Gottfried Kolditz
Roboterfrühstück
Jedesmal, wenn er mit seltsam beschwingten Schritten und schlenkernden Armen die alte Mensa im Hauptgebäude der Universität betrat, starrte ich zu ihm hin. Er hatte kein einziges Haar auf dem Kopfe und auch keine Augenbrauen, sein Alter war schwer zu bestimmen. Jeder Schritt, jede Bewegung lief in immer gleichbleibender Folge und Geschwindigkeit ab, wie von einer Automatik gesteuert. Niemals zögerte er oder korrigierte eine Bewegung. Er griff eines der Tabletts von dem großen Stapel, ging an der langen Speisen- und Getränketheke vorbei und stellte eine einfache Speisenfolge für zwei Personen zusammen. Immer für zwei Personen. Dann verschwand er wieder mit den gleichen beschwingten Schritten, wie er gekommen war. Ich hatte mich schon ein paarmal nach ihm erkundigt, aber keiner kannte ihn.
Es war der erste Tag nach den Semesterferien, der Zeitvorlauf in der Küche hatte nicht geklappt, wir saßen an leeren Tischen und warteten. Ich ließ die Eingangstür nicht aus den Augen.
Er kam zu seiner gewohnten Zeit. Wie immer ging er mit schlenkernden Armen zur Theke, nahm ein Tablett vom Stapel – sein nächster Griff ging ins Leere.
In diesem Augenblick hörte ich, wie am
Nachbartisch einer der Assistenten aus dem Chemielabor lachte.
»Sieh mal, unser stummer Linguist! Jetzt staunt er, die Perfektion
hat eine Niederlage erlitten!«
Ich lehnte mich so weit und so unauffällig wie möglich zurück,
damit mir ja kein Wort entging. Und meine Neugier wurde belohnt,
denn der andere Assistent fragte: »Kennst du ihn denn?«
»Und was macht er?«
»Er sitzt auf einer Oberassistentenstelle im Linguistiklabor. Vor
sechs Jahren hätte er pensioniert werden müssen, aber keiner wagt,
es ihm zu sagen. Vor zwanzig oder dreißig Jahren soll er mal in
eine Disziplinarsache verwickelt gewesen sein, aber irgendwie ist
die Sache vertuscht worden.«
»Und was weiter?« fragte jemand am Nebentisch.
»Nichts weiter. Wenn ihn nicht eines Tages ein Pantomimen-Ensemble
als Monsieur Hulot engagiert, wird er bestimmt noch im Jahre
zweitausendeins beim Betreten und Verlassen der Mensa einem
unaufmerksamen Publikum seine rituellen Tänze
präsentieren!«
Die Art, wie sie sich auf Kosten eines alten Mannes amüsierten,
ärgerte mich.
Jetzt war ich entschlossen, mehr über ihn zu erfahren, stand auf
und ging zu ihm hin. Sollten die Chemiker auch über mich tuscheln
und witzeln, es war mir gleichgültig.
Ich trat dicht hinter ihn und sagte: »Es hat eine kleine
Verzögerung gegeben, nehmen Sie einen Moment Platz.« Er schien
verwirrt zu sein, setzte sich aber nach kurzem Zögern. Ich
versuchte ein Gespräch in Gang zu bringen. »Kommt selten vor, daß
so was passiert!«
Er beugte sich zu mir und sagte geheimnisvoll: »Selten, aber es
kommt vor. Das ist gut!«
Ich spann den Faden weiter. »Was ist gut, daß es selten vorkommt oder daß es vorkommt?«
Er sah mich überrascht an. »Sie sind kein Mathematiker!«
»Nein, aber wieso haben Sie…«
Er antwortete mit einem merkwürdigen Ernst: »Für einen Linguisten
eine einfache Schlußfolgerung: Ein Mathematiker hätte die Frage
anders formuliert!«
Jetzt war er auf seinem Fachgebiet, meine nächste Frage würde
entscheiden, ob ich ihn zum Reden bringen würde. »Sie sind
Linguist?«
Ich hatte Glück.
»Ja, mein Lehrer war Professor Hoffmeister, für Sie bestimmt kein
Begriff. Ein fabelhafter Wissenschaftler und ein wunderbarer
Mensch. Er las niemals seine Manuskripte ab, wie das die meisten
seiner Kollegen taten, einschläfernd und langweilig. Er sprach
immer frei, blickte seine Hörer richtig an, verstärkte, variierte
seine Gedanken, wenn er spürte, daß wir ihn noch nicht verstanden
hatten. Die chaotische Vielzahl der Einzeltatsachen, in der ja jede
Wissenschaft zu ertrinken droht, ordnete sich bei ihm zu einem
überschaubaren, große Zusammenhänge erfassenden Gedankengebäude.
Manchmals kam es in seinen Vorlesungen zu spontanem Beifall. Ich
war von ihm fasziniert.«
Ich überlegte, wie ich am besten reagieren sollte, aber er schien
keine Antwort zu erwarten. Er drehte sich zur Theke um; da sich
dort aber immer noch nichts rührte, beugte er sich wieder zu mir.
»Schon im vierten Semester durfte ich bei Hoffmeister an einer
großen wissenschaftlichen Arbeit mitarbeiten!« Er machte eine
Spannungspause, und seine Augen funkelten, als er den Titel dieser
Arbeit nannte: »Die Verschiebung der Zitatenschwerpunkte der
marxistischen Klassiker in unserer Literatur und ihre historischen
Gründe!« Ich konnte mir weder den Inhalt noch die Bedeutung dieser
Arbeit vorstellen und fürchtete, damit wäre der Gesprächsfaden
gerissen. Aber er fuhr leise fort: »Leider starb mein verehrter
Lehrer ganz plötzlich, und seine Arbeit verschwand in irgendwelchen
Archiven. Der Rektor ging in seiner Trauerrede mit keinem Wort
darauf ein. Ein empörender Vorgang, über den es damals viel
Getuschel gab.«
Ich dachte, wenn nur nicht die Küche zu rasch in Schwung kommt,
jetzt bin ich vielleicht dicht dran an seinem Geheimnis. Vorsichtig
fragte ich: »Ich verstehe nicht ganz. Hatte es Ärger gegeben,
Rivalitäten – oder was?«
Sein Körper straffte sich, leise, aber deutlich sagte er mit
schmalen Lippen: »Es gab nichts! Schweigen, totschweigen, aber ich
habe es nicht hingenommen, das nicht hingenommen!« Sein
Gesichtsausdruck hatte jetzt etwas Energisches, gleichzeitig
boshaft Verkniffenes. Und dann kam es aus ihm heraus, unaufhaltsam
und ohne daß ich ihn weitertreiben mußte, eine verworrene
Geschichte, und ich hatte Mühe, ihm zu folgen.
Ein paar Jahre danach war er zu einer Gruppe von vier jungen
Wissenschaftlern delegiert worden, einem Physiker, einer Biologin,
einer Chemikerin und einem Mathematiker, denen man die Aufgabe
übertragen hatte, eine automatische Geschmackskontrolle für die
Konservierung von Lebensmitteln zu entwickeln. Er habe das als eine
für Wissenschaftler entwürdigende Arbeit auf dem Niveau mittleren
Ingenieurpersonals empfunden. Als er zum ersten Mal in den Raum
2103 des Instituts gekommen sei, wo die vier eine abenteuerliche
Versuchsanordnung aufgebaut hatten, deren Sinn er überhaupt nicht
verstand, habe er gleich bemerkt, daß sie ihn als Partner nicht
akzeptierten. Für den Naturwissenschaftler sei ein Linguist, damals
genauso wie heute, von vornherein eine komische Figur, jemand, der
den Namen Wissenschaftler nicht für sich in Anspruch nehmen dürfe.
Aus diesem Grunde habe er sich rasch wieder verdrückt und sei auch
in den nächsten Wochen nur zweimal kurz bei ihnen
aufgetaucht.
»Ich war aus vielen Gründen, die Sie nicht verstehen werden, sehr
deprimiert und trank jedesmal ein paar Kognaks, ehe ich mich zu
ihnen hineinwagte. Als ich wieder einmal bei ihnen auftauchte, traf
ich sie in dumpfer Verzweiflung an. Ich ließ meine Taschenflasche
kreisen, und nach einer Weile erfuhr ich den Grund ihrer
Verzweiflung. Sie hatten die Problemprämisse ihrer Arbeit beim
Wissenschaftlichen Rat einreichen müssen und nach erstaunlich
kurzer Zeit die Antwort bekommen: Ihre Arbeit befände sich schon im
Denkansatz im Widerspruch zu den Klassikern. Ich fragte sie,
sicherlich etwas dümmlich, ob denn ihr Ding da nicht funktioniere.
Meine Frage erheiterte sie ungeheuer. Sie küßten mich und ließen
nun ihrerseits die Taschenflaschen kreisen!«
Es sei ihm richtig warm ums Herz geworden, als er den Grund ihrer
Heiterkeit erfahren habe. Sie hätten seine »Furchtlosigkeit vor den
Klassikern« bewundert. Und als er sich spontan verpflichtet habe,
gravierende Zitate herbeizuschaffen, die die Übereinstimmung ihres
Denkansatzes für den Geschmacksroboter mit den Auffassungen der
Klassiker beweisen würden, habe er plötzlich vier Freunde gehabt.
Er sprach das Wort Freunde leise, ja behutsam aus; offenbar war er
damals sehr einsam gewesen.
Die anderen habe es sehr amüsiert, daß er dieses wahnwitzige Gewirr
von Drähten, Schaltelementen und Analysatoren als Geschmacksroboter
bezeichnet hatte. Im Nu wäre eine richtige kleine Party in Gang
gekommen, mit Musik und Tanz. In dieser Nacht hätten die anderen
beschlossen, ihrem »Roboter« ein möglichst naturgetreues Aussehen
zu geben.
»Ich muß zu diesem Zeitpunkt schon ziemlich betrunken gewesen sein,
denn ich habe den Hintersinn ihrer Absicht erst Wochen später
kapiert, als ich vor dem fertigen Werk stand, und auch da nicht
sofort. Dabei hatte ich sie selber auf die Idee gebracht, denn ich
hatte ihnen natürlich nach dem vierten Doppelten einen langen
Vortrag gehalten über die Bedeutung der linguistischen Forschungen
von Professor Hoffmeister, seiner Arbeit über die…«
Die Erinnerung hatte ihn jetzt ganz in ihrem Bann, seine Augen
waren fest geschlossen, seine Stimme wurde noch leiser. »Als ich in
den Raum trat, saßen sie zu fünft um einen Tisch. Es war täuschend,
Nummer fünf war natürlich der Geschmacksroboter. Die Absicht, ihm
ein naturgetreues Aussehen zu geben, war ihnen geglückt, das war
unverkennbar, obwohl ich ihn von der Tür aus zunächst nur von
hinten sehen konnte. Ich blieb stehen und beobachtete, wie meine
Kollegen abwechselnd verschiedene Meßleitungen in den Mund nahmen
und aus demselben Reagenzglas einen Schluck von der Flüssigkeit
tranken, von der sie gerade dem Roboter mit einer Pipette etwas ›in
den Mund‹ gespritzt hatten – die Greifwerkzeuge funktionierten an
diesem Tag noch nicht.«
In diesem Augenblick begannen die Küchenhelfer die Vitrinenregale
zu füllen, die Küchenstörung war beseitigt. Mir war klar, gleich
würde er das merken, denn sofort standen auch die ersten Hungrigen
von den Tischen auf, also ein ziemlicher Lärm.
Aber der Alte achtete nicht darauf. »Der Physiker hatte mich
eintreten sehen«, fuhr er fort, »und machte mir ein Zeichen, still
zu sein. Wie gebannt blickte ich auf den fünften Mann, der mit
deutlicher Stimme sagte: ›Bitter!‹ Ich trat so weit vor, daß ich
ihn von vorn sehen konnte. Mir lief es kalt über den Rücken – es
war mein alter Ordinarius, täuschend nachgebildet, nur mit einer
anderen Stimme. Ich fühlte in mir ein Grauen aufsteigen. Mir war
natürlich klar, er konnte es nicht sein, aber einen Moment lang sah
ich ihn lebend vor mir. Die anderen bemerkten meine Verwirrung
nicht, und der Mathematiker sagte: ›Seine Fehlerquote liegt schon
unter acht Prozent. Versuch’s selber mal!‹ Er schob mir einen Stuhl
hin, und ich setzte mich, genau ihm
gegenüber. Ich wagte nicht hochzublicken, weil ich fürchtete, ich
würde ohnmächtig werden, wenn ich ihn
ansah.«
Der Alte lachte krampfhaft und stoßweise, kalter Schweiß war ihm
auf die Stirn getreten, seine Hände zitterten. Um es zu
unterdrücken, krampfte er sich mit beiden Händen am Tisch fest. Ich
zweifelte auf einmal daran, ob ich ein Recht hatte, in ein
Geheimnis einzudringen, das diesen Mann noch nach Jahrzehnten so
tief erschütterte. Ich versuchte ihn abzulenken, fragte, ob wir
nicht erst einmal an die Essentheke gehen wollten, aber er hörte
nicht, was ich sagte, und berichtete hastig weiter.
Um seine Schwäche vor den anderen zu verbergen, habe er ihre
Arbeitsmethoden angegriffen, aber sie hätten ihm demonstriert, daß
der Roboter nicht auszutricksen war. »Es stimmte jedesmal. Mir
wurde schwindlig.« Seine vier Freunde hätten ihm erläutert, wie es
weitergehen sollte. Der Mathematiker hatte ein Programm
ausgearbeitet, das die vier Grundgeschmackseindrücke – bitter, süß,
sauer, salzig – mit den Begriffen aus einem alten Kochbuch
kombinierte. Er scheiterte im Augenblick nur an der Fülle der
Duftstoffe, die offensichtlich bei der Geschmacksidentifikation
eine wesentliche Rolle spielten. Darüber war es zu einem Streit mit
der Chemikerin gekommen, deren Duftfilter bei gleichen Probestoffen
immer wieder zu unterschiedlichen Ergebnissen führten. »Ich war
froh, daß sie mich nicht beachteten, und allmählich stabilisierte
sich mein Kreislauf wieder. An diesem Tag feierte ich noch einen
Triumph bei meinen Freunden, denn als sich herausstellte, daß die
Ursache ihrer Analyseversager an der geringen Kapazität des
Institutscomputers lag, versprach ich ihnen, eine Zugriffsleitung
zum HS-Hauptcomputer der Universität zu beschaffen. Was für die
vier unmöglich war, war für mich verhältnismäßig leicht, denn ich
war damals mit der Sekretärin des Rektors befreundet. Sie weigerte
sich zwar zuerst und warnte mich vor der Reaktion des
Wissenschaftlichen Rates, der die Menschenähnlichkeit zweifellos
als Provokation empfinden würde. Als sie mir das immer wieder vor
Augen hielt, war ich froh, daß ich ihr nicht gesagt hatte,
wem der Roboter ähnlich war. Nach zwei
Tagen gab sie ihren Widerstand auf und besorgte uns – niemand
erfuhr, wie – die Zugriffsleitung. Irgend jemand mußte aber Wind
bekommen haben, denn schon einen Tag später wurde uns mitgeteilt,
der Wissenschaftliche Rat wünsche an einer Demonstration des
vorläufigen Standes der Arbeit teilzunehmen. Nun rollte eine
Katastrophe auf uns zu. Mir war das gleichgültig, ich war nur
unsicher, ob mein Ordinarius mit dem einverstanden gewesen wäre,
was da vorbereitet wurde.«
Die Essenausgabe war jetzt auf dem Höhepunkt, der Lärm um uns herum war sprunghaft gestiegen. Ich hatte Mühe, seine Worte zu verstehen, er flüsterte nur noch. Wußte er überhaupt, daß er seine Geschichte erzählte, einem völlig Fremden erzählte? Oder war es eine Art Selbstgespräch, das ich zufällig in Gang gesetzt hatte? Ich beugte mich so dicht wie möglich zu ihm, sein Atem streifte mein Gesicht, er ging hastig und stoßweise.
»Wir arbeiteten zwei Tage und Nächte durch und schafften es gerade noch, das vorläufige Ablaufprotokoll festzulegen, die Zusammenschaltung aller Programme durchzuprobieren und den Raum, dem Anlaß angemessen, ein bißchen aufzuräumen, als schon die Mitglieder des Wissenschaftlichen Rates vollzählig hereinmarschierten. Würdige Herren, gefürchtet, sie alle hatten Professor Hoffmeister gekannt, drei von ihnen hatten seine große Arbeit damals verworfen.
Meine vier Freunde schienen blaß vor Aufregung zu sein, sie standen steif und verlegen da und blickten auf die grauhaarigen Eminenzen. Die gaben sich jovial, freundlichermunterndes Kopfnicken, Stühlerücken genau nach Protokoll. Dann nach dem Platznehmen der auffordernde Wink. ›Bitte, fangen Sie an.‹
In diesem Augenblick erkannten sie unseren fünften Mann. Von zwei Seiten wurde dem Vorsitzenden etwas zugeflüstert. Die Raumtemperatur schien schlagartig um zehn Grad zu fallen. Meine Hände waren eiskalt, ich stand auf, ergriff das vorbereitete Papier und verlas mit fester Stimme die Einleitung des Ablaufprotokolls.
Währenddessen legte unser Physiker die Meßleitungen für die Mitglieder des WR griffbereit. ›Falls erwünscht‹ sagte er dazu, was mir äußerst unpassend erschien. Die Chemikerin stellte gleichzeitig die kleinen Glasgefäße mit den Kontrollproben bereit. Dann löste unser Mathematiker den Programmablauf aus. Ich merkte, wie meine Nervosität sprunghaft anstieg, rasch setzte ich mich wieder hin und starrte auf die Nummer fünf. Noch ehe er das erste Gefäß ergriff – heute funktionierten die Greifwerkzeuge natürlich einwandfrei –, wußte ich, was passieren würde. Meine Vorahnung war so überdeutlich, daß ich mit dem Protokoll, das ich zu führen hatte, immer einen oder zwei Schritte dem Ablauf voraus war.
Bevor also der Roboter den ersten Versuch begann, sagte er: ›Ich begrüße Sie und bitte um vorurteilsfreie Prüfung der erreichten wissenschaftlichen Fakten. Versuch 001!‹
Die Stimme war nicht nur ähnlich, sie war identisch, ich hatte sie in einem Vortrag meines alten Ordinarius gefunden, sie überspielt und unserem Mathematiker in sein Programm geschmuggelt. Warum ich das tat, war mir in dem Moment nicht bewußt geworden, jetzt war es mir klar.
Die Mitglieder des WR wurden wie von einem elektrischen Schlag getroffen. Ich triumphierte, es störte mich nicht, daß meine vier Freunde mich überrascht ansahen. Ich habe mich in meinem ganzen Leben nicht so gut gefühlt wie in diesem Augenblick.
Danach also der Versuch 001: Ergreifen der Probe mit den Manipulatoren, Einführen in den Analysebereich, sprich Mund. Der Roboter drehte dabei immer den Kopf etwas zur Seite. Wir hatten diesem kleinen mechanischen Fehler keine Bedeutung beigemessen und ihn deshalb auch nicht beseitigt, was leicht zu machen gewesen wäre; jetzt sah es aber so aus, als täte er das absichtlich, um mit seinen Glasaugen – die übrigens funktionslos waren – die Mitglieder des WR zu fixieren. Ich hatte Mühe, einen Schrei zu unterdrücken, so lebendig wirkte es. Die Professoren saßen bewegungslos und waren leichenblaß, wie mir schien.
Drei Sekunden später wieder seine Stimme: ›Süß. H 2O mit fünfzehn Prozent Zusatz von Himbeersaft, null-Komma-nullzwei Prozent Vitamin C‹ usw. bis hin zu den Spurenelementen eine perfekte Analyse. Dann noch die Wertung: ›… das Getränk ist wohlschmeckend und erfrischend!‹
Muß ich erwähnen, daß die Mitglieder des WR die Kontrollmeßleitungen nicht berührten, nach zwei weiteren Analysen aufstanden, nickten und wortlos verschwanden?
Am nächsten Tag war die Zugriffsleitung zum HSHauptcomputer abgeschaltet, meine Freundschaft mit der Sekretärin übrigens auch. Meine vier Freunde machten mir keinerlei Vorwürfe. Ich weiß nicht, ob sie mich verstanden hatten. Ein paar Tage später waren sie verschwunden, ich erfuhr nichts von ihnen. Sicherlich haben sie eine andere Aufgabe übernommen.«
Der Alte schwieg lange. Ich wagte kein Wort zu sagen, ja nicht einmal eine Bewegung zu machen. Er war zusammengesunken, auf seinem haarlosen Schädel standen winzige Schweißperlen. Ich fragte mich, ob der Triumph über den WR den Verlust der Freundschaft der vier wettgemacht hatte. Sie waren einfach gegangen, hatten ihm nicht einmal gesagt, wohin. Für einen offensichtlich so kontaktarmen Menschen wie ihn eine Katastrophe. War ich der erste, dem er sich nach so langer Zeit, es mußten doch viele Jahre vergangen sein, aufschloß? Hatte er einmal sprechen müssen, seine Geschichte erzählen, das quälende Schweigen brechen?
Plötzlich schien er wie aus einem Traum zu erwachen, sein Gesichtsausdruck bekam etwas Verschmitztes, er stand auf und sagte zu meiner maßlosen Überraschung: »Wollen Sie mitkommen?« Er wartete nicht auf meine Reaktion, ergriff mit großer Selbstverständlichkeit ein Tablett, ging an der Theke entlang, stellte wie gewöhnlich ein einfaches Essen für zwei Personen zusammen und verließ, ohne sich umzublicken, mit seinem beschwingten Gang die Mensa.
Er ging zur Haupttreppe, dann durch einen langen Gang in einen Nebentrakt. Wieder über eine Treppe abwärts in ein Kellergeschoß. Hier war offenbar der alte Teil des Instituts, ich war noch nie hier gewesen. An den Wänden offen verlegte Rohrleitungen, der Putz abgebröckelt, alles ziemlich verwahrlost. Die halbdunklen Gänge schienen kein Ende zu nehmen. Unsere Schritte hallten hart von den Wänden wider.
Er blieb an einer Tür stehen und sagte, während
er sie aufschloß: »Hierher verirrt sich nie jemand!«
Er verschwand in dem Raum, ohne mich aufzufordern einzutreten. Ich
folgte ihm zögernd und mit einer unbestimmten inneren Spannung, ich
war noch nicht zum Nachdenken über seine Geschichte gekommen.
Soviel war mir natürlich klar, daß man damals disziplinarische
Maßnahmen ausgelöst, sie später aber wieder zurückgenommen
hatte.
Der Raum war dunkel, ich konnte nichts sehen, hörte ihn nur hin und
her laufen und hantieren.
»Schließen Sie die Tür, und setzen Sie sich hierher«, seine Stimme
klang beinahe drohend. Täuschte mich die Akustik des Raumes? Ich
schloß die Tür, und als ich mich wieder umwandte, hatte er eine
kleine Deckenbeleuchtung eingeschaltet und saß mit einem zweiten
Mann am Tisch. Das also war sein Partner, für den er immer das
Essen aus der Mensa mitbrachte. Daß ich nicht gleich draufgekommen
war, ich hatte ihn doch oft genug mit seinem Essen für zwei
Personen die Mensa verlassen sehen. So einsam war er also nicht,
wie ich mir auf Grund seiner Geschichte eingebildet hatte. Ich trat
näher, wollte mich vorstellen und entschuldigen, daß ich so formlos
eingedrungen war, als der zweite Mann sagte: »Ich begrüße Sie und
bitte um vorurteilsfreie Prüfung der erreichten wissenschaftlichen
Fakten. Versuch drei-eins-acht-sieben-zwei.«
Erschrocken blieb ich stehen und spürte, wie sich mir die Haare
aufrichteten. Das war der fünfte Mann, der Geschmacksroboter von
damals, alias Ordinarius Professor Hoffmeister! Ich kam mir richtig
blöd vor, daß ich nicht gleich daraufgekommen war, als er mich
aufforderte mitzukommen. Er hatte seine Geschichte in der Mensa
noch nicht zu Ende gebracht.
Der Alte bemerkte mein Erschrecken nicht. Er begann zu essen und
mit ihm gleichzeitig der Roboter. Drei Sekunden, nachdem er mit
knackenden Manipulatoren etwas von den Speisen in den Mund geführt
hatte, verkündete er das Ergebnis: »Bitter, Mandelpudding,
angebrannt.«
Der Alte lachte. »Kantinenessen, was erwarten
Sie, mein Verehrter!«
Jetzt trank der Roboter etwas. »Salzig, Kupfervitriol, wäßrige
Lösung, dissoziierend.«
Wieder lachte der Alte und sagte mit vollem Munde: »Ihre
Fehlerquote steigt, mein Lieber. Sie brauchen ein neues Gebiß, ihr
altes löst sich in seine Bestandteile auf!«
Der Roboter »aß und trank« weiter, verkündete seine Ergebnisse, und
der Alte lachte.
Ich ging langsam rückwärts zur Tür, öffnete sie so leise wie
möglich und hoffte, er würde mein Verschwinden nicht
bemerken.
Ich irrte mich.
»Schließen Sie die Tür von außen ab, und schieben Sie den Schlüssel
durch den unteren Türschlitz!«
Am nächsten Tag wartete ich auf ihn in der Mensa. Er kam zur gewohnten Zeit, füllte sein Tablett wie immer für zwei Personen. Ich wollte ihn ansprechen, aber er ging an mir vorbei, als hätte er mich nie gesehen, und verschwand mit seinen seltsam beschwingten Schritten.