Vladimir Colin

Im Kreis, immer näher

Ja, die ausgestorbenen Häuser standen noch. Wo die Balken durch die wenigen weit offenen Risse in den Wänden ihre splittrigen Enden zur Schau stellen konnten, schwebte reglos ein Bett wie ein Schmetterling in einer riesenhaften Insektensammlung, erhob sich ein Teppich, starr wie ein blechernes Zelt. Die Statue, die sich vom zerborstenen Giebel gelöst hatte, war auf die Füße gefallen, und halb in der Asche versunken, streckte die pechschwarze Frau die Arme noch immer vergeblich flehend nach den verbogenen, aus der aschfarbenen Eintönigkeit herausragenden Schildern und metallischen Gerippen aus. Bis auf die zu Staub zerfallenen Fenster, in denen sich einst grell die Sonne gespiegelt hatte und in denen Gesichter vorübergezogen waren, sahen die Fassaden meistenteils unberührt aus, obwohl gleichermaßen mit einer schwarzen, billigen und so uralten Farbe in Trauer gehüllt, daß diese allenthalben abplatzte. Doch die schwarzen Risse tief in ihnen gaben keinen Grund zur Hoffnung.

Bäume aus Schlacke, ohne Blätter, wie übergroße, zur Sonne hingestreckte Füße eines Truthahns stützten einen unglaubhaft scheinenden, höhnisch blauen Himmel in der jetzt nutzlosen Stille, aus der Blumen und Kakteen verschwunden waren. Die Blumen und Kakteen waren schon längst zu Asche geworden wie die Gedanken, unfruchtbare Schichten, ein Leichentuch über dem Leichnam ohne Leichen.

Ein kleines Lüftchen wirbelte den Staub der oberen Schicht auf. Der Wirbelwind begann mit einer höllischen Geschwindigkeit zu toben, nachdem er sich plötzlich in eine rotierende Säule verwandelt hatte, die emporstieg bis zu dem, der dort atmete, wo es keinen Atem mehr gibt. Doch da der vertikale Kreisel bald durch ein inexistentes Hindernis angehalten wurde, geriet er in Panik, tanzte auf der Stelle herum, schwankte einen Augenblick lang, stürzte verwirrt nach rechts, nach links zurück und war erregt, als würde er angesichts eines letzten verzweifelten Angriffs von einem Bein auf das andere treten. Ebenso unverhofft, wie er losgebrochen war, besann er sich jetzt und jagte genauso absurd zurück, tänzelte ungeschickt um das Hindernis herum, als wollte er diesem eine Nachricht überbringen, die nur durch vollkommen unzusammenhängende Bewegungen zum Ausdruck gebracht werden konnte.

Wie die Gedanken eines Kindes, sagte er sich dann, und sein entmutigter Blick glitt die gemordete Straße entlang. Der Wirbelwind bohrte sich in die Ascheschicht hinein. Wieder erstarrte alles unter dem blauen Himmel, und er zog weiter zwischen den so vertrauten Reihen der ausgeglühten Wände, in denen sich schwarze Fensterrahmen und Türen aufgedunsen wie die Leiber von Ertrunkenen wanden. Das Holz schien innen wie von übler Hefe zerfressen zu sein, doch kam die dunkle Hefe von außen. Das Holz konnte nichts dafür, man hätte alles daraus machen können.

Hier hatte sich der Marktplatz befunden. Das Chaos mittendrin, ein Reiter, an dessen erstarrtem Galopp sich die Jahrhunderte abgeschliffen hatten. Eine Routineangelegenheit, sagte er sich, er hatte sie während der Praktikumswochen unzählige Male erledigt, und die einzige Neuheit bestand in der Tatsache, daß er sein Studium abgeschlossen und den ersten Auftrag bekommen hatte. Warum fühlte er sich in Unruhe versetzt? Wie auf der Suche nach einer Antwort betrachtete er der Reihe nach die monumentalen Gebäude, die den Platz einschlossen.

Die steinernen Männer und Frauen, die den Marktplatz von der Höhe der Giebel aus in einer hehren Abfolge von Allegorien beherrschten, hielten starrsinnig an ihren Illusionen fest, an den Illusionen derjenigen, die Allegorien in einer Zeit erdichtet hatten, die noch an Allegorien festhielt. Die Zeit und ihre Illusionen waren verschwunden, doch der Stein hatte überdauert. Schließlich irrte er sich vielleicht nicht einmal.

Er stieg die breite Treppe hinauf und machte einen Bogen um den geknickten menschlichen Schatten, der wie ein Läufer auf den Stufen ausgebreitet lag. Die offenen Türen hingen windschief in den Angeln, Staub und Asche waren in die massiven Wände eingedrungen und umgaben die Füße der Marmorsäulen. Mit gleichmäßigen, von einem merkwürdigen Staunen gebotenen Bewegungen, deren Zweck er nicht verstand, nahm er seinen Tornister ab, legte ihn auf die tote Schicht und schickte sich an, wie gewöhnlich die Nacht vorher, die letzte Nacht zurückzuholen. Er vernahm seinen Atem. Er stellte die Kontakte her. Das bekannte Signal destillierte die Warntöne. Dann stieß er mit der Nadel zu und fand sich in einer Finsternis wieder, die er sofort als andersartig wahrnahm. Jedoch nicht durch das fehlende Licht. Obwohl er sie erwartete, fuhr er zusammen, als er die Töne des Lebens vernahm, er stürzte unwillkürlich direkt auf ein Fenster zu und ging unvorsichtigerweise an dem eingenickten Pförtner vorbei, der ebenfalls in seiner Loge aufgetaucht war.

Der Marktplatz war von glühenden Kugeln erleuchtet, und der im Galopp erstarrte Reiter sah wie vergoldet aus. Grelle Lichter flammten plötzlich auf und erloschen an den Fassaden der Gebäude. Bunte Fahrzeuge fuhren hin und her und brummten kurz. Was ihn jedoch wirklich verwirrte, war die Menschenmenge, die sich über den Platz bewegte. Sie gingen, redeten, lachten und gestikulierten unter seinen Augen, ohne eine Ahnung dessen zu zeigen, was sie tags darauf erwartete; sie erlaubten ihm, bei ihnen eine längst vergangene Zeit zu verbringen, eine Zeit, die für ihn nicht existierte. Es war eine gestohlene, eine von den Toten auferstandene Zeit, die fremde Zeit einer fremden Welt, und alles sah aus wie eines der Schauspiele, die er so oft an der Universität gesehen hatte. Alles war unwiederbringlich gewesen und konnte nicht mehr sein.

Das letzte Mal hatte er auf dem vom Wasser überfluteten und heimgesuchten kleinen Planeten Arhaura, während die künstlich wieder zum Leben erweckten Leute in einem verzweifelten Kampf gegen das Wasser standen, an der Seite der Kollegen des Interventionsinstituts die vergeblichen Bemühungen verdammter Menschen verfolgt, die sich bis zum letzten Augenblick an die Hoffnung klammerten, daß die in fieberhafter Eile errichteten Deiche halten würden. Damals hatte er miterlebt, wie sich die verdammte Menschheit abgequält hatte, und obwohl es ihnen unvorstellbar schwergefallen war, denjenigen, die unter ihren Blicken in die tosenden schwarzen Wasser stürzten, nicht zu Hilfe zu eilen, obwohl sich der Professor genötigt sah, sie an das Gesetz zu erinnern, das einen derart massiven Eingriff in die Vergangenheit verbot, da er Quelle zeitlicher Komplikationen mit unabsehbaren Folgen wäre, fügte sich alles in die bekannte tragische Ordnung. Jetzt jedoch kam ihm das Leben der friedlichen Sommernacht unheilvoll vor.

»Stel«, flüsterte ihm jemand ins Ohr. »Stel!«
»Ja.«
»Ist etwas passiert?«
»Nichts«, sagte Stel, sah jedoch auf die Uhr und bemerkte,

daß er sich verspätet hatte. »Ich fange sofort an.«

In den anderen Städten waren die Abgesandten wahrscheinlich pünktlicher. Er ließ seinen Blick über das ungestörte Treiben auf dem Marktplatz schweifen, dann zog er sich mit etwas beklommenem Herzen zurück und stieg die Treppe hinauf. Er hatte während der toten Zeit der Stadt alles vorbereitet, um die Einrichtung in der lebenden Zeit wiederzufinden, aber daran dachte er nicht. Das Bild des erleuchteten Marktplatzes tanzte vor seinen Augen, und von der Freude, mit der er vor einigen Tagen die Nachricht erhalten hatte, daß er an einer Rettungsaktion teilnehmen sollte, war nichts mehr übriggeblieben. In Wirklichkeit war die naive Freude bereits verschwunden, als er die eigentümlich bekannten Fassaden der verätzten Häuser passiert hatte.

Als er oben angekommen war, nahm er im schwachen Licht, das durch die Fenster vom Marktplatz heraufschien, die Wände wahr, an denen aufgereiht die Bilder hingen. Dunkel wuchsen die Formen der Statuen aus dem Fußboden heraus. Er sah genug, um sich zu orientieren, so daß er sich ohne zu zögern dem Fenster in der Ecke zuwandte. Hinter dem Vorhang fand er seinen Teil des Übertragungsgeräts. Die Empfangskoordinaten standen fest, und er mußte sich nur noch mit dem gleißenden Trichter direkt vor jedes Stück stellen. Geistesabwesend löste er den Knopf aus. Das riesige, in einen Goldrahmen eingefaßte Bild verschwand. Er drückte auf den weißen Knopf, machte zwei Schritte und löste wieder aus. Die unklare Bronzefigur verflüchtigte sich. Da er an Rettungsaktionen gewöhnt war, versuchte er nicht einmal, sich den blitzartigen Weg der aufgelösten Gegenstände und ihre Materialisierung im identischen Saal, der rechtzeitig im Park der toten Kulturen im Herzen des Telemadon wiederaufgebaut worden war, vorzustellen. Während er vor die Kunstwerke trat, beeilte er sich, höchstens an irgendein Fenster zu gelangen, von dem aus er einen Blick von der Menge auf dem erleuchteten Marktplatz erhaschen konnte, deren ersticktes Echo bis zu ihm hinaufdrang. Er hätte es gern zeitlich verlängert, da er sich vor dem Augenblick fürchtete, an dem es zerstreut werden sollte, und vor dem Schweigen, das das andere, endgültige Schweigen vorwegnahm.

Jedoch schien niemand in der Sommernacht Eile zu haben, ständig zeigten sich andere Paare auf dem Platz, Fahrzeuge fuhren um den Platz herum, tauchten auf und verschwanden nach unbekannten Gesetzen.

So stieß er in der Dunkelheit vor und leerte Saal um Saal. Hinter ihm sahen die kahlen Wände wie von unzähligen blinden Fenstern durchbohrt aus, und der Raum wurde größer. Er war in einen kreisförmigen Saal vorgedrungen und richtete den Trichter auf den einzigen Mann aus Marmor, der sich in der Mitte wie ein armseliger Vertreter der Ewigkeit erhob, als eine Tür aufging und er plötzlich durch das von der Decke fallende Licht geblendet wurde.

Ein erschrockenes Mädchen. Sie sagte etwas und streckte ihre Arme nach ihm aus. Er bemerkte, daß ihre Finger zitterten. In Gedanken dankte er denjenigen, die entschieden hatten, daß die Mitglieder der Interventionsmannschaften Kleidung aus der Zeit trugen, in der sie einen Auftrag zu erfüllen hatten.

Er zog aus der Brusttasche die winzige Kapsel des Übersetzungsgeräts.
»… hier um diese Zeit?« vernahm er gerade noch den Schluß der beunruhigten Frage des Mädchens.
»Guten Abend«, sagte er ruhig und verbeugte sich. Dies hatte er bei den Männern ihrer Welt in den alten Filmen gesehen, die im Hörsaal von Telemadon vorgeführt wurden. »Was für eine schöne Nacht!«

»Das Museum ist aber schon seit drei Stunden geschlossen… Wenn du die Nacht bewundern willst, so kannst du das auf dem Platz besser.«

»Du hast mich nicht verstanden«, sagte er. »Die Nacht ist schön, weil ich mich hier unter Kunstwerken befinde… und vor einem lebenden Kunstwerk.«

»Hör zu«, meinte sie (und die Angst in ihrem Blick wich einem lustigen Zwinkern, ihre Stimme war nicht mehr so streng, wie sie es gewünscht hätte), »es ist nicht die Zeit zum… Ich glaubte, du seist ein Räuber.«

»Ich hoffe, daß du es nicht mehr glaubst«, meinte er lächelnd und war glücklich, daß er das Zimmer, in das er eben eingetreten war, noch nicht auszuräumen begonnen hatte.

»Trotzdem ist es seltsam…«
»… daß ich Kunstwerke bewundere? Ich werde dir ein Geheimnis verraten. Ich glaube doch, daß mir die lebenden Kunstwerke besser gefallen.«
Schließlich erwiderte sie sein gequältes Lächeln mit einem Lachen. Wie bekannt kam ihm das alles vor!
»Na gut, nächtlicher Verehrer, du wirst mit mir rausgehen, und zwar sofort.«
»Ja? Sag mal, sind die Mädchen, die nachts unverhofft in Museen auftauchen, immer so streng?«
»Du bist ja witzig«, sagte sie lachend. »Du bildest dir wohl tatsächlich ein, daß ich erklären muß, weshalb ich hier bin?«
»Warum denn nicht? Vielleicht bin ich zur Kontrolle hier… Zum Beispiel, um zu sehen, wie die Alarmsysteme funktionieren.«
»Na, funktionieren sie etwa nicht?« fragte sie wieder beunruhigt.
»Nein. Was sagst du nun dazu?«
»Ich glaube es nicht«, flüsterte das Mädchen.
Sie sah mit einemmal zart aus, und die Blässe strafte ihre Worte Lügen, jedoch wurden ihre Augen größer, und Stel verdrängte den Gedanken, daß am nächsten Tag, in einigen Stunden…
»Ich werde dir etwas demonstrieren«, sagte er.
Er richtete das Ende des Übertragungsgerätes auf die Statue in der Mitte des Zimmers und löste den Knopf aus. Das Mädchen stieß einen Schrei aus, als der Mann aus Marmor verschwand, der eben noch so stolz dagestanden hatte.
»Was… was ist das?«
»Genau das, was ich dir sagte«, meinte Stel und zwang sich, den bisherigen Ton beizubehalten. »Hast du etwa das Alarmsignal gehört?«
»Und die Statue!« rief sie. »Wo ist sie?«
Und er hatte sich für wer weiß wie geschickt gehalten, als er das Alarmsystem erwähnte, das er bei der Installation des Übertragungsgerätes demontiert hatte.
»Beruhige dich«, sprach er so überzeugend wie möglich. »Kann es sein, daß du noch nichts von der neuen Methode gehört hast, mit der die Alarmsysteme überprüft werden?«
»Nein, ich habe noch nichts davon gehört, und es interessiert mich auch nicht. Aber die Statue! Wo ist denn die Statue?«
»Ein erschrockenes kleines Mädchen«, sagte er, um Zeit zu gewinnen, da er nicht mehr wußte, was er sagen sollte. »Und wie kindlich…«
Er dachte fieberhaft nach, um etwas auszutüfteln. Eigentlich hätte er sich wirklich nicht länger aufhalten dürfen: die Sammlung des Museums war in Sicherheit gebracht, der Auftrag erfüllt. Es hieß also nur noch einmal den Zeitfluß zu beschleunigen, um das Übertragungsgerät wiederzubekommen, doch die einfache Bewegung, mit der er die Nadel in das Zeitzifferblatt drücken würde, bedeutete die Tötung derjenigen, die sich an seinen Ärmel geklammert hatte und nun schnell und mit abgehackter Stimme sagte: »Ich lasse dich nicht mehr weg! Wer bist du? Wo ist der Olympier?«
»Ah, der Olympier war es«, sagte er und hatte keine Ahnung, von wem sie sprach, war aber froh, daß sie ihm wieder eine Möglichkeit gegeben hatte, Worte aneinanderzureihen, denn er wußte, daß er sie nur durch dauerndes Reden beruhigen konnte, wie er es mit Tieren oder Kindern tat. »Hast du Angst um ihn? Du Dummchen… Der Olympier ist jetzt in Sicherheit, dort, wo ihn kein Räuber mehr finden kann. Er ist immer noch so stolz wie vorher und fragt sich, weshalb wir uns nicht mit dem Alarmsystem befassen… das nicht funktioniert. Und das ist nicht gut. Bei einem Alarmsystem müssen alle Glocken schrillen, nicht wahr? Komm, wir sehen nach, was los ist, und bringen es wieder in Ordnung. Die Klingeln werden wieder schrillen, wir hören ein Weilchen zu, dann gehen wir nach Hause. Es ist schon spät geworden, und wir wollen ja auch mal schlafen gehen und träumen…«
Die Stimme versagte ihm. Alles wird zu Asche werden, die Träume und das Mädchen an seiner Seite, das ihn jetzt mit aufgerissenen Augen anblickte und flüsternd fragte: »Wer bist du?«
Er holte tief Luft und zwang sich zu lächeln, ein schwaches, nur angedeutetes Lächeln, das im Gegensatz zu sämtlichen Gesetzen des Universums stand.
»Ich glaube, ich habe es dir doch ein paarmal gesagt…«
»Nein«, meinte sie beharrlich, »sei still… ich wollte fragen: Wer bist du in Wirklichkeit? Was bedeutet das alles? Du siehst, ich habe mich beruhigt. Bitte verzeih wegen der Szene eben.«
»Ich muß dich um Verzeihung bitten. Ich habe dir einen Schreck eingejagt.«
»Ja.«
»Es tut mir leid. Aber jetzt hast du keine Angst mehr.«
»Doch.«
»Nein. Der beste Beweis ist doch wohl, daß wir wie zwei Freunde miteinander reden… Obwohl ich nicht einmal weiß, wie du heißt.«
»Maria.«
»Maria, Maria, Maria«, sagte er. »Maria!«
Diese Freude und Trübsal, Wiederfinden und Verlieren… Warum?
»Ich glaubte die ganze Zeit, du wärest ein gewöhnlicher Räuber.«
»Jetzt glaubst du es aber nicht mehr.«
»Nein. Du bist etwas Schlimmeres, stimmt’s?«
»Vielleicht… Ich hoffe aber trotzdem, daß du mich nicht als Banditen betrachtest.«
»Nein. Wer bist du?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Du bist sehr schön.«
Maria strich mit der Hand über ihr Gesicht. Sie war nicht darauf gefaßt. Alles war zu schnell gegangen, und sie war gezwungen, alle ihre Kräfte anzuspannen, um etwas Übermenschliches durchzustehen.
»Nur weil ich mich in der Bibliothek verspätet habe«, flüsterte sie. »Ich schreibe eine Arbeit über die Träume und Alpträume des achtzehnten Jahrhunderts… Die Tür, durch die ich hereingekommen bin, ist die Bibliothekstür. Ich hatte Geräusche gehört.«
»Träume und Alpträume… Verzeih mir. Ich mußte allein sein.«
»Allein wozu?«
»Ich bringe dich nach Hause.«
Sie flüsterten und sahen einander in die Augen.
»Ja.«
»Unter einer Bedingung.«
Sie war am Ende ihrer Kräfte, brachte aber trotzdem unter Tränen die Frage heraus: »Wer stellt hier Bedingungen?«
»Ich. Wundere dich nicht. Du darfst keine Fragen stellen.«
Maria seufzte. »Nicht einmal, wie du heißt?«
»Stel.«
»Stel«, wiederholte sie traurig. »Mach das Licht aus… Stel.«
Beide gingen an dem hellen Fleck auf dem Fußboden vorbei, an der Stelle, wo sich der Olympier noch vor ein paar Minuten erhoben hatte. Dann traten sie in den ersten verödeten Saal ein. Marias Lippen zitterten. Stel faßte sie um und spürte in seiner Hand ihre runde Schulter. Das Mädchen ertrug es, daß sich ihr Hals zuschnürte. Nun drehte sie sich nicht mehr um, um die kahlen Stellen an den geplünderten Wänden zu sehen. Gesenkten Hauptes und mit geschlossenen Augen schritt sie wie automatisch dahin und brachte kein Wort hervor, während sie von einem Saal in den anderen gingen, auch nicht, als sie die Treppe hinunterstiegen. Der Nachtpförtner döste in seiner Loge an der Tür, so wie Stel ihn zuvor gesehen hatte.
»Gute Nacht«, flüsterte das Mädchen und spürte den Druck der Finger, die ihre Schulter umfaßten. Der Pförtner fuhr hoch.
»So spät noch?« fragte er und rieb sich die Augen.
Er war ein rotbäckiger Alter mit einer Glatze wie eine Spielwiese inmitten von silbergrauem Haar.
»Ich habe mich verspätet«, sagte Maria mit zugeschnürter Kehle. »Ich habe mit… mit dem Spezialisten aus dem Institut gearbeitet.«
»Habt ihr jungen Leute nichts Besseres zu tun?«
Achselzuckend griff der Alte nach dem Schlüsselbund und schloß ihnen auf.
»Gute Nacht«, sagte Stel.
»Bis morgen«, sagte Maria, und ihre Worte trafen ihn schmerzlich.
Als sich die Tür hinter ihnen schloß, konnte er sich nicht mehr beherrschen und sagte mit finsterer Miene, indem er seinen Arm von den Schultern des Mädchens zurückzog: »Du hast bis morgen gesagt. Weißt du denn wirklich nichts? Ahnt niemand etwas?«
»Langsam werde ich verrückt«, stöhnte Maria und hielt die Fäuste vor den Mund. Ein abgehackter Laut entrang sich ihrer Kehle wie ein kleines, unbeholfenes Lebewesen, das gerade hervorschießen wollte. »Weshalb quälst du mich?«
»Ich werde dich niemals quälen…«
Doch die Art, wie er die Worte flüsternd hervorgebracht hatte, erschütterten sie mehr als deren Inhalt. Sein Gesicht erschien versteinert.
»Du hast von mir verlangt, daß ich keine Fragen stelle…«
Der Marktplatz war nun leer, und die Einsamkeit des Reiterstandbildes in der Mitte ließ ihn noch leerer erscheinen. Die Kakteen ragten unförmig auf.
»Nichts«, sagte er und hatte seinen Blick auf den erstarrten Galopp gerichtet. Dabei erinnerte er sich, wie dieser am nächsten Tag aussehen würde. »Komm… Nein, nicht da lang!« rief er plötzlich, als er sah, daß sie die Treppe hinuntergehen wollte.
Dort links sollte sich für immer der gebrochene Schatten eines Menschen abzeichnen. Des alten Pförtners? Er biß sich auf die Lippen.
»Ich hätte mir nicht träumen lassen, daß ich so unvermittelt von den Alpträumen des achtzehnten Jahrhunderts zu dem Alptraum komme, den ich jetzt erlebe«, sagte sie. »Weil es nur ein Alptraum ist… Nichts Wirkliches. Dich gibt es nicht, das Museum ist nicht leer, ich bin zu Hause und wache gleich auf…«
»Wach auf.« rief Stel wieder, zog Marias Antlitz an sein Gesicht und drückte seine Lippen auf ihre Lippen.
Sie wurde ganz weich in seinen Armen. Er spürte ihren Atem in seinem Gesicht, als sie flüsterte: »Weck mich nicht. Der Alptraum wird zum Traum…«
Umschlungen näherten sie sich dem glänzenden Reiterstandbild mit dem trügerischen Goldschimmer, der durch die Beleuchtung entstand, und ohne sich dessen bewußt zu werden, gingen sie um den Reiter herum. Marias Kopf war an Stets Brust geschmiegt. Das Mädchen atmete gleichmäßig wie im Schlaf. Sie wollte keine Fragen mehr stellen und brauchte keine Antworten, doch er wußte, daß es die Minuten einer toten Zeit waren, in der sich nichts mehr entfalten konnte. Von großer Trauer und Wehmut übermannt, verfiel er in Schweigen.
Als Dim neben ihnen auftauchte, fuhr Stel zusammen, war aber nicht verblüfft.
»Stel, es tut mir leid.«
Das kurze Rohr glänzte in der Hand des Neuankömmlings. »Wer ist das?« fragte Maria beunruhigt. »Was sagt er?« Stel drückte sie noch stärker an seine Brust.
»Hast du mir nicht versprochen, daß du mir keine Fragen mehr stellst? Sprich, Dim.«
»Das ist schon das zweite Mal, Stel, verstehst du? Du hast schon mal versucht, sie zu retten… nun, das erste Mal ist es dir sogar gelungen. Du bist mit ihr auf den Acn 6 geflohen, und ihr seid vor etwa tausend Jahren gelandet… Der Zeitsprung war zu groß, und trotz des Trainings hast du vergessen. Wie konntest du dir einbilden, daß es dir gelingen würde?«
»Nichts habe ich mir eingebildet. Ich habe gehandelt, Dim… Daher kommt mir alles so bekannt vor!«
»Hast du dich also doch daran erinnert?« ereiferte sich der andere. »Alle meinten, daß es ein Ding der Unmöglichkeit ist… Es war doch klar, daß du zusammen mit ihr wieder hierher zurückgebracht würdest. Stel, sie ist verdammt. Niemand kann etwas daran ändern.«
»Der Kreis hat sich geschlossen, nicht wahr?«
»Es bleibt uns nichts anderes übrig, das weißt du genau. Entweder verläßt du sie auf der Stelle, und wir verschwinden zusammen, oder…« Der glitzernde Lauf ragte auf, und Stel erblickte die finstere Öffnung.
»Warum muß sie sterben, Dim? Was würde passieren, wenn sie bei mir bliebe?«
»Sie würde es mitbekommen. Schließlich würde sie Alarm auslösen. Die Änderung der Geschichte würde die erlaubte Grenze überschreiten… Du kennst doch das Gesetz…«
»Ja«, sagte Stel, ließ den Fuß vorschnellen und schlug gegen die Hand, die die Waffe hielt.
Die gleißende Flamme traf den bronzenen Hengst, der sich in ein Chaos von unbeschreiblichen Formen verwandelte. Maria schrie auf, doch die beiden hatten sich ineinander verkeilt, und der glitzernde, bald auf den Himmel, bald aufs Pflaster gerichtete Lauf zitterte unter dem zweifachen Druck der Arme Dims und Stels. Sie begriff nicht, was von dem Augenblick an passiert war, als sie die Tür zur Bibliothek geöffnet hatte, und nun wohnte sie hilflos dem Kampf der beiden Unbekannten bei, die in einer fremden Sprache miteinander geredet hatten und sich nun zu ihren Füßen wälzten. Doch einer der Unbekannten hatte sie geküßt, und sie hatte ihren Kopf an seine Schulter geschmiegt in einer gesteigerten Stille, die sie einander noch näherbrachte, als es durch Worte möglich gewesen wäre. Entsetzt stürzte sie zur Museumstreppe mit dem unklaren Gedanken, den einzigen Menschen in der Nähe, den alten Pförtner, zu Hilfe zu rufen. Sie war schon auf den ersten Stufen, als die lodernde Flamme aus dem gleißenden Lauf sie voll traf, und das Mädchen war nur noch der für immer in den harmlosen Stein geprägte gebrochene Schatten.
Auf dem Platz lösten sich die beiden voneinander und standen keuchend auf.
»Es gab keine andere Lösung«, sagte Dim schuldbewußt.
Stel betrachtete den Fleck, der Marias Umrisse bewahrt hatte, den Schatten, über den hinwegzugehen er sie mit Not und Mühe abgehalten hatte.
»Nein, es gab keine andere Lösung«, wiederholte er mit matter Stimme, die weit entfernt schien, dann schmetterte er seine Faust so unvermittelt auf das Kinn des anderen, daß Dim den Schlag nicht mehr abzuwehren vermochte und auf das Pflaster stürzte.
Stel dachte einen Augenblick lang angestrengt nach. Kein Laut war zu vernehmen. Dann bückte er sich, nahm die Waffe aus der schlaffen Hand des anderen und eilte die Stufen hinauf, wobei er um Marias Schatten einen Bogen machte. Unmittelbar vor der Tür hielt er den silbernen Lauf an das Schloß, machte die Augen zu und drückte ab. Die Tür klaffte schwarz und wuchtig auf. Er stieß sie beiseite, stürzte sich in das Gebäude, vorbei an der Loge des erstarrten Pförtners, und am Fuß einer der Säulen fand er seinen Tornister wieder, genau dort, wo er ihn liegengelassen hatte. Statt dem Zeiger auf dem Zifferblatt freien Lauf zu lassen, drehte er ihn zurück und fand sich oben im runden Zimmer wieder.
»Maria, Maria, Maria«, sagte er. »Maria!«
Und wieder umfing ihn Freude und Trauer, das Gefühl, daß er etwas wiederfindet und verliert, doch fragte er sich nicht mehr, was.
»Ich glaubte die ganze Zeit, du wärest ein gewöhnlicher Räuber.«
»Jetzt glaubst du es aber nicht mehr.«
»Nein. Du bist etwas Schlimmeres, stimmt’s?«
Worte. Sie waren ausgesprochen worden und konnten nicht mehr zurückgenommen werden, obwohl alles schrecklich geworden war, und seine Gedanken schlugen wie Kugeln aneinander, manchmal geordnet, dann wieder verwirrt und aufs neue gegeneinandergeworfen. Da Maria nicht einmal an die kürzesten Zeitsprünge gewöhnt war, erinnerte sie sich an nichts und sprach die Worte aus, ohne sich darüber im klaren zu sein, daß sie eine Rolle wiederholte, daß alles gewesen war. Stel wußte jedoch, daß ihre Stunden gezählt waren. Er setzte den Tornister ab und stellte den Zeiger fast unbemerkt vor. Der Marktplatz war nun leer, und die Einsamkeit des Reiterstandbildes in der Mitte ließ ihn noch leerer erscheinen. Die Kakteen ragten unförmig auf.
»Nichts«, sagte er und hatte seinen Blick auf den erstarrten Galopp gerichtet. Dabei erinnerte er sich, wie dieser aussehen würde, nicht einen Tag später, sondern bald, viel zu bald.
»Komm… Nein, nicht dort lang!« rief er plötzlich, als er sah, daß sie die Treppe hinuntergehen wollte.
Dort links sollte sich für immer der gebrochene Schatten eines Menschen abzeichnen. Allerdings nicht der Schatten des Pförtners, wie er angenommen hatte. Er biß sich auf die Lippen. Irgendwo mußte ein Spalt sein, es durfte nicht zugelassen werden, daß sich der Kreis schloß. Jetzt hatte er eine Waffe, und sie wußten es. Solange er lebte, sollte auch Maria leben.
»… nur ein Alptraum. Nichts Wirkliches. Dich gibt es nicht, das Museum ist nicht leer, ich bin zu Hause und wache gleich auf…«
»Wach auf!« rief Stel wieder, zog Marias Antlitz an sein Gesicht und drückte seine Lippen auf ihre Lippen.