Andreas Melzer

König im Matt

Der Schatten der RENIUS kroch zögernd zwischen die Zelte und linderte die drückende Schwüle. Doch noch immer war die schwarze Asche glühendheiß, und die Luft über ihr flimmerte und wogte wie ein mächtiger Wasserfall.

Die RENIUS selbst ragte als riesiger silberner Turm in den wolkenlosen Himmel, unter dem nichts Gleichwertiges existierte. Im Schein der untergehenden Sonne war der Rumpf des Sternenschiffes von einer flammenden Aureole gelbroten Lichtes umgeben.

Im Niemandsland zwischen Lagergrenze und der hohen grünen Mauer der Dschungel stritt sich Girotti mit dem Zweiten Navigator.

»Ist das hier vielleicht ein Kindergarten?« zeterte Lohburger. »Soll ich extra einen von euch bitten, mich zu begleiten, wenn’s mich mal überkommt, wie?«

»Deine Sache.«
»Ich werde…«
»Jedenfalls darfst du nicht in diesem Aufzug das Lager verlassen.«

Lohburger warf die Arme in die Höhe. Er trug nur eine Turnhose, und auf dem Kopf als Sonnenschutz eine Mütze mit überdimensionalem Schirm. Die schwarze Asche hatte seine Füße bis zu den Knöcheln mit einer dicken Kruste überzogen.

»Sind wir erwachsene Menschen oder nicht? Aber du – du bist ein häßlicher Aufpasser. Jawohl, das bist du! Und Kutschoven und Fricsay und…«

Er wußte natürlich, daß er den ROD-Flieger damit nicht beeindrucken konnte, aber sein Ärger benötigte ein Ventil. Dann räumte er schließlich doch das Feld, stapfte die Böschung hinauf und tauchte in seinem Zelt unter.

Girotti grinste hinterdrein.
»Ärger?« fragte plötzlich jemand. Girotti fuhr erschrocken herum – und blickte in Vinfields Gesicht. Unwillkürlich nahm er Haltung an, obgleich der Kommandant darauf keinen besonderen Wert legte. Äußerlichkeiten waren für ihn nicht der Maßstab der Dinge. Doch in Girotti steckte die harte Schule der Ariadne. Seine Schulterstreifen leuchteten in metallenem Glanz: Leutnant der ROD-Flieger.
»Nun? Wie viele hatten heute die Absicht, auf eigene Faust einen kleinen Ausflug zu unternehmen?« Vinfield deutete auf die grüne Mauer dicht vor ihnen.
»Einige«, antwortete Girotti ausweichend. »Manche versuchten es mehrmals.«
»Das ist nicht gut«, sagte Vinfield lächelnd. »Man sollte nicht für möglich halten, welch enorme Portion Starrsinn dem Menschen auch heutzutage noch eigen ist. Warum stehen Sie übrigens so steif, Leutnant?«
Girotti faltete die Hände hinter dem Rücken. »Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben dürfte, Kommandant?«
»Bitte sehr.«
»Vielleicht ist der Posten tatsächlich überflüssig? Ich meine, seit der Landung verhält sich die Dschungel uns gegenüber vollkommen passiv. Keinerlei Anzeichen von potentiellen Gefahren. Nichts, überhaupt nichts. Kein räuberisch lebendes Tier. Maria…«
»Und weiter?«
»Nichts.« Girottis Finger zupften nervös am Tragegurt der MPi. Weshalb habe ich überhaupt den Mund aufgemacht? schalt er sich im stillen. Der Kommandant wird die zweite Alarmstufe nie und nimmer aufheben! Und alles nur wegen Maria, die von der Vorstellung besessen ist, das »unmögliche Ökosystem« entdeckt zu haben. Ein kleines Rädchen des großen Getriebes fehlt, und schon stehen die Wissenschaftler kopf. Die eigentliche Stammbesatzung der RENIUS aber trägt nun neben der Verantwortung auch die Last der auferlegten Beschränkungen.
Lohburger kreuzte wieder auf. Er schien im Overall fast zu verkochen; er dampfte aus allen Poren und fächelte sich mit seiner Mütze Luft zu. Die Pistolentasche hing irgendwo in der Gegend der Kniegelenke.
»Darf ich?« fragte er mit grimmigem Unterton.
Diesmal hatte Girotti nichts dagegen einzuwenden.
Und Vinfield begann plötzlich laut zu lachen. »Nun schau einer an!« rief er. »Jahrzehntelang hat man sich damit abgemüht, eine Erklärung zu finden, warum Raumfahrer nach einem geglückten Fernflug ausgelassen wie spielende Kinder auf einer fremden, unbekannten, gefährlichen Welt umhertollen. Aber alle Theorien stürzen ein, denn jetzt, im Zeitalter des Schnellen Tunnels, hat sich überhaupt nichts geändert. Zelte und abendliches Lagerfeuer! Wenn das Kuznewski noch erlebt hätte!«
Girotti vermied es, den Kommandanten anzusehen. Abwechselnd richtete er den Blick auf die scharfgeschnittene Grenze des Waldes und den langsam wachsenden Schatten der RENIUS.
»Wie dem auch sei«, fuhr Vinfield fort. »Der Posten wird nicht eingezogen, jedoch ausgetauscht.«
»Fricsay löst mich erst in etwa zwei Stunden ab«, wandte Girotti ein.
»Das habe ich nicht gemeint. Schauen Sie dort hinüber, zum Gütertor!«
Girotti ging ein Licht auf. Irgendwann hatte der Kommandant davon gesprochen, aber niemand hatte es allzu ernst genommen. Damals war jeder fest davon überzeugt, den friedlichen Dschungelplaneten bald ohne jeden Vorbehalt gründlich durchstöbern zu dürfen. Aber damit schien es nun endgültig aus und vorbei zu sein.
Als Kolonne formloser, dunkler Punkte stakten sie heran. Vor dem Hintergrund der schwarzen Ebene waren sie kaum deutlich auszumachen; man nahm lediglich eine die Gestalt verändernde spinnenbeinige Masse wahr, die das Lager in weitem Bogen umfloß. Hundert Meter neben Lohburgers gelbem Zelt tauchte der erste über der sanften Böschung auf, dann der zweite, dritte. Die Asche knirschte wie hartgefrorener Pulverschnee.
Kyberneten.
»Paß auf! Gleich beginnt das Spektakel!« prophezeite Vinfield schmunzelnd.
Und er hatte sich nicht verrechnet. Maxwell und Svenson, die mit der Vorbereitung des Biwaks beschäftigt waren, entdeckten die Kyberneten zuerst. Binnen weniger Minuten war im Lager der Teufel los. Alles rannte gestikulierend durcheinander, stellte Fragen, fluchte. Schließlich rief Komenski: »Da ist der Kommandant!«
Lärmend liefen die Frauen und Männer der RENIUSMannschaft die Böschung hinab und umringten Vinfield. Girotti wurde ziemlich rücksichtslos beiseite gedrängt.
»Ruhe!« brüllte plötzlich jemand mit schneidender Stimme.
Fricsay.
»Seid endlich vernünftig und still!« wiederholte er. Dann wandte er sich an den Kommandanten, der ungerührt in der Mitte des bunten Kreises stand.
»Weshalb dieser Aufwand?« fragte er kurz und bündig.
Vinfield antwortete ebenso knapp: »Unsretwegen.«
»Jetzt, nachdem die Ungefährlichkeit der hiesigen Biosphäre erwiesen ist?« Fricsay umriß mit einer Handbewegung den inzwischen formierten Kordon der Kyberneten. »Lächerlich!«
»Ich verbitte mir diesen Ton.« Der Kommandant blieb sehr ruhig, aber die letzte Spur des gewohnten Lächelns hatte sich verflüchtigt.
»Es hat aber doch keinen Zweck, sich in einen Gedanken zu verrennen, der absolut unhaltbar ist! Und auch unvertretbar!«
»Richtig! Sehr richtig!« mischte sich Kern ein. Er schwenkte ein dickes Bündel Orbitalfotos und rief: »Eine wundervolle Welt, aber wir verschließen mit Gewalt unsere Augen!«
Vinfield unterdrückte mit einer einzigen Geste das sich erhebende Gemurmel.
»Ich habe mich zu diesem Schritt ohne vorherige Diskussion entschlossen, weil ich wußte, daß ihr die Notwendigkeit so oder so abstreiten würdet. Ihr empfindet ausnahmslos alles als falsch, was die Bewegungsfreiheit hemmt.«
»Ist das der richtige Weg, Daniel?« fragte Fricsay hart, fast eisig. »Glaubst du, vollendete Tatsachen würden uns überzeugen? Sicher, du bist der Kommandant. Aber was wir von dir fordern, ist nicht allein Rechenschaft, sondern wir, die gesamte Mannschaft der RENIUS, wollen vorher Bescheid wissen. Das ist nicht zuviel verlangt. Und es ist ein prinzipielles Problem.«
Fricsay schwieg. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet; die Besatzung stand auf seiner Seite.
»Du fragst mich, ob wir den richtigen Weg eingeschlagen haben?« Vinfield sah zum dunklen Himmel auf und schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein, mein Freund. Den richtigen Weg verließen wir schon an jenem Tag, als die ersten Menschen über dem Pondor erschienen. Zu lange habe ich gebraucht, um das zu verstehen.«
Trotz der fortgeschrittenen Dämmerung konnte man erkennen, daß sich Fricsays Gesicht verfärbte. Zuerst wurde es blaß, dann bleich. So bleich, daß es wie eine gespenstische Maske über der schwarzen Ebene schwebte.
»Was soll das heißen?« schrie er. »Soll ich verantwortlich gemacht werden für einen Fehler, der gar keiner war, den du dir nur einzureden versuchst?« Er wirbelte herum und wies mit beiden Händen auf die Silhouette der RENIUS. »Sie steht fest und sicher auf dem Pondor! Ist es das nicht wert, ein verhältnismäßig winziges Loch in die Dschungel gesprengt zu haben? Ja und nochmals ja! Ich habe die Bombe gebaut und geworfen, und ich bin verdammt stolz darauf!«
Im Nordwesten blitzte es plötzlich auf. Einmal, zweimal. Dann brach der grelle Schein nicht wieder ab, sondern näherte sich mit großer Geschwindigkeit. Löste sich schließlich in zwei Lichterpaare auf.
»Maria kommt zurück«, stellte Kern fest. »Ziemlich spät heute. Vielleicht ein gutes Zeichen?«
»Oder ein schlechtes«, meinte Lemon.
Die Menge begann sich zu zerstreuen, um die Biologen zu empfangen. Jeder brannte auf Neuigkeiten, der Streit zwischen dem Kommandanten und dem Chef der ROD-Flieger wurde zweitrangig.
Auch Fricsay wollte gehen, aber Vinfield hielt ihn zurück.
»Warte!« sagte er. »Wir sind noch nicht fertig.«
»Was soll’s?« antwortete Fricsay über die Schulter hinweg. »Wir vergeuden nur Zeit.«
»Ach, nachdem du deinen Auftritt hattest, willst du dich so mir nichts, dir nichts zurückziehen? Fehlt dir das Publikum?«
»Quatsch!«
»Dann bleibe.«
»Gut. Also?«
»Worum geht es dir eigentlich? Ist eine Antipathie gegen Kyberneten der Grund? Nein, natürlich nicht. Es wird sich so verhalten, wie ich bereits sagte. Euch alle lockt die fremde Welt, ihr wollt in sie eindringen und vergeßt dabei, daß es nicht der bekannte heimatliche Wald ist. Der Mensch neigt leider dazu, alles mit irdischen Maßstäben zu betrachten, trotz seiner Erfahrung. Denk doch an die Argustragödie oder an die Botschaft des Geisterschiffes oder an Orbiter Fünf. Und hier auf Pondor beginnen wir wieder den gleichen Fehler. Wir sahen einen Dschungelplaneten, gelangten mit menschlicher Logik zu dem Schluß, daß kein intelligentes Leben existieren kann, und warfen die Bombe. Ich sage: Wir, nicht du.«
»Es gibt aber tatsächlich keine Vernunft auf Pondor!« triumphierte Fricsay.
»Jetzt wissen wir es. Aber damals noch nicht. Ein Fehler bleibt ein Fehler, auch wenn er keine Folgen hat.«
»Haarspalterei!«
»Nein!« behauptete Vinfield. »Und du weißt es ganz genau. Eine weitere Unvorsichtigkeit können wir uns nicht leisten. Wir müssen uns absichern, solange Marias Gruppe das fehlende Glied des Ökosystems nicht identifiziert hat.«
Fricsay lachte plötzlich schallend. »Da ist er schon wieder, dein gehaßter irdischer Maßstab!« spottete er. »Daniel! Daniel!«
Und Vinfield gab schließlich vorerst auf. »Lassen wir das heute«, entschied er. »Komm, Josh, Maria ist da.«
Zu zweit – alle anderen waren schon zur Westseite des Lagers gelaufen – kletterten sie die Böschung hinauf und durchquerten das Lager. Zweiundsechzig leuchtend bunte Zelte, nun scharf bewacht, drängten sich eng zusammen wie eine Herde Schafe. Nur im Zentrum war ein größerer Platz frei gehalten worden, um dort allabendlich ein Feuer zu entzünden, obwohl auf Pondor sogar die Nächte sehr warm zu sein pflegten.
Und überall Asche, wohin man auch blicken mochte. Ein Stück Dschungel hatte in Sekundenbruchteilen aufgehört zu leben; es existierte nur noch als eine dünne, schwere Schicht schwarzer Asche.
Aus dem Halbdunkel tauchte eine kantige Gestalt auf und verbaute Fricsay und dem Kommandanten den Weg. Der himmelwärts gerichtete Lauf einer geschulterten Maschinenpistole zeichnete sich gegen den etwas helleren Hintergrund ab.
»Wie war es heute?« fragte Vinfield, als er Leutnant Kutschoven erkannt hatte.
»Aha, der Chef! Ich habe Sie gerade gesucht«, erwiderte Kutschoven brummend. Er schien nicht eben bester Laune zu sein.
Fricsay wiederholte die Frage des Kommandanten.
»Darüber kann ich leider keine Auskunft geben. Ich hatte nicht einmal die Zeit, mich zu erkundigen, wonach Marias Fanatiker heute zu suchen beliebten. Kommandant!« rief er unvermittelt, und es klang wie eine Mischung aus Drohung und Verzweiflungsschrei. »Es kann so nicht weitergehen. Entweder widerrufen Sie Ihren Befehl zur ständigen Bewachung der Wissenschaftlerteams, oder… ich weiß nicht. Es ist einfach unrealisierbar, in diesem grünen Labyrinth eine Menschengruppe rund um die Uhr zu bewachen!«
Vinfield, dessen Grinsen die Dunkelheit verbarg, faßte den erregten Kutschoven an der Schulter und schob ihn mit sanfter Gewalt vor sich her.
»Sie bleiben«, sagte er mit Bestimmtheit. »Ab morgen schließen sich auch Girotti und Fricsay den Exkursionsteams an. Die Lagerwache übernehmen ab sofort die Kyberneten.«
»Na eben, ich habe mich schon gewundert! Welch ein Aufwand… Sie haben mich vielleicht falsch verstanden, Kommandant. Ich habe lediglich gesagt, der permanente Schutz der Wissenschaftler ist seitens der ROD-Flieger nicht zu realisieren, aber ich habe damit keineswegs andeuten wollen, er sei unerläßlich. Im Gegenteil! Jawohl, im Gegenteil! Herox ist übrigens derselben Meinung, von den Wissenschaftlern selbst ganz zu schweigen. Die empfinden uns nämlich als lästig.« Er verstummte und schaute zurück, dorthin, wo das trockene Holz für das Lagerfeuer bereitlag. Bald würde die Mannschaft der RENIUS rings um die lodernden Flammen sitzen, dem Prasseln der Äste lauschen und den Liedern Maxwells.
»Pondor ist ein Idyll«, flüsterte er. »Doch wir selbst zerstören es nach besten Kräften.«
»Schweigen Sie«, sagte Vinfield nur und schritt schneller aus.
Und Fricsay lachte leise.
Die ROD-Flieger folgten dem Kommandanten in einigen Metern Abstand. Es schien, als wäre ein Stück der mondlosen Nacht herabgefallen und hätte sich über die Ebene gebreitet. Selbst die grellen Farben der Zelte waren nicht mehr zu unterscheiden.
»Licht!« brüllte jemand. »In drei Teufels Namen, Wanda, wo steckst du?«
Plötzlich flammten mehrere große Scheinwerfer auf und beleuchteten die beiden schmutz- und ascheverklebten Gleiskettenfahrzeuge des zurückgekehrten Exkursionsteams.
Ringsum herrschte rege Betriebsamkeit. Päckchen wurden eingeladen, andere herausgehievt. Lemon und Galupe entrollten das widerspenstige Anschlußkabel der Energieversorgung und schimpften wie die Rohrspatzen, da ihnen jede Menge Leute im Wege standen, aber keiner daran dachte, mit anzufassen.
Über allem thronte Herox. Er stand breitbeinig auf dem Kabinendach des einen Fahrzeuges und maß die durcheinanderquirlenden Wissenschaftler und Techniker mit Blicken, in denen Spott und auch Zorn lagen. Als Vinfield die Peripherie des Lichtkreises überschritt, sprang Herox herab und arbeitete sich durch die Menschentraube.
»Paß doch auf, verdammt noch mal!« lamentierte Kern, als Herox rücksichtslos über ein paar heruntergefallene Fotos trampelte.
Der ROD-Flieger würdigte ihn keines Wortes, er steuerte geradewegs auf Vinfield zu und überfiel ihn gewissermaßen.
»Kommandant! Schluß! Aus! Vorbei! Ich reiche meinen Abschied ein, wenn das so weitergeht!«
Doch Vinfield, der gewöhnlich ein offenes Ohr für alles und jeden hatte, unterbrach ihn barsch: »Was ist das für eine Meldung, Leutnant Herox? Wo ist die Chefbiologin? Ich glaube, sie ist kompetenter für einen Bericht!«
»Wie – Sie – meinen«, antwortete Herox. Er salutierte und verschwand in der Dunkelheit.
Ringsum wurde unterdrücktes Gekicher hörbar. Man gönnte Herox die kleine Abfuhr; vor allem die Wissenschaftler, die unter Herox’ Schutz standen, blinzelten sich verschmitzt zu. Natürlich wußten sie, daß sie dem ROD-Flieger unrecht taten. Er tat befehlsgemäß alles nur für ihre Sicherheit. Aber es war eine Zeit angebrochen, in der jede Kleinigkeit als kindisch und überspannt empfunden wurde.
Volniar hämmerte an die Panzerung eines Fahrzeuges. »Maria! Komm heraus! Der Kommandant sehnt sich nach dir!«
Alles brüllte vor Lachen; nur Vinfield blieb eisig.
»Was gibt’s?« Der Rotschopf der Chefbiologin lugte über die Bordwand. Das verfilzte Haar ragte in alle Himmelsrichtungen, und Maria Arbots Wangen waren dreckverschmiert. Man sah ihr an, daß sie seit dem frühen Morgen mit dem Dschungel gerungen hatte.
Vinfield trat dichter heran. Er mußte den Kopf in den Nakken legen, um der Chefbiologin in die Augen sehen zu können.
»Was habt ihr gefunden?«
Maria Arbot zögerte. »Man kann jetzt noch nichts Konkretes sagen«, wich sie aus. »Auf jeden Fall haben wir wieder eine Unmenge Material zusammengetragen. Und das will erst einmal in Ruhe gesichtet werden.«
»Also wieder nichts«, resümierte Vinfield.
Die Biologin wollte widersprechen, doch der Kommandant ließ das nicht zu. Schließlich lenkte sie ein: »Na gut. Es sieht nicht rosig aus. Wir verlieren uns in der Fülle, ohne dem Hauptproblem näherzukommen. Aber nichtsdestoweniger erleben wir täglich neue Überraschungen. Heute zum Beispiel« – sie verschwand für kurze Zeit im Fahrzeug, um gleich darauf mit einigen Fotografien zurückzukehren – »haben wir wieder einmal festgestellt, daß die wahren Wunder im Detail begründet liegen. Da, schau es dir an.«
Sie reichte Vinfield die glänzenden Papiere.
»Man könnte glauben, es wären Schmetterlinge«, meinte er nach einer Weile.
Fricsay trat interessiert näher. Er warf nur einen flüchtigen Blick auf das Bild, um sofort festzustellen: »Es sind Schmetterlinge! Begreifst du, was das heißt, Daniel? Insekten auf Pondor. Wie auf der Erde. Wie vielleicht auf allen ähnlichen Welten. Was bleibt nun übrig von deiner Behauptung, die Natur schlüge stets neue Richtungen ein, der hiesige Wald würde dem irdischen in nichts gleichen?«
»Das habe ich nie gesagt.«
»Nicht so kategorisch, gut.«
Die Biologin fuhr mit ihrem Bericht fort: »Wir haben die Schneise etwa dreißig Kilometer weit vorgetrieben, bis wir auf einen größeren Fluß stießen. Er ist ungefähr fünfzig Meter breit, aber auch über ihm sind die Baumkronen verflochten. Am Wasser schwärmen die Schmetterlinge in ungeheuren Massen. Zehntausend. Hunderttausend. Oder mehr. Aber leider ist es uns nicht gelungen, auch nur ein einziges Exemplar zu erbeuten.«
»Mir genügt schon, was ich sehe«, sagte Fricsay rauh.
»Denk mal ein bißchen weiter«, entgegnete Arbot. »Mir scheint nämlich, du bist von der fixen Idee besessen, ein Paradies vor dir zu haben. Mag sein, daß Pondor uns dies glauben macht. Doch wo ist das Element, das der ungezügelten Vermehrung der Pflanzenfresser entgegenwirkt? Bei einem derart reichlichen Nahrungsangebot müßte die Nachkommenzahl explosionsartig wachsen können.«
Fricsay winkte ungehalten ab. Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber ein plötzlich losbrechender Tumult ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Das Feuer! Das Feuer!«
Die Frauen und Männer verstauten in aller Eile die letzten Kisten und Päckchen, luden alles übrige auf einen kleinen Karren und zogen dann lärmend dem zentralen Platz entgegen, wo die ersten Flammen rot und gelb und blau emporzüngelten. Es roch nach verbranntem Kerosin. Irgend jemand hatte das Feuer entzündet. Es war fast schon zur Tradition geworden.
Maria Arbot stieg nun ebenfalls aus dem Fahrzeug, faßte Fricsay und Vinfield an den Händen und zog sie mit sich fort.
Es wurde ein schöner Abend. Die fremde Natur ringsum war vergessen, alle Probleme sanken zur Nichtigkeit herab, und Maxwells Stimme klang wunderbar wie selten zuvor.
Spät in der Nacht, als die letzten Zeltlampen schon längst erloschen waren und nur noch einzelne Fünkchen unter den Resten des niedergebrannten Feuers glommen, begann es zu regnen. Große, schwere Tropfen fielen rauschend vom Himmel, der sich unbemerkt mit Wolken überzogen hatte. Immer heftiger wurde das Unwetter; eine Sintflut schien losbrechen zu wollen. Die Menschen schraken aus dem Schlaf und starrten ungläubig an das Zeltdach, das sich bedrohlich wölbte.
Aber dann war alles so rasch vorbei, wie es gekommen war.
Der Morgen fand das Lager in heller Aufregung. Die Welt hatte sich verändert, gründlich verändert. Der Boden war vom nächtlichen Regen vollkommen aufgeweicht worden, und Lehm und Asche vermischten sich zu einem schwarzbraunen, klebrigen Brei, in den die Stiefel schmatzend einsanken. Man hatte es als unnötig betrachtet, vor den Zelteingängen Wassergräben auszuheben, und nun war jeder damit beschäftigt, seine Unterkunft zu säubern. Es war zum Gotterbarmen. Keinen Schritt konnte man tun, ohne sich zu beschmutzen. Maxwell, den Tränen nahe, strich betrübt über seine Gitarre. Er hatte sie neben dem Feuer auf einem Holzbänkchen liegenlassen…
Und zwei Techniker versuchten mit einem Multirover, an dessen Bug sie einen Planierschild montiert hatten, die Gassen notdürftig vom Schlamm zu befreien. Doch dadurch verunreinigten sie die Zelte ein zweites Mal, und daraufhin wurden sie kurzerhand aus dem Fahrzeug gezerrt.
Trotz allem war das Lager erfüllt von Scherzworten und Lachen, denn die ganze Situation war eher komisch als gefährlich. Regen, ganz gewöhnlicher Regen, mit dem niemand gerechnet hatte!
Mitten hinein in dieses allgemeine Durcheinander platzte Girotti. Er kam von jenseits des Kybernetenrings, vielleicht war er an Bord der RENIUS gewesen, und er war vollkommen leergepumpt, mußte also ein beträchtliches Stück gerannt sein. An seinem Overall klebten unzählige dunkle Klümpchen, auch seine Wangen wirkten pockennarbig.
»Die Ebene blüht! Die Ebene blüht!«
Augenblicklich wurde es still. Man sah Girotti mitleidig an und hielt ihn wohl für einen Narren oder Lügner. Jedenfalls für übergeschnappt. Fricsays Bombe hatte die Ebene bis auf die letzte Spore sterilisiert, wie konnte sie also blühen? Das war einfach nicht möglich, nie und nimmer.
Als Girotti bemerkte, daß man ihm keinen Glauben schenkte, donnerte er die Nächststehenden an: »Kommt doch mit, ihr Idioten, und seht selbst! Ihr braucht nur einen Schritt weit aus dem Lager hinauszugehen.«
Maria Arbot und noch einige andere, vor allem Biologen, setzten sich endlich in Bewegung, wahrten aber ihre Würde durch strenge, sehr skeptische Mienen. Bis – ja, bis sie es mit eigenen Augen sahen.
Sie gelangten zu einer über Nacht entstandenen Vegetationsinsel. Auf einem Areal von etwa fünfhundert Quadratmetern hatte die schwarze Ascheschicht einem lockeren Teppich schlanker, grasähnlicher Halme Platz gemacht.
Maria Arbot ließ sich auf die Knie nieder, um die zarten Pflänzchen näher zu betrachten. Behutsam riß sie eines aus.
»Es ist also wahr«, flüsterte die Biologin.
Sie erhob sich und schaute über die Ebene. Diese erinnerte an ein gigantisches Schachbrett, mit grünen anstatt weißen Feldern. Weit am Rande erhob sich das in der Morgensonne funkelnde Sternenschiff. Ein König im Matt.
»Na? Zufrieden?« wollte Girotti wissen. Als niemand antwortete, fuhr er fort: »Wir müssen bald etwas dagegen unternehmen, sonst wächst die Ebene zu, und wir können uns nicht mehr vom Fleck rühren.«
»Gar nichts werden wir tun!« herrschte ihn Arbot unvermittelt an.
»Aber warum nicht?«
»Darum!« Arbot hielt dem ROD-Flieger das grüne Pflänzchen unter die Nase. »Kapiert? Nein? Dann laß es bleiben.« Sie wandte sich abrupt um und stapfte zurück ins Lager.
Cruz und Iven schlossen sich ihr an, nur Keßler blieb.
»Nimm es nicht persönlich«, tröstete er den verdatterten Girotti. »Du mußt wissen, daß Maria eine von den wenigen war, die sich gegen die Bombe gesträubt haben. Fricsay brannte die Ebene dennoch aus. Und nun, sieh!« Er deutete auf die grünen Flecken. Am Rande der Ebene schienen sie bereits zu verschmelzen. »Die Wunde wird wieder geschlossen, das Indiz vernichtet.«
»Was soll’s? Der Dschungel kann sich getrost noch ein paar Tage oder Wochen gedulden. Fricsay wird einen Weg finden, den Wald ein zweites Mal hinwegzufegen.«
Keßler schaute Girotti sehr lange an. Dann sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken: »Zwischen Arthur Josh Fricsay und dem Dschungel werden viele Menschen stehen. Arbot, Cruz, Maxwell. Auch Vinfield. Und ich.«
Girotti schluckte schwer.
Ins Lager zurückgekehrt, erwartete sie eine neue Überraschung: Auf Lohburgers Handrücken hockte ein riesiger, blau schillernder Schmetterling und breitete graziös seine Flügel aus, als wollte er sich im ersten Sonnenlicht wärmen. Lohburger lief ungeheuer stolz im ganzen Lager herum und zeigte das Tier. »Wunderschön, nicht wahr? Wunderschön!« wiederholte er ständig und sichtlich gerührt von der fremden und zugleich vertrauten Harmonie.
Plötzlich rief jemand: »Hier ist noch einer!«
Dutzende Augenpaare suchten den Himmel, die Zelte und die Holzbänkchen ab.
»Hier auch!«
»Und hier!«
»Da! Ein ganzer Schwarm!«
»Herrlich!«
»Fangt sie! Fangt sie doch!« rief Cruz immerzu.
Eine tolle Jagd begann. Der schmierige Boden machte alles noch verrückter.
Endlich hielt auch Maria Arbot einen Schmetterling in den Händen. Sie hatte eine lange, spitze Pinzette gezückt und untersuchte das Tier mit geübten Griffen.
»Hexapodie, Ommatiden…« sprach sie zu sich selbst. »Ein Insekt, ohne Zweifel, merkwürdig…«
Unvermittelt schrie sie gellend auf und schleuderte den Schmetterling, mit dem sie sich eben noch hingebungsvoll beschäftigt hatte, voller Abscheu zu Boden und trampelte so lange auf ihn herum, bis die dunkle Asche den letzten Schimmer der blauen Flügel verschlungen hatte. Und Maria schrie und schrie…
»Zurück ins Schiff! Ins Schiff…«
Niemand verstand. Niemand war zu einem klaren Gedanken fähig. Und Maria Arbot war nicht fähig zu erklären; sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und taumelte durch die Zeltgassen.
»Sie sind es. Sie. Sie«, wimmerte sie leise.
Und dann begann das Grauen.
Lohburger brüllte plötzlich schmerzgepeinigt. »Die Kreatur hat mich gestochen!« tobte er und schlug seinen Schmetterling zu flimmerndem Staub. Dann wurde er ohnmächtig. Jemand sprang hinzu, um den dicken Navigator zu stützen. Gemeinsam fielen sie in den Schlamm.
»Den Wagen, schnell, schnell!«
»Alles stehen- und liegenlassen! Sofort zur RENIUS!«
»Ah – ah!«
Girotti lief über den Platz, verfolgt von einem Schwarm schillernder Harpyien. Der Himmel begann zu orgeln, er spie das blaue Verderben aus.
»Wo ist der Wagen?«
»Kommandant! Kommandant!«
»Er ist im Schiff… Da! Girotti!«
»Zwei Mann hierher!«
Panik. Die Frauen und Männer verließen fluchtartig das Lager, rutschten aus, fielen hin, rappelten sich hoch. Ohnmächtige brachen zusammen, mußten gestützt werden.
Die RENIUS schien unerreichbar fern.
Und das Heulen wurde zu einem Orkan. Tausende Schmetterlinge regneten auf die durch den Schlamm stolpernden Menschen herab. Aus den Hinterleibern der Tiere ragte ein zentimeterlanger Stachel.
»Meine Fotos… unersetzlich…«
Kern sank kopfüber in den Modder.
Eine lange Salve übertönte den Lärm. Geschosse fauchten der Sonne entgegen. Die Kyberneten, jene seelenlosen Blechungetüme, hatten die Lage endlich analysiert und eröffneten das Feuer. Salve auf Salve. Ein permanentes Krachen. Vollkommen sinnlos.
Kutschoven raste wie ein Berserker hin und her und schlug mit einem Spaten um sich. Ein halbes Hundert tollwütiger Tiere hatte er bereits mit dieser vorsintflutlichen Methode umgebracht. Als er sich wieder einigermaßen freigekämpft hatte, fiel sein Blick auf die RENIUS. Sein Herz klopfte stärker:. Das große Stautor war geöffnet. Vinfield!
Die schnellsten Läufer verschwanden bereits im Schiffsrumpf, aber sie waren noch nicht in Sicherheit. Denn als auch die übrige Mannschaft das Tor passiert hatte und dieses dröhnend zufiel, schwebten einige Schmetterlinge über den Köpfen der Menschen.
»Schlagt sie tot! Mein Gott, tut doch etwas!«
»Acht, neun – drüben! Vorsicht!«
Schließlich hatte man es geschafft. Eine unheimliche Stille breitete sich in der Güterschleuse aus. Nur das heftige Atmen störte die fast schon feierliche Ruhe.
»Wer?« fragte jemand.
»Wer?« – »Wer?« Zehnmal, zwanzigmal wurde die Frage wiederholt.
Und irgendwann wußte man es: zwölf. Kern, Lohburger, Cruz, Arbot, Maxwell und Girotti und Fricsay und…
Das innere Tor glitt auf. Im Gang stand Vinfield, bleich, mit geballten Fäusten.
»Was wir suchten, hat uns gefunden.« Er trat zur Seite und sagte: »Vorwärts.«