Freitag, 15. Februar
Elaines Gesicht beherrschte die gesamte Rückwand im Studio. Es war das Gesicht der dreiundzwanzigjährigen Elaine, das Foto, das damals nach ihrem Verschwinden auch durch die Zeitungen gegangen war. Eine junge Frau, eigentlich ein junges Mädchen noch, mit großen ängstlichen Augen und einem verbitterten Zug um den ernsten Mund. Dunkle, dünne Haare hingen in die hohe Stirn. Es war kein hässliches Gesicht und auch kein schönes. Es war unscheinbar, etwas zu rund, etwas konturenlos. Wer sich länger darin vertiefte, entdeckte die Traurigkeit in den unfertigen Zügen.
Vor der Wand saßen Rosanna und die Moderatorin Lee Pearce einander in großen schwarzen Sesseln gegenüber. Rosanna hatte lange überlegt, was sie bei ihrem Fernsehauftritt anziehen sollte, und sich schließlich für schwarze Hosen und ein leuchtend rotes Jackett entschieden. Unglücklicherweise hatte Lee dieselbe Wahl getroffen. Ihre Jacke war nur eine kleine Nuance dunkler und sah besonders schön zu ihren taillenlangen, goldblonden Haaren aus. Rosanna kam sich mit ihren kurzen dunklen Wirbeln am Kopf plötzlich völlig unattraktiv vor. Zudem empfand sie sich als zu stark geschminkt. Die Maskenbildnerin hatte zwar versichert, die Farbe werde größtenteils vom Studiolicht geschluckt, aber trotzdem fühlte sich Rosanna unsicher.
Ich hätte nicht kommen sollen, dachte sie unbehaglich.
Und das nicht nur deshalb, weil sie sich der unerträglich selbstsicheren, Barbie-ähnlichen Moderatorin unterlegen fühlte. Sondern auch, weil ihr hätte klar sein müssen, dass die Sendung auf Effekte abzielte, nicht auf eine sachliche Darstellung der Situation. Private Talk war billigster Boulevard. Andernfalls hätte sich auch Nick Simon kaum derart dafür begeistert.
Er saß in der ersten Reihe der Studiogäste. Etwa fünfzig Menschen hatten hier Platz, jeder Stuhl war besetzt. Es war jüngeres Publikum, das sich eingefunden hatte. Aber auch ein paar ältere Menschen saßen dazwischen. In jedem Fall waren sie alle, wie Rosanna rasch überblickt hatte, eher schlichten Gemüts.
»Es wäre uns sehr daran gelegen gewesen, auch Mr. Marc Reeve hier im Studio begrüßen zu dürfen«, sagte Lee Pearce gerade mit strahlendem Lächeln in eine der Kameras, »aber leider hat er sich nicht dazu überreden lassen.« Sie wandte sich an Rosanna. »Was ist los mit Mr. Reeve, Rosanna? Sie schreiben über ihn, Sie haben das Material gesichtet. Warum versteckt er sich?«
Rosanna konnte sich vorstellen, dass Marc in seinem Wohnzimmer saß und seufzend das Gesicht in den Händen barg. Journalisten vom Schlag einer Lee Pearce waren es gewesen, die ihn damals die Karriere gekostet hatten. Sensationsgierige Fragen, die dem Zuhörer bereits eine vorgefasste Meinung aufnötigten und den Antwortenden unweigerlich in eine Rechtfertigungsposition trieben. Was ihn von Anfang an in eine ungünstige Lage brachte.
»Mr. Reeve versteckt sich nicht und hat es auch gar nicht nötig, sich zu verstecken«, sagte sie mit einiger Schärfe in der Stimme. »Beispielsweise war er sofort zu einem Gespräch mit mir bereit. Genauer gesagt, wir haben bereits zwei Gespräche miteinander geführt. Sehr offene Gespräche.«
Sie sah nicht zu Nick hin, aber sie konnte förmlich spüren, wie er zusammenzuckte. Sie hatte bei ihm die Version vertreten, Reeve habe ihr gegenüber jede Stellungnahme abgelehnt. Wahrscheinlich blickte auch Reeve daheim ungläubig in den Fernseher, denn sie verstieß gerade gegen eine ihrer ersten Abmachungen. Bei beiden Männern verspielte sie eine Menge Vertrauen, und mit Nick würde sie nach der Sendung richtigen Ärger bekommen. Aber sie hatte den Entschluss, von ihrem ursprünglichen Konzept abzuweichen, ganz spontan gefasst. Sie begriff, worauf die Sendung hinauslief: Marc Reeve zum Täter zu stempeln. Der Mann, der wildfremde Frauen in seine Wohnung lockte und sie dann für immer verschwinden ließ. Sie konnte sich besser für ihn einsetzen, wenn sie zugab, ihn persönlich zu kennen.
»Sehr offene Gespräche?«, hakte Lee ein. »Er hat Ihnen erzählt, was damals wirklich geschah?«
»Er hat mir genau das erzählt, was er schon immer über jenen Abend vor fünf Jahren gesagt hat. Nichts anderes. Seine Schilderung kam mir an keiner Stelle unglaubwürdig vor. Übrigens«, fügte sie hinzu, »ging es der Polizei damals ja genauso.«
»Verzeihen Sie, wenn ich ein bisschen naiv wirke«, sagte Lee, und ihr Strahlen verriet, dass sie sich selbst nicht im Geringsten als naiv empfand, »aber ich hatte und habe ein Problem mit der Geschichte, die Marc Reeve wieder und wieder in Umlauf brachte. Ich meine, ist es nicht merkwürdig, dass ein Mann eine ihm vollkommen fremde, sehr junge Frau am Flughafen anspricht und ihr anbietet, die Nacht mit ihm alleine in seinem Haus zu verbringen? Ohne irgendwelche anrüchigen Absichten zu hegen?« Sie lächelte wieder. »Oder wirke ich jetzt altmodisch auf Sie?«
Im Publikum entstand das Raunen, auf das Lee offensichtlich abgezielt hatte. Es war deutlich, dass sich die Zuschauer mit ihr solidarisierten und sie weder als naiv noch als altmodisch empfanden. Nein, man stimmte ihr völlig zu: Reeves Verhalten war im höchsten Maß verdächtig.
»Er hat sie nicht angesprochen«, sagte Rosanna. »Die beiden sind zusammengestoßen, als …«
»Oh«, unterbrach Lee, »das ist schon eine seltsame Geschichte, finden Sie nicht? Im Gedränge eines Flughafens oder auch nur in der Kantine hier im Sender stoße ich auch sehr häufig mit anderen Menschen zusammen. Auch mit Männern. Also, wenn ich jeden gleich mit nach Hause nähme …« Sie beendete den Satz nicht, lächelte aber vieldeutig. Das Publikum lachte.
Rosanna begann sehr nachdrücklich etwas von der Aussichtslosigkeit zu begreifen, in der sich Marc Reeve damals den Medien gegenüber befunden hatte.
Aber es war auch ein kritischer Punkt für mich, dachte sie, die Frage nach dem Warum. Warum hat er sie mitgenommen?
Was hat sie in Ihnen berührt?, hatte sie ihn gefragt, gestern Vormittag erst, in dem kleinen Cafe, und zum ersten Mal schien er den Eindruck gehabt zu haben, dass ihm jemand die entscheidende Frage stellte.
Sie entsann sich seiner Antwort.
Ich hatte nicht das Gefühl, einfach nur einer weinenden Frau gegenüberzustehen. Eher kam sie mir vor wie ein… ja, wie ein Kind. Ein verlassenes, verzweifelt weinendes Kind. Ihre Verzweiflung riss mich mit, diese vollkommene Trostlosigkeit, diese Hoffnungslosigkeit. Sie schien nicht einfach wegen eines ausgefallenen Fluges oder einer ihr bevorstehenden Nacht in einer überfüllten Wartehalle zu weinen. Sie weinte um ihr ganzes Leben. Später, als sie mir von sich erzählte, begriff ich, dass ich richtig empfunden hatte. Sie befand sich in einer Sackgasse. In ihrem Leben war immer alles schiefgelaufen. Sie war der geborene Pechvogel, das geborene Mauerblümchen, der geborene Verlierer. Und dann tut sie einmal einen Schritt nach vorn. Einen für sie großen und gewagten Schritt. Sie nimmt eine Einladung nach Gibraltar an. Ignoriert die flehenden Bitten und all die mehr oder weniger subtilen Unterdrückungsinstrumente ihres Bruders. Reist zitternd und zagend tatsächlich bis London. Entschlossen, eine Wende in ihrem Dasein herbeizuführen. Mutig zu sein. Nicht länger im Schatten zu verharren, wo niemand sie sieht. Und was passiert? Nebel. Der Flug platzt. Sie verliert schon wieder. Ihr Leben läuft schon wieder schief. An 364 Abenden im Jahr starten die Flugzeuge von Heathrow, aber nicht dann, wenn Elaine Dawson davonfliegen will.
Sie bricht zusammen. Der Eindruck, von jedem freundlichen Schicksal aussortiert zu sein, nimmt plötzlich fast obsessiven Charakter an. Sie fällt in einen unfassbaren Schmerz. Und rennt gegen einen zufällig daherkommenden Mann. Gegen mich unglücklicherweise.
Sie haben gefragt, was sie in mir berührt hat? Ich glaube, den Beschützer. Den Vater. Ja, der Begriff Vater trifft es am besten. Bestimmt nicht den Mann. Ich hatte nicht die geringsten sexuell ausgerichteten Beweggründe, als ich sie mitnahm. Die hat man nicht gegenüber einem so herzzerreißend weinenden Kind. Ich jedenfalls nicht.
Das war's. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Mehr werde ich nie dazu sagen können.
»Rosanna?«, fragte Lee. »Sind Sie noch bei uns? Ich sagte gerade, dass ich …«
Rosanna riss sich zusammen. Es hatte keinen Sinn, Marcs Worte hier wiedergeben zu wollen. Sie würden an der gestylten Puppe neben ihr sicherlich abprallen. An dem wenig intelligenten Publikum ohnehin. Und zudem hätte sie zu viel von Elaine preisgegeben. Elaine verdiente es nicht, dass ihre persönliche Tragödie derart öffentlich ausgebreitet wurde.
»Ich bin noch da«, sagte Rosanna, »und ich höre genau zu. Sie sagten gerade, dass Sie nicht jeden Mann, mit dem Sie zufällig zusammenstoßen, mit nach Hause nehmen.« Sie lächelte ebenso freundlich wie ihr Gegenüber und freute sich, dass ihre boshafte Betonung ein wütendes Blitzen in Lees Augen hervorrief. Sie selbst kam nun langsam in Fahrt. Sie hatte keine Lust mehr, sich von einer Lee Pearce vorführen zu lassen.
»Wir sollten einfach ohne Vorurteile einen bestimmten Sachverhalt zur Kenntnis nehmen«, fuhr sie fort, ehe Lee einhaken konnte. »Eine tränenblinde Frau stolpert in eine Herrentoilette auf dem Flughafen. Ein herauskommender Mann prallt gegen sie, macht sie auf ihren Irrtum aufmerksam. Sie bricht in diesem Moment buchstäblich zusammen vor Weinen. Natürlich hätte er weitergehen können. Er kannte die Frau nicht, ihr Kummer ging ihn nichts an. Aber hätten Sie das getan?« Sie schaute ins Publikum. »Oder Sie? Oder Sie? Manche von uns nicht, manche sehr wohl. Wir beklagen die Kälte in unserer Gesellschaft. Keiner schert sich um den anderen. Aber heute Abend, und nicht erst heute, muss ein Mann, der sich genau diesem bedenklichen Trend widersetzte, erleben, wie er für seine Hilfsbereitschaft und für die freiwillige Übernahme von Verantwortung an den Pranger gestellt wird. Er hat die junge Frau mitgenommen. Zum Essen eingeladen. Sich die halbe Nacht lang ihre Probleme angehört. Sie in seinem Gästezimmer schlafen lassen und sie am nächsten Morgen sogar noch bis zur U-Bahn gebracht. Sich vergewissert, dass sie im richtigen Wagen sitzt. Und was macht die Presse dafür aus ihm? Mindestens einen Triebtäter. Einen Vergewaltiger. Und mehr noch, einen Mörder. Denn genau diese beiden Tatvorwürfe – Vergewaltigung und Mord – waren es, die mehr oder weniger subtil in der Presse immer wieder gegen ihn erhoben wurden. Und heute Abend zielen sämtliche Fragen ebenfalls in diese Richtung. Ich muss sagen, eine bessere Politik der Abschreckung für jeden, der gelegentlich erwägt, sich hilfsbereit zu zeigen, ist kaum denkbar.«
Sie hielt inne. Sie konnte spüren, dass das Publikum mitging. Sie hatte die Leute erreicht.
»Sie vergessen einen nicht ganz unwesentlichen Fakt«, sagte Lee spitz. Sie lächelte jetzt nicht mehr. »Elaine Dawson ist seit jener Nacht verschwunden. Spurlos. Sie folgte Marc Reeve in dessen Haus und ward nie mehr gesehen. Legt dies nicht gewisse Schlüsse nahe? Auch dann, wenn man, wie Sie offensichtlich, dem Charme und der Redekunst eines attraktiven Anwalts restlos verfallen ist?«
Rosanna nahm die letzte Provokation nicht an. »Sie sprechen von Schlüssen. Es hat aber in den Medien immer nur einen Schluss gegeben. Tatsächlich sind verschiedene Möglichkeiten denkbar.«
»Und die wären?«
»Ich weiß beispielsweise, dass es einen Mann in Elaines Leben gab. Aufgrund der besonderen Umstände, die sich vor allem aus ihrem Verpflichtungsgefühl gegenüber ihrem Bruder ergaben, hielt sie diese Beziehung völlig unter Verschluss. Ich weiß auch, dass Elaine aus ihrem Leben ausbrechen wollte. Aus Gründen, die niemanden etwas angehen, die mir, als einem Menschen, der sie seit frühester Kindheit gekannt hat, aber sehr einleuchten. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sie die Chance, die ihr diese Reise und ihr unerwarteter Verlauf boten, ergriffen hat.«
»Das heißt?«
Rosanna blickte direkt in die Kamera. »Ich bin überzeugt, dass Elaine lebt«, sagte sie, »und dass sie untergetaucht ist. Vielleicht hält sie sich noch in England auf, vielleicht auch nicht. Aber sie lebt. Niemand sollte sie für tot erklären, nur weil sie sich die Freiheit genommen hat, über ihr weiteres Leben selbst zu bestimmen.«
Sie schaute ins Publikum, ignorierte Nick Simons wütenden Blick.
»Vielleicht will sie einfach in Ruhe gelassen werden«, fügte sie hinzu, »und eigentlich könnte sie erwarten, dass wir alle diesen Wunsch respektieren. Auch und gerade die Presse.«
Das Publikum klatschte heftig Beifall.
Und mir entzieht Nick nachher den Auftrag, dachte sie.