßten die Menschen um sie, würden sie beunruhigt sein.«
Redcroft nickte zustimmend. »Ich denke, ich werde die Tatsachen ertragen.«
»Sind Sie zufrieden mit Ihrem Beruf?« fragte der Stellvertreter des Generalingenieurs.
Was soll das? fragte sich Redcroft. Er bejahte.
»Wir schätzen Ihre Arbeit sehr. Branstner geht in Pension. Es ist eine Frage der Zeit, daß Sie die Omega-Flottille übernehmen.«
Redcroft unterdrückte einen Ausruf der Überraschung. Um nicht etwas Unüberlegtes zu äußern, schwieg er einen Moment. Dann sagte er: »Sind Sie der Meinung, daß mir meine Arbeit zuviel Zeit zum Nachdenken läßt?«
Scheinbar angestrengt, hob der Generalmajor die Schultern. »Es ist schade, daß Sie das so auffassen.«
»Ich bin wegen der D-Planeten zu Ihnen gekommen.«
Der andere sah ihn kühl und ratlos an. »Ein Flottillenchef muß eiserner Disziplin fähig sein, auch im Denken. Gerade da. Um ehrlich zu sein, ich kann Ihre Frage nicht beantworten. Ich weiß die Antwort nicht. Ich habe mich nie um diese Frage gekümmert. Es ist keine Frage für mich. Verstehen Sie, ich habe Wichtigeres zu tun.«
Redcroft sah ihm ins Gesicht und sagte: »Ich glaube Ihnen nicht.«
Die Züge des Vorgesetzten wirkten eigenartig porös. Das Leben war aus ihnen herausgeschwemmt, und zurückgeblieben war eine krustige Substanz. »Dieses Verbot besteht seit über zweihundert Jahren. Gäbe es eine Notwendigkeit, es aufzuheben oder darüber zu diskutieren, wäre es wohl in diesem Zeitraum geschehen. Haben Sie noch Fragen?«
»Ja«, erwiderte Redcroft. »Aber nicht an Sie.«
»Das ist bedauerlich.« Der Generalmajor bewegte den Kopf wie ein zu schweres Pendel. »Es drängt mich, Ihr Verhalten unklug zu nennen.«
Redcroft erhob sich. »Das ist das Recht Ihrer Erfahrung. Mit ihr sind Sie immerhin General geworden.«
Der fette Mann im Sessel grinste plötzlich. Alle Kühle und Unpersönlichkeit war aus seinem Gesicht verschwunden. Er wirkte sehr vertraulich. »Allerdings. Sie jedoch, mein Lieber, werden wohl zeitlebens Kapitän bleiben. Leben Sie wohl.«
Er berichtete Freunden vom Gefühl seiner Ohnmacht. Sie schalten ihn aus. Seine Freundin Claire beschwichtigte ihn wie ein Kind. Ihre Entrüstung auf seinen Vorschlag zur Trennung erschien ihm gespielt.
Redcroft begann die Brücken abzubrechen, über die man ihn gehen lassen wollte. Er wollte konsequent sein, und je mehr er das tat, bemerkte er den Zwang zum Triumph. Heiter schlug er ein in die Hand seines einzigen Gefährten, des Heimlichen, Gehörnten, der seine Nächte ausfüllte und seine Einsamkeit begleitete. Der Plan, auf einem der D-Planeten zu landen, nahm konkrete Gestalt an.
Mit fanatischer Zielstrebigkeit baute er ihn auf, bedachte, erwog, verwarf. Der Einsatz war hoch. Ohne Bedenken begann er seine Stellung, seine Karriere, seine Zukunft, das Traumziel aller Jungen von zehn bis fünfundzwanzig, in die Waagschale zu werfen. Er tat es, und ihm wurde leichter ums Herz, und je leichter ihm wurde, um so mehr begann er das zu hassen, was ihn ein Leben lang daran gehindert hatte. Womit nur hatte sich seine kindliche Phantasie beschäftigt. Er konnte sich nicht erinnern. Er hatte lange zum Erwachsenwerden gebraucht. Konnte er seinem neuen Selbstbewußtsein vertrauen? Es war begründet im Begreifen der Zeit: Der Traumberuf war Alltag geworden, die heroischen Aufgaben banal. Mit einemmal wurde ihm klar, daß er lange zuvor schon am Scheideweg gestanden hatte. Die Routine seines Berufs, die Zähigkeit aller Widerstände hatten nicht jene Gleichgültigkeit erzeugt, die ihn mit seinen Freunden entzweite.
Er haßte! Nicht den Beruf. Nicht die Umstände. Mit illusionslosem Abstand sah er seine Rolle. Er hatte sie auszufüllen wie ein jeder. Doch die logische Notwendigkeit, die dieser Phrase innewohnte, reizte, zu ihren Grenzen vorzustoßen und darüber hinaus. Einmal die eigene Kraft gespürt, die Fesseln zu sprengen, konnte er nicht mehr zurück.
Wo er mit seiner Frage auftauchte, belächelte man ihn, oder man wandte sich gleich ab. Manchmal dachte er selbst, ich bin ein Narr. Wofür das alles, für wen? Welch eine gekünstelte Moralität! Aber er konnte endlich seine Kräfte messen, und er fühlte mehr und mehr, daß er dazu geboren war, zum Kampf. In der Auseinandersetzung mit dem Kosmos war er geübt, den Streit mit Menschen faßte er als staunenswerte Neuigkeit auf. Er wußte, daß man ihn argwöhnisch beobachtete.
Die Tore zu Speichern und Archiven blieben ihm fortan verschlossen. Man fertigte ihn mit Redensarten ab, und die Blicke, die seinem Weggehen folgten, waren voll von Feindseligkeit und Erleichterung. Einmal war er besonders hartnäckig und provozierte die Wut eines schmalen, bleichen Wichts.
»Man sollte Sie einsperren oder in die Plutowüsten verbannen. Daß Sie es nur wissen, Sie sind ein fürchterlicher Mensch! Was habe ich Ihnen nur getan, daß Sie in meinen Frieden eindringen, Sie Wüterich. Ich lasse Sie nicht herein. Ich habe eine Anweisung. Ohnehin sind die Unterlagen, die Sie suchen, nicht hier. Es gibt sie überhaupt nicht. Gehen Sie, gehen Sie, und lassen Sie anständige Menschen in Ruhe!«
Mit dem Geschrei des kleinen Zerberus im Ohr verließ Redcroft das Zentralarchiv. »Wenn ihr nicht wollt«, murmelte er ergrimmt vor sich hin, »ich komme auch so ans Ziel. Wenn es sein muß, ohne euch.«

Er stieß die Füße auf und hinkte über den schrägen Boden der Zentrale. Aus dem Automaten kam tatsächlich auf Knopfdruck heißer Tee. Er grinste, voller Hohn auf seine Widersacher. Eigentlich jedoch kam es ihm paradox vor, daß irgend etwas in diesem Schrotthaufen noch funktionierte.

Tee schwappte aus dem Becher über seine Hand. Während er den kostbaren Tropfen ableckte, vernahm er die Meldung des Ky über den Fortgang der Reparaturen. Lächerlich, sagte er sich. Aber er verzichtete darauf, die Arbeiten einstellen zu lassen. Kichernd schlurfte er zurück an seinen Platz. Wie sehr sich die Stimmungen glichen. Das Ende und der Anfang. Mit ebendiesem grimmigen Humor hatte er sich auf den Weg begeben. Vielleicht, daß er damals eine Spur hoffnungsloser war. Nicht mehr als eine Spur.

Er warf den leeren Becher in eine Ecke. Mochte der Teufel das Wrack holen. Zum Fliegen war es nicht mehr zu gebrauchen.

Entspannt lehnte er sich zurück und schloß die Augen. Wärme fächerte über seine Haut. Blinzelnd öffnete er die Lider. In der Decke klaffte ein Spalt. Dahinter das Wolkengrau war aufgerissen. Im Zenit stand rotgolden das Zentralgestirn. Ein Lufthauch trug fremde Gerüche herein, eine Witterung von heiterem Sommer, südländisch herb, ein Duft wie nach Bologneser Tomatensuppe und frischen Zitronen.

Ob sein Weg originell gewesen war, mochte umstritten sein. Aber er hatte ihn zum Erfolg geführt. Die Erinnerung erheiterte ihn noch immer… Sie war zwanzig und dementsprechend kokett. Auf den ersten Blick entdeckte er eine unzüchtige Gelenkigkeit an ihr. Geübt bemerkte sie sein Interesse, weil Männer sie meist auf diese Weise ansahen. Aber Redcroft war Kommandant! Und wenngleich sie wußte, daß es der Besatzung strengstens verboten war, andere als gesellschaftliche Beziehungen zu Passagieren zu pflegen, wechselte sie im Beisein ihrer Dienstreisekolleginnen unverschämt vertrauliche Blicke mit ihm. Er forschte nie danach, wer von seinen Offizieren ihn angeschwärzt hatte. In der Basis sprach man ihm eine Verwarnung aus.

Die zweite war eine moderne, selbstbewußte Frau, die es an sich schätzte, keine Art von Intimität vor anderen zu verbergen. Die Affäre kam noch vor seiner Rückkehr beim Stab der Interstellarflotte an. Ihm wurde eine strenge Rüge erteilt, verbunden mit der Warnung vor Degradierung und Versetzung. Er wußte, daß er sich auf dem richtigen Kurs befand.

Als es dann soweit war, äußerten seine Vorgesetzten tiefempfundenes Bedauern, einen so fähigen und hoffnungsvollen Kommandanten im Interesse der Moral in der Flotte auf eine untergeordnete Route setzen zu müssen. Man sprach die Hoffnung aus, er werde sich bei der Beförderung von Erzen und Versorgungsgütern schnellstens bewähren. Es wurden all die Worte gebraucht, die augenzwinkerndes Verständnis hinter Dienstobliegenheit verbergen. Redcroft langweilte sich.

Seine Freunde erklärten ihn für verrückt. Claire, die die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatte, distanzierte sich in aller Öffentlichkeit von ihm. Unter vier Augen erhob sie den Vorwurf, er habe sie seiner Wahnsinnsidee geopfert. Er bereitete sich auf einen herzzerreißenden Abschied vor. Aber hinter ihren allerletzten Zärtlichkeiten, mit denen sie sich zur Wehr setzte, hinter ihrer Ironie verbarg sich die Angst vor seiner unbegreiflichen Leidenschaft.

»Hast du nicht alles, was du brauchst?« flüsterte sie, sich an ihn klammernd. »Was willst du nur? Du weißt es selbst nicht genau.« Sie redete von seiner Schuld und von ihrer Gemeinsamkeit. Sie beschuldigte ihn eines manischen Zerstörungstriebs. Doch schließlich fand sie sich bereit, alles zu entschuldigen. Er hielt das eine wie das andere für übertrieben. Er versuchte ihr klarzumachen, daß ihre Anwürfe eine Art von Eifersucht seien, auf das, was er sein wahrhaftiges Ziel nannte. Sie weinte nicht. Bevor sie ging, bemerkte sie: »Du schwimmst gegen den Strom. Ich kann dir nicht folgen, nicht für ein Hirngespinst.« Als sich die Tür hinter ihr schloß, zuckte er müde zusammen.

Über die Wehmut half ihm die Hingabe an sein Vorhaben hinweg. Überraschend schnell gewöhnte er sich an seine neuen Lebensumstände. Während der Flüge mit dem vollautomatisierten Transporter blieb ihm noch mehr Zeit als früher für sich selbst. Er las viel und begann ein Tagebuch zu führen, in welchem er – wovor er sich immer gescheut hatte – seine intimsten Gedanken niederlegte. Unter der Schicht seines alltäglichen Denkens entdeckte er Unbekanntes, Geheimnisse, die ihn mit naivem Schauer erfüllten. Er sah in sich so viele Fähigkeiten und aus diesen Fähigkeiten Wünsche wachsen. Waren seine Wünsche unerfüllbar in einer menschlichen Gesellschaft? Das Abenteuer seines Lebens hatte begonnen. Abenteuer geschehen in der Einsamkeit. Werde ich einsam leben müssen? fragte er sich. Und wenn, antwortete er, und wenn.

Fast ein Jahr lang flog er auf der neuen Route, bis ihn ein Auftrag in die Nähe einer D-Zone führte. Der Umweg bedeutete nicht mehr als einen Katzensprung, ganze eineinhalb Lichtmonate. Über eine Ausrede machte er sich keine Gedanken. Wahrscheinlich würde der Abstecher überhaupt unbemerkt bleiben.

Er schlürfte an einem zweiten Becher Tee und lachte schließlich frei und ungehemmt heraus. Wie aus einer Glut in seiner Mitte stieg die Lust an seinem Lachen in ihm auf. Das Schiff, ein Millionenwert, war ein Schrotthaufen. Ein Disziplinarverfahren würde das Geringste sein. Er lächelte über den Einfall, den Kursschreiber zu manipulieren, einen magnetischen Wirbelsturm ins Logbuch zu schummeln oder was dergleichen kindische Einfälle mehr waren.

Er untersagte sich den Schmerz und zog die schweißgetränkte, zerrissene Kleidung aus. Nackt betrachtete er sich. Über die Brust lief eine Schramme wie von einem Peitschenhieb. Mit fünfunddreißig konnte man nicht mehr von pubertärer Magerkeit sprechen. Aber er fand an sich nichts Schlaffes, nichts Verbrauchtes. Mit den Fingern trommelte er einen Takt auf die gespannten Oberarmmuskeln. Ausgelassen und vor Schmerzen ächzend schlüpfte er in einen neuen Overall. Dann nahm er eine knappe Mahlzeit zu sich.

Noch hatte er der Umgebung keinen Blick gegönnt. Er kannte die Zügellosigkeit seiner Neugier. Er entsiegelte den Havariespeicher. Der Ky spuckte alles aus, was über diesen Planeten, dem ein Mensch den Namen Hammurapi gegeben hatte, enthalten war. Von fünfen war dies der vierte des Systems, sein Umfang wenig größer als der der Erde, Rotationsdauer siebenunddreißig Stunden, Magnetfeld und so weiter. Die Atmosphäre glich weitgehend der irdischen. Nichts Aufregendes also. Vor einem Tier mit der Bezeichnung Energosaurus wurde gewarnt. Redcroft zupfte amüsiert an den Enden seines ausgebleichten Schnurrbarts. Das Ungeheuer sah eher aus wie ein riesenhafter Maikäfer. Der Ky wies darauf hin, daß dieses Tier mit Energiewaffen nicht zu bekämpfen sei. Es vernichte Feinde aus purer Reizbarkeit mittels energetischer Entladungen, deren Natur nicht erforscht sei. Es handele sich um ein Nachtlebewesen. Der Ky gab noch den Kampfschrei des Untieres zum besten. Redcroft fröstelte. Doch alles in allem war das, was er vernommen hatte, kein Grund zur Beunruhigung. Es gab keinen Hinweis darauf, warum dieser Planet als »Dangerous« klassifiziert worden war.

»Das kriegen wir ’raus«, murmelte er. »Verlaßt euch darauf. Eher gehe ich nicht von hier weg.«
Spielerei, meinte er Claires Stimme zu hören, und das in deinem Alter.
»Und das in meinem Alter!« schrie er. »Es ist mein Risiko. Es geht euch nichts an. Sperrt mich ein dafür, oder bringt mich in die Klapsmühle. Aber vorher werde ich herausbekommen, warum das ein D-Planet sein soll.«
Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um, hörte er sie sagen.
»Ich nicht«, vernahm er die eigene, feste Stimme. »Ich haue noch den Tod übers Ohr.«
Er lief durch die Gänge der vorderen Sektionen. Trümmerstücke ragten wie Äste eines abgestorbenen Waldes. Barrikaden stellten sich ihm in den Weg. Hangelnd überwand er Abgründe.
Zu seinem Erstaunen hatten die Reparaturroboter einen beachtlichen Teil der lebensnotwendigen Aggregate und Versorgungseinrichtungen bereits wieder zusammengeflickt. Der Gedanke an die nächtlichen Saurier beunruhigte ihn nun weniger.
Die Bruchstelle mittschiffs überquerte er balancierend auf einem schmalen, verdrehten Träger. Einmal fiel sein Blick in die Tiefe von Dutzenden Metern. Sonnenlicht malte freundliche Muster in das Chaos. Zitternd stieg erwärmte Luft auf. Die Stimmung verlangte nach dem müden Summen von Fliegen, nach Vogelgezwitscher in der Höhe. Er kam sich selbst unwahr vor und kniff die Augen zusammen, um den Trug abzuschütteln. Sein Lächeln kam aus einer Sehnsucht, wie sie nur an der Nahtstelle von Welten entsteht.
Bis hierher war das Niveau leicht angestiegen. Die Korridore zu den Triebwerks- und Laderäumen lagen waagerecht vor ihm. Entschlossen zerteilte er die Düsternis mit Blicken und mit seinen rudernden Armen. Der Geruch von Wärmeaustauschern und Schmiermitteln drang zu ihm. Tanks waren geborsten. Irgendwo unten entstand ein fettig glänzender Reflex.
Den Hubgleiter im Hangar fand er unversehrt vor. Doch die Luke der Ausflugöffnung widersetzte sich allen Anstrengungen. Um nicht weitere Zeit zu verlieren, zündete er die Sprengladungen. Schwer sackte die Platte nach außen weg und schlug dröhnend auf. Er verfolgte angespannt den Vorgang, und es kam ihm vor, als kündige dieser Paukenschlag sein Vertrauen, seine Macht und den Erfolg an. Das Schiff war eine Festung, und er befahl darin. Von allen Seiten drangen zu ihm die Geräusche der arbeitenden Kolonnen. Licht flammte auf, und die Helle gab dem Grau des Hangars Freundlichkeit.
Der lange Tag neigte sich. Sichtbar sank die Sonne dem dunstig-trüben Horizont zu, tauchte schnell hinter schwarzrote Silhouetten, die die Scheidelinie zerrissen. Sein Standort mußte sich in der Nähe des Äquators befinden. Er hatte kaum Zeit, das Bild in sich aufzunehmen. Im Gegenlicht sah er Regelmäßigkeit aufragen. Gerade so hoch erhoben sich die Formen, daß sie noch ins Auge fielen. Dicht an der Kante der Startplattform stehend, beugte er sich vor und verengte die Augen zum Schlitz.

Der Hubgleiter schoß gewagt in die Höhe, zog eine Kehre und raste der sinkenden Sonne entgegen.

Unter ihm dehnten sich endlos Wälder. Rasch verglommen ihre Farben, bis dunkelbleich nur noch Skelette zu erkennen waren. Die Bewegung, alles Leben war entflohen. Dürrheit reckte sich in der Düsternis.
Welch ein Leben hatte der Planet getragen? War es Jahrmillionen her oder gestern, daß es starb? Diese Landschaft erschien ihm tragisch, weil sie verlassen war, und doch unvergleichlich schön und unheimlich in ihrer Stille. Das alles hatte lange vor ihm das Bewußtsein fremder Wesen beherrscht. Hatten sie die Schönheit genutzt, die Schönheit der Angst vor dem Animalischen, die Schönheit der Sehnsucht danach? In der Sicherheit seiner Höhe schauerte Redcroft zusammen. Kühle Zungen leckten über seine Haut und vereisten Schläfenbögen, Lippen. Er witterte das Fremde, ein Gefühl, geboren aus vergessenen Instinkten. Das lag jenseits seines Wissens, jenseits der Erfahrung. Das Jenseitige war gewaltig. Niemand konnte es ihm mehr nehmen. War es das, was die Menschen nicht erfahren sollten?

In fünftausend Meter Höhe flog er im Unterschallbereich das Ziel an. Klar im ganzen Spiel der Farben gab nur der Nachtschirm das überflogene Territorium wieder. Das gleichmäßige Rauschen der Triebwerke klang wie ein Versprechen. Dankbar nahm er es entgegen im Niemandsland zwischen dieser und einer anderen Welt.

Die Vegetation war bereits weit über die ehemaligen Grenzen der Stadt ins Zentrum vorgedrungen. Der Mischgürtel aus Ruinen und Pflanzenwuchs erstreckte sich etwa zwei Kilometer tief. Den Kern der Stadt fand er jedoch fast unberührt von der wilden Vegetation vor. Unberührt wie ein heiliger Ort ragte der Komplex auf, verfallen, aber ewig. Seine Augen brannten. Dort unten, zu seinen Füßen, lag das Zeugnis einer außerirdischen Zivilisation.

Niemals in der tausendjährigen Geschichte der irdischen Raumfahrt war die Entdeckung extraterrestrischer Intelligenzen oder Überreste von Zivilisationen zugegeben worden. Was hatte das zu bedeuten? Warum sollte verhindert werden, daß die Menschen davon erfuhren? Sie waren offenbar ausgestorben. Aber war das möglich? Widersprach das nicht allen Gesetzmäßigkeiten? Irgendwann einmal waren alle Planeten, die heute das »D« als Zeichen der Gefahr trugen, erforscht worden. Hatten sie alle einmal intelligentes Leben getragen? Mochte es von einem Planeten verschwinden. Aber von allen?

Das Geheimnis mußte außerordentlich streng gehütet worden sein. Unvorstellbar, daß Generationen nicht daran gerührt hatten. Was für ein beschämendes Indiz! Erschöpfte sich denn die Phantasie der Menschen wirklich in dem Gedanken an das nahe Morgen mit seinen kleinen, tausendfachen Möglichkeiten? Waren nicht seine Freunde, Claire, der Beweis? Sie suchten ihres Daseins Wichtigkeit allein im Kommenden. Sie starrten wie im Rausch nach vorn. Claire mit ihren Träumen, ihren belanglos wichtigtuerischen Hoffnungen. Er mußte sie alle maßlos enttäuscht haben. Sein Lächeln war bitter. Unermeßlich viele Dinge lebten in ihrer Erwartung und ließen ihr Leben angefüllt und in ständiger Bewegung erscheinen. Sie führten ein Eintagsleben in Spannung auf das Morgen, eine alltägliche Spannung auf erreichbare Dinge! Ohne Zweifel, sie mußten die Marotte mit den D-Planeten geradezu lächerlich finden. Instinktiv erkannten sie die Unruhe, die er in ihr Leben tragen würde. Claire hatte den Gegenstand seiner Leidenschaft nicht begriffen, und so blieb es ihr versagt, ihm wirksam zu begegnen. Sie wollte ein Ziel vor Augen haben, ein magisches Ding, ein Mysterium, ein Ziel, in seiner Begreifbarkeit nebelhaft, ein Ziel, nicht beschreibbar, aber ein Ziel. Ihre diffuse Weisheit glaubte an die Erkennbarkeit der Welt, aber sie war unfähig, ihre nächste Nähe zu erkennen. Redcroft hatte die verlorengegangene Weisheit wiederentdeckt. Sie half ihm, mit sich selbst konkret zu werden, und gab ihm die Kraft und den Raum für die nächstliegenden Fragen. Wer hatte die Stadt erbaut? Menschenähnliche. Wohin waren sie verschwunden? Sie waren sich selbst zum Opfer gefallen. Sollte das vor den Menschen verheimlicht werden?

Redcroft starrte auf die unter ihm dahinziehende Landschaft der Stadt. Er begriff eine gewaltige, umfassende, alle durchdringende Einheit; keine Form, keine Linie existierte isoliert von dem übrigen. Alles war da durch das andere. Vor seinem Auge erstand ein Organismus aus Stein, in dessen Innerem Leben schlummerte. Des Wartens müde, hatte das Wesen die Augen geschlossen. Doch wie eine Form von Energie strömte die Erwartung aus seinen Bögen und Mauern, von Traversen und Sockeln, stieg auf aus jedem Trümmerstück. Wie geblendet schloß Redcroft die Lider. Erst nach geraumer Zeit zwang er sich aufzublicken. Er sah in eine von Wetterleuchten erhellte Nacht.

In seinem Rücken, am Fuß des Gebirges, tobten gewaltige Blitze. Eine Sekunde lang war Ruhe. Dann stieg unvermittelt an der Stelle, wo das Raumschiff liegen mußte, ein düster glosender Pilz aus der Dunkelheit. Ein Donnerschlag erreichte sein Ohr. Reglos sah er die Hände auf den Steuerarmaturen liegen. Es war für jede Reaktion zu spät. Der Treibstoff für die Atmosphärenmanöver mußte initial gezündet worden sein. Es gab keine andere Deutung. Energosaurier hatten offenbar, Nahrung witternd, das Wrack angegriffen. Die Roboter leisteten mit ihren Strahlern Widerstand. Sie wußten nicht, daß sie die Ungeheuer mit jedem Schuß fütterten. Er preßte die Lippen zusammen. Das Ende war ein konsequentes Ende. Sollte er seinen Leichtsinn verfluchen? Der Verlust war beunruhigend, aber nicht tödlich. Langsam löste sich sein Körper aus der Erstarrung, seine Gedanken wurden ihm wieder bewußt. Er mußte zur Kenntnis nehmen, daß das Raumschiff, die unter seiner Führung uneinnehmbare Festung, nicht mehr existierte, gleichgültig, ob er sich Leichtsinn vorwarf oder es Spontanität nannte: Er fühlte sich von allem frei, frei von der Verantwortung um seine Zukunft. Er fühlte sich frei von dem Zwang, sein Überleben zu planen, zu rechnen, zu kalkulieren und vermittels des Ky Chancen zu optimieren. Einer Eingebung folgend, war er losgeflogen, und er genoß noch immer dieses glückhafte Empfinden, das in dunkler, unverständlicher Fülle in ihm wucherte. Während er dem flammendurchzuckten Rauchpilz nachsah, nickte er sich selbst zu. Einmal im Leben durfte einem Neugier einen Streich spielen, und einmal im Leben durfte man sich mit vollem Bewußtsein etwas vorgaukeln. Soviel war erlaubt.

Wenigstens schien die Frage der Ernährung lösbar zu sein. Nun ja, der Treibstoff des Gleiters reichte lange, wenn auch nicht bis in alle Ewigkeit. Er mußte einen sicheren Ort finden, an welchem er die Nächte überstand. Unter allen Umständen mußte es ihm im Verlauf des nächsten Tages gelingen, einen festverschließbaren Raum zu entdecken, dessen Wände nicht leiteten. Vielleicht eine Höhle.

Der Feuerpilz sank in sich zusammen; er fühlte sich erschöpft. Er mußte jetzt schlafen. Ein ganzer langer Hammurapitag lag vor ihm, tausend Möglichkeiten, seinen Auftrag zu erfüllen. Das Glück hatte ihn noch nicht verlassen.

Vom Autopiloten gesteuert, zog die Flugmaschine langsame Kreise über der toten Stadt.

Erst als Redcroft in der Koje lag, bemerkte er, wie sehr seine Glieder schmerzten. So nah am Ziel, seufzte er erschöpft, aber glücklich und schlief ein mit dem Gedanken an Claire.

Es weckten ihn nicht die helle Morgenröte noch heranjagende Stöße des Windes. Er erwachte einfach, weil er ausgeschlafen hatte. Soeben schob sich in der Ferne der Ebene ein grauer, faseriger Streifen über den Horizont.

Während des Frühstücks dachte er daran, daß die Reserven kontrolliert werden müßten. Viel fand er nicht vor: einige Liter Wasser, die er mit Hilfe der Entseuchungsanlage beliebig vermehren konnte, sowie sieben Tagesrationen. Er verfügte über ein Atemgerät, einen Handstrahler, einen leichten und einen schweren Schutzanzug. Die Ausrüstung mochte lächerlich anmuten, er aber kam sich wie ein Gigant vor. Was für ein Gefühl, mit leeren Händen einer Welt den Kampf anzusagen. Eine wölfische Entschlossenheit erwachte in ihm und ein ungeheurer Stolz. Wäre ihm der Name des Mannes von La Mancha ein Begriff gewesen oder der des englischen Schiffbrüchigen, so hätte er sich ihnen verbunden gefühlt. Er war bereit, allen nur denkbaren Widrigkeiten entgegenzutreten, denn er erlebte den Triumph, etwas Einmaliges, Eigenes, Nichtwiederholbares mit der Macht seines Willens zu formen. Ein unsicheres Lächeln begleitete den Gedanken, daß man ihn auf der Erde nicht vermißte.

Bevor er die erste Order zu einem Transportflug bekam, wurde er ins Sekretariat des Zentralkomitees für die Friedliche Nutzung des Kosmos, ZKFNK, bestellt. Ins FNK, sagten seine Freunde, es wird Zeit. Endlich rücken sie ihm den Kopf zurecht. Auf uns hört er ja nicht. Sie taten ein wenig beleidigt.

Redcroft gegenüber hatte ein schmächtiger Mensch Platz genommen. Sein Anzug war in der Farbe des hellen, grauen Haars, welches sich über der Stirn bereits ein wenig lichtete, was dem Kopf jene Markantheit verlieh, die die Expressionisten begeisterte.

Kaum merkbar, beugte sich der Sekretär nach vorn, vielleicht war es auch nur, daß die Spannung seines Rückens nachließ. Seine Stimme klang angenehm zurückhaltend, aber kühl.

»Verehrter Kapitän Redcroft, ich will Ihnen nicht Moral predigen. Aber ein Mann Ihrer Erfahrung sollte wissen, wo seine Verantwortung liegt.«

Redcroft fühlte sich verpflichtet zu nicken. Er sagte jedoch: »Ein Leben besteht nicht nur aus Verantwortung.« Gleich darauf zweifelte er, ob er den Satz im richtigen Moment benutzt hatte. Ein Mensch in dieser Position kannte natürlich nur Verantwortung. Sein Leben bestand aus Verantwortung, jede Stunde seines Tages. Ein Mann in dieser Position konnte nicht irgendwann alles hinwerfen, um für den Rest seines Lebens Fische in der Barentssee zu fangen. Seine Stellung verpflichtete ihn, für so etwas kein Verständnis zu haben. Das ist sein Pech, sagte sich Redcroft. Es hat ihn niemand gezwungen.

»Möglicherweise sind wir unterschiedlicher Ansicht«, entgegnete der Sekretär. »Und der Rest?«
»Originalität«, sagte Redcroft. »Eigennützigkeit.«

»Sie sollten das mit dem anderen verbinden, mein Lieber. Das gäbe eine glückliche Synthese.«

 

»Ich habe es versucht.«

Sein Gesprächspartner blickte auf. An seinen Augen sah Redcroft, daß ihm nichts entging. »Sehen Sie, wir bemühen uns im weltweiten Rahmen um die Fortführung einer kontinuierlichen Entwicklung. Würden Sie als Raumschiffkommandant einem Besatzungsmitglied Originalität zubilligen, wenn es Ihren Befehl ausführen soll?« Er schwieg, um seine Worte wirken zu lassen, und fuhr dann fort: »Wir wissen, daß Sie das Ganze inszeniert haben. Sie hoffen, auf diese Weise in die Nähe der D-Zonen zu gelangen. Wir werden unnachsichtig sein, wenn Sie die Disziplin neuerlich verletzen. Ich mache Ihnen ein Angebot. Sie fliegen eine Tour. Das ist Zeit genug, sich zu besinnen. Dann kehren Sie kurzzeitig in Ihre alte Funktion zurück. Mit dem Beginn des neuen Jahres werden Sie zum Flottillenchef befördert.«

»Gut«, sagte Redcroft, »angenommen. Soviel Vertrauen ehrt mich.«

Der Sekretär lächelte. »Sie haben sich die Ehre tausendfach verdient, mit dem Einsatz ihres Lebens und ihrer Persönlichkeit.«

»Dann sagen Sie mir, warum das Betreten der D-Planeten verboten ist.«

 

»Sie sind hartnäckig.«

»Ich habe Vertrauen verdient. Sollte ich Ihre Worte nicht so verstehen?«
Der Sekretär setzte sich gerade auf, aber er wurde dadurch nicht größer. »Es gibt Vereinbarungen zwischen Menschen. Ohne solche Übereinkünfte gäbe es keine menschliche Gesellschaft und keinen Humanismus. Die Gesellschaftsform der Erde in all ihren Spielarten stellt den höchsten Grad an Übereinkunft dar. Ein philosophisches Gebäude, Sie werden mir recht geben. Nennen Sie es meinetwegen nach Rousseau einen Gesellschaftsvertrag. Wir haben uns einen neuen Gesellschaftsvertrag geschaffen.«
Redcroft kannte den Namen des französischen Philosophen nicht und mußte sich damit begnügen zuzuhören.
»Im täglichen Leben«, fuhr der Sekretär fort, »sieht das so aus: Sie tun, was Ihnen aufgetragen wird, und andere wiederum befolgen den Auftrag, der an sie durch Sie ergeht. Es gehört nicht zu Ihrem Auftrag, über die D-Planeten Bescheid zu wissen. Es gibt Einsichten, die gefährlich sind für die Existenz der gesamten menschlichen Gesellschaft.«
»Danke«, sagte Redcroft, »das wußte ich bereits.«
»Also«, forderte ihn der Sekretär auf.
Redcroft erhob sich. »Zählen Sie nicht auf mich.«
Heute fragte er sich, ob er voreilig entschieden hatte. Aber hätte er die Entscheidung einer Ky-Loge abwarten sollen? Es war ihm nicht einmal gelungen, so weit vorzudringen.
Welche Gefahren hielt der Hammurapi bereit, denen Menschenmacht nicht zu begegnen vermochte? Energosaurier? Lächerlich. Gut, seine Ausrüstung konnte kaum als komplett gelten. Was nun? Sollte er sich verkriechen und das rettende Raumschiff erwarten? Herrgott, die Gefahren des Kosmos waren unvergleichlich größer. Welches menschheitsbedrohliche Geheimnis sollte dieser Planet verbergen? Er frühstückte unkonzentriert. Eine vernünftig erscheinend Vorstellung kam ihm nicht.
Feuer liefen über den Himmel. In wächserngrüne Schatten eingeschmolzen, verharrte noch das Leben unter ihm. Wie eine Schale schimmerte bernsteinfarben der Himmel im Zenit. Im Westen raffte die Nacht ihre smaragdgrüne Kostbarkeit zusammen. Minutenlang fesselte ihn das Schauspiel des Sonnenaufgangs. Nie meinte er etwas Schöneres gesehen zu haben, aber es war vielmehr das Gefühl, es allein zu besitzen. Ihn fröstelte vor seiner Unersättlichkeit. Diese Welt durchströmte ihn. In ihrem Strudel löste er sich auf. Er empfand sich als fremd hier, und trotzdem. Er vermeinte Laute zu vernehmen, Stimmen, die ihm vertraut vorkamen. Er sah hinunter auf die Stadt, und sie erschien ihm wie seine eigene Vergangenheit und seine Zukunft. Waren das glückliche Menschen gewesen? Der Eindruck verführte ihn, darauf zu hoffen. Seine Träumerei belebte die im Morgenlicht daliegenden Ruinen mit Schemen. Er lächelte ihnen zu. Bald würde er mehr wissen als alle Menschen der Welt. Er dünkte sich einem göttlichen Rätsel auf der Spur.

Aus purer Neugier flog er hinüber zum Wrack. Viel war nicht übriggeblieben. In trostloser Kahlheit lag das Gerippe zwischen den Felsen. Reste von Isolationen wogten im Morgenwind. Der Ort des nächtlichen Dramas mutete wie eine Kulisse an. Ein paar dünne Rauchfahnen stiegen fast senkrecht in die Stille. Er flog eine langsame Abschiedsrunde.

Überschaubar dehnte sich die Metropole aus. Ihre Peripherie zog sich hin zu einem strengen Quadrat, gebildet durch einst mächtige Mauern. Die Vegetation hatte sie nicht völlig überwinden können.

Das Quadrat schien der bestimmende Grundriß zu sein. Doch innerhalb der Symmetrie dieser Form waltete ein faszinierendes Spiel der Kräfte. Hier und da flackerte ein Rest des einstigen Glanzes und der Größe auf. Dann wirkte die Ruinenstadt wie ein aufgeputzter Leichnam, den Äonen konservierten. Alle Zeiten der Welt vereinten sich in diesen Mauern. Ihre, der Stadt, Unendbarkeit trotzte dem Verfall, ja, sie offenbarte sich in ihm. Die Stadt war tot, und doch lebte sie fort.

Durch die Ventilation der Kabine drang zu ihm ein Geruch wie von betäubenden Essenzen und milden Ölen. Stille mußte in dieser Stadt geherrscht haben, auch als Zehntausende sie bevölkerten. Die Ruhe heute erschien ihm trügerisch. Er vermeinte ein grausames Ingredienz zu wittern, das Toten neues Leben einhaucht, in alle Ewigkeit. Er schauerte zusammen.

Von irgendwoher schlug ihm ein Reflex entgegen. Goldglänzend seit Tausenden von Jahren lag unversehrt ein flaches Dach auf einem der Gebäude fast im Zentrum.

Er landete ganz in der Nähe, mitten auf einer breiten Allee, die lanzettspitze Gewächse drohend mit schmalen Schatten überkreuzten. Hier und da wuchsen, das rote Pflaster durchbrechend, Pflanzen wild und licht.

Die Stadt hatte sich behauptet.
Mit einem heimlichen Griff versicherte sich Redcroft der Schußbereitschaft seiner Waffe. Dann stieg er die letzten Stufen der Leiter hinab. Die Rauheit des Straßenbelags empfand er als angenehm. Das Unerwartete blieb aus, und er fühlte sich schnell vertraut mit dem Ort. Die verschwundene Zivilisation hatte keine Fallen hinterlassen, keine atomaren Selbstschüsse, keine Zerstäuber mit hypnotisierenden Gasen, keine die Ewigkeit überdauernden Kampfroboter. Die Mauern verströmten wie überreife Blüten einen Duft nach tiefem Frieden.
Den letzten Rest von Unsicherheit abstreifend, bewegte er sich die Allee hinunter. Keine unsichtbaren Augen warfen mörderhafte Blicke zwischen seine Schultern. Er schritt kräftig aus, in dem Bewußtsein, sich sein Ziel erkämpft zu haben. Er war dessen Verwalter, sein Besitzer, Herr über Wert und Unwert. Es hatte sich ihm ergeben, und er konnte es nach Gutdünken benutzen. Darin lag eine faszinierende Versuchung. Was fing er nun mit dem alten Gemäuer an? Je mehr es sich seinen Blicken entblößte, desto mehr verlor es seinen übersinnlichen Zauber. Waren diese Ruinen nicht Zeugnis eines stillen, grausamen Kampfes, dessen barbarische Verlockung er erfahren mußte. Niemand durfte ihm diese Erfahrung nehmen. Er hatte ein Recht darauf, und wenn sie mit seinem Tod endete.
Seit mehr als einem Jahrtausend verschlang die Suche nach außerirdischen Zivilisationen unmeßbare Kapazitäten menschlicher Potenz. Mit jedem Schritt weiter hinein ins Universum fieberte die Menschheit dem als unausbleiblich erhofften Zusammentreffen entgegen. Jedoch, die »Brüder im All« ließen auf sich warten. Man würde ihn für verrückt erklären oder für einen geltungssüchtigen Lügner. Aber ein paar Menschen mußten doch davon wissen. Der Sekretär. Unwirklich weit weg war die Erde.
Er sah sich um, und fast hätte er einen Schrei ausgestoßen. Das stolze Gefühl, Herr seiner selbst zu sein, gegen alle Widrigkeiten eine Entscheidung herbeigeführt zu haben, dehnte seinen Körper. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er, was es hieß, nur und ausschließlich im eigenen Namen, in eigener Verantwortung zu handeln. In eigener Sache fällte er einen Urteilsspruch: nicht schuldig.
Wie nach lebenslanger Blindheit nahm er die Bilder der Stadt in sich auf. Der Glaube an die eigene Kraft und Fähigkeit verlieh seinen Schritten fröhliche Elastizität. Dieses Gefühl würde er zeit seines Lebens nicht mehr missen wollen. Kein Erfolg in seiner Vergangenheit hatte solchen Zustand von hellsichtiger Konzentration in ihm erzeugen können.
Sein Blick folgte den Konturen der Gebäude. Ohne des Weges zu achten, starrte er aufwärts, hierhin und dorthin, bis ihn schwindelte. Basreliefs und großflächige Fresken gestalteten Wände. Ein Zittern durchfuhr ihn: Sie stellten – Menschen dar. Wahllos suchten seine Augen in allen Ecken und Winkeln nach den Lebenden, die dem Stein Modell gestanden hatten. Der Ehrgeiz des Entdeckers beflügelte die Sehnsucht. Erhoffte er sich von den Fremden etwas, das ihm die Erde verweigert hatte? Erwartete er eine Götterverbrüderung in galaktischer Harmonie? Er schalt sich einen Narren. Mochten es Menschen gewesen sein oder nicht, sicher war eins, es hatte eine Verbindung bestanden zwischen ihnen und der irdischen Zivilisation, sei es eine indirekte, sei es nicht mehr, als daß irgendwann einmal irdische Forscher diesen Planeten untersucht hatten. Die Ergebnisse waren’ geheimgehalten worden. Nicht eher ging er von hier weg, bis er die Gründe dafür aufgespürt hatte.
Es waren zweifelsohne Menschen. In ihrer Haltung lag rituelle Gemessenheit, maßvolles Verhalten, Überlegenheit. Redcroft kannte keine künstlerischen Gesetzmäßigkeiten, er kannte nicht den Zusammenhang zwischen Raum und Bewegung. Aber er sah.
Da drückte sich in leidenschaftlichen Zügen die Kraft der Verzweiflung eines Lebens aus. Über Flammen, die ein Antlitz formten, schwebte tanzend ein Fuß. Aus der Wände Tiefe wand sich ihm der Zug fremder Menschen entgegen. Wider unsichtbare Hemmnisse stemmten sich die Körper.
Blicke richteten sich und Gesten auf ein Ziel. Es schaute niemand zurück. Wiewohl in der Unendlichkeit verharrend, drängten Räume ineinander. Mit unbegreiflicher Trauer erfaßte er den Gehalt dieser Szenen. Jedoch von irgendwoher strömte der Eindruck des Vertrautseins. Ihm fehlten die Sinne, vielleicht nur die Übung, es zu begreifen.
Er streifte durch die Straßen und Alleen. Manchmal, wenn die Schatten kleiner, flinker Lebewesen hinter Spalten huschten, schrak er zusammen.
Torbögen und Fensteröffnungen lockten. Aber er widerstand. Rhythmisch die Flächen teilend, entblößten sie wie Augenhöhlen endlose Tiefe. In klaffend zerrissenen Mäulern steckte ein Schrei. Im Grauen dieser Mimik empfand er unirdische Heiterkeit. Verlachte die Stadt seine Naivität, seine Scheuheit, seine kindische Suche nach Beweisen?
Erst am späten Nachmittag kehrte er zum Gleiter zurück. Eine Mahlzeit aus Konzentraten stärkte ihn. Genuß empfand er kaum. Da er sich nicht waschen konnte, verstärkte sich das Gefühl unangenehmer Erschöpfung. Er brauchte einen Moment lang Ruhe. Die Stadt fächerte Stille aus. Ins Cockpit wehte eine milde Brise. Er nahm ein Rascheln wahr. Es verstummte, er hörte seinen Atem. Dann erklang es in nächster Nähe.
Über das Pflaster des Platzes kollerte ein unregelmäßig verformter Gegenstand. Der Wind trieb ihn mit Leichtigkeit vor sich her. Ohne zu überlegen, sprang Redcroft auf und jagte hinterdrein. Der Luftzug frischte auf. Redcroft versuchte, sich hakenschlagend zu nähern. Der Wind fiel aus unterschiedlichen Richtungen ein. Das Ding mußte federleicht sein, fast schwerelos. Aufwirbelnd verschwand es in einem schmalen, hochgewölbten Toreingang.
Als er näher trat, bemerkte er offene, innen angelehnte Torflügel. Das Metall glänzte dunkel, die Oberfläche zierte eine ornamental anmutende Reliefarbeit. Die Jagd hatte ihn außer Atem geraten lassen. Er stützte sich mit einer Hand gegen das Tor und atmete tief. Sein Blick fiel auf geometrische Figuren. Merkwürdig, jeder Kreis, jedes Oval, jedes Dreieck fand sein Gegenstück. Paarweis wanden sich Pflanzenstämme ineinander, Tierklauen lauerten gegeneinander, Augenpaare blickten sich an unter schwarzgeschwungenen Brauen. Dort die Abbildung eines menschlichen Hirns. Unverkennbar umfaßte die Form des Ovals das Unruhvolle der Windungen. Die beiden Hälften waren durch den Hirnstamm verbunden. Getrennt durch eine Sinuskurve aus zierlichem Blütenwerk, befand sich das Duplikat in der unteren Hälfte des Türflügels. Er blickte hinüber und fand das Ganze noch einmal vor. Auch dort umrahmt von paarigen, krallenbewehrten Pfoten. Die Arbeit eines Meisters. Doch was für seltsame Motive? Er lächelte scheu.
Sein Blick fiel ins Dämmer eines breiten Ganges. In der Ferne sah er einen Lichtfleck. Ein leichter, böiger Luftzug lockte ihn. Er folgte dem Korridor und fand sich wieder in einem Saal, von dessen Decke milde Helligkeit herniederfiel. Jetzt erst besann er sich. Das mußte das Haus mit dem goldenen, mit dem einzig unversehrten Dach sein. War es nicht wahrscheinlich, daß er hier Unterschlupf fand, einen sicheren Raum, die Rettung vor den nächtlichen Bestien?
Ein Luftwirbel schleuderte ihm die flüchtige Beute vor die Füße. Er bückte sich und entwirrte das Knäuel. Ein albern grinsender Kosmonaut schlug seine Pferdezähne in ein NußVitamin-Konzentrat. Darunter stand ein Text von ähnlicher Qualität. Redcroft ahmte ein Abbeißen nach und versuchte, dabei zu grinsen. Es mißlang. Der Schreibweise nach zu urteilen konnte die Verpackung einige hundert Jahre alt sein; synthetisches Papier verrottete nicht so schnell. Es hätte des Beweises nicht bedurft. Und doch gab er ihm letzte Gewißheit. Nicht nur Forschungssonden, Menschen von der Erde waren hier gewesen. Noch hatte sein Unterbewußtsein die Hoffnung genährt, es könne sich alles auf eine Verkettung von Zufällen und Mißverständnissen zurückführen lassen. Nun aber wurde die Wahrheit unwiderlegbar. Man hatte ihn betrogen, ihn und die ganze Menschheit. Er fühlte sich verraten. Das Gefühl der Einsamkeit überkam ihn stärker denn je. Jedoch, mehr denn je sah er sich im Recht.
Ein Echo vervielfachte seine Schritte. Die Stadt schuf ihm Verbündete. Die Toten wollten, daß man um ihr Schicksal wußte. Im Lichte seines Helmscheinwerfers traten Skulpturen aus dem Dunkel, und Ornamentgeflechte schwebten mit ihm wie beschützende Begleiter. Treppen stiegen aus der Tiefe, und steinerne Gesichter luden zum Betreten ein. Er kratzte Orientierungszeichen in die Wände und zählte die Stockwerke in die Tiefe.
In der vierundzwanzigsten Etage fand er keine abwärts führende Treppe mehr. Er stieß auf gläserne Türen. Die Wände bestanden aus einem harten, stumpfen Material. Manchmal war es großflächig gefärbt. Nischen und Vorsprünge gaben den Räumen eine ausgewogene Struktur. Abbildungen und Reliefs fanden sich hier unten seltener. Augenscheinlich war man um Nüchternheit bemüht gewesen, oder es kam einfach zu selten jemand hierher. Welchem Zweck hatten die unterirdischen Gelasse gedient? Er fand keinerlei Mobiliar oder andere Gegenstände, die Auskunft gegeben hätten. Die Leere und die Tiefe beunruhigten ihn. Doch nirgends verspürte er einen Geruch von Modrigkeit oder die Dumpfheit abgestandener Luft. Selbst im letzten Winkel herrschte frische Kühle.
Nach etwa einhundertfünfzig Schritten bog vom Haupteingang ein schmaler Stollen ab, der nach sieben bis zehn Metern zu Ende war. Eine Wand verschloß ihn. Redcroft streckte beide Arme zur Seite aus und konnte die Wände berühren. Das gab ihm eine gewisse Sicherheit. Er tastete sich näher. Reflexe verdichteten sich am Fuß der Stirnwand zu Formen. Im Scheinwerferlicht glänzte ein Totenschädel. Er entdeckte ein komplettes Gerippe.
Abwesend hockte er sich nieder. Er legte die Arme um die Knie, um in sicherer Balance nachdenken zu können. War das ein Mensch gewesen?
Der Tod hatte den Unbekannten in schutzsuchend zusammengekauerter Haltung ereilt. Sicher nicht aus Gründen der Pietät hatten irdische Forscher seine Gebeine unangetastet gelassen. Sie hatten im hellen Licht ihrer Scheinwerfer den Toten katalogisiert und waren ihrer Wege gegangen. Er war der hundertste oder der fünftausendste. Die Räume rechts und links seines Grabes waren leer gewesen. Also war sein Tod ihnen bedeutungslos erschienen.
Wer warst du? dachte Redcroft. Welche unglücklichen Umstände ließen dich gerade hier verenden? Suchtest du die Einsamkeit? Welche Riten begleiteten euer Sterben, welche euer Leben? Seid ihr uns sehr fremd? Er versuchte sich vorzustellen, wie der Tote zu Lebzeiten ausgesehen haben mochte, doch die Zahnreihen wollten sich nicht mit Lippen bedecken, die leeren Augenhöhlen keine Blicke in sich bergen. Er löschte das Licht und wartete. Die erhoffte Vision blieb aus.
An der Stelle, wo der Fußboden die Wand erreichte, etwa in der Höhe der rechten Hand des Toten, leuchtete etwas, ein schwacher, grünlich phosphoreszierender Lichtschein. Im Strahl seiner Lampe sah er ein rechteckiges Plättchen, dessen eines Ende sich griffartig verdickte. Schwer und kostbar lag das Kristallding in seiner Hand. Es funkelte rein, ohne einen Fleck von Blindheit. Mattgrün brach es das einfallende Licht. Ton in Ton mit der Farbe des Bodens war es ihm nicht früher aufgefallen. Wie war es hierhergelangt? Nichts weiter hatte der Tote hinterlassen. Kleidung, Haare, Fleisch waren längst vermodert. Wozu diente ihm dieser Gegenstand? Ein Schmuck? Was wollte er in einem Gang, der nicht weiterführte?
Er trat näher an die Frontwand heran. Zusammen mit seinen Händen fuhr der Strahl des Scheinwerfers tastend darüber hin. Links, im mittleren Drittel etwa, spürte er unter seinem Zeigefinger einen schmalen Spalt. Zu sehen war er kaum. Er wußte augenblicklich, daß der Kristall da hineinpaßte. Ohne Widerstand glitt er in die Öffnung. Die Wand bewegte sich. Knirschend und stoßend rückte sie seitlich zurück und kam schließlich mit einem harten Laut zur Ruhe. Zu drei Vierteln war die Passage des Ganges frei.
Der erste Raum enthielt nichts. Doch im nächsten überraschte ihn wohnliche Gediegenheit. Die Maße des Mobiliars entsprachen durchaus irdischen Dimensionen. Beine, Lehnen, Flächen formten sich aus sachlich bemessenen und doch schwungvollen Linien. In glasverschlossenen Regalen lagerten undefinierbare Gegenstände. Den ganzen kuppelförmigen Raum erhellte schwach, doch ausreichend, ein gelbgetöntes Licht, das von überallher zu strömen schien.
Er wollte den Regalen an der Wand einen Gegenstand entnehmen. Erfolglos suchte er nach einem Öffnungsmechanismus. Den Strahler wollte er nicht verwenden. Ratlos ließ er die Hände sinken. Ein letzter Blick streifte das Unerreichbare. An der Wand neben dem Schrank fiel ihm ein feiner Riß auf. Er folgte ihm mit den Augen und entdeckte eine geometrische Figur. Er brauchte beide Hände und ließ den Strahler zurückgleiten ins Futteral. Die Finger ertasteten ein gestrecktes Halboval. Er klopfte gegen den Stein. Er klang nicht hohl. Mit aller Kraft stemmte er sich dagegen und wäre beinahe gestürzt. Federleicht schwang das Wandsegment zurück. Er glaubte zu träumen. Vor ihm lag ein Schatzgewölbe, ein Dorado vergessener Energie.
Der Raum mochte zehn Meter im Geviert messen. Die Wände waren angefüllt mit Armaturen. Ihre Fülle und Anordnung verwirrte ihn. Nirgends in der ganzen Stadt war ihm eine Anlage von technischem Charakter begegnet.
In der Mitte des Fußbodens befand sich eine flache, blutrote Schale von etwas über einem Meter Durchmesser. Genau darüber, in die Decke eingelassen, befand sich ihr Gegenstück, aus dessen Zentrum allerdings ein goldglänzender Docht ragte, der der unteren Schale fehlte. Einen gewissen Abstand einhaltend, umschritt er die Vorrichtung. An der gegenüberliegenden Wand hob sich eine ovale freie Fläche ab. Darunter fiel eine Reihe kleiner dunkler Würfel auf, die piktogrammartige Zeichen trugen.
Er überwand sein Zögern, indem er in der Erinnerung die Vorstellung seines steten Glückgehabthabens beschwor. Überdies erschien es ihm als. eine zu phantastische Variante, daß er vielleicht mit einem Knopfdruck die Maschinerie zu seiner eigenen Vernichtung in Gang setzen sollte.
Erst drückte er auf eins, dann wahllos auf mehrere der fingernagelgroßen Segmente. Sie veränderten ihre Stellung nicht. Es erfolgte überhaupt keine Reaktion. Er versuchte weiter, Schalteinrichtungen und Armaturen zu betätigen. Manchmal gelang es, und knackend rastete ein Hebel ein. Ein feines Summen lag mit einemmal in der Luft. Kindlich begeistert, glaubte er an den Erfolg. Er blickte um sich, während seine Finger übermütig über Knöpfe und Tasten spielten.
Die Stimme tönte von nirgendwoher. Die ersten Worte klangen verzerrt und abgehackt, als kämen sie aus einem fehlerhaften Speicherkristall. Dann wurden sie fließend. Er lauschte angestrengt, aber sie erzeugten sich anscheinend direkt in seinem Gehirn.
»Was willst du, Turgileeh?«
Verzweifelt bemühte sich Redcroft, seine Gedanken zu konzentrieren. Ein Turgileeh? »Ich bin ein Mensch.«
»Ein Mensch? Ich glaube, du lügst. Du bist krank, nicht wahr?«
»Ich bin ein Mensch vom Planeten Erde.«
»Vom Planeten Erde? Das müßte ich doch wissen. Das habe ich nicht erfahren. Du bist ein kranker Turgileeh. Ich messe deine Strahlung. Wieso kommst du anstelle deines guten Bruders?«
»Wer bist du?«
Lachte die Stimme? »Ich bin Narjotaah. Willst du mich nicht wahrhaben?« Wieder ertönte das Lachen. »Dein Bruder wird kommen und die Harmonie des Universums wiederherstellen. Fürchte ihn.«
Der Boden kehrte unter Redcrofts Füße zurück. Er stand fest und unverrückbar. Mit konzentrierter Bedachtsamkeit wagte er die Frage: »Wo sind die gesunden Turgileeh?«
»Sie sind in die Harmonie des Universums eingegangen.«
»Was heißt das?«
»Ich kann es dir nicht erklären.«
»Du weißt es nicht?«
»Ich darf es dir nicht sagen; du bist krank.«
»Weshalb bin ich krank?«
»Du bist nicht vollkommen.«
Eine merkwürdige Unterhaltung, dachte Redcroft. Ist das ein Kybernet?
»Ich bin Narjotaah«, klang die Stimme in seinem Kopf. »Ich müßte dich töten. Aber du weißt wohl, daß ich dazu nicht mehr die Kraft besitze.«
Redcrofts Hand, die eben noch spielerisch auf den Armaturen geruht hatte, zuckte zurück. Was war das für eine Maschine? Sie war telepathisch begabt! Wozu hatte sie den Turgileeh gedient? Zum Töten? Das technische Antlitz der Wände verbarg wie eine glatte Stirn die Antwort. Welcher Macht war er hier ausgeliefert? Der Gedanke an Flucht drängte sich auf. Aber in diesem Raum lag des Rätsels Lösung. Er mußte bleiben.
»Höre, Narjotaah, es gibt keine Turgileeh mehr, weder gesunde noch kranke. Ich bin ein Mensch von der Erde.«
»Verzeih mir, ich habe dich verwechselt. Du bist ihnen sehr ähnlich.«
Einen Moment lang verwirrte ihn der leise Spott der Stimme. Er zwang sich zur Sachlichkeit.
»Wozu haben sie dich gebaut?«
»Ich bin müde.«
»Antworte – wer soll das sein, mein guter Bruder?«
»Siehst du den kleinen Hebel zu deiner Rechten?«
Der Verzweiflung nahe schrie Redcroft: »Wie sind sie umgekommen?«
»Töte mich«, vernahm er statt einer Antwort. »Mein Zweck ist erfüllt. Ich nehme mein Geheimnis mit ins Schweigen. Ich bin die Vollkommenheit. Ich bin der Tod.«
Redcroft sah ein, daß er so nicht weiterkam. Vielleicht hatte er mehr Glück, wenn er nach Einzelheiten, nach konkreten Umständen fragte.
»Wann starb der letzte Turgileeh?«
»Vor achttausendzweihundertvierundfünfzig Erdenjahren.«
Die Zahl erstaunte ihn. »Bist du der einzige Narjotaah?«
»Ja.«
»Weshalb bist du nicht mit ihnen untergegangen?«
»Bevor der letzte starb, hätte er mich zerstören müssen«, antwortete Narjotaah. »Er hat zu lange gezögert.«
Redcroft dachte an den Toten vor der Tür. Unwillkürlich zog er sich von der Wand, die sein Arm hätte erreichen können, zurück. Nur Narjotaah konnte ihm Antwort auf seine Fragen geben. Fest stand für Redcroft, sie hatten sich selbst vernichtet, ohne einen Krieg zu führen. Sie hatten es auf eine stille, schleichende Art und Weise getan, und Narjotaah spielte eine Rolle dabei. Er brauchte Zeit. Mit Sorge dachte er an die auf dem Wege befindlichen Rettungskommandos.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, daß der Tag sich dem Ende zuneigte. Er erwog das Risiko des doppelten Weges zum Gleiter. Es hatte keinen Sinn mehr aufzubrechen. Er würde vor Einbruch der Dunkelheit nicht zurück sein. Der Raum machte einen sicheren Eindruck. Er hoffte, daß sich die Energosaurier nicht bis hierher verirrten. Doch auf die Hoffnung konnte er nicht bauen.

Die Türen ließen sich nicht wieder schließen, sei es, daß die Mechanik im Laufe der Jahrtausende unbrauchbar geworden war, sei es, daß Narjotaah die Energie nicht mehr aufbrachte. Die Sorge schärfte seinen Blick, und er entdeckte, was die Faszination des ersten Augenblicks ihn hatte übersehen lassen. Im Korridor, hinter der zweiten Tür, verschloß beinahe fugenlos eine Platte aus Stein den Zugang zu einer winzigen Kammer. Er trat ein, und er fand eben so viel Platz, daß er, wenn auch nicht übermäßig bequem, nächtigen konnte. Er schloß die Tür und öffnete sie wieder. Er mußte nur ihre Trägheit überwinden, mehr Kraft brauchte er nicht aufzubringen. Seine Hände packten zu. Weich löste sich die Tür aus der Füllung und schloß mit einem Laut die Öffnung ab. Seine Hand fuhr über den Stein. Er flößte Vertrauen ein. Nach einer halben Stunde atmete er noch immer frische, kühle, unverbrauchte Luft. Die Abendmahlzeit sättigte ihn nicht; jedoch er erhob sich nicht sonderlich hungrig. Mit Narjotaah wollte er sich unvorbereitet nicht noch einmal unterhalten. Er fühlte, es war Zeit, sich zur Ruhe zu begeben. Gern hätte er mehr getrunken. Immerhin hielt sich das Durstgefühl in erträglichen Grenzen.

Er schob die Tür zur Kammer auf, da erreichte ein schleifendes Geräusch sein Ohr. Vom Haupteingang her kommend, kroch etwas auf ihn zu. Des Ungeheuers Schrei gellte in der unterirdischen Enge schauerlich dumpf.

Seine Handflächen rissen auf an der rauhen Oberfläche. Er stemmte sich gegen die Platte. Sein Schrei war eine kümmerliche Antwort. Er keuchte. Vor Verzweiflung und Anstrengung weinte er. Die geschlossene Tür bot seinem Rücken Halt. Er kauerte sich hin. Wie der Laut eines fremden Wesens kam sein Atem in der Dunkelheit auf ihn zu. Seine Hand tastete nach der Lampe. Ihr Schein warf eine Fülle von Licht in die Zelle und teilte ihre Enge in Tag und in Nacht. Er preßte das Ohr gegen den Stein und vernahm nichts. Dann sickerte von draußen vielfüßiges Tapsen. Ein schabendes Geräusch entstand. Während sein Kopf herumfuhr, stoben Schatten auf. Die Wände drängten hautnah gegen ihn. Er kam sich eingemauert vor. Ein Kratzen erschütterte ein wenig die Tür. Der nächste Schrei klang schon entfernt. Dann herrschte Stille.

Er war gerettet. Aber die Enge war der Todesangst ein ebenbürtiger Ersatz. Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um, vermeinte er Claire zu hören. Er sah ihren schönen Mund die Worte sprechen.

»Ich komme zurück«, flüsterte er. »Dieser Planet trägt ein Geheimnis, und nur das Wissen darum kann uns vor dem Schicksal der Turgileeh bewahren.«

Disziplin, Kapitän Redcroft. Im Kosmos überlebt man nur mit Disziplin. Die Menschheit muß Disziplin bewahren. Wir streben eine kontinuierliche Entwicklung an.

Wenn ich sterbe, waren Redcrofts Gedanken, dann sprecht schuldig Leute wie den Generalingenieur und den Sekretär, Leute wie meine Freunde und wie Claire, sprecht schuldig Leute, die nicht wissen wollen, was man ihnen vorenthält. »Freut euch nicht zu früh, ich komme wieder.«

Nur einmal noch in der Nacht ließ ihn schrilles Gebrüll aus dem Schlummer fahren. Er kontrollierte, so gut er es vermochte, den Zustand der Luft und sank, nachdem sein Herzschlag sich beruhigt hatte, wieder in traumlosen Schlaf. Er schlief nicht sehr tief, aber um so länger, und er kam erst zu sich, als nach seiner Berechnung der Morgen bereits grauen mußte.

Steif, mit schmerzenden Gliedern erhob er sich. Jede Bewegung verlängerte die Unbequemlichkeit der Nacht. Die einzige Erquickung war die kühle Luft, die seine Lungen füllte. Er schob die Tür zurück, und mit der Anstrengung verflog die Mattigkeit. Die Kammer hatte die Feuertaufe bestanden; der Tag sah vielversprechend aus. Hatte das Flugzeug die Nacht überstanden, dann brauchte er sich um die Zukunft keine Sorgen zu machen.

Als er auf den Platz hinauseilte, schlug ihm milde Frühlingsluft entgegen. Von irgendwoher erklangen die Töne eines Fagotts. Auf der Kante einer Mauer saß ein knallroter Vogel. Sein schwarzer Krummschnabel öffnete und schloß sich. Es war ein lustiger Vogel. Doch seine Melodie war über alle Maßen ernst. Redcroft gab ihm den Namen Feuerroter Trauervogel. Er klatschte in die Hände. Sein Blick folgte der aufflatternden Kreatur, bis er sie nicht mehr erkennen konnte. In der Stille hörte er Schritte. Er fuhr herum. Aber wer sollte da sein? Er sucht Bestätigung in den Farben des Himmels, in der Unberührtheit der Stadt. Er war allein. Es verfolgten ihn die vergessenen Träume der Nacht: ein Schluck kühles Wasser, eine Mahlzeit, eine Stunde der Besinnung.

Er fand die Maschine am Landeplatz vor, wie er sie verlassen hatte.
Erst nach dem Frühstück fiel ihm auf, daß er seine Atemmaske nicht bei sich hatte. Sie konnte sich nur in der Kammer befinden, denn er hatte sie als Kopfkissen benutzt.

Eine reichliche Stunde lang dachte er sich Fragen aus, mit denen er Narjotaah zu überlisten beabsichtigte. Er suchte nach Formulierungen, die auch ein Schweigen als eindeutige Antwort gelten ließen. Noch während des Rückwegs galt seine ganze Konzentration dem Dialog mit der Maschine. Er berauschte sich an dem Gefühl, Wahrheit zu finden. Der Jäger verfolgte das Wild. Er hatte es gestellt und war erregt wie ein Jagdeleve vor dem ersten Schuß. Die Treppen hallten unter seinem Schritt, Echos täuschten ihm die Schritte eines Doppelgängers vor. Er lachte, und das Lachen scholl zurück. Welch ein Glück! War nicht all das, was er bisher dafür gehalten hatte, nur ein blasser Abklatsch, ein Luftzug, während ihn jetzt ein Sturm umtoste? An dem Toten schritt er still vorbei.

In einer Ecke der Kammer lag die Tasche mit der Maske. Er nahm sie und hängte sie um.
Narjotaah begrüßte er mit einem stummen guten Morgen, und er erhielt Antwort. Das schien ihm ein positives Zeichen. Er blickte sich frohgelaunt im Raum um.
In der roten Schale im Fußboden lag eine Atemmaske. Seine Hand tastete zur Seite. Die gleiche Form, der gleiche Stoff. Was war das für eine Täuschung? Er trat an den Rand. Vorsichtig raffte er die Tasche auf und wog sie in der Hand. Die Verschlüsse klickten. Die Seriennummern stimmten bis in die letzte Ziffer überein. Ungläubig versuchte er Unterschiede festzustellen, was in seiner Einbildung dem Vorgang etwas von seiner Unglaublichkeit nehmen sollte. Das Duplikat glänzte fehlerlos und neu, ohne Schramme, ohne Fleck. Wem gehörte die Maske?
»Narjotaah!«

»Ich höre.«

Plötzlich versetzte die tonlose Stimme ihn in Angst. Was wollte er sie fragen? Die Antwort lag in seiner Hand. Alle Antworten. Sie waren umgekommen an ihrem Wahn nach Vollkommenheit. War das nicht absurd? Widersprach das nicht allem, was man ihn je lehrte zu glauben?

»Geh«, flüsterte Narjotaah tief in seinem Inneren, »dein guter Bruder erwartet dich.«
Klang wieder Spott in der Stimme? Er brauchte Narjotaah nicht mehr zu fragen. Alles, was er wissen wollte, würde er nur zusammen mit seinem Doppelgänger erfahren, seinem Bruder.
Allein fühlte er sich hilflos.
»Narjotaah, ich bin zweifach vorhanden.«
»Nein.«
»Ich habe einen Zwilling!«

»Er ist dein guter Bruder.«
»Mein Zwilling!«
»Er ist besser als du.«
»Was heißt das?«

»Er kennt keinen Zweifel. Er entscheidet im Augenblick des Erkennens. Seine Maxime ist: Leben. Er denkt Tausende von Jahren voraus.«

»Sind sie deshalb ausgestorben?«
»Ja.«
»Ich glaube dir nicht.«
»Du bist naiv. Fürchte deinen Bruder um so mehr.« »Wo ist er?«
»Wo du ihn verlassen hast.«
Redcroft dachte an die Schritte auf dem Platz.
In der vorletzten der unterirdischen Etagen mußte er verschnaufen. Schweiß näßte seinen Rücken. Die Kehle schmerzte vor Trockenheit. Die ungebärdige Sehnsucht, sich selbst gegenüberzustehen, trieb ihn an. Was schwatzte diese Maschine? Zusammen waren sie unschlagbar. Sie würden Narjotaah zwingen, die Geschichte zu rekonstruieren. Sie würden zur Erde zurückkehren, und ihre Erfahrung würde die der Menschheit sein. Narjotaah mußte vernichtet werden.

Herrgott, sagte sich Redcroft, ich bade mich in heroischem Glanz, dabei ist nicht einmal sicher, wie wir die nächste Nacht überstehen. Vorerst reicht die Kammer nur für einen. Wie wird das später werden? Seine Vorstellung trug Claires Züge, die Formen ihres Körpers, ihren Geruch nach herber, brauner Nelkenseife. Wenn es ein Zurück gab, für wen? Irgendwie würden sie sich an ihre Doppelexistenz gewöhnen. Claire war für ihn verloren. Vielleicht hatte der andere mehr Glück. Wenn er sie jemandem gönnte, dann ihm. Würde er ihr begreiflich machen können, welch ein Abenteuer sie erlebt hatten?

Sich selbst gegenüberzutreten, wer hätte diesen Traum nicht schon einmal geträumt? Nicht mit Grauen erfüllte ihn das Wunderbare, das Einmalige seines Geschicks. Die Minuten vor der Begegnung erfüllte ihn eine Faszination, wie sie vielleicht nur der Künstler kennt, der, aus der Trance des Schaffens aufwachend, das fertige Werk betrachtet. Alle Fragen, alle Antworten verknüpfen sich mit ihm. Er wollte nicht mehr als sich selber sehen. Er würde nie mehr einsam sein. Er wird mir helfen, dachte Redcroft. Er ist klüger, kühner, stärker als ich. Er kennt nicht meine Ängste, die immer ein Glück bemühen mußten, für mich. Ein wenig beneidete er ihn um die Vollkommenheit seines Daseins.

Er verließ den Treppenschacht außer Atem. Würden sie sich wie alte Freunde gegenübertreten und sich unter herzlichen Umarmungen begrüßen oder förmlich? So lange er zurückdenken konnte, wünschte er sich jemanden, dem er seine Wünsche und Sehnsüchte anvertrauen konnte, jemanden, der nicht fragte, ob das Glück verboten sei oder erlaubt. Wahrheit, hatte der Sekretär geäußert. Es gibt keine Wahrheit an sich. Es gibt Gesichtspunkte, Aspekte, Modelle, hatte er als äußerstes Zugeständnis mit erhobenem Finger noch hinzugefügt.

In erregten Atemstößen lachte Redcroft. Sie beide würden eine Wahrheit mitbringen. Der lebende Beweis war sein Zwilling. Als Dank würde er ihm helfen, sein Dasein zu ertragen. Sie würden einander brauchen. Das war keine Frage. Einer ohne den andern war zum Untergang verurteilt. Mit kurios verspielt wirkenden Schritten eilte er dem Ausgang zu. Den Blitz registrierte er noch. Mehr als Empfindung denn als klarer Gedanke erlosch in ihm die Ahnung, sein Ende sei der Abschluß einer unendlich langen Geschichte.

Redcroft stieß den Strahler ins Futteral zurück. Was für ein Narr. Der Bessere von beiden hatte ein Recht zu überleben, und nur für einen von ihnen hatte die Welt Platz.

Leichter Wind trieb den Dunst auseinander. An der Mauer zeichnete sich eine rauchschwarze Silhouette ab. Der Energiestrahl hatte, die Kante streifend, das Metall des Türflügels getroffen. Von dort zogen Schwaden ins Innere des Gebäudes. Die Arbeit des unbekannten Meisters war bis zur Unkenntlichkeit zerschmolzen. Einen Moment lang wartete er, dann war die ärgste Hitze verflogen. Nur eine kleine Stelle strahlte noch tiefrot von innerer Glut. Die Form der Fußabdrücke erlosch, und im Straßenbelag blieb ein schwarzer, glasiger Fleck.

Redcroft betrat Narjotaahs Tempel. Es durfte neben ihm keinen zweiten geben. Redcroft hatte der Zufall hierhergeführt und sein unermeßlicher Eigensinn, sein Zweifel und seine Angst, ein sinnloses Leben gelebt zu haben.

Während er die Treppe abwärts stieg, drängten sich Sorgen vor die Erwartung. Er mußte mit Redcrofts Vergangenheit fertig werden. Er mußte ein neues Leben beginnen. Würde man ihm glauben, daß er nicht verantwortlich war für das, was Redcroft angerichtet hatte? Redcroft hatte gefehlt, Redcroft traf Schuld. Er war tatsächlich krank gewesen. Nun erfüllte ihn ein nie gekanntes Selbstbewußtsein. Er begriff seine neuen Fähigkeiten, und es drängte ihn, sie auszuprobieren. Es erwartete ihn die Erde, eine Frau wie Claire und die Kragenspiegel des Flottillenchefs. Armer Narr, dachte er. Das alles hast du weggeworfen, um eine unbekannte Geschichte zu deiner Wahrheit umzumünzen, zu einer Wahrheit, die keiner braucht. Ich werde schweigen und überleben. Ich werde dich noch oft überleben.