Montag, 11. Februar
1
Angela Biggs wusste, was sie wollte: Sie wollte aus der trostlosen Sozialwohnung in Islington heraus und in ein besseres Leben hinein. Sie hatte keine Lust, noch viele Jahre lang in der bedrückenden Enge von achtzig Quadratmetern zusammen mit ihren Eltern und ihren vier jüngeren Geschwistern zu hausen. Sie teilte sich eine winzige Kammer mit ihrer Schwester. Die drei Jungs schliefen in einem etwas größeren Zimmer nebenan. Die Eltern klappten nachts das Sofa im Wohnzimmer aus, um darauf schlafen zu können. Dad hatte manchmal Arbeit, meistens aber nicht. Mum hatte begonnen, schon am frühen Morgen zu trinken. Den ältesten der Brüder hatte neulich erst die Polizei nach Hause gebracht, weil er zusammen mit anderen Jugendlichen in einen Spirituosenladen eingebrochen war. Angelas Schwester, die sechzehnjährige Linda, knallte sich seit einigen Monaten pfundweise Schminke ins Gesicht und zog Röcke an, die so kurz waren, dass sie es auch gleich hätte sein lassen können. Deswegen hatte sie Streit mit ihrem Vater gehabt, drei Tage zuvor.
»In dem Aufzug verlässt du nicht das Haus!«, hatte er gebrüllt, als sie sich anschickte, im Jeans-Mini und Overknee-Stiefeln aus der Wohnung zu stöckeln.
»Mensch, was ist denn dabei?«, hatte sie zurückgeschrien. »Schau dich doch mal um! So laufen jetzt alle rum!«
Was nicht stimmte, wie Angela wusste. Viele junge Mädchen zogen sich sehr sexy an, aber nicht so grell, so völlig übertrieben. Linda konnte vor lauter Farbe fast nicht mehr aus den Augen schauen, und die bleistiftdünnen Absätze ihrer Stiefel waren mörderisch hoch. Der Rock bedeckte kaum ihren Po. Was Angela aber wieder einmal aufgefallen war, war die Qualität der Klamotten: Die Aufmachung mochte billig sein, die Sachen selbst waren es mit Sicherheit nicht gewesen. Angela kannte sich ein wenig aus, weil sie in ihrer Sehnsucht nach einem besseren Leben oft durch die feinen Etagen von Harrods streifte und heimlich edle Stoffe berührte und mit Blicken in sich aufsog. Sie hatte ein Gespür dafür entwickelt, was Dinge wert waren. Es war ihr schleierhaft, wie Linda, die nach ihrer abgebrochenen Schullaufbahn, einer abgebrochenen Lehre und einem abgebrochenen Job im Büro einer Autowerkstatt arbeitslos war, ihre Outfits finanzierte.
Sie hatte die Schwester danach fragen wollen, aber dazu war es nicht mehr gekommen. Denn der Streit mit Dad war an jenem Abend eskaliert, und nach einem heftigen Wortgefecht, von dem sämtliche Bewohner des Sozialblocks, in dem sie lebten, jedes Wort mitbekommen haben dürften, hatte Dad gebrüllt: »So will ich dich hier nicht mehr sehen, du Nutte!«
»Du wirst mich hier überhaupt nicht mehr sehen!«, hatte Linda zurückgeschrien, bevor sie türenschlagend die Wohnung verließ.
Seitdem war sie nicht mehr aufgetaucht. Seit drei Nächten blieb ihr Bett leer.
Während der ersten beiden Nächte hatten alle gedacht, Linda sei zu ihrem Exfreund gegangen. Von ihm hatte sie sich zwar ein halbes Jahr zuvor getrennt, aber die beiden kamen noch immer recht gut miteinander klar, und sie hatte noch zwei- oder dreimal bei ihm übernachtet. Am Sonntag aber hatte ihn Angela zufällig an einer Bushaltestelle getroffen, wo er mit anderen Jugendlichen herumhing und Bierdosen durch die Gegend kickte. Sie hatte ihn nach Linda gefragt, aber er hatte sie nur erstaunt angesehen. »Linda? Die is nich bei mir. Die hab ich ewig nich mehr gesehen.«
Das hatte Angela daheim erzählt, ohne zunächst allzu große Aufregung damit auszulösen.
»Dann ist sie eben bei einem anderen Kerl«, hatte ihr Vater gebrummt. »Die hat doch immer mit irgendeinem was laufen. Ohne einen Typen, der sie anhimmelt, kann die doch gar nicht!«
Jetzt war es Montag früh, und beim Aufwachen hatte Angela gleich hinüber zu dem anderen Bett gespäht, in der vagen Hoffnung, Linda sei vielleicht doch irgendwann in der Nacht zurückgekehrt, und sie werde die neuerdings in schimmerndem Platinblond gefärbten langen Haare auf dem Kopfkissen sehen. Aber das Bett war leer, und allmählich kam das Angela seltsam vor. Sie hatte plötzlich ein mulmiges Gefühl.
Sie stand auf und trat in den engen Flur hinaus. Sally, ihre Mutter, verquollen vom Bier des Vorabends, mühte sich gerade damit ab, ihre Söhne aus den Betten zu jagen und zu überreden, in die Schule zu gehen. Ihr Vater, Gordon, saß am Tisch in der Küche und las die Zeitung. Angela setzte sich neben ihn.
»Linda ist immer noch nicht da«, sagte sie.
Ihr Vater blickte nicht auf. »Na und? Dann wird sie irgendwo vielleicht mal nachdenken, wie man sich anständig anzieht. Kann ihr nur guttun.«
»Aber wo hält sie sich die ganze Zeit über auf? Es ist kalt draußen. Sie kann ja nicht in den Parks herumhängen.«
»Ich hab's doch gestern schon gesagt. Die ist bei einem Kerl. Inzwischen hat sie ja bald mit so ziemlich jedem Mann in London geschlafen, da wird sich wohl einer finden, der sie bei sich wohnen lässt.«
Sally kam in die Küche und ließ sich ächzend auf einen alten Barhocker fallen, der in der Ecke stand. Sie zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief.
»Wenn ich die durch die Schule hab«, sagte sie, wobei sie mit die ihre drei Söhne meinte, »dann zünde ich in der Kirche eine Kerze an. Das schwöre ich.«
Ihr Mann lachte, aber Sally ließ sich nicht beirren. »Doch. Das tu ich. Die kosten mich den letzten Nerv.«
Aus dem Badezimmer war wüstes Gebrüll zu hören. Die Jungen schienen sich um den Vortritt in die Dusche zu prügeln.
Sally sah sich um. »Wo ist Linda?«
»Das versuche ich ja gerade mit Dad zu besprechen«, sagte Angela, »sie ist immer noch nicht nach Hause gekommen. Ich finde das langsam sehr merkwürdig.«
»Ich finde das auch merkwürdig«, meinte Sally, »die dritte Nacht! Mein Gott! Das hätte ich mir früher mal erlauben sollen! Mit sechzehn!«
»Du hast sie ja immer total verwöhnt!«, brummte ihr Mann. »Die durfte doch alles. Kein Wunder, dass dabei ein erstklassiges Flittchen herausgekommen ist.«
»Meine Tochter ist kein Flittchen!«
»Ach nein? Hast du sie dir mal genau angeschaut in der letzten Zeit? Wie die rumläuft? Die ist nicht mehr dein kleines Mädchen!«
»Sie ist sechzehn! Was erwartest du denn?«
»Ein bisschen Anstand! Benehmen! Wenigstens ihren Eltern gegenüber! Was ist denn das für eine Art, einfach wegzulaufen und nächtelang nicht heimzukommen!«
»Du hast gesagt, du willst sie hier nicht mehr sehen«, sagte Angela.
Ihr Vater ließ endlich die Zeitung sinken. »Ich hab gesagt, ich will sie in dieser Aufmachung hier nicht mehr sehen! Wenn sie sich normal anzieht und sich nicht mit Schminke zukleistert, kann sie wieder herkommen!«
»Habt ihr eigentlich bemerkt, dass ihre Klamotten ziemlich teuer sind?«, fragte Angela. Ihre Eltern starrten sie an. »Teuer?«, fragte Sally zurück.
»Das ist doch weniger als nichts, was sie anzieht«, meinte der Vater, »wie kann denn das teuer sein?«
»Es sind teure Stoffe. Aus teuren Geschäften. Ich frage mich, wie sie die alle bezahlt hat.«
»Also, wenn sich herausstellt, dass sie klaut…«, setzte Gordon mit drohender Miene an, aber Sally fuhr sofort dazwischen: »Das tut sie nicht! Meine Kinder klauen nicht!«
»Ach nein? Deswegen hatten wir auch neulich erst die Polizei im Haus, als dein Sohn…«
»Er ist verführt worden. Er hat die falschen Freunde. Von allein … Himmel, jetzt brauche ich erst mal einen Schnaps!« Sally nutzte die Gelegenheit, sich den ersten Alkohol des Tages einzuverleiben.
»Vielleicht hat Linda neuerdings einen Typen mit Kohle aufgetan«, meinte Gordon, »und der schenkt ihr die feinen Sachen. Das zeigt, dass sie wenigstens ein bisschen Verstand hat. Ihr letzter war ja der größte Versager von ganz Islington. Wäre ja der Wahnsinn gewesen, mit dem zusammenzubleiben.«
Der Geruch von Alkohol durchzog die Küche. Sally hatte sich ordentlich eingeschenkt und saß wieder auf ihrem Barhocker. »Wieso, vielleicht kommt sie nach mir!«, meinte sie spitz. »Was das Einfangen von Versagern angeht!«
Gordon knallte die Zeitung neben sich auf den Boden. Aus schmalen Augen sah er seine Frau an. »Was willst'n damit sagen?«
Sally war noch nicht betrunken, sie ließ sich einschüchtern. »Nichts«, meinte sie.
Angela war verzweifelt. Ihre Eltern drohten schon wieder in Alkohol und Streit abzugleiten. Bald würden sie nicht mehr ansprechbar sein.
»Und wenn Linda etwas passiert ist?«, fragte sie. »Wenn sie deshalb nicht nach Hause kommt?«
»Was soll ihr denn passiert sein?«, fragte Gordon zurück. »Die liegt mit irgendeinem Kerl im Bett und lässt es sich gutgehen, und irgendwann steht sie hier wieder vor der Tür. Wirst sehen!«
»Aber Angela hat recht«, sagte Sally, »sie ist erst sechzehn und seit drei Nächten nicht nach Hause gekommen.«
»Ja, und was soll ich da machen?«, fragte Gordon. »Soll ich jetzt auf die Suche gehen, oder was?«
»Ihr müsst die Polizei verständigen«, sagte Angela. »Linda ist minderjährig, und sie ist verschwunden. Sie schwimmt seit einiger Zeit im Geld, und wir wissen nicht, warum. Ich meine, vielleicht ist das alles ja ganz harmlos, aber…« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Sie konnte förmlich zusehen, wie die Gesichter ihrer Eltern langsam versteinerten. Mit der Polizei mochte man in diesem Teil Islingtons, speziell in diesem Wohnblock, so wenig wie möglich zu tun haben. Nicht, dass die Beamten nicht ziemlich oft gerade hier herumschwirrten. In den meisten Familien kam es mit schönster Regelmäßigkeit zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, und häufig rief dann irgendein Nachbar anonym die Streife herbei, weil die Situation bedrohlich eskalierte. Auch die Jugendlichen, die hier lebten, waren immer wieder in Delikte verwickelt. Die Arbeitslosigkeit war hoch, der Alkoholkonsum noch höher. In nahezu jeder Familie gab es wenigstens ein Mitglied, das in kriminellen Aktivitäten steckte. Schon deshalb wäre es niemandem eingefallen, die Polizei ohne einen absolut zwingenden Grund aufzusuchen oder herbeizurufen. Eigentlich waren die Bullen die Gegner. Man brauchte sie bloß hin und wieder.
»Nur weil die 'n Liebhaber hat«, meinte Gordon.
»Vielleicht bringen wir sie damit in Schwierigkeiten«, stimmte Sally zu. Sie hatte ihr Glas fast leer getrunken. Zeit für ein neues.
Angela wusste, dass für diesen Tag von ihren Eltern keine Hilfe zu erwarten war. Und vielleicht hatten sie recht. Linda hatte einen neuen Freund, einen, der sie offenbar recht großzügig beschenkte und der sie nach dem Streit mit ihrem Vater bei sich aufgenommen hatte. Am Ende wäre sie richtig wütend, wenn man ihr nun die Polizei auf den Hals hetzte. Und doch … Angela hatte ein dummes Gefühl. Sie konnte es sich selbst nicht recht erklären, denn sie kannte ihre Schwester gut genug, um zu wissen, dass es ihr zuzutrauen war, ihre Familie ein wenig in Angst zu versetzen und ein paar Tage und Nächte einfach fortzubleiben. Aber eine innere Stimme sagte ihr, dass etwas nicht stimmte. Es gab keine logische Begründung. Es war ein Bauchgefühl, dem sie natürlich, wie die meisten Menschen in derartigen Situationen, heftig misstraute.
Trotzdem würde sie am Nachmittag zur Polizei gehen. Ihre Arbeit in einer Gärtnerei endete um halb fünf. Sie würde Lindas Verschwinden melden.
Und sich in diesem Fall aus tiefster Seele freuen, wenn sich herausstellte, dass sie mit ihrer Sorge völlig danebengelegen hatte.
2
»Ja«, sagte Nick Simon, »mit Marc Reeve musst du natürlich unbedingt sprechen, Rosanna. Ob du ihn allerdings hinhängen solltest, steht auf einem anderen Blatt. Meiner Ansicht nach hatte der Mann nichts mit Elaines Verschwinden zu tun und ist dennoch schlimm bestraft.«
Sie saßen in einem indischen Restaurant in London –Rosannas Lieblingsinder von früher, und es hatte sie gefreut und gerührt zu erleben, dass Nick sich daran erinnerte –, und gerade hatte sie ihm von ihrer Unterredung mit Geoffrey Dawson berichtet, auch von seiner wütenden Attacke gegen Marc Reeve. Sie konnte es Nick förmlich ansehen, wie sehr es ihn freute, sie für diese Geschichte gewonnen zu haben: Was Elaine Dawson anging, saß sie einfach dichter an der Quelle als irgendjemand sonst.
Aber auch Rosanna freute sich. Sie freute sich, in London zu sein, in einem Restaurant zu sitzen, in dem etliche Journalisten zu Mittag aßen. Sie hatte schon einige Kollegen von früher erkannt und freudig begrüßt. Die Atmosphäre um sie herum vibrierte von Lebendigkeit, von Hektik und Aufregung. Berufstätige Menschen, die rasch etwas aßen, sich dabei austauschten und dann weiterhasteten zu all dem, was sie noch an diesem Tag erwartete.
Früher war das ihre Welt gewesen, ihr Alltag. Normalität. Jetzt erst ging ihr auf, wie sehr sie dieses Leben vermisste. Wie eingesperrt und gelangweilt sie sich fühlte. Sah man ihr die Frustration an, wie Cedric behauptet hatte? Nick hatte davon nichts gesagt. Er hatte ihr allerdings auch keine Komplimente gemacht, wie früher so oft.
Plötzlich fragte sie sich in leiser Panik, ob es sich wirklich auf ihrem Gesicht abzeichnete. Welches es?, war zwangsläufig die nächste Frage. Stand es für eine unglückliche Lebenssituation? Für eine unglückliche Ehe? Für Dinge, die nicht so liefen, wie sie sollten?
Nicht der Moment, darüber nachzudenken, entschied sie. Später, nicht jetzt.
Sie konzentrierte sich auf Nick, auf das Gespräch. Sie würde den Auftrag annehmen, und sie würde versuchen, eine Glanzleistung zu vollbringen.
»Marc Reeve«, wiederholte sie, »der letzte Mann, der Elaine gesehen und mit ihr gesprochen hat. Wie hat man ihn damals eigentlich ausfindig gemacht? Hatte er sich nicht sogar selbst gemeldet?«
An die genauen Abläufe in jenen Wochen nach ihrer Hochzeit konnte sie sich tatsächlich nicht mehr genau erinnern, was auch damit zusammenhing, dass sie ja bereits in Gibraltar gelebt hatte und damit weitab von den Geschehnissen gewesen war. Was in der Presse zu dem Fall erschienen war, hatte ihr ihre Mutter am Telefon berichtet. Sie wusste, dass die Polizei damals einen Mann im Zusammenhang mit Elaines Verschwinden vernommen hatte, dass ihm jedoch nichts Ungesetzliches hatte nachgewiesen werden können. Genaueres hatte sie nicht mitbekommen.
»Soweit ich mich erinnere«, sagte Nick, »ging damals ein Hinweis aus seiner Nachbarschaft ein, aber fast gleichzeitig hat er sich auch selber gemeldet. Ich habe die Zeitungskopien aus unserem Archiv für dich mitgebracht, so dass du alles noch einmal nachlesen kannst. Elaines Bild war im Daily Mirror erschienen, und es gab sofort etliche Anrufe aus der Bevölkerung, wie das in solchen Fällen wohl immer üblich ist. Einer hatte sie in Schottland gesehen, der andere gleichzeitig in Land's End, und der dritte schwor, sie sei eine Woche zuvor auf dem Straßenstrich in Paris herumgestöckelt. Anrufe dieser Art, verstehst du? Aber zwei kristallisierten sich als sowohl wahrscheinlich als auch übereinstimmend heraus: der eines Nachbarn von Marc Reeve und der von Marc Reeve selbst. Der Nachbar hatte Elaine an jenem nebligen Abend gemeinsam mit Reeve in dessen Haus verschwinden sehen. Und Reeve selbst bestätigte das. Er ist in Heathrow irgendwie mit ihr zusammengetroffen und hat ihr für die Nacht sein Gästezimmer angeboten. An den Flughäfen ging ja nichts mehr, Tausende von Reisenden saßen fest, Hotelzimmer waren kaum mehr zu bekommen, man richtete sich auf Übernachtungen in den Wartehallen ein. Kein Wunder vielleicht, dass Elaine das Angebot annahm. Reeve schwor, dass er sie am nächsten Morgen in aller Frühe zur U-Bahn-Station Sloane Square begleitet hat, von wo aus sie erneut nach Heathrow fahren wollte, um noch irgendwie nach Gibraltar zu kommen. Es gibt keine Zeugen, die die beiden auf dem Weg zur U-Bahn gesehen haben, aber das ist nicht weiter verwunderlich, denn es war noch dunkel und zudem neblig. Und man konnte Reeve nicht nachweisen, dass es nicht so gewesen war. Am Ende führte diese Spur ins … Nichts.«
»Und doch ist es eine Spur«, sagte Rosanna, »die letzte. Weshalb ist Geoffrey Dawson so felsenfest überzeugt, dass Marc Reeve seine Schwester ermordet hat? Gab es noch irgendwelche Anhaltspunkte?«
Nick schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Es sei denn, man würde argumentieren, dass sich Reeve höchst verdächtig gemacht hat, als er eine ihm wildfremde junge Frau einlud, die Nacht bei ihm zu verbringen. Andererseits hat er es vielleicht wirklich nur nett und ohne jeden Hintergedanken gemeint. In den Zeitungen wurde über ihn berichtet. Danach kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass er ein Mörder, Vergewaltiger oder sonst etwas in dieser Art sein soll. Er war damals ein sehr angesehener Anwalt auf dem Sprung in die große Karriere in einer der renommiertesten Kanzleien Londons. Geld, Erfolg. Ein gut aussehender Mann. Der Typ, der es absolut nicht nötig hat, Frauen in seine Wohnung zu locken. Ich würde sagen, er dürfte eher Schwierigkeiten gehabt haben, Frauen daran zu hindern, sich ihm an den Hals zu werfen. Ich vermute, Geoffrey Dawson braucht einen Schuldigen, und da bietet sich Reeve an. Das haben ja manche so gesehen.«
»Wer noch?«
»Die Presse damals vor allem. Aus anderen Beweggründen als Dawson, versteht sich. Jener Nachbar, der Reeve bei der Polizei gemeldet hatte, ist mit seinem Wissen auch in die Medien gegangen. Der Mann war wohl einfach ein Wichtigtuer. Oder er hatte irgendetwas gegen Reeve, keine Ahnung. Jedenfalls wäre die ganze Sache weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit über die Bühne gegangen, wenn dieser Mensch nicht so ein Theater darum veranstaltet hätte. Wobei er übrigens heftigst von dem rachedurstigen Geoffrey Dawson unterstützt wurde. Und du weißt, wie die Zeitungen sind – ich will mich und Cover da gar nicht ausnehmen: Man braucht Storys. Ständig. Elaines Verschwinden allein wäre keine große Sache gewesen. Das ist bei Kindern anders, aber eine erwachsene Frau… Gott, die kann auch mit einem Liebhaber durchgebrannt sein oder so etwas! Also hat man Reeve ausgeschlachtet. Der Mann, der sie in Heathrow angesprochen und mit nach Hause genommen hat. Kurz darauf ist sie wie vom Erdboden verschluckt. Daraus ließ sich etwas machen, und das hat man dann auch ziemlich gründlich getan. Reeve wurde ganz schön durch den Dreck gezogen, und die Tatsache, dass ihm am Ende nichts nachzuweisen war, hat ihn dann auch nicht mehr wirklich gerettet.«
Sie runzelte die Stirn. »Du sagtest vorher, er wurde schlimm bestraft?«
»Die Sache blieb einfach an ihm kleben. Er galt nicht als ein Mann, dessen Unschuld erwiesen war, sondern als ein Mann, dessen Schuld nicht beweisbar war – das ist ein sehr relevanter Unterschied. Die Geschichte mit der renommierten Kanzlei war danach erst mal vom Tisch. Mandanten blieben fern. Für die Kanzlei, in der er bis dahin assoziiert gewesen war, war er nicht mehr tragbar. Ich glaube, er ging freiwillig. Machte sich selbstständig und schlägt sich heute wohl wieder recht gut durch. Ich meine, nicht dass die Leute noch groß darüber nachdenken oder mit dem Finger auf ihn zeigen. Aber es hat einfach einen massiven Knick in seiner Karriere gegeben, und den hat er nie ganz ausbügeln können. Geht man davon aus, dass er wirklich unschuldig ist, so ist das natürlich eine Tragödie.« »Ist er verheiratet?«
»Geschieden. Ob er wieder geheiratet hat, weiß ich nicht. Als das mit Elaine passierte, lebte er gerade in Scheidung. Seine Frau war mit dem gemeinsamen Sohn ausgezogen. Auch das hat man in der Presse gegen ihn benutzt: Warum läuft die Frau ihm weg? Was sagt das über ihn aus?« Nick schüttelte den Kopf. »Blödsinn, natürlich. Kein Mensch weiß, warum es zwischen den beiden schiefging. Passiert doch ständig. Wenn eine gescheiterte Ehe einen Menschen zum potenziellen Verbrecher macht, dann … gnade mir Gott!« Er grinste. Rosanna erwiderte sein Grinsen. Sie wusste, dass Nick bereits dreimal geschieden war.
»Hast du Reeves Adresse?«, fragte sie.
»Ich habe die Telefonnummer seines Büros. Er lebt übrigens nicht mehr unter derselben Adresse wie damals. Soweit ich weiß, ist er nach der Scheidung in eine kleine Wohnung umgezogen. Was du brauchst, um ihn zu kontaktieren, findest du in der Mappe mit den Zeitungsartikeln. Rosanna«, er sah sie ernst an, »du weißt, mir war sehr an dir gelegen für diese Serie, gerade wegen deiner persönlichen Bekanntschaft mit Elaine Dawson. Aber denk daran, der Fall stellt nur die erste Geschichte dar. Häng dich nicht zu sehr da hinein. Du hast noch mehr Fälle zu bearbeiten. Es geht auch nicht darum, das Rätsel zu lösen. Es geht nur darum, die Geschehnisse von damals noch einmal darzustellen und aufzuzeigen, welche Auswirkungen auf andere Menschen sich daraus ergaben. Im Fall Dawson sind die beiden interessantesten Figuren zweifellos der Bruder, der im Pflegeheim gelandet ist, und der Anwalt, dessen Karriere in die Binsen ging. Mehr brauchen wir nicht zu wissen.«
Sie nickte. »Ich nehme den Auftrag an, Nick, ganz klar«, sagte sie, »aber auf einmal denke ich, dass es emotional für mich doch schwerer wird, als gedacht. Als ich wieder in Kingston St. Mary war, als ich Geoffrey in Taunton traf – da stiegen so viele Bilder in mir auf. Von früher. Wir waren immer ein ganzes Rudel Kinder, das zusammen herumzog. Mein Bruder Cedric und Geoffrey waren dicke Freunde und zugleich die Anführer von uns allen. Sie bestimmten, was gespielt wurde, und gaben den Ton an. Elaine war ein ganzes Stück jünger als ich, und daher hatten wir persönlich nicht so viel miteinander zu tun, aber sie gehörte einfach dazu. Ich meine… sie war in den Jahren meiner Kindheit ein Teil meines Lebens. Ich würde wirklich gern wissen, was mit ihr geschehen ist.«
»Das kann ich verstehen«, sagte Nick, »aber versteif dich nicht auf diesen Gedanken. Du wirst es nicht herausfinden. Die Polizei hatte keine Spur, und inzwischen sind auch noch fünf Jahre vergangen. Manchmal muss man mit ungelösten Rätseln leben.«
»Das ist schwierig.«
»Du schaffst das«, meinte Nick optimistisch und winkte dem Kellner. »Ich muss zurück in die Redaktion. Was tust du als Nächstes?«
»Ich gehe ins Hotel und rufe meinen Mann an. Ich muss ihm sagen, dass ich den Auftrag annehme und länger in England bleibe.«
»Deiner Miene nach zu urteilen, wird das ein schwieriges Gespräch.«
»Er hat mich lieber daheim in Gibraltar.«
»Was, wenn ich das sagen darf, eine gewisse Verschwendung von Fähigkeiten darstellt. Du warst eine gute Journalistin.«
Sie lächelte. »Und ich werde dich auch diesmal nicht enttäuschen, Nick. Du wirst mit meiner Arbeit zufrieden sein, das verspreche ich dir.« Sie nahm die zusammengehefteten Klarsichthüllen mit den Zeitungsartikeln darin entgegen, die er ihr über den Tisch reichte. Zuoberst entdeckte sie einen Zettel mit dem Namen und der Telefonnummer von Marc Reeve.
»Das ist dann das nächste Telefonat«, sagte sie, »Marc Reeve. Ich werde versuchen, einen persönlichen Gesprächstermin mit ihm zu vereinbaren. Ich bin sehr gespannt, ihn kennen zu lernen.«
»Und ich bin gespannt, was du über ihn berichtest«, sagte Nick. Er legte ein paar Geldscheine zu der Rechnung, stand auf, beugte sich über den Tisch und küsste Rosanna rechts und links auf die Wangen. »Bis bald. Wenn du Hilfe und Unterstützung brauchst, ruf mich an!«
Sie sah ihm nach und dachte: Hätte ich nur erst das Gespräch mit Dennis hinter mir!