Samstag, 1. März
»Du solltest nach ihr sehen«, drängte Pam, »sie ist jetzt seit fast einer Stunde da oben. Vielleicht braucht sie dich.«
»Aber sie wollte unbedingt allein sein«, meinte Cedric unbehaglich. Er fürchtete einen Zusammenbruch seiner Schwester und wollte nicht derjenige sein, der ihn auffangen musste. »Möchtest du nicht lieber …?«
»Du bist ihr Bruder. Zu mir hat sie doch überhaupt keine Beziehung.«
Schließlich stieg Cedric widerwillig aus dem Auto. Sie parkten vor dem Haus, in dem Marc Reeve gewohnt hatte. Jacqueline Reeve hatte Rosanna den Schlüssel überlassen und ihr gesagt, sie dürfe sich eine Erinnerung aus der Wohnung holen, was immer sie wolle. Es ging Rosanna nicht gut, deshalb hatten Cedric und Pam sie begleitet, aber sie hatte dann doch darum gebeten, allein nach oben gehen zu dürfen.
»Ich brauche einen Moment für mich«, hatte sie gesagt. Pam hatte recht: Der Moment währte nun bereits eine Stunde.
Cedric überquerte die Straße. Seine gebrochenen Rippen schmerzten noch immer, aber die Situation war nicht mehr mit der am Anfang vergleichbar. Er konnte sich viel besser bewegen und hatte sogar die Reise von Taunton nach London gut überstanden. Bald würde er wieder ganz der Alte sein.
Die Tür zum Haus war nur angelehnt. Er stieg die Treppen hinauf und betrat die Wohnung. Seine Schwester stand mitten in Marcs Wohnzimmer, und fast hatte es den Anschein, als habe sie sich seit ihrer Ankunft nicht von der Stelle gerührt.
»Pam meinte, ich soll mal nach dir sehen«, sagte er, »du bist schon so lange hier oben.«
Sie wandte sich langsam zu ihm um. »Schon lange?«, fragte sie.
»Seit einer Stunde.«
Sie wirkte überrascht. »Das habe ich gar nicht bemerkt. «
Er ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Die kleine, weiß geflieste Küchenzeile. Die preiswerten Möbel, die weder hässlich noch schön, sondern einfach nur neutral waren. Der schlichte Teppichboden. Er merkte, dass er fröstelte.
Wie kann man so leben, fragte er sich, wie kann man es in einer solch grauen Kühle aushalten?
Der einzige persönliche Gegenstand war ein Aquarell an der Wand. Ein Schiff vor einer Hafenmauer. Das Gemälde stellte zwar wenigstens eine Besonderheit inmitten der reinen Zweckmäßigkeit aller anderen Gegenstände dar, aber sein Motiv war so dunkel und melancholisch, dass es die allgemeine Tristesse nicht im Mindesten aufhellte.
Rosanna war seinen Blicken gefolgt.
»Wir leben alle so sehr in Klischees«, sagte sie, »selbst dann, wenn wir glauben, die Dinge in ihrer Wahrheit und Richtigkeit bis auf den Grund zu durchschauen. Marc war perfekt darin, sein eigenes Bild zu kreieren, und selbst ich habe nicht bemerkt, wie absolut unvollständig seine Selbstdarstellung war. Erfolgreicher Anwalt. Ehrgeizig. Attraktiv. Intelligent. Ja, das war er alles. Aber vor allem war er ein zutiefst depressiver Mensch. Er hat ungeheuer viel Kraft darauf verwandt, dies niemanden merken zu lassen.«
»Die Wohnung lässt diesen Schluss zu, ja«, sagte Cedric. »Ich habe noch nie einen Raum gesehen, der so …« Er suchte nach dem richtigen Wort.
»Unpersönlich«, sagte Rosanna. »Kalt. Leblos. Wie sieht es in einem Mann aus, der sich eine solche Umgebung schafft?«
»Glaubst du, die Sache mit Elaine hat ihn in diese Verfassung getrieben? Oder die Geschichte mit seinem Sohn?«
»Ich glaube, dass er schon vorher depressiv war. Sein rücksichtsloses Vergraben in seiner Arbeit war schon Ausdruck davon. Aber ich weiß so wenig über ihn, Cedric. Praktisch gar nichts. Nichts über seine Kindheit und Jugend, seine Herkunft. In den zwei Wochen, die wir einander kannten, war er ja nur damit beschäftigt, seine Version der Geschichte vom Januar 2003 aufrechtzuerhalten. Er muss sich gefühlt haben wie jemand, der mit dem Rücken zur Wand steht. Ständig musste er neu auf das reagieren, womit ich daherkam. Ich ließ nicht locker, ich ließ ihn nicht einmal Atem holen. Ich war verbissen in den Gedanken, seine Unschuld zu beweisen. Und am Ende … habe ich ihm keinen Ausweg mehr gelassen.«
Er konnte ihre Traurigkeit spüren, sie war fast greifbar, vermischt mit dem Schmerz, den Marc Reeve in diesem Raum zurückgelassen hatte. Er hätte sie gern in die Arme genommen, aber er hatte das Gefühl, dass sie das nicht gewollt hätte.
So sagte er nur: »Er hat sich seine Ausweglosigkeit selber gezimmert, Rosanna. Er hat in der Nacht damit begonnen, in der Elaine verunglückte. Wenn es wirklich ein Unfall war, dann hätte er ihn nie vertuschen dürfen. Das war der Anfang vom Ende.«
»Ja«, sie starrte wieder zum Fenster, hinter dem ein grauer Himmel den Tag auch nicht fröhlicher machte, »das war es. Aber das Ende hätte nicht so sein müssen, wie es dann tatsächlich war. Wenn ich zu ihm gestanden hätte … wenn er gewusst hätte, dass ich zu ihm stehe … dann hätte es doch Hoffnung für ihn gegeben.«
»Vielleicht auch nicht. Es ist müßig, zu spekulieren. Rosanna, ich kann mir denken, wie du dich fühlst, aber … es nützt nichts. Du machst dich kaputt damit. Auch damit, hier in dieser schrecklichen Wohnung herumzustehen. Nimm etwas, irgendeinen Erinnerungsgegenstand, und dann lass uns gehen.«
»Was soll ich denn nehmen? Wirklich, Cedric, ich weiß nicht, was von den Dingen hier eine Verbindung zwischen mir und ihm darstellen sollte.«
Sie sah so unglücklich aus. Er hätte sie gern an der Hand genommen und einfach aus diesem Haus gezogen.
»Wie geht es nun weiter?«, fragte er.
Sie zuckte die Schultern. Trotz des Kummers in ihren Augen hatte Cedric den Eindruck, dass es sie ein wenig erleichterte, für den Moment aus dem Grübeln um Marc Reeve gerissen zu werden.
»Ich weiß es noch nicht. Ich denke, dass ich mir einen Job in London suchen werde. Und eine Wohnung.«
»Du gehst definitiv nicht zu Dennis zurück?«
»Nein.«
»Und Rob?«
Etwas Warmes und Weiches in ihrem Ausdruck glättete für den Augenblick die Linien, die sich während der letzten acht Tage in ihren Zügen eingegraben hatten. »Er war wie ein Fels in der Brandung, Cedric. In diesem schrecklichen Moment, als ich … Marc fand … Mein Gott, Rob ist sechzehn Jahre alt. Aber er war so stark. So gefasst. Er hielt mich fest, und ich glaube, nur so konnte ich diesen Moment überstehen. Ich weiß nicht, was ohne ihn passiert wäre.«
»Er liebt dich sehr.«
»Er würde gern bei mir leben.«
»Dazu brauchtest du aber Dennis' Zustimmung.«
»Vielleicht lässt er mit sich reden. Es ging ihm immer nur darum, dass Rob glücklich ist. Ich denke, wir beide, Rob und ich, haben eine Chance.«
Sie schwiegen, und Cedric versuchte zu begreifen, dass seine kleine Schwester gerade ihr gesamtes Leben aus den Angeln hob und umstürzte, und dass sie dies mit einer Entschlossenheit und Klarheit tat, die er nur bewundern konnte.
»Ich fliege in ein paar Tagen nach New York zurück«, sagte er schließlich, »ich bin schon wieder ziemlich fit. Der Arzt meinte zwar, ich solle noch warten, aber das Herumhängen bekommt mir nicht. Es muss jetzt irgendwie weitergehen. «
»Nimmst du Pamela mit?«
»Sie würde sehr gern mitkommen. Ich bin noch unschlüssig. Ich glaube nicht, dass ich ihre Zuflucht sein kann – ausgerechnet ich! Ich muss erst einmal mein eigenes Leben in Ordnung bringen.«
»Vielleicht braucht sie nur ein Sprungbrett. Sie ist stark, Cedric, sonst hätte sie die letzten Jahre gar nicht überstehen können. Ich glaube nicht, dass sie dir lästig sein wird.«
»Ich mag sie«, sagte Cedric, »aber ich habe noch keine Ahnung, was letztlich daraus werden könnte.«
»Ich habe auch keine Ahnung, was aus meinem Leben wird«, entgegnete Rosanna.
»Schöner Mist, das alles«, meinte Cedric und strich sich die Haare aus der Stirn, eine Verlegenheitsgeste, mit der er häufig schwierige Momente überspielte.
»Ich war bei Geoff«, fuhr er dann übergangslos fort, »zum letzten Mal vorerst. Habe mich verabschiedet.«
»Und er hatte sicher Oberwasser, nicht wahr? Weil er es die ganze Zeit über gewusst hat?«
Jetzt musste Cedric lachen. Zum ersten Mal an diesem Tag. »Der gute alte Geoff. Unser Cato. Ceterum censeo, Marc Reeve ist der Täter. Das kam ja schon gebetsmühlenartig von ihm. Und nun hat er tatsächlich recht behalten. Aber er hat nicht triumphiert. Er wirkte einfach nur erleichtert, dass er Bescheid weiß, dass er abschließen kann. Nur das war letztlich wichtig.«
Sie konnte das verstehen. Abschließen zu können war wichtig. Gewissheit zu haben.
Er schien zu ahnen, was sie dachte.
»Ist es das, was dich so sehr quält?«, fragte er vorsichtig. »Dass du nie die letzte Gewissheit haben wirst, ob Marc die Wahrheit gesagt hat? Dass es ein Unfall war mit Elaine? Und nicht doch ein Angriff von seiner Seite?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein. Ich habe mich noch draußen in Wiltonfield entschlossen, ihm zu glauben, und ich bleibe dabei. Ich glaube ihm. Was mich quält, ist, dass … ich ihn das nicht mehr habe wissen lassen können. Dass ich nichts getan habe, ihn einen anderen Ausweg sehen zu lassen als den, für den er sich am Ende entschieden hat. Das quält mich. Das wird mich immer quälen.«
Was sollte er darauf erwidern?
»Marcs Selbstmord war ein Akt der Panik«, sagte er schließlich, »so wie die Beseitigung von Elaines Leiche. In kritischen Situationen neigte er offenbar zu Kurzschlusshandlungen.«
»Auch etwas, was man nicht geglaubt hätte, wenn man ihm im Alltag gegenüberstand«, sagte Rosanna. »Nein, nicht im Mindesten hätte man es geglaubt. Seine Maske war immer perfekt.« Sie streckte den Arm aus, nahm die Hand ihres Bruders.
»Komm, lass uns gehen. Ich finde hier einfach nichts, was ich mitnehmen möchte. Es liegt nicht nur daran, dass diese Wohnung nichts hergibt. Es liegt vor allem daran, dass ich ihn nicht kannte.«
Sie traten auf die Straße. Der Wind fegte kalt zwischen den Häusern hindurch, obwohl es der erste März war und der Frühling zum Greifen nah schien.
Der erste März, dachte Rosanna, Joshs Geburtstag. Er wird sich nie mit seinem Vater versöhnen können. Aber vielleicht hätte er es auch nicht gewollt.
Pamela hatte das Auto verlassen und ging auf dem Gehsteig auf und ab, beide Arme fest um ihre Mitte geschlungen. Ihre Nase war rot, die Lippen bläulich. Aber sie sah entspannter aus, wirkte nicht mehr so gehetzt. Sie hatte sich vor ihrem Peiniger Pit Wavers für immer in Sicherheit gebracht, indem sie ihn erschoss. Sie hatte den Mörder von Jane French und den mutmaßlichen Mörder von Linda Biggs damit zur Rechenschaft gezogen. Der allererste Anflug eines neuen Selbstbewusstseins, einer neuen Kraft, war seither in ihren Augen zu lesen.
»Meine Güte, endlich«, sagte sie, als sie die Geschwister auf sich zukommen sah, »es ist schrecklich kalt hier draußen. Ich erfriere fast.«
Unschlüssig standen die drei einander gegenüber.
»Und was nun?«, fragte Cedric. »Was machen wir mit dem Rest des Tages?«
Was machen wir mit dem Rest unseres Lebens?, dachte Rosanna, aber sie sprach es nicht aus. Wer hätte ihr auch darauf eine Antwort geben sollen? Cedric, bei dem sie spürte, dass er sie für ihre vermeintliche Entschlossenheit bewunderte? Wie sollte er die Leere in ihrem Innern verstehen? Wie sollte er ahnen, dass das, was er für Entschlossenheit hielt, bloße Verzweiflung war?
»Was mich betrifft«, sagte Pamela, »ich könnte jetzt erst einmal eine Stärkung brauchen. Eine kuschelige Kneipe und einen doppelten Schnaps.«
»Gute Idee«, stimmte Cedric sofort zu.
Sie ließen den Wagen stehen und gingen nebeneinander die Straße entlang, in einträchtigem Schweigen. Irgendwo in der Nähe würden sie eine Kneipe finden. Und dann würde ihnen einfallen, was sie als Nächstes tun konnten. Und als Nächstes.
Für den Rest des Tages.
Für die Zeit danach.