Montag, 18. Februar
1
Pit Wavers war nicht mehr so viel mit Ron zusammen wie früher, und eigentlich tat ihm das leid. Er mochte ihn und hatte sich in seiner Gegenwart immer wohl gefühlt, aber er musste akzeptieren, dass dies von Seiten des anderen nicht der Fall war. Sie hatten tolle Zeiten zusammen gehabt, damals, vor Jahren hier in London, aber bestimmte Geschichten hatten Ron verärgert, und er hatte sie wohl auch nicht verstehen können.
»Du bist ja krank«, hatte er einmal zu Pit gesagt, und das hatte Pit tief verletzt. Jedem anderen hätte er für einen derartigen Ausspruch ein paar in die Fresse gehauen, aber Ron war sein Freund und genoss eine gewisse Narrenfreiheit. Er durfte sich Dinge erlauben, die für andere nie in Frage gekommen wären. Pit konnte sich allerdings niemanden vorstellen, der es gewagt hätte, ihn zu attackieren. Die meisten Menschen in seinem Umfeld hüteten sich davor, ihm ins Gehege zu kommen. Er war klein, aber stark wie ein Löwe. Wenn man ihn reizte, noch stärker. Und er verlor leicht die Kontrolle über seine Fäuste. Wenn er erst einmal begonnen hatte, einen Gegner zusammenzuschlagen, vermochte er kaum mehr aufzuhören. Es war wie ein Rausch. Er liebte die Schmerzensschreie und das Wimmern der anderen, liebte das Geräusch, wenn Rippen brachen oder Gelenke knackten. Bei fließendem Blut oder einem zerberstenden Kieferknochen bekam er fast einen Orgasmus. Und das genau war der Unterschied zu Ron. Ron ging mit seinen Feinden auch nicht zimperlich um, weiß Gott nicht, aber er blieb kalt in Herz und Hirn, wenn er einen Gegner krankenhausreif prügelte. Er war gewalttätig, aber seine Gewaltausbrüche hatten nicht den Charakter einer Orgie wie bei Pit. Pit war wie von Sinnen, wenn er ein Opfer vor sich hatte, und er geriet in Ekstase, wenn sein Ausbruch roher, wütender und undifferenzierter Gewalt in ein gezieltes Foltern des anderen überging. Er erlaubte sich dies nicht allzu oft – es gab auch selten die passenden Gegebenheiten –, aber wenn es dazu kam, erlebte er ein echtes Highlight. Ganz und gar würde er nie darauf verzichten können. Auch wenn ihn dies seinem Freund entfremdete. Er verstand nicht, weshalb sich Ron deswegen aufregte.
Ein bisschen mehr Toleranz, alter Junge, dachte er oft, im Grunde sind das doch Peanuts. Kein Grund, uns zu zerstreiten.
An diesem frühen Montagmorgen war er auf dem Weg zu Rons Wohnung in Islington. Lange vorbei die Zeit – leider! –, da sie beide sich eine Wohnung geteilt und eine perfekte Männer-WG gebildet hatten, garniert mit verschiedenen mal lang-, mal kurzlebigen Affären, hübschen, jungen Weibern, die lange Haare und üppige Brüste hatten und schnell kapierten, dass sie sich unterzuordnen hatten, wollten sie sich nicht mit gebrochener Nase oder ausgeschlagenen Schneidezähnen wiederfinden. Pit liebte es, Frauen einzuschüchtern. Es gefiel ihm, wenn sie flackernde Augen und Piepsstimmen bekamen. Frauen, hatte er herausgefunden, verfügten über einen weit besseren Instinkt als Männer. Er hatte selten eine Frau erlebt, die ihn, Pit, unterschätzt hätte. Mit Männern passierte ihm das ständig. Es hing mit seiner Größe von einem Meter dreiundsechzig zusammen. Die Männer glaubten, er sei ein Zwerg, ein Niemand, einer, der sich aufplusterte, hinter dem aber nichts steckte. Das hatte natürlich seinen ganz eigenen Reiz. Er war viel stärker und brutaler, als sie es je für möglich gehalten hätten, und bis sie es kapierten, steckten sie hoffnungslos im Schlamassel. Er genoss zutiefst den Moment, in dem er an ihren Gesichtern ablesen konnte, dass sie ihren Fehler begriffen und es heftig bedauerten, sich mit ihm angelegt zu haben.
London war an diesem Morgen wie immer mit tosendem Verkehrslärm erwacht, mit Millionen von Menschen, die sich über Plätze, Straßen, U-Bahnhöfe ergossen. Tausende von Stimmen, dazwischen Autohupen, kreischende Bremsen, aufheulende Motoren, Fahrradklingeln. Montags war die Stadt besonders laut, besonders voll, besonders lebendig. Herrlich, dieses hektische Leben und Treiben. Dazu noch ein leuchtend blauer Himmel, der den Frühling ankündigte. Endlich Schluss mit Schneeregen und Nebel. Nun begann die schöne Jahreszeit.
Er bog um die letzte Ecke, die ihn noch von dem Hochhaus getrennt hatte, in dessen Erdgeschoss Ron eine Wohnung hatte, und er kam auf die Minute richtig, um zu sehen, wie Ron aus der Haustür trat – die Hände auf dem Rücken, rechts und links flankiert von zwei Bullen. Ein Polizeiauto wartete bereits, daneben standen zwei weitere Beamte.
Es war nur allzu offensichtlich: Ron Malikowski, der schon jede Menge Gefängniszellen und Gerichtssäle von innen gesehen hatte, aber noch nie wirklich lange im Bau hatte schmachten müssen, wurde gerade verhaftet.
An diesem sonnigen, vielversprechenden Morgen.
Scheiße! Was war passiert?
Pit wich sofort wieder hinter die Ecke zurück, sehr schnell realisierend, dass es äußerst unklug wäre, sich dort jetzt blicken zu lassen. Automatisch griff er nach der Waffe, die in seinem Gürtel steckte und die er häufig mit sich führte, wenn er nach draußen ging, aber er zog die Hand gleich wieder zurück. Im Film hätte er jetzt wahrscheinlich wild herumgeballert und seinem Kumpel einen Fluchtweg freigeschossen, aber in Wahrheit tat man etwas so Sinnloses und Gefährliches natürlich nicht. Stattdessen überlegte er fieberhaft. Was konnte passiert sein? Weshalb setzten die Scheißbullen Ron fest? Auch wenn ihre Freundschaft nicht mehr so war wie einst, sie waren doch weitgehend über alles informiert, was der jeweils andere gerade so trieb. Genauer gesagt: in welche Art krimineller Aktivitäten er verwickelt war. Und nach allem, was Pit wusste, stand bei Ron nichts konkret an. Ron war mit den Jahren deutlich zahmer geworden, das musste man leider sagen. Er verdiente sein Geld noch immer mit Prostituierten, und es ging dabei auch um Mädchen, die aus Osteuropa eingeschleust wurden und gegen ihren Willen dem Gewerbe nachgingen. Aber schon lange hatte es keinen Neuzugang gegeben, jedenfalls nichts über Rons Verbindung. Die Frauen, die für ihn arbeiteten, hatten sich irgendwie mit ihrem Schicksal abgefunden. Für die meisten war es immer noch besser als das Leben in dem Dreck, aus dem sie kamen, jedenfalls behauptete Ron das immer. Unwahrscheinlich, dass eine plötzlich zur Polizei gerannt war und damit ihre Ausweisung riskiert hatte. Das hatte die eine oder andere mal versucht am Anfang, wenn ihr aufging, was sie in England erwartete. Dann konnten schon mal ein paar Sicherungen durchbrennen und irgendeine Verzweiflungstat geplant werden. Über die Planung war allerdings noch keine hinausgekommen. Rons Überwachungssystem war genial und lückenlos. Die Mädchen waren immer rechtzeitig aufgeflogen. Nach einer sehr intensiven Behandlung durch Ron und seine Kollegen verloren sie in der Regel die Lust, erneut einen Ausbruch zu versuchen. Sie waren dann so gefügig, dass es schon bald wieder langweilig wurde. Pit mochte es, wenn Frauen versuchten, sich zu wehren. Es machte Spaß, ihren Willen zu brechen, aber das ging naturgemäß nur dort, wo noch ein Wille vorhanden war. Frauen, die Ron in der Mangel gehabt hatte, vermochten vermutlich kaum noch das Wort zu buchstabieren.
Wenn es nicht um eine Nutte ging, worum dann?
Er hatte den finsteren Verdacht, dass es etwas mit ihm zu tun haben könnte. Mit der Geschichte wegen dieser verdammten Schlampe Linda. Himmel, war das eine scharfe Braut gewesen! Leider hatte sie den Mund nicht halten können und immerzu widersprechen müssen. Aufsässiges, kleines Ding. Irgendwann war er in Wut geraten… Eigentlich hatte er ihr nur eine kleine Abreibung verpassen wollen, aber die Sache war aus dem Ruder gelaufen. Er hatte in der Zeitung gelesen, dass man ihre Leiche gefunden hatte.
Gab es einen Zeugen, der sie mit Ron gesehen hatte? Die beiden waren ein paar Mal zusammen unterwegs gewesen.
Pit fluchte leise, aber ausgiebig.
Ron mochte so etwas wie. ein Freund sein, aber den Kopf würde er für Pit nicht hinhalten. Wenn sie ihm die Sache mit Linda anzuhängen versuchten, würde er ohne Skrupel erklären, wie es wirklich gewesen war. Und das bedeutete, dass er, Pit, damit rechnen musste, dass die Bullen vielleicht schon in den nächsten Stunden bei ihm aufkreuzten.
Besser, er ging gar nicht erst nach Hause.
Aber wohin dann? Verdammte Scheiße! Wenn er wenigstens wüsste, was genau los war! Vielleicht wagte er sich ganz umsonst nicht in seine Wohnung zurück. Andererseits war das Risiko zu hoch, es einfach darauf ankommen zu lassen.
Verflixt noch mal! Wenn es um Linda ging, hatte er ein ernstes Problem.
Er hatte noch nicht gefrühstückt und eigentlich damit gerechnet, bei Ron einen schönen, starken Kaffee zu bekommen, aber das wurde ja nun nichts. Er ging in das nächste Starbucks, bestellte einen Cappuccino, setzte sich in eine warme Ecke und überlegte erst einmal. Für mindestens zwei, besser drei Tage durfte er sich nicht in der Nähe seiner Wohnung blicken lassen, das stand fest, und das war höchst ärgerlich – zumal er ja auch nichts mitgenommen hatte. Es gab Kumpels, bei denen er vorübergehend sein Quartier aufschlagen konnte, aber am besten wäre es, ihm fiele jemand ein, den Ron nicht kannte. Man wusste ja nicht, wie viele Namen sein Freund hinausposaunen würde, wenn es darum ging, seinen eigenen Arsch in Sicherheit zu bringen.
So ein Mist! So ein verdammter, überflüssiger Mist.
Er trank ein paar Schlucke von seinem Kaffee, genoss die Wärme in seiner Kehle. Vielleicht sollte er einmal die heutige Zeitung durchforsten, am Ende stieß er auf etwas, das ihm Aufschluss gab. Er ging zur Theke, nahm einen Daily Mirror vom Stapel und zog sich damit wieder an seinen Platz zurück.
Der Mord an Linda, an dessen grausigen Umständen sich die Presse in den letzten Tagen mit wahrer Wollust aufgegeilt hatte, war von der Titelseite verschwunden. Genau genommen entdeckte Pit trotz aufmerksamen Blätterns in der ganzen Zeitung nicht eine einzige Notiz mehr zu dem Thema. Was natürlich nicht hieß, dass die Polizei nicht mit Hochdruck nach dem Täter fahndete oder vielleicht sogar schon sehr konkrete Spuren verfolgte. Schließlich teilten sie nicht alles der Presse mit.
Er war nicht schlauer als vorher. Außer in der Hinsicht, dass offenkundig kein neues Delikt vorlag, mit dem Ron in einem Zusammenhang stehen konnte. Was die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass es um Linda ging.
Er blätterte lustlos in der Zeitung herum – und erstarrte plötzlich.
»Das gibt es doch gar nicht«, murmelte er halblaut. Es war eine ausgesprochen schlechte Fotografie, die ihm vom unteren Drittel der Seite entgegensprang, zu dunkel, grobkörnig und etwas unscharf, und doch hätte er das gezeigte Gesicht unter Tausenden erkannt. Trotz der Jahre, die vergangen waren. Trotz der miserablen technischen Qualität des Bildes.
Und obwohl die Frau auf dem Foto einiges versucht hatte, ihr Aussehen zu verändern. Ihre Haare waren dunkel, nicht mehr blond; einst taillenlang, waren sie jetzt zu einem kurzen Pagenkopf geschnitten. Einfache Kleidung, kein Make-up, soweit sich das beurteilen ließ. Jedenfalls war sie das Gegenteil von einem Vamp. Sie sah eher aus wie eine biedere Hausfrau aus irgendeiner mittelenglischen Kleinstadt. Nur dass sie trauriger schien, als es Hausfrauen üblicherweise waren, trostlos und angstvoll.
Und dazu, dachte er, hat sie verdammt jeden Grund.
Es war Pamela. Hundertprozentig sicher seine Pamela. Nie würde er diesen großen, vollen Mund vergessen. Diese absolut perfekt geformte Nase. Sie war eine Schönheit gewesen. Und sie konnte es wieder sein, wenn sie aufhörte, sich in diese Unscheinbarkeit zu verkriechen.
Komisch. Er hatte immer gewusst, dass er sie eines Tages finden würde. Dass er sie nun sogar in einer der größten Tageszeitungen Englands präsentiert bekam…
Aufmerksam las er den kurzen Artikel und wunderte sich ein wenig. Offensichtlich gab sich Pamela als Elaine Dawson aus und lebte in einem winzigen Dorf namens Langbury in Northumberland.
Northumberland! Dieser fleischgewordene Männertraum dort oben im Norden, im hintersten Winkel der Welt … unfassbar!
Wenn er den Text richtig verstand, war eine Frau namens Elaine Dawson vor fünf Jahren unter mysteriösen Umständen verschwunden, und der Mann, der mit ihrem Verschwinden in einen Zusammenhang gebracht wurde, jedwede Verantwortung jedoch bestritt, hatte nun geglaubt, sie aufgrund eines Hinweises aus der Bevölkerung in Langbury entdeckt zu haben. Was sich als Irrtum erwiesen hatte. Die Zeitung sprach von einer zufälligen Namensgleichheit.
Pit grinste. Nein, der Fall lag anders, aber das wussten die Heinis von der Presse natürlich nicht. Pamela lebte ganz einfach unter falschem Namen.
Der Typ, dem es so heftig um eine Aufklärung des Falls ging, ein Rechtsanwalt namens Marc Reeve aus London, wurde in seinen Bemühungen von einer Journalistin unterstützt, einer Rosanna Hamilton, die es sich, so der Mirror wörtlich, »zur Aufgabe gemacht hat, die Unschuld eines Mannes zu beweisen, dessen Leben seit Jahren unter dem Schatten eines hässlichen Verdachts steht – und der ihr wohl privat auch schon längst nicht mehr gleichgültig ist«. Der Mirror äußerte im Anschluss sehr subtil formuliert, aber zwischen den Zeilen durchaus erkennbar, dass Reeve und Hamilton möglicherweise gehofft hatten, die falsche Elaine Dawson als die richtige auszugeben, um ein für alle Mal klarzustellen, dass die Vermisste keineswegs einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, sondern stillvergnügt im Norden Englands lebte. Dank der Wachsamkeit der Medien konnte dieses Vorhaben aber nun natürlich nicht gelingen.
Gute Story, dachte Pit, möchte nur mal wissen, wie der Mirror Wind davon kriegen konnte. Egal. Was mache ich jetzt damit?
Auf der Hand hätte es gelegen, sofort nach Langbury in Northumberland durchzustarten. Wenn er schon nicht in seine Wohnung konnte, wäre ein Trip hinauf bis fast nach Schottland nicht das Schlechteste, um die Zeit zu überbrücken. Und eine Sache zu Ende zu bringen, von der er stets gewusst hatte, dass er sie zu Ende bringen musste, wenn er nicht eines Tages mit einer offenen Rechnung sterben wollte.
Was sie mit ihm gemacht hatte, hatte noch keine Frau gewagt. Sie musste begreifen, dass es ein Fehler gewesen war, ihn hinters Licht zu führen und dann der großen Blamage auszusetzen. Einem Mann wie ihm brannte keine Frau durch. Und wenn doch, dann bezahlte sie dies teuer. Was Pamela zweifellos bewusst war, daher die gefärbten Haare, der falsche Name, der abgelegene Ort und dieser angstvolle Blick, mit dem sie in die Kamera eines Reporters gestarrt hatte. Er grinste. So ein Pech für das arme Ding! Sie hatte sich so gut versteckt und sich wahrscheinlich schon recht sicher gefühlt. Aber dann war sie – durch ungünstige Zufälle vermutlich – mit dieser Jahre zurückliegenden Vermissten-Geschichte konfrontiert worden und nun in der Presse gelandet. Eine Randnotiz, die niemanden wirklich interessieren dürfte.
Außer ihm. Und zwar brennend.
Am liebsten wäre er sofort Richtung Norden losge-brettert, aber er zwang sich, erst einmal vernünftig zu überlegen. Pamela war ein Miststück, aber sie war nicht blöd. Sie wusste, dass sie aufgeflogen war und dass sie sich in der Zeitung wiederfinden würde, und sie würde kaum das Risiko eingehen, in Langbury zu sitzen, bis Pit seinen Weg dorthin gefunden hatte. Wahrscheinlich hoffte sie aus tiefstem Herzen, dass er die entsprechende Meldung nicht las oder sie zumindest auf dem Foto nicht erkannte, aber sie würde sich auf diese Möglichkeit kaum verlassen. Sie wusste zu gut, was sie erwartete, wenn er ihr erst einmal gegenüberstand.
Sicher hatte sie dem Dorf schon jetzt den Rücken gekehrt.
Nur – wohin war sie gegangen?
Wenn er nicht wahllos in Northumberland herumsuchen wollte – ohne sicher sein zu können, dass sie sich in der Grafschaft überhaupt noch aufhielt –, musste er die einzigen Anhaltspunkte nutzen, die er hatte. Das waren dieser Marc Reeve und seine tapfere Streiterin Rosanna Hamilton. Reeve war Anwalt in London, es würde ein Leichtes sein, ihn ausfindig zu machen. Vielleicht würde sich darüber eine Möglichkeit ergeben. Am Ende hatten er und die Hamilton seine Pamela sogar im Schlepptau.
Er trank den letzten Schluck Kaffee, faltete die Zeitung zusammen und schob sie in die Innentasche seiner Jacke. Er fühlte sich von frischen Kräften durchströmt und guten Mutes. Durch Rons Verhaftung hatte der Tag beschissen angefangen, aber jetzt war ein Licht am Ende des Tunnels aufgetaucht.
Leise vor sich hin pfeifend, verließ er den Coffee-Shop und fädelte sich wieder in den Menschenstrom des frühmorgendlichen London.
Während er versuchte. Reeve ausfindig zu machen, würde er sich nebenher ausmalen, was er mit Pamela anstellte, wenn er sie erst hatte.
Das Leben konnte so amüsant sein!
2
Während Marc Kaffee kochte, sah sich Rosanna unauffällig ein wenig in seiner Wohnung um. Zwei Zimmer, eine Küchenzeile, ein Bad – mehr gab es nicht, aber das war vermutlich auch ausreichend für einen Mann, der allein lebte und mindestens zwölf Stunden am Tag in seinem Büro verbrachte. Im Wohnzimmer hing ein Aquarell an der Wand, das ein Segelschiff vor einer steinernen Hafenmauer zeigte. Am rechten unteren Rand entdeckte Rosanna die Buchstaben J.R. Jacqueline Reeve. Ihr fiel ein, was Mrs. Hall, die einstige Nachbarin der Reeves, erzählt hatte: dass Jacqueline eine talentierte und bekannte Malerin war. Das Bild war sehr schön, aber auch sehr düster. Seltsam, dass Marc ein Bild, das seine Exfrau gemalt hatte, so exponiert aufhängte, aber das zeigte wohl nur, dass er in der Lage war, über den Dingen zu stehen. Zudem hatte sie nicht den Eindruck gehabt, dass Hass oder auch nur Abneigung in seiner Stimme schwangen, als er über Jacqueline und ihrer beider gescheiterte Ehe sprach. Eher Traurigkeit. Es schien ihm nicht um Schuldzuweisungen zu gehen. Vielleicht war das einmal so gewesen, aber er hatte dieses Stadium hinter sich gelassen. Trotz des Verlustes seines Sohnes – und sie hatte spüren können, wie tief dieser Stachel in ihm steckte und wie sehr er schmerzte – konnte er die Dinge sachlich und vernünftig einordnen.
Bis auf das Bild gab es wenig Persönliches zu entdecken. Eher gar nichts. Keine Bücher, keine CDs. Keine gerahmten Fotografien oder irgendwelche Dekorationsstücke. Nicht einmal eine Pflanze auf dem Fensterbrett. Typisch vielleicht für einen Mann, der den Beruf zu seinem Lebensmittelpunkt gemacht hatte. Ob er irgendwo ein Bild seines Kindes stehen hatte? Vielleicht im Schlafzimmer. Rosanna konnte nur durch die halb geöffnete Tür in diesen Raum spähen, hineinzugehen traute sie sich nicht. Sie sah ein Doppelbett, über das ein wenig achtlos und verrutscht eine dunkelgraue Tagesdecke gebreitet war, und daneben einen Stapel Zeitungen auf dem Fußboden. Mehr vermochte sie nicht zu erkennen.
Sie hatten die völlig apathische Pamela Luke auf das Sofa gesetzt, wo sie in genau der Haltung verharrte, in der sie platziert worden war. Rosanna musste an ein verletztes Kätzchen denken, das sie einmal gefunden und mit nach Hause genommen hatte. Das Tier war so elend und erschöpft gewesen, dass es immer in exakt der Position verblieb, in der es Rosanna absetzte. Die Energie, auch nur eine Pfote um einen Millimeter zu bewegen, hatte es nicht mehr gehabt. Trotz aller Bemühungen war es schließlich gestorben.
Auf der nächtlichen Fahrt nach London hatte Pamela kein Wort mehr gesprochen, und Rosanna hatte schließlich die Fragen nach Elaines Reisepass aufgegeben und auf einen späteren, günstigeren Zeitpunkt gehofft. Pamela hatte nur noch eine einzige, heftige Reaktion gezeigt: Als Marc sie gefragt hatte, ob man sie nach Hause bringen könne, hatte sie entsetzt aufgeschrien. »Nein! Nein, um Gottes willen! Nein! Ich muss hier weg!«
»Aber Ihre Sachen«, hatte Rosanna eingewandt. »Sie müssen doch …«
»Ich will weg! Bitte bringen Sie mich hier weg!«
»Dann nehmen wir Sie mit nach London«, hatte Marc schließlich entschieden, »aber dort müssen Sie uns ein paar Dinge erklären, Miss Luke. Die Sache ist wirklich wichtig für uns.«
Pamela hatte den Kopf gegen die Autofensterscheibe gelehnt und sich in undurchdringliches Schweigen gehüllt.
Sie waren durch die Nacht gefahren, hatten nichts als Dunkelheit erkannt und die Lichter entgegenkommender Autos. Rosanna und Marc hatten ebenfalls geschwiegen. Irgendwann war Marc auf einen Rastplatz gefahren.
»Ich brauche eine kurze Pause. Ich will nicht am Steuer einschlafen.«
Er und Rosanna waren in die zu dem Rastplatz gehörende Gaststätte gegangen, die über Nacht geöffnet hatte. Pamela reagierte nicht auf ihre Bitten und Aufforderungen, sie zu begleiten. Sie blieb einfach sitzen, den Kopf noch immer an die Scheibe gepresst. Aber sie schlief nicht. Ihre Augen waren weit aufgerissen.
Rosanna äußerte die Sorge, sie könne die Gelegenheit nutzen, sich aus dem Staub zu machen, aber Marc hielt das für unwahrscheinlich.
»Sie ist viel zu erschöpft. Und sie weiß auch, dass sie von hier aus nirgendwohin kommt. Lass sie einfach in Ruhe. Wahrscheinlich braucht sie den Abstand zu uns und überhaupt zu allem und jedem.«
Die Gaststätte war leer, schlecht beleuchtet, und die Frau hinter der Theke hatte ein Pferdegebiss und war äußerst mürrischer Laune. Immerhin gab es einen ganz anständigen, recht starken Kaffee. Rosanna und Marc setzten sich an einen der Plastiktische. Jemand hatte I love Jeremy forever mit grünem Filzstift auf die Platte geschrieben.
Rosanna hatte Elaines Ausweis nicht an Pamela zurückgegeben. Sie zog ihn aus ihrer Tasche. »Umsonst war der Weg nach Langbury nicht«, sagte sie, »denn nun haben wir eine echte Spur. Elaines Pass. Es ist nicht zu glauben. Allerdings bin ich, ehrlich gesagt, verwirrter als zuvor!«
»Bist du denn ganz sicher, dass es sich wirklich um Elaines Pass handelt?«, fragte Marc. Er war blass und hatte gerötete Augen vor Müdigkeit, aber in seiner Stimme schwang ein Vibrieren, das verriet, wie angespannt und zugleich erregt er war.
Sie schlug ihn auf. »So viele zufällige Übereinstimmungen kann es nicht geben. Elaine Susan Dawson. Das ist ihr vollständiger Name. Geboren am 1. August 1979. Auch das stimmt. Geboren in Taunton, Somerset. Ebenfalls ein Treffer.« Sie schloss das Dokument. »Noch Zweifel? Und das Foto zeigt ebenfalls einwandfrei meine Elaine. Nein, Marc, es ist gar keine Frage, wir haben hier ihren Pass vor uns liegen. Wenn wir jetzt noch herausfinden, wie er in den Besitz dieser seltsamen Pamela Luke geraten ist, dürften wir der Lösung des Rätsels schon wesentlich näher sein.«
»Sie wird es uns erzählen«, meinte Marc, »die Frage ist nur, wie bald? Sie scheint mir vollkommen traumatisiert zu sein. Vor irgendetwas hat sie entsetzliche Angst, und das lässt sie immer wieder verstummen. Eigentlich müssten wir mit ihr und diesem Ausweis sofort zur Polizei gehen.«
»Wir dürfen ihr nicht das Gefühl geben, sie könne uns nicht vertrauen. Sonst sagt sie nie wieder ein Wort. Wir sollten sie erst einmal irgendwohin bringen, wo sie sich ausruhen kann.«
»Dann schlage ich vor, wir fahren zu mir«, sagte Marc. »Meine Wohnung ist still und leer, und sie kann dort zu sich kommen. Aber unser Rückzug mit ihr kann nur vorübergehend sein, hörst du? Die Sache muss zur Polizei. Ich will nicht am Ende noch den Verdacht an mir kleben haben, ich hätte versucht, irgendwelche Beweise oder Spuren zu unterschlagen. Ich will mit absolut offenen Karten spielen.«
Sie nickte. »Natürlich. Das ist doch klar. Ich finde es nur nicht geschickt, jetzt mit ihr ohne Umweg in ein Polizeirevier zu marschieren. Ich könnte mir vorstellen, dass sie unter der Befragung eines Beamten keinen Ton mehr von sich gibt.«
»Und dann würde ich wirklich gern herausfinden, wer Lee Pearce auf uns gehetzt hat«, sagte Marc. »Dieser Tony Harper könnte ein Zeitproblem für uns darstellen, Rosanna. Wenn seine Geschichte – wie auch immer aufbereitet – öffentlich wird, bevor wir bei der Polizei waren, haben wir schon schlechte Karten.«
»Also dann«, sie schob ihren Becher weg und stand auf, »lass uns weiterfahren. Wir sollten schnellstens in London ankommen.«
Sie hatten die Außenbezirke der Hauptstadt in den frühen Morgenstunden erreicht, waren trotzdem bereits in zahlreiche Staus geraten. Es wurde acht Uhr, bis sie Marcs Wohnung, die sich in einem modernen, fantasielosen Mehrfamilienhaus befand, betraten. Alle drei waren sie übernächtigt, hatten steife Gelenke und brennende Augen. Rosannas Sehnsucht nach einer Dusche wurde fast übermächtig. Sie hatte sich selten so schmuddelig, ungepflegt und unattraktiv gefühlt. Marcs Anwesenheit und die beklemmenden Gefühle, die er in ihr auslöste, vergrößerten noch ihr Unbehagen.
Er kam aus der Küchenecke mit einem Tablett, auf dem eine große Kaffeekanne, drei Tassen, eine Zuckerdose und ein Milchkännchen standen. »Eine erste Stärkung«, sagte er. »Wie ist es, soll ich rasch über die Straße zum Bäcker gehen und ein paar Muffins holen?«
Rosanna löste sich von der Betrachtung der Wohnung und von dem Versuch, aus ihrer Einrichtung Rückschlüsse auf den Charakter ihres Bewohners zu ziehen. »Ich gehe. Bleib du bei Pamela und flöße ihr ein bisschen Kaffee ein, wenn es geht!«
Als sie mit einer großen Tüte voll frischer und köstlich duftender Blaubeermuffins zurückkehrte, hatte sich Pamela immerhin aus ihrer Sofaecke bis zum Esstisch bewegt, dort niedergelassen und begonnen, an ihrem Kaffee zu nippen. Ihre Wangen hatten einen Hauch von Farbe bekommen.
Marc saß ihr gegenüber. Es sah nicht so aus, als hätten die beiden in der Zwischenzeit einen regen Gedankenaustausch gepflegt, wie Rosanna frustriert feststellte. Sie hoffte, dass Pamela sich ihnen nun schnell anvertrauen und vor allem dabei mit offenen Karten spielen würde.
Sie legte die Muffins in einen dafür bereitstehenden Korb, setzte sich ebenfalls an den Tisch und rührte einen Löffel Zucker in ihren Kaffee.
Dann sah sie Pamela sehr ernst an.
»Pamela, wir wollen Sie nicht bedrängen. Aber es ist ungemein wichtig für uns, dass Sie uns erklären, wie Sie an den Pass meiner Freundin Elaine gekommen sind. Bitte. Und leider haben wir für all das nicht allzu viel Zeit.«
Pamela setzte ihre Kaffeetasse ab.
»Nein«, bestätigte sie, »wir haben nicht allzu viel Zeit. Wenn dieser Reporter mein Foto veröffentlicht, wird Pit alle Hebel in Bewegung setzen, um mich zu finden. Und dann wird er mich umbringen.«
Sie sagte dies voller Angst, aber zugleich mit einer ungeheuren Selbstverständlichkeit, die angesichts des Inhalts ihrer Aussage schockierend wirkte.
Rosanna und Marc starrten sie entsetzt an.
»Umbringen?«, fragte Rosanna, während Marc gleichzeitig wissen wollte: »Wer ist Pit?«
Pamela beantwortete Marcs Frage zuerst.
»Er ist ein Psychopath. Ein Killer. Der gefährlichste Mensch, den ich kenne. Er hat bereits eine Frau ermordet. Und mit mir wird er das auch machen. Er ist krank.«
»Er hat eine Frau ermordet?«, wiederholte Marc. »Und er will Sie töten? Warum, um Himmels willen, sind Sie denn nicht zur Polizei gegangen? Ich meine, mit diesem Wissen …«
Pamela unterbrach ihn. Sie lächelte. Das Lächeln war zwar nicht glücklich, aber es enthüllte die Tatsache, dass es sich bei Pamela Luke um eine ungewöhnlich attraktive Frau handelte – wie Rosanna verwundert bemerkte. Anders zurechtgemacht, hätte sie als Fotomodell arbeiten können. Sie hatte nur all ihre Energie darauf verwandt, wie eine graue Maus auszusehen.
»Bei Männern wie Pit«, sagte sie, »kann einem die Polizei nicht helfen.«
»Wenn ihm ein Mord nachzuweisen ist, wird er zumindest auf Jahrzehnte weggesperrt«, sagte Marc.
»Und wenn ihm der Mord nicht nachzuweisen ist?«, gab Pamela zurück. »Mr. Reeve, Sie wissen doch, wie die Dinge laufen. Das Opfer interessiert niemanden. Das mögliche nächste Opfer erst recht nicht. Verständnis und Interesse gebühren stets dem Täter. Selbst wenn sie einen Mörder wegsperren, dann kommt er frühzeitig wieder nach draußen, weil sich garantiert irgendein Psychologe findet, der ihm völlige Resozialisierung bescheinigt. Er macht sich durch die sogenannte gute Führung beliebt, und niemand kann in ihn hineinschauen und wissen, ob das nicht alles nur eine perfide Strategie ist. Vor Pit wäre ich in meinem ganzen Leben nicht mehr sicher gewesen. Es konnte für mich nur ein Untertauchen geben, sonst nichts.«
»Diese Frau, von der Sie sagen, Pit habe sie umgebracht«, begann Rosanna, »könnte es sein, dass …«
»Was?«
»Dass es sich um Elaine Dawson handelte?«
Pamela schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kannte die Frau. Jane French. Eine Prostituierte. Mit Sicherheit nicht Ihre Elaine Dawson.«
»Ich begreife das alles immer noch nicht«, sagte Marc, »woher haben Sie denn nun diesen Pass?«
»Den habe ich in Rons Wohnung gefunden. Und an mich genommen. In der Hoffnung, ihn einmal benutzen zu können.«
»Wer ist Ron?«
»Ron Malikowski. Pits bester Freund. Die beiden steckten immer zusammen.«
»Und was ist dieser Ron für ein Typ?«, fragte Rosanna.
»Ein Zuhälter. Rücksichtslos und äußerst brutal. Aber nicht krank, so wie Pit. Er ist kein Psychopath, er ist einfach nur ein skrupelloser Typ, der Frauen benutzt, um zu Geld zu kommen. Er und seine Leute machen Frauen, die aus dem Gewerbe aussteigen wollen, durch stundenlange Vergewaltigungen gefügig. Ich glaube aber nicht, dass er jemals jemanden umgebracht hat. Mit Mord will er nichts zu tun haben.«
»Und bei ihm haben Sie Elaines Pass gefunden?«, vergewisserte sich Rosanna. »Was, um alles in der Welt, kann Elaine mit einem Zuhälter zu tun gehabt haben?«
Pamela zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich schafft sie für ihn an. Den Mädchen werden dort die Papiere abgenommen. Allerdings sind sie normalerweise so sicher verwahrt, dass niemand an sie herankommt. Elaines Ausweis lag in einer Schublade in Rons Schlafzimmer. Das wunderte mich, aber ich hielt es für eine Schlamperei, ein Versehen. Und erkannte meine Chance.«
Rosanna schwirrte der Kopf. Sie dachte an Elaine, ihre kleine Elaine Dawson aus Kingston St. Mary. Als Prostituierte? Das war nicht absurder, als wenn sie sich die Queen in dieser Rolle vorzustellen versucht hätte.
»Elaine würde doch niemals auf den Strich gehen«, sagte sie fassungslos.
»Wenn sie gezwungen wird, bleibt ihr vielleicht nichts anderes übrig«, sagte Marc. »Und dieser Malikowski scheint sich ziemlich rabiater Methoden zu bedienen, um seine Wünsche durchzusetzen.«
»Aber wie sind die beiden zusammengekommen? Du hast sie in die U-Bahn Richtung Flughafen gesetzt. Wurde sie dort von ihm angesprochen? Am Flughafen? Oder hatte sie aus irgendeinem Grund beschlossen, nun doch nicht nach Gibraltar zu fliegen, und befand sich auf dem Heimweg nach Kingston St. Mary, als sie ihm in die Arme lief?«
»Man kann in jede Richtung spekulieren«, sagte Marc. »Schließlich gibt es ja noch Mr. X – den großen Unbekannten. Elaines Freund, den sie mir gegenüber erwähnte. Vielleicht war das dieser Typ.«
»Mit so jemandem hätte sich ein Mädchen wie Elaine nicht eingelassen. Ihre Mutter hat sie vor Männern immer gewarnt. Sie hat wirklich Sittenstrolche gewittert, wo gar keine waren.«
»Aber gerade solchen Mädchen passieren leicht die schlimmsten Irrtümer«, meinte Marc, »denn sie sind zwar voller Ängste und Vorbehalte, aber zugleich komplett unerfahren. Wenn ein Mann sich nur ein bisschen darauf versteht, kann er sie leicht hinters Licht führen. Ihr Vertrauen gewinnen und leider Gottes sogar ihr Herz erobern. Bis sie merkt, an wen sie da geraten ist, sitzt sie bereits in der Falle.«
Rosanna nickte. Sie wusste, dass er recht hatte. Es konnte durchaus so geschehen sein.
Sie wandte sich wieder an Pamela, die der Unterhaltung reglos gefolgt war.
»Pamela, es wäre wirklich wichtig, dass Sie mit uns zur Polizei gehen«, sagte sie fast flehentlich. »Sehen Sie, es ist jetzt zu umständlich, alles zu erklären, aber Marc Reeve wurde im Zusammenhang mit Elaines Verschwinden eines möglichen Verbrechens verdächtigt. Es kam nicht zur Anklage, und ihm konnte nie auch nur die kleinste Kleinigkeit nachgewiesen werden, aber bis heute liegt dieser … Schatten über ihm und seiner Familie. Wenn endlich herauskäme, was tatsächlich mit Elaine passiert ist, könnte er ein ziemlich dramatisches und sehr unerfreuliches Kapitel in seinem Leben endlich abschließen.«
Pamela starrte sie an, fast ungläubig. »Er wurde verdächtigt?«, fragte sie mit einer Kopfbewegung in Richtung Marc. »Meine Güte, wie absurd. Er ist überhaupt nicht der Typ. Rosanna, leider weiß ich nicht, was geschehen ist, aber ganz offensichtlich ist diese Elaine auf irgendeine Weise entweder mit Ron oder mit Pit oder mit allen beiden in Kontakt gekommen. Und das ist, so leid es mir tut, ein verdammt schlechtes Zeichen. Wenn sie überhaupt noch lebt, dann steckt sie zumindest bis zum Hals in der Scheiße, und das schon seit Jahren. Darauf können Sie wetten!«
3
Nachdem der erste Schritt getan war, hatte Pamela ihre ganze Geschichte erzählt. Mit einer monotonen Stimme, mit einem seltsam abwesenden Ausdruck in den Augen.
Sie erzählte Ungeheuerliches, und als sie fertig war, sprachen minutenlang weder Marc noch Rosanna auch nur ein Wort. Rosanna war wie vor den Kopf geschlagen. Sie fühlte sich wie in einem schlechten Traum und dachte, dass jeden Moment jemand kommen und sie aufwecken müsse.
Schließlich war es dennoch sie gewesen, die das lastende Schweigen brach.
»Ich brauche jetzt unbedingt eine Dusche«, hatte sie gesagt, und irgendwie hatte dieser Satz, der so gar nicht zu dem zuvor Gehörten passen wollte, den Bann gebrochen, der über allen dreien lag.
Marc hatte angeboten, Rosanna zu ihrem Hotel zu bringen, aber sie hatte den Kopf geschüttelt. »Bleib du bei Pamela. Ich nehme ein Taxi.«
Natürlich hätte sie auch bei Marc duschen können, aber sie brauchte unbedingt frische Wäsche, neue Kleider, ihr Make-up. Es waren achtundvierzig Stunden vergangen, in denen sie sich nicht hatte zurechtmachen können und in immer denselben Sachen gesteckt hatte – sogar während der Nächte. Sie wäre notfalls zu Fuß zu ihrem Hotel gelaufen, nur um endlich aus ihren Klamotten herauszukommen.
Sie hatte Pamela angeboten, sie mit zu sich zu nehmen, aber bei dem Gedanken an ein großes Hotel und an eine Lobby voller Menschen war Pamela schon wieder zurückgezuckt. »Nein. Nein, lieber nicht. Ich bleibe hier.«
In Marcs stiller Wohnung schien sie ein wenig Sicherheit zu empfinden.
Es war Marc gelungen, zwei Termine vom Vormittag auf den Nachmittag zu verschieben, aber er sagte, dass er spätestens um halb zwölf in sein Büro würde fahren müssen. Seine Sekretärin war noch immer krank, und es warteten Berge von Arbeit auf ihn.
»Bis dahin bin ich zurück«, sagte Rosanna, »entweder gelingt es mir dann, Pamela mitzunehmen, oder ich bleibe hier bei ihr. Nur allein sollte sie im Moment nicht sein. Am Ende taucht sie sonst irgendwo in London unter oder springt in die Themse, oder tut sonst etwas Unberechenbares. Es geht ihr psychisch sehr schlecht – und das ist, weiß Gott, kein Wunder!«
Marc hatte sie hinunter auf die Straße begleitet, nachdem sie das Taxi bestellt hatten.
»Aber du weißt, dass wir zur Polizei müssen«, sagte er, als sie unter vier Augen sprachen, »sie kann jetzt nicht tagelang entweder in meiner Wohnung oder in deinem Hotel sitzen, und wir halten all das zurück, was sie uns erzählt hat. Ich kann mir so etwas schon allein wegen meines Berufs nicht leisten. Sie muss eine Aussage machen, es bleibt ihr nichts anderes übrig.«
Rosanna nickte. »Ich werde mit ihr sprechen, wenn ich zurück bin. Sie wird es schon verstehen.«
Sie standen einander gegenüber. Der Tag war noch kalt, aber wieder ging eine strahlend helle Sonne auf.
Marc streckte die Hand aus, berührte sacht mit dem Finger Rosannas Wange. »Es war etwas sehr Besonderes mit dir in Northumberland«, sagte er leise. »An diesem Strand. Es war ein sehr besonderes Gefühl.«
Sie wusste, dass sie mit dem Feuer spielte, wenn sie sich auf ein Gespräch dieser Art überhaupt einließ, aber sie fragte dennoch zurück: »Und jetzt? Jetzt, hier in London, ist kein besonderes Gefühl mehr da?«
Er überlegte. Sie hatte nicht den Eindruck, dass er seine Antwort einfach nur so dahinsagte. Es war kein Geplänkel, das zwischen ihnen stattfand.
»Mein Gefühl hat sich nicht verändert«, sagte er schließlich, »aber ich versuche, gut darauf aufzupassen. Ich weiß nicht, was sein wird. Ich weiß nur, dass die Umstände ungünstig für mich sind. Ich will mich nicht verstricken.«
Sie hob hilflos beide Arme. »Ich wünschte, ich könnte irgendetwas …«
»Bitte fühl dich nicht unter Druck gesetzt«, unterbrach er sofort. »Wir beide stecken ohnehin gerade in einer komplizierten Situation. Ich schlage vor, wir lösen erst einmal das Rätsel um Pamela und Elaine – wenn uns das überhaupt gelingt. Alles andere … sehen wir später.«
Rosanna musste lächeln, obwohl sie sich kein bisschen glücklich fühlte. »Das ist sehr vernünftig.«
»Wir können im Augenblick auch nur versuchen, vernünftig zu sein«, sagte er.
Das Taxi bremste neben ihnen. Marc öffnete die Wagentür. »Es ist gut zu wissen, dass ich dich nachher wiedersehe«, sagte er.
Alles andere wäre auch schwer erträglich, dachte Rosanna, und über diesen Gedanken erschrak sie so sehr, dass sie nicht einmal zurückblickte, um festzustellen, ob er ihr nachwinkte. Sie sah starr geradeaus und fragte sich, was mit ihr passierte und weshalb es geschehen konnte. Aber ehe sie zu einer Antwort gelangte – falls es die überhaupt gab –, klingelte ihr Handy. Es war Nick Simon, und wieder einmal kochte er vor Wut.
Er hatte den Mirror gelesen.
Sie stürmte geradezu in die Hotelhalle und ließ sich am Empfang ihren Zimmerschlüssel aushändigen. Neben der Theke stand ein Regal mit Zeitungen, sie schnappte sich den Mirror, bezahlte ihn mit einem viel zu großen Geldschein und beachtete nicht einmal die Rufe des Portiers, der ihr das üppige Wechselgeld zurückgeben wollte. Im Aufzug nach oben suchte sie den betreffenden Artikel. Pamelas verängstigtes Gesicht blickte ihr entgegen, daneben befand sich der Text, der sie und Marc recht unverhohlen eines Vertuschungsversuchs bezichtigte und ihnen zudem ein intimes Verhältnis unterstellte. Ganz offensichtlich – und durchaus erwartungsgemäß – hatte Tony Harper noch einmal mit Brent Cadwick gesprochen, denn er wusste bereits, dass es sich bei der Fremden nicht um die gesuchte Elaine gehandelt hatte.
»Das darf nicht wahr sein!«, sagte sie laut. Marc hatte recht: Sie mussten jetzt möglichst schnell zur Polizei.
Oben angekommen, lief sie sofort zum Zimmer ihres Bruders und hämmerte gegen die Tür.
»Cedric? Bist du da? Mach bitte auf! Ich bin's, Rosanna! Mach doch bitte auf!«
Sie fürchtete schon, er habe die Nacht wieder irgendwo außerhalb verbracht und sei nun nicht greifbar, aber nach einer Weile, die ihr ewig lang erschien, wurde innen der Schlüssel umgedreht, die Tür geöffnet. Ein verschlafener Cedric, mit nichts als seiner Unterhose bekleidet, stand vor ihr.
»Was ist denn los?«, fragte er. »Was machst du für einen Lärm?«
Sie schob sich an ihm vorbei ins Zimmer, drehte sich dann zu ihm um und drückte ihm die Zeitung in die Hand. »Das ist der Grund. Deshalb mache ich den Lärm. Deshalb muss ich dich sprechen!«
Er schloss die Tür, starrte auf die Zeitung. »Wer ist das?«, fragte er verwirrt.
»Sie heißt Pamela. Pamela Luke. Seit fast fünf Jahren lebt sie jedoch unter dem Namen Elaine Dawson!«
Obwohl er sich augenscheinlich noch im Halbschlaf befand, gelang es Cedric, erstaunlich intelligente Schlüsse zu ziehen. »Die Frau in Northumberland. Sie ist nicht unsere Elaine. Eine zufällige Namensgleichheit. Aber wieso ist sie jetzt in der Zeitung?«
Rosanna spuckte die ganze Wut aus, die Nick Simon fünfzehn Minuten zuvor auf ihr abgeladen hatte. »Ja, wieso ist sie in der Zeitung?«, schrie sie. »Eine gute Frage, Cedric! Wieso tauchte da oben in Northumberland, in diesem absolut gottverlassenen Kaff Langbury, plötzlich im richtigen Moment ein Reporter auf? Von der guten Lee Pearce höchstpersönlich auf unsere Spur gebracht. Seit zwölf Stunden schlage ich mich mit der Frage herum, wie die Pearce von dieser Sache erfahren konnte!«
»Woher soll ich das wissen?«, fragte Cedric.
Sie bohrte ihm ihren Fingernagel in die nackte Brust. Mit einem leisen Schmerzenslaut wich er zurück.
»Weil«, schrie sie, »genau zwei Menschen außer mir und Marc von dem Anruf aus Langbury wussten: Nick Simon, der den Teufel getan hätte, die Story an die Konkurrenz zu verkaufen, und der mir eben bereits telefonisch den Kopf abgerissen hat, und – du. Dir hatte ich es erzählt. Und ich habe jetzt den fürchterlichen Verdacht, dass du tatsächlich die undichte Stelle gewesen bist!«
Dank ihres Geschreis war Cedric nun so weit wach, dass er wieder klar zu denken vermochte.
»Moment mal«, sagte er wütend, »du redest vielleicht einen Unsinn! Du glaubst, ich gehe mit etwas, das du mir erzählst, an die Öffentlichkeit? Du glaubst, ich käme überhaupt auf eine so abartige Idee? Spinnst du?«
»Nun, ich wüsste nicht …«
»Immerhin gibt es ja noch diesen Anrufer aus Langbury. Hast du dir mal überlegt, dass er vielleicht nicht nur dich informiert haben könnte? Sondern munter in der Weltgeschichte herumtelefoniert hat?«
Sie klappte den Mund zu. Schließlich hat sie selbst Mr. Cadwick sofort verdächtigt. Ein Telefonat mit Lee Pearce hätte zweifellos zu seinem Charakter gepasst.
Wesentlich ruhiger als zuvor und ein wenig kleinlaut sagte sie: »Also, du hast mit niemandem darüber gesprochen?«
»Natürlich nicht. Mit wem sollte ich auch …« Er unterbrach sich. Sie sah, dass er eine Schattierung blasser wurde. »Ach, du lieber Himmel«, murmelte er.
Sie zog sofort den richtigen Schluss. »Du hast doch mit jemandem darüber gesprochen? Mit Dad? Aber er …«
Er wagte es kaum, sie anzusehen. »Nein. Nicht mit Dad. Mit Geoff.«
»Mit Geoff?«
»Ich habe ihn am Samstag in seinem Heim besucht. Es war eine furchtbare Stimmung zwischen uns. Geoff war in einer schlimmen Verfassung. Voller Aggressionen auf mich, gleichzeitig hoffnungslos. Irgendwie … ich weiß auch nicht, wie ich es erklären soll … irgendwie kam ein Moment, da wollte ich ihm etwas geben, woran er sich aufrichten konnte.« Jetzt schaute er seine Schwester an. »Es war feige. Ich wollte ihn von mir ablenken. Von den Vorwürfen, die er mir machte – oder die ich zumindest in allem, was er sagte, spürte. Ich dachte, wenn er hört, dass da eine Frau aufgetaucht ist, bei der es sich vielleicht um seine verschwundene Schwester handelt … Ein Blödsinn natürlich. Ihm Hoffnung zu machen, ohne zu wissen, ob auch nur der Hauch einer Chance besteht, es könnte wahr sein … Es hat ohnehin nicht funktioniert. Er vermutete sofort ein Komplott, mit dem du Marc Reeve reinzuwaschen versuchst …«
Sie atmete tief. »Genau das, was diese Zeitung andeutet. Ich denke, damit ist klar, wem wir diesen Artikel verdanken. «
»Du meinst, Geoff greift wirklich zum Telefon und …«
»Geoff ist besessen von der Annahme, dass Marc Reeve ein Mörder ist. Er würde alle Hebel in Bewegung setzen, ihm das nachzuweisen. Oder um zumindest zu verhindern, dass er seine Unschuld nachweisen kann.«
Cedric fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Wie auch bei seiner Schwester standen sie in kleinen Wirbeln ab. »Es tut mir so leid, Rosanna. Ich hätte das nicht tun dürfen. Ich habe diese Kette von Reaktionen nicht im Mindesten vorhergesehen, aber – ich hätte es trotzdem nicht tun dürfen.«
Er überflog den Artikel. »Aber«, sagte er dann vorsichtig, »wieso … ich meine: Abgesehen davon, dass die dir hier eine Affäre mit Reeve unterstellen, womit du sicher Schwierigkeiten bekämst, wenn das irgendwie Dennis zu Ohren kommt, sehe ich nicht ganz das Problem. Was ist letztlich so schlimm an diesem Artikel? Ihr habt die falsche Frau vorgefunden, die Sache hat sich nun geklärt, und schon morgen interessiert das keinen mehr. Geoff hat nur dafür gesorgt, dass ihr keine Möglichkeit habt, die falsche Elaine für die richtige auszugeben – und ich nehme stark an, dass ihr das sowieso nie vorhattet!«
Sie schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. So ein Gedanke konnte nur in Geoffs hassvernebeltem Gehirn entstehen. Aber, Cedric, der Artikel ist trotzdem eine Katastrophe. Allerdings konntest du das in deinem etwas geschwätzigen Moment wohl wirklich kaum ahnen.«
Cedric zog sie weiter in sein Zimmer herein und deutete auf einen Sessel. »Setz dich doch.« Er griff nach seinem Bademantel, schlüpfte hinein und setzte sich seiner Schwester gegenüber auf sein völlig zerwühltes Bett.
»Jetzt erzähl mir mal alles«, forderte er sie auf und fügte hinzu: »Du siehst schrecklich aus, wenn ich das sagen darf!«
»Ich habe die ganze letzte Nacht auf der Autobahn verbracht, die Nacht davor kein Auge zugetan, weil ich in einem unmöglichen Bett lag, und Samstag früh habe ich zum letzten Mal geduscht.« Sie holte tief Luft. »Cedric, wir sind da an eine wirklich gespenstische Geschichte geraten, und ich fürchte nun, dass Elaine tatsächlich nicht mehr am Leben ist. Diese Frau, die wir in Langbury angetroffen haben, Pamela Luke, stammt aus Liverpool – aus einer zerrütteten Alkoholikerfamilie. Vor elf Jahren, mit achtzehn, ging sie nach London, hielt sich dort mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Sie lernte einen Typen kennen, Pit Wavers, und wurde seine Freundin. Pit hatte einen engen Freund, Ron Malikowski. Beide Männer zeichneten sich durch extreme Brutalität aus und waren – neben allen möglichen kriminellen Machenschaften – vor allem als Zuhälter tätig. Sie sollen auch mit Menschenhändlerringen gearbeitet haben, die Frauen aus dem Osten nach England einschleusen und hier dann mit Gewalt zur Prostitution zwingen. Während Malikowski überaus brutal, aber dabei berechenbar war, begriff Pamela nach relativ kurzer Zeit, dass sie es bei Pit Wavers mit einem Psychopathen zu tun hatte – jedenfalls bezeichnet sie ihn heute als solchen. Er drohte ihr alles Mögliche an für den Fall, dass sie ihn verließe, und sie hatte das sichere Gefühl, dass es sich nicht um leere Drohungen handelte. Sie begann, Tag und Nacht auf Flucht zu sinnen, aber es verließ sie immer wieder der Mut. Pit begann, sie systematisch zu misshandeln, so dass sie sich auch immer eingeschüchterter fühlte.«
»Warum ging sie nicht zur Polizei?«, fragte Cedric.
»Das Vertrauen, dass ihr jemand helfen könnte, hatte sie bereits verloren. Es gab ja eine ganze Szene um Pit und seinen Freund Ron herum, und ihr war klar, dass die Polizei niemals alle festsetzen und einsperren würde. Sie ahnte, was ihr als Verräterin blühen würde. Bis heute hat sie nicht das geringste Zutrauen in die Polizei.«
»Ich verstehe«, sagte Cedric.
Rosanna fuhr fort: »Ende Oktober 2002 kam es für Pamela zu einem furchtbaren Erlebnis, von dem sie meiner Ansicht nach bis heute tief traumatisiert ist. Einer der Prostituierten, die für Pit und Ron arbeiteten, einer Engländerin namens Jane French, gelang die Flucht. Jane hatte eine Zeit lang ein Verhältnis mit Pit gehabt, und dieser, offenbar in seiner Ehre getroffen, drehte komplett durch. Er setzte alle Hebel in Bewegung, sie zu finden, und tatsächlich stieß er auf ihre Spur und konnte sie im November in einem Abbruchhaus in Hackney, wo sie sich versteckt hielt, stellen. Pamela, zu diesem Zeitpunkt schon weit davon entfernt, Jane French als Rivalin zu empfinden, trotz deren Liaison mit Pit, hatte noch versucht, sie zu warnen, war aber zu spät gekommen. Sie wurde Zeuge, wie Wavers die junge Frau über viele Stunden folterte und quälte und schließlich ermordete. Zu ihrem Glück bemerkte Wavers nicht, dass er beobachtet wurde.«
»Großer Gott«, sagte Cedric erschüttert.
»Der Gedanke an Flucht wurde für Pamela geradezu obsessiv. Sie wusste, dass ihre Beziehung zu Pit Wavers nur in Gewalt und Schrecken enden konnte. Sie hatte seine dunkelste Seite kennen gelernt, und sie konnte Tag und Nacht nichts als Angst und Entsetzen empfinden. Dann, im April 2003, entdeckte sie in Malikowskis Wohnung in einer Schublade zufällig einen britischen Pass. Es war üblich, dass Malikowski den Frauen die Papiere abnahm, nur bewahrte er sie für gewöhnlich an einem sicheren Ort auf. Auch Pamela war der Ausweis weggenommen worden. Insofern stellte der Fund eines gültigen Passes eine echte Chance für sie dar. Es gelang ihr, ihn an sich zu nehmen. Und nun rate, um wessen Pass es sich handelte?«
»Keine Ahnung.«
Sie zog den Pass aus ihrer Tasche, reichte ihn ihrem Bruder und sah zu, wie sich seine Augen vor Staunen weiteten, nachdem er ihn aufgeschlagen hatte.
»Das gibt es doch nicht!«, sagte er.
»Verstehst du nun, warum ich glaube, dass Elaine entweder tot ist oder in größten Schwierigkeiten steckt? Im Januar 2003 verschwindet sie. Im April wird ihr Pass in der Wohnung eines Zuhälters in Islington gefunden. Cedric, irgendwo auf dem Weg zwischen Marc Reeves Wohnung und dem Flughafen Heathrow ist sie an jenem Januarmorgen entweder Ron Malikowski oder Pit Wavers begegnet. Und damit in ihr Verderben gelaufen.«
Cedric stand auf. »Du musst mit diesem Wissen sofort zur Polizei gehen, Rosanna«, sagte er.
Sie nickte. »Ich weiß. Das Problem ist Pamela. Sie dreht durch vor Angst.«
»Ihr habt sie mit nach London gebracht?«
»Sie sitzt im Moment in Marcs Wohnung und weigert sich, auch nur einen Schritt hinaus zu tun. Ihr ist damals die Flucht geglückt. Seit fast fünf Jahren hält sie sich versteckt, an verschiedenen Orten, vor allem im Norden Englands. Unter dem Namen Elaine Dawson.«
»War das nicht riskant? Immerhin dürfte dieser Name dem feinen Mr. Wavers bekannt gewesen sein.«
»Klar. Aber sie musste Papiere vorlegen, um Jobs zu bekommen und sich Zimmer mieten zu können, und andere als diese hatte sie nun mal nicht.«
»Fünf Jahre … warum ist sie nicht ins Ausland gegangen?«
Rosanna zuckte die Schultern. »Angst. Sie war immerhin mit obskuren Papieren unterwegs und hatte keine Ahnung, woher diese stammten. Irgendeinem Zimmerwirt in Northumberland kann man alles unter die Nase halten, aber bei Grenzkontrollen sieht das unter Umständen anders aus.«
»Aber fünf Jahre … und sie fürchtet sich immer noch so sehr vor diesem Wavers? Ich meine, nach der langen Zeit interessiert sie ihn doch wahrscheinlich überhaupt nicht mehr.«
»Sie behauptet, dass seine Rachegelüste mit den Jahren nur schlimmer geworden sein können. Außerdem müsste sie jetzt ja auch noch hingehen und ihn verraten. Er wird nicht begeistert sein, wenn sie der Polizei erzählt, wer diese Jane French umgebracht hat und was bei ihm und Malikowski sonst noch so gelaufen ist.«
»Ich sehe das Problem, ja. Aber ihr müsst trotzdem zur Polizei gehen. Es gibt gar keine Alternative. Was meint denn Reeve?«
»Dasselbe. So schnell wie möglich zur Polizei gehen.«
»Und da hat er absolut recht. Rosanna …«
»Ich weiß. Aber ich mache mir wirklich Sorgen um Pamela. Denn dieser verdammte Artikel«, sie wies auf die Zeitung, »bringt sie unter Umständen in höchste Gefahr. Wavers kann womöglich ihre Spur aufnehmen. Deshalb wollte Pamela auch keinesfalls in Northumberland bleiben. Sie weiß noch nichts von dem Geschmiere hier, aber sie hat gestern Nachmittag den Auftritt des Reporters natürlich erlebt und weiß auch, dass er ein Foto von ihr hat. Ich frage mich übrigens, wie er das Bild so schnell in der Zeitung lancieren konnte.«
»Er brauchte im Grunde nur einen Laptop, auf den er seine Bilder überspielt hat, und einen Internetanschluss. Gar kein Problem. Foto und dazugehörige Informationen befanden sich vermutlich schon am frühen Abend beim Mirror – rechtzeitig für die Drucklegung.«
»Dummerweise werden auch Marc und ich namentlich erwähnt. Das ist ein echter Anhaltspunkt für Wavers.«
»Vor allem Reeves Adresse dürfte er sehr rasch herausbekommen. Deshalb ist dessen Wohnung sicher nicht der günstigste Aufenthaltsort für Miss Luke. Wobei ich trotzdem glaube, dass ihre Angst übertrieben ist. Ich meine, nach allem, was sie erlebt hat, ist es verständlich, dass sie so reagiert, aber ich kann mir nicht denken, dass dieser Wavers nach fünf Jahren nichts Besseres zu tun hat, als sich mit einer Frau abzugeben, die ihm irgendwann einmal weggelaufen ist.«
»Diese Einstellung wirst du ihr nicht vermitteln können. Und ich möchte nicht über sie hinwegtrampeln, verstehst du? Diese Frau hat Entsetzliches mitgemacht. Jetzt einfach zur Polizei gehen, dann mit den Beamten bei ihr aufkreuzen, sie der Vernehmung aussetzen… ich käme mir vor wie ein Verräter.«
Sie sahen einander an. Schließlich meinte Rosanna: »Ich habe mir Folgendes überlegt: Marc geht zur Polizei und berichtet dort alles, was wir wissen. Zuvor aber bringe ich Pamela an einen sicheren Ort. Irgendeine Pension, ein Bed & Breakfast außerhalb von London. Natürlich wird sie dort unter einem anderen Namen einquartiert. Vielleicht bleibe ich auch bei ihr – je nachdem, worauf sie sich einlässt. Erst wenn die Polizei Wavers festgesetzt hat, verlässt Pamela ihr Versteck.«
»Die Polizei wird sofort mit ihr sprechen wollen.«
Sie hob die Schultern. »Dann kann sich bestimmt ein Beamter mit ihr treffen. Aber sie muss an einem Ort sein, an dem sie sich sicher fühlt. Wie du selbst gesagt hast, ist Marc Reeves Wohnung nicht geeignet, und vor der Vorstellung, hier in unser Hotel zu ziehen, ist sie sofort zurückgeschreckt – zu zentral, zu belebt.«
Cedric stand auf. »Die Idee ist nicht schlecht, aber ich werde das machen«, sagte er entschlossen, »ich habe schließlich Entscheidendes vermasselt. Ich fahre mit Miss Luke aufs Land, suche einen versteckten Platz und warte dort mit ihr. Du und Reeve, ihr geht gemeinsam zur Polizei. Ihr seid beide tief in diese Geschichte involviert.«
»Du würdest das wirklich tun?«
Er nickte. »Mir verdankt Pamela Luke den Ärger, dass ihr Foto in der Zeitung ist. Ich möchte das irgendwie wiedergutmachen. Außerdem …«
»Ja?«, fragte Rosanna, als er nicht weitersprach.
»Außerdem hätte ich endlich das Gefühl, etwas Nützliches zu tun«, sagte Cedric. »Seit Tagen gammle ich hier herum, schlafe bis in die Puppen, lebe von Dads Geld …«
»Du hast dir Geld von ihm geliehen?«
»Glaubst du, ich könnte mir dieses Hotel hier von meinen paar erbärmlichen Kröten leisten?«
»Cedric …«
»Ich weiß. So kann es nicht weitergehen mit mir. Schon klar. Du glaubst nicht, wie sehr mich genau dieser Gedanke ständig verfolgt.«
»Es ist schön, wenn du Pamela hilfst. Aber das ändert noch nichts an deinem Leben, das weißt du!«
Er schien ungeduldig. »Ich weiß. Ich weiß! Aber lass mich irgendwie anfangen, ja? Es ist einfach ein Anfang. Ein winziger Schritt. Danach muss ich weitersehen.«
»Okay.« Sie wollte ihn nicht weiter in die Enge treiben, aber sie fürchtete, dass es sich wieder einmal um eine für Cedric und seinen ganzen bisherigen Lebensweg so überaus typische Aktion handelte: Er tat etwas Spektakuläres, etwas Besonderes, etwas, das durchaus ehrenwert war, was ihn auf seinem persönlichen Weg aber keinen Schritt weiter brachte.
Es war nicht der Moment, darüber zu sprechen. Zu viele Probleme drängten.
Sie erhob sich ebenfalls. »Ich werde jetzt erst einmal duschen und mich umziehen. Und Dennis anrufen. Rob ist seit Freitagabend verschwunden.«
»Was?«
»Sie hatten wieder Streit, wegen einer Party, zu der Dennis ihn nicht gehen lassen wollte. Es sind immer die gleichen Themen zwischen ihnen. Insofern glaube ich auch nicht, dass etwas passiert ist, ich glaube, dass Rob einfach nur irrsinnig wütend auf seinen Vater ist und sich bei irgendeinem Freund versteckt. Trotzdem ist das natürlich eine schreckliche Situation für Dennis.«
»Vielleicht hält sich Rob auch versteckt, weil du weg bist«, sagte Cedric.
Auf diesen Gedanken war Rosanna noch nicht gekommen. »Meinst du wirklich?«
»Ich glaube, dass deine beiden Männer, jeder auf seine Art, dort in Gibraltar Amok laufen. Du bist der Stabilisierungsfaktor in dieser Familie. Wenn du fehlst, haben beide erhebliche Probleme.«
»Ich kann nicht immerzu auf sie aufpassen.«
»Natürlich nicht. Aber bei jedem Abnabelungsversuch von deiner Seite brennen bei beiden erst einmal die Sicherungen durch. Das musst du einfach wissen.«
Sie ging zur Tür. Sie war so müde, dass sie auf der Stelle hätte einschlafen mögen. Zugleich vibrierten ihre Nerven. Ihr Leben kam ihr im Augenblick vor wie ein verrückter, beängstigender Film.
»Ach, Rosanna«, sagte Cedric, als sie schon die Hand auf der Türklinke hatte. »Stimmt es eigentlich, was hier steht? Dass da … irgendetwas läuft zwischen dir und Marc Reeve?«
Sie beide hatten sich als Kinder bis zum Umfallen gestritten und einander manchmal am liebsten die Augen ausgekratzt, aber sie hatten nie Geheimnisse voreinander gehabt. Jeder war der engste Vertraute des anderen gewesen.
»Ja«, sagte sie deshalb einfach, »es stimmt.«
Cedric pfiff durch die Zähne. »Dann hast du noch mehr Probleme, als ich dachte.«
Sie erwiderte darauf nichts, sondern verließ das Zimmer.
Draußen lehnte sie sich für einige Sekunden mit dem Rücken an die Wand und atmete tief durch.
Eins nach dem andern. Sonst verlierst du die Nerven. Einfach eins nach dem andern!
Der nächste Schritt war eine ausgiebige, heiße Dusche.
Bevor sie diese nicht hinter sich hatte, würde sie über nichts Weiteres nachdenken.
4
Pit Wavers hatte sein eigenes Auto vorsichtshalber stehen lassen. Der Wagen war in unmittelbarer Nähe zu seiner Wohnung geparkt, und wenn er auch den Schlüssel dabeihatte, so empfand er doch das Risiko als zu groß. Zudem würde sein Autokennzeichen im Blickpunkt polizeilichen Interesses stehen, wenn Ron sang und die Bullen nach ihm, Pit, fahndeten. Und er war nicht blöd. Er hatte nicht vor, sich für zwanzig Jahre einbuchten zu lassen, nur weil er zwei Schlampen um die Ecke gebracht hatte, die für diese Welt ohnehin nicht von Nutzen waren.
Er kannte einen Kumpel, der ihm noch einen Gefallen schuldete, und von dem lieh er sich ein Auto.
»Kann sein, du bekommst es erst in ein paar Tagen zurück«, sagte er.
Der Kumpel hatte gerade etliche Joints geraucht und blinzelte ihn aus glasigen Augen an. »Klar. Kein Problem«, murmelte er. Pit hatte den Eindruck, dass er zehn Minuten später kaum noch wissen würde, wem er sein Auto eigentlich geliehen hatte.
Umso besser.
Es hatte ihn keinerlei Mühe gekostet, in einem Telefonbuch in der Post Marc Reeves Büroadresse ausfindig zu machen. Er fuhr sofort dorthin und strich eine Weile vor dem schönen, stuckverzierten Sandsteinbau in Belgravia herum. Das Büro befand sich, dem Klingelschild nach, im ersten Stock, aber er hatte den Eindruck, dass sich niemand dort aufhielt. Die Fenster gingen nach Norden und wurden zudem von hohen, wenn auch kahlen Bäumen beschirmt. Es hätte Licht brennen müssen. Es wirkte jedoch alles sehr dunkel.
Schließlich klingelte er probehalber, aber wie erwartet, geschah nichts. Reeve war nicht da. Und Rosanna Hamiltons Adresse war nicht herauszukriegen. Es wimmelte von Hamiltons in London, auch von solchen, deren Vorname mit R begann. Unmöglich, die Richtige zu finden. Nein, wenn es überhaupt eine Chance gab, an Pamela Luke heranzukommen, dann nur über Marc Reeve.
Er stand noch unschlüssig vor dem Hauseingang, als eine ältere Dame im Pelzmantel heraustrat und ihn misstrauisch anblickte.
»Zu wem wollen Sie denn?«, fragte sie mit scharfer, unfreundlicher Stimme.
»Zu Rechtsanwalt Reeve«, sagte Pit. Fasziniert betrachtete er die dicken Goldklunker an ihren Ohren. Immer wenn Menschen ihren Reichtum so unverhohlen zur Schau stellten, hätte er sie am liebsten mit einem Handkantenschlag erledigt und sich genommen, womit sie so hemmungslos und provozierend protzten.
Aber zweifellos war dies nicht der Moment dafür.
»Im Büro ist niemand«, sagte die Alte, »ich wohne darunter, ich wüsste es. Ich höre jeden Schritt über mir, verstehen Sie? Der Nachteil von so alten Häusern. Die Dielen knarren. Man hat nie seine Ruhe.«
»Meine Güte, das ist aber wirklich ärgerlich«, sagte Pit. »Ich habe sehr wichtige Prozessakten für Mr. Reeve. Er muss sie unbedingt so schnell wie möglich bekommen. Ist denn nicht einmal eine Sekretärin da?«
»Die hat schon seit über einer Woche die Grippe.« Die Alte war gut informiert. Das Misstrauen in ihrem Blick vertiefte sich. »Wo haben Sie denn die Akten?«
»Im Auto«, sagte Pit eilig. »Verdammt schwer zu schleppen. Deshalb wollte ich erst einmal sichergehen, ob jemand da ist.«
Die Alte zuckte mit den Schultern. Schweres, teures Parfüm wehte Pit bei dieser Bewegung entgegen. »Ich kann Sie ins Treppenhaus lassen, und Sie deponieren die Sachen vor der Bürotür«, schlug sie vor.
Das war absolut nicht das, was Pit wollte. Er mimte leises Entsetzen. »Um Gottes willen! Das sind hochbrisante Papiere! Die darf ich Reeve nur persönlich in die Hand drücken, sonst komme ich in Teufels Küche.« Er kratzte sich am Kopf, tat, als überlege er.
»Sie wissen nicht vielleicht, wo Reeve wohnt?«, fragte er. »Dann könnte ich ihm das Zeug schnell vorbeibringen.«
»Natürlich weiß ich, wo Mr. Reeve wohnt«, sagte die alte Dame streng. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen das sagen darf.«
Und ich bin sicher, dass ich ein paar Griffe kenne, da würdest du es mir ganz schnell sagen, du blöde Fotze, dachte Pit.
Resigniert wandte er sich zum Gehen. »Na, dann … kann ich nichts machen«, sagte er leise.
Er war schon an der Straße, als er ihre Stimme wieder hörte. »Warten Sie. Wenn es wirklich so wichtig ist …«
Er drehte sich zu ihr um. »Madam, wenn Mr. Reeve erfährt, dass Sie dafür gesorgt haben, dass er rasch an diese Unterlagen kommt, verleiht er Ihnen einen Orden«, sagte er erleichtert.
Eine halbe Minute später hatte er die Adresse.
Während er schräg gegenüber von Reeves Wohnhaus parkte und wartete, sagte er sich, dass er unter Umständen völlig sinnlos hier herumsaß und die ganze Angelegenheit am Ende ergebnislos würde abbrechen müssen. Er hatte keine Ahnung, ob Reeve überhaupt wieder in London war oder sich nicht noch in Northumberland herumtrieb. Weshalb, beispielsweise, war er an einem gewöhnlichen Montagmorgen nicht in seinem Büro? Die Sekretärin war krank, er hatte jeden Grund, dort die Stellung zu halten. Konnte natürlich auch sein, dass er an einer Gerichtsverhandlung teilnehmen musste und erst später sein Büro aufsuchen würde. In diesem Fall musste er irgendwann abends in seiner Wohnung erscheinen. Wenn er nicht woanders schlief. Hatte der Mirror nicht ziemlich unverblümt behauptet, dass zwischen ihm und dieser Hamilton etwas lief?
Je mehr Pit darüber nachdachte, desto unsicherer wurde er. Die tiefstehende Februarsonne hatte die Straße noch nicht erreicht, es war kalt im Auto. Den Motor laufen zu lassen, wagte Pit nicht, weil er nicht unnötig auffallen wollte. Heutzutage wimmelte es ja überall von diesen furchtbaren Ökoaktivisten, die über jeden in ihren Augen unnötigen Kohlendioxidausstoß total aus dem Häuschen gerieten. Und falls Ron plauderte wie eine aufgezogene Sprechpuppe, wurde er, Pit, womöglich schon mit einem Haftbefehl gesucht. Nicht der Augenblick, wegen einer Umweltsünde ins Visier irgendeines Streifenbeamten zu geraten.
Und wenn er doch nach Northumberland hinauf-bretterte? Sein Hass auf Pamela, seine Angst wegen Rons Festnahme, seine ganze Scheißsituation versorgten ihn mit so viel Adrenalin, dass allein der Gedanke, sich auf die Autobahn zu begeben und das Gaspedal durchzudrücken, berauschend war. Aber er bemühte sich, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Es hatte keinen Sinn, einfach den Bedürfnissen nachzugeben. Northumberland war groß. Weder Pamela noch Marc Reeve, noch diese Hamilton würde er dort finden.
Hier in London besaß er wenigstens eine Adresse.
Er hauchte warmen Atem in seine klammen Hände, rieb die Finger aneinander. Wenn es nur nicht so kalt wäre! Allein dafür, dass er sich hier den Arsch abfror, hatte Pamela eine ganz besondere Behandlung verdient. Kurz tastete er nach seiner Waffe, strich fast liebevoll über das kühle Metall. Er würde Pam auseinandernehmen. Er hatte fast fünf Jahre lang von dem Moment geträumt, wenn er ihr gegenüberstünde, und nun würde er sich ein paar spezielle Dinge für sie ausdenken.
Er war damals so perplex gewesen über Pammys Flucht, dass er sich tagelang geweigert hatte einzusehen, dass sie es wirklich getan hatte. Noch dazu in einem Moment, da es ihm schlecht ging. Es war ein ungewöhnlich kalter und verregneter April gewesen, und er hatte fast zwei Wochen lang eine fiebrige Erkältung gehabt. An jenem Dienstag hatte er auf dem Sofa gelegen und unter heftigen Kopfschmerzen gelitten, und er hatte Pamela angefahren, ihm sofort zwei Aspirin zu bringen. Er hatte sie im Bad herumstöbern hören, dann war sie im Wohnzimmer erschienen. »Es sind keine mehr da. Soll ich schnell zur Apotheke gehen?«
Sie hatte ein böses Veilchen am rechten Auge gehabt, ein Andenken an den letzten Streit, den sie gehabt hatten. Daran erinnerte er sich bis heute. Und auch daran, dass er gedacht hatte: Lass sie nicht gehen. Ruf Ron oder sonst jemanden an und lass dir die Tabletten besorgen, aber behalte die Schlampe bei dir in der Wohnung.
Er wusste zu diesem Zeitpunkt bereits, dass sie über Flucht nachdachte. Er kannte die Signale, wenn eine Frau so weit war. Die Hoffnung, seine Gunst noch einmal zu gewinnen, hatte sie aufgegeben. Sie lebte in ununterbrochener Angst vor seinen Gewalttätigkeiten. Sie verlor an Attraktivität, war mager, bleich und hatte häufig ein nervöses Zucken am Auge. Sie hielt stets vorsichtigen Abstand zu ihm, weil sie ständig mit einem Faustschlag rechnen musste – auch dann, wenn nichts vorgefallen war. Pit wusste, dass man einen anderen Menschen am sichersten dadurch einschüchterte, dass man sich völlig unberechenbar für ihn machte. Pamela hatte keine Ahnung, welches Verhalten sie an den Tag legen musste, um ihn gnädig zu stimmen, und das machte ihr Leben zur Hölle.
Ihre Ausweispapiere hatte er ihr schon vor längerer Zeit abgenommen, aber er hatte es sich zudem angewöhnt, sie in der Wohnung einzuschließen, wenn er ohne sie fortging. Er begleitete sie zum Einkaufen und achtete darauf, dass sie nicht alleine draußen herumlief. Früher war sie gerne gejoggt; das hatte sie aufgeben müssen, weil er natürlich keine Lust hatte, neben ihr herzuhecheln.
Es war nicht so, dass er sie noch als seine Frau haben wollte. Er war verrückt nach ihr gewesen, weil sie eine scharfe Person war, aber inzwischen ging sie ihm nur noch auf die Nerven. Sie war auch lange nicht mehr so attraktiv wie früher. Trotz ihres jugendlichen Alters zeigte sie verhärmte Züge. Er hatte längst wieder angefangen, anderen Frauen unverhohlen hinterherzustarren, und schließlich hatte es auch die Affäre mit Jane French gegeben, dieser miesen Person, die versucht hatte, ihm zu entkommen.
Er jedoch bestimmte, wann er eine Frau ausmusterte, nur er! Und das würde mit Pamela nicht anders sein.
Er hatte sie an jenem Apriltag schließlich gehen lassen, das Aspirin zu holen, denn ihm war schon übel gewesen von den Kopfschmerzen, und er hatte keine Nerven mehr gehabt, sich einen anderen Boten zu organisieren. Er war dann eingeschlafen, und als er aufwachte, waren mehr als drei Stunden vergangen. Die Apotheke lag fünf Minuten entfernt. In der ganzen Wohnung keine Spur von Pamela.
Schmerzgepeinigt war er herumgetorkelt, hatte ihren Namen gebrüllt, hatte in jeden Schrank, unter jedes Bett geschaut. Ihre Sachen waren noch da, aber das besagte nichts. Sie wäre kaum mit einem Koffer losgezogen.
Im Bad fand er, ganz hinten in einem Regal, ein angebrochenes Päckchen Aspirin. Sie hatte ihn angelogen, als sie behauptete, es sei nichts mehr da.
Nachdem er zwei Tabletten genommen hatte, ging es ihm langsam besser. Obwohl alles so offensichtlich war, sagte er sich, dass sie bestimmt wiederkommen würde. Letztlich würde sie eine solche Geschichte nicht durchziehen. Nicht Pamela mit ihrem nervösen Augenzucken und ihrer unterwürfigen Art. Sie trieb sich ein wenig herum, aber sie würde irgendwann winselnd nach Hause schleichen. Er würde ihr einen Empfang bereiten, den sie nie vergessen sollte.
Er glaubte das auch noch am nächsten und am übernächsten Tag. Am dritten Tag sagte Ron zu ihm: »Die ist weg, Mensch, begreif das doch endlich. Die hat sich vom Acker gemacht. Die siehst du nicht mehr wieder.«
Er wusste bis heute, dass er in den Sekunden, die diesen Worten folgten, gemeint hatte, an seiner Wut und seinem Hass buchstäblich zu ersticken.
Und seltsamerweise war der Hass im Lauf der Jahre nicht schwächer geworden. Er hatte phasenweise tief in ihm geschlummert und sich nicht gerührt, aber dann war er wieder ausgebrochen, urplötzlich, ohne dass ein Auslöser bemerkbar gewesen wäre. Dann war Pit in der Stadt herumgefahren und hatte Ausschau nach ihr gehalten. So wie in den Wochen nach ihrem Verschwinden. Er hatte Gesichter studiert, Gestalten, hatte nach ihrer charakteristischen Art zu laufen gesucht. Wie besessen. In solchen Momenten hatte nichts sonst für ihn existiert. Da war nur sie wichtig gewesen und die unbedingte Notwendigkeit, sie zu finden.
Ron hatte ihm oft erklärt, dass er verrückt sei. »Mensch, was willst du denn noch von der? Du warst doch sowieso fast durch mit ihr. Jetzt lauf doch nicht einer Frau nach, die dir am Schluss ohnehin nur noch auf die Nerven ging!«
»Du bist auch nicht gerade zimperlich, wenn dir eine abhaut! «
»Weil meine Mädchen mein Geschäft sind. Mein Kapital. Und ich eine Abschreckung schaffen muss, sonst sind ganz schnell alle über den Berg, und ich kann sehen, wo ich bleibe. Aber bei dir und Pamela ist das doch ganz anders. Vergiss sie endlich!«
Es war aussichtslos, er konnte Ron nicht klarmachen, was in ihm vorging. Er konnte es ja nicht einmal sich selbst so recht erklären. Er wurde einfach mit der Kränkung nicht fertig, die sie ihm zugefügt hatte. Er vermochte die Wut, die dieses Verlassenwerden in ihm ausgelöst hatte, nicht unter Kontrolle zu bringen. Die Wut war wie ein Feuer, das nicht verlosch und immer neue Nahrung suchte. Und ihn verzehrte. Erst wenn er diese Sache in Ordnung gebracht hätte, würde er Ruhe finden.
Und in sehr seltenen Momenten, manchmal in den frühen Morgenstunden, spürte er, dass es Schmerz war, was sich unter der Wut verbarg, ein unfassbarer, namenloser Schmerz, und er begriff, dass er seine Wut brauchte, um den Schmerz fernzuhalten. Weil er ihn nicht würde ertragen können.
Er fand das verwirrend. Wieso Schmerz? Er hatte Pamela nicht geliebt. Er hatte sie begehrt und später lästig gefunden. Er verstand das alles überhaupt nicht. Er wusste nur immer, dass er sie finden musste.
Und jetzt bin ich ganz dicht davor, sagte er sich und blies erneut seinen Atem in die kältestarren Hände.
Er war so in Gedanken versunken, dass er für einige Momente die Straße nicht mehr im Auge gehabt hatte. Er schrak zusammen, als er plötzlich zwei Personen bemerkte, die das Haus betraten, in dem Marc Reeve wohnte. Ein Mann und eine Frau. Reeve und Hamilton? Natürlich konnte es sich auch um jemand ganz anderen handeln, es lebten schließlich noch mehr Parteien in dem Haus. Ärgerlicherweise hatte er nicht mitbekommen, ob sie geklingelt oder einen Schlüssel benutzt hatten. Er presste sein Gesicht ganz dicht an die Windschutzscheibe, aber das brachte ihn nicht viel weiter. Die beiden Leute verschwanden im Haus. Die Tür fiel hinter ihnen zu.
Immerhin, es hatte sich endlich etwas bewegt. Die Frau war nicht Pamela gewesen, da war er sich sicher. Pamela war größer und hatte eine andere Körperhaltung. Nach vorn gezogene Schultern und zumeist vor der Brust verschränkte Arme. Sie hatte tolle, ungewöhnlich üppige Brüste, die sie immer zu verbergen suchte. Sie empfand Männer als Feinde, die sie lieber nicht auf sich aufmerksam machen wollte. Das war schon so gewesen, ehe sie sich mit Pit zusammentat. Ihr Vater hatte dafür gesorgt. Seit den ersten Tagen ihrer Pubertät war sie vor ihm nicht mehr sicher gewesen.
Diese Frau eben hingegen hatte den Kopf hoch getragen und sich aufrecht gehalten, und selbst von hinten war ihr anzusehen gewesen, dass sie mit einer zumindest durchschnittlichen Menge an Selbstbewusstsein ausgestattet war. Könnte Hamilton, die Journalistin, sein. Er hasste Frauen dieses Typs.
Er war jetzt aufmerksam und behielt das Haus scharf im Auge. Eine ganze Weile tat sich überhaupt nichts. Er schaute auf seine Uhr. Es war zwanzig vor zwölf. Er saß jetzt seit gut zwei Stunden hier. Wenn Reeve überhaupt daheim war, so hatte er es in seiner Wohnung sicher kuscheliger als er hier unten. Ein heißer Kaffee wäre zu schön. Er überlegte gerade, ob er seinen Beobachtungsposten kurz aufgeben, den nächsten Coffeeshop ansteuern und etwas später zurückkehren sollte, da öffnete sich die Tür des Hauses erneut, aber diesmal kamen zwei Menschen heraus. Ein Mann und eine Frau. Doch während er den Mann wegen dessen brauner Lederjacke als denjenigen erkannte, der ungefähr eine Viertelstunde zuvor angekommen war, war die Frau jetzt eine andere. Es war Pamela.
Er hätte sie auch ohne das neue Zeitungsfoto sofort erkannt, trotz der vielen Jahre, die vergangen waren, und obwohl sie sich wirklich sehr verändert hatte. Die kurzen dunkelbraunen Haare anstelle der taillenlangen blonden Mähne machten einen völlig anderen Typ aus ihr. Während er immer darauf bestanden hatte, dass sie sich sehr auffällig und schrill zurechtmachte, hatte sie sich jetzt in das andere Extrem geflüchtet, in die vollkommene Biederkeit. Schwarze Jeans, olivgrüner Parka, grauer Schal, schwarze, flache Schnürschuhe. Kein Gramm Schminke im Gesicht, wenn er das auf die Entfernung richtig erkannte. Sie sah fade und unattraktiv aus. Und älter, als sie war.
Gott, was ist aus der bloß geworden?, dachte er fassungslos.
Sein Herz raste. Er war sicher, dass sein Blutdruck in gefährliche Höhen gesprungen war. Ihm war schwindlig, für einen Moment hielt er sich instinktiv mit beiden Händen am Lenkrad fest, obwohl er saß.
Da war sie. Er sah sie plötzlich vor sich, wie sie an jenem Apriltag aus dem Wohnzimmer ihrer Wohnung gegangen war. Im Jeans-Minirock, auf silberfarbenen Stilettos. Die blonden Haare wippten, zum Pferdeschwanz gebunden, über ihren Rücken.
Nun schlich sie an einem Februartag aus einem Londoner Wohnhaus, nichts war geblieben von Minirock und Stilettes, und dennoch schloss sich der Kreis, und die Dinge schickten sich an, in Ordnung zu kommen.
Es drängte ihn, aus dem Auto zu springen, in zwei Sätzen die Straße zu überqueren, ihren Arm zu packen, dem Typ neben ihr ein paar in die Fresse zu hauen und sie dann mitzunehmen – an irgendeinen ruhigen Ort, an dem sie ganz allein waren. Und alles in Ruhe aufarbeiten konnten, was zwischen ihnen geschehen war.
Aber das wäre nicht klug. Nicht hier, mitten in London. Der Typ würde wahrscheinlich Gegenwehr leisten, herumbrüllen, Aufsehen erregen. Irgendjemand würde sein, Pits, Autokennzeichen notieren. Sie würden nicht weit kommen.
Pamela ließ einen unruhigen Blick die Straße hinauf-und hinunterschweifen, und Pit duckte sich sofort hinter sein Armaturenbrett. Faszinierend, sie hielt immer noch die Arme vor ihren Titten verschränkt. Sie war immerzu auf der Hut.
Wie recht sie doch im Grunde damit hatte.
Als er sich wieder hervorwagte, sah er, dass der Typ –Reeve? – ein direkt vor der Haustür geparktes Auto mit Londoner Nummernschild aufschloss und Pamela einsteigen ließ. Dann ging er um den Wagen herum, setzte sich hinter das Steuer. Er schnallte sich an. Er würde gleich losfahren.
Pit musste blitzschnell entscheiden, was er tun wollte.
Aber eigentlich war das keine Frage. Hinterher. Etwas anderes gab es nicht.
Als das Auto mit Pamela darin auf die Straße rollte, verließ auch Pit seinen Parkplatz. Er hatte schweißnasse Hände. Er durfte die beiden da vor ihm nicht verlieren, aber er durfte auch nicht zu dicht auffahren. Wenn Pamela aus irgendeinem Grund in den Rückspiegel blickte, konnte sie ihn erkennen. Er hatte sich nicht verändert, und er vermutete, dass er oft genug durch ihre Albträume gegeistert war. Sie kannte jeden Leberfleck in seinem Gesicht.
Jetzt musst du eine Glanzleistung bringen, Junge, sagte er zu sich.
Er war schon lange nicht mehr so wach und so gespannt gewesen.
Und so entschlossen.
5
Es war fast vier Uhr, als Marc und Rosanna bei New Scotland Yard saßen, im Büro von Inspector Fielder, und sie hatten das Gefühl, endlich den richtigen Mann vor sich zu haben.
Nachdem Cedric und Pamela mit unbekanntem Ziel aufgebrochen waren, war Marc in sein Büro gefahren, aber im Grunde nur um die Post abzuholen und die zuvor verschobenen Termine für diesen Tag endgültig abzusagen.
Dann hatten er und Rosanna die nächste Polizeidienststelle aufgesucht und waren an einem äußerst phlegmatischen Beamten hängengeblieben, der alles, was sie sagten, umständlich zu Protokoll nahm und die ganze Zeit über deutlich zu verstehen gab, dass er die Geschichte ausgesprochen abenteuerlich fand und nicht sicher war, ob er das alles ernst nehmen oder als Spinnerei abtun sollte. Irgendwann war Marc der Geduldsfaden gerissen, und er hatte verlangt, den Vorgesetzten des Beamten zu sprechen. Nach einigem Hin und Her war dies geschehen. Dann kam endlich Bewegung in die ganze Angelegenheit, vor allem nachdem der Name Jane French gefallen war. Ein paar aufgeregte Telefonate folgten, dann wurden Marc und Rosanna mit einem Wagen der Polizei hinüber nach Westminster gefahren, zu dem zwanzigstöckigen Bürobau, in dem sich der Sitz von New Scotland Yard befand. Man brachte sie in eine Art Konferenzraum und erklärte ihnen, Inspector Fielder werde jeden Moment bei ihnen sein. Während sie warteten, versuchte Rosanna zum wiederholten Mal, Dennis zu erreichen, aber weder daheim noch in seinem Büro, noch auf seinem Handy meldete sich jemand. Es machte sie nervös und unruhig, nicht zu wissen, was mit Rob passiert war, zugleich merkte sie, wie Wut und Ärger auf Dennis immer mehr anstiegen. Sie völlig im Ungewissen zu lassen, war seine Art, sie für ihren England-Aufenthalt zu bestrafen, und ihr wurde mehr und mehr klar, dass ihrer beider Beziehung einer Reihe klärender Gespräche bedürfen würde, um weitergeführt zu werden – wenn es ihnen überhaupt gelang, dafür noch eine Grundlage zu finden. Trotz aller Spannung, die der Augenblick in ihr hervorrief, war sie plötzlich von tiefer Traurigkeit erfüllt. Es hatte sich so vieles verändert in den letzten Tagen.
Schließlich war Fielder erschienen, ein ruhiger Mann, auf den ersten Blick etwas unscheinbar und von zurückhaltender Art. Wer genauer hinsah, konnte erkennen, dass es unklug sein mochte, seine Entschlusskraft und sein Durchsetzungsvermögen zu unterschätzen.
Fielder hatte sie mit in sein Büro genommen und ihnen Plätze gegenüber seinem Schreibtisch angeboten, dann war eine Sekretärin mit Kaffee erschienen, und schließlich hatte Fielder gesagt: »Sie meinen, Sie wissen, wer Jane French im November 2002 ermordet hat? Bitte erzählen Sie mir alles.«
Rosanna überließ es Marc, die ganze Geschichte in all ihren verwirrenden Einzelheiten wiederzugeben. Fielder hörte konzentriert zu, ohne ein einziges Mal zu unterbrechen. Als Marc geendet hatte, fragte er als Erstes: »Wo ist Pamela Luke jetzt?«
»Sie ist mit meinem Bruder unterwegs«, sagte Rosanna, »und sowie die beiden ein Quartier gefunden haben, melden sie sich bei uns.«
»Miss Luke müsste aber hier sein«, sagte Fielder stirnrunzelnd.
Marc nickte. »Das wissen wir. Und wir hätten sie gern mitgebracht. Aber sie war nicht dazu zu bewegen. Inspector Fielder, diese Frau ist wirklich völlig traumatisiert. Und überzeugt, dass Mr. Wavers ihr bereits auf der Spur ist – dank des Zeitungsfotos. Sie wollte ihn keinesfalls an die Polizei verraten, aus Angst vor seiner Rache. Dem konnten wir natürlich nicht nachgeben, aber wir mochten sie auch nicht völlig überrumpeln und dabei riskieren, dass sie in Panik ausbricht.«
»Ich verstehe«, sagte Fielder.
»Wir konnten mit ihr den Kompromiss aushandeln, dass wir zwar zur Polizei gehen, dass sie aber zuvor an einen sicheren Ort gebracht wird. Wenigstens so lange, bis dieser Pit Wavers gefasst ist.«
»Und Ihre Wohnung, Mr. Reeve, erschien Ihnen nicht sicher genug?«
Marc schüttelte den Kopf. »Es ging nicht so sehr darum, was ich für sicher hielt und was nicht. Es ging um Miss Lukes Gefühle. Sie konnte argumentieren, dass es durch die Nennung meines Namens im Mirror für Mr. Wavers natürlich möglich wäre, meine Adresse ausfindig zu machen. Sie wollte dort weg. Ich neige dazu zu glauben, dass sie sich zu viele Sorgen macht, aber es war völlig unmöglich, sie davon zu überzeugen, dass sie keineswegs in solch akuter Lebensgefahr schwebt, wie sie annimmt.«
»Ich verstehe«, sagte Fielder noch einmal. Dann fügte er hinzu: »Sie sind Anwalt, Mr. Reeve, Sie kennen sich aus. Ich nehme an, Ihnen ist klar, dass es nicht in Ordnung war, diese wichtige Zeugin ausgerechnet jetzt mit unbekanntem Ziel von London fortzubringen?«
Marc nickte zu diesem Vorwurf. »Mir ist das völlig klar. Ich habe in diesem Fall verschiedene Alternativen bedacht und schließlich eine Entscheidung getroffen. Die verständlicherweise nicht in Ihrem Sinn ist.«
»Cedric – mein Bruder – wird sich bald melden«, beteuerte Rosanna.
Fielder überging diese Bemerkung. Er war ärgerlich, das konnte Rosanna deutlich spüren, versuchte jedoch, seinen Ärger so wenig wie möglich zu zeigen.
»Hat Miss Luke den Namen Linda Biggs einmal genannt?«, fragte Fielder.
Marc runzelte die Stirn. »Der Fall ging gerade durch die Zeitung, oder? Eine junge Frau, die ermordet im Epping Forest aufgefunden wurde.«
»Wir sehen einen Zusammenhang zu dem Fall French. Natürlich ist es eher unwahrscheinlich, dass Miss Luke etwas weiß, da sie ja offenbar seit Jahren versteckt in Northumberland gelebt hat.«
»Den Namen hat sie nicht erwähnt«, sagte Rosanna.
»Sie meinen, Pit Wavers hat vor wenigen Tagen schon wieder eine Frau bestialisch ermordet?«, fragte Marc ungläubig, und seinem Gesicht war anzusehen, dass er anfing, Pamelas panikartige Ängste vor Wavers allmählich ernster zu nehmen als zuvor.
»Es gibt Parallelen zu der Geschichte von Jane French«, sagte Fielder vorsichtig. Er überlegte einen Moment und sagte dann: »Wir haben heute früh Mr. Ronald Malikowski festgenommen. Eine Zeugin hat ihn im letzten Dezember zusammen mit Linda Biggs gesehen.«
»Malikowski sitzt fest?«, fragte Marc. »Wavers' engster Freund! Man darf natürlich keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber ein paar Puzzleteile scheinen sich zusammenzufügen.«
Fielder sah das auch so. »Zweifellos. Malikowski streitet jegliche Beteiligung an beiden Verbrechen vehement ab. Hat bislang allerdings auch noch keinen anderen Namen genannt. Was vermutlich nur eine Frage der Zeit ist. Diese Typen verpfeifen einander ziemlich hemmungslos, wenn es schließlich darum geht, den eigenen Kopf zu retten.«
»Inspector Fielder«, sagte Rosanna, »können Sie sich vorstellen, was mit Elaine Dawson geschehen ist?«
Sie hatte längst begriffen, dass er ungern spekulierte, höchstens insgeheim, aber nicht in Andeutungen nach außen. Trotzdem interessierte es sie brennend, was ein erfahrener Beamter von Scotland Yard sagen würde.
»Die Tatsache, dass sie seit Jahren spurlos verschwunden ist und dass ihr Reisepass kurz nach ihrem Verschwinden, wie behauptet, in der Wohnung eines Mannes gefunden wurde, der gerade wegen dringenden Tatverdachts in zwei Mordfällen von uns verhört wird, lässt leider keine allzu optimistischen Schlüsse zu, was ihr Schicksal angeht«, sagte Fielder. »Und selbst wenn sich herausstellt, dass Malikowski nicht der Mann ist, den wir suchen, sondern stattdessen ein enger Freund von ihm, liegen die Dinge verquickt genug, um die Sache nicht gerade in besserem Licht erscheinen zu lassen. Ich überrasche Sie sicher nicht, Mrs. Hamilton, wenn ich Ihnen sage, dass Sie im Hinblick auf Elaine Dawson mit dem Schlimmsten rechnen sollten.«
Das überraschte sie tatsächlich nicht. Sie rechnete schon die ganze Zeit damit.
»Ich weiß«, sagte sie.
»Wir werden Malikowski nach ihr befragen«, sagte Fielder, »er wird uns eine Erklärung für den Pass geben müssen. Haben Sie im Übrigen dieses Dokument vielleicht dabei? Oder reist Miss Luke nach wie vor damit durch die Gegend?«
Rosanna öffnete ihre Handtasche, nahm den Pass heraus und reichte ihn dem Inspector. Er betrachtete ihn genau, legte ihn dann neben sich. Es war klar, dass er ihn einbehalten würde.
Er erhob sich zum Zeichen, dass er das Gespräch als beendet ansah, und reichte erst Rosanna, dann Marc die Hand. »Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind. Sie haben uns sehr wertvolle Informationen geliefert. Ihre Adressen hier in London haben wir. Ich möchte Sie bitten, die Stadt vorläufig nicht zu verlassen. Außerdem müssen wir sofort über den Aufenthaltsort von Miss Pamela Luke informiert werden, sobald Sie ihn kennen.«
»Sie können sich darauf verlassen«, sagte Marc.
Rosanna schielte unauffällig auf das Display ihres Handys. Noch immer kein Anruf von Cedric.
Er und Pamela waren jetzt seit vier Stunden unterwegs.
6
Er hatte London Richtung Somerset verlassen, eigentlich ohne nachzudenken, aber es war ein Weg, der ihm vertraut war, den er viele Male genommen hatte. Gerade jetzt am Wochenende erst. Kurz hatte er erwogen, dass sie einfach zu seinem Vater fahren und dort ihr Quartier aufschlagen könnten, aber als er diese Möglichkeit andeutete, hatte Pamela entsetzt abgelehnt. »Nein! Das kann er herausfinden. Wir müssen einen ganz neutralen Ort finden.«
»Ehrlich gesagt, ich glaube kaum, dass Wavers dahinterkommen kann. Er kennt den Namen Hamilton, aber das ist der Ehename meiner Schwester. Herauszufinden, wie sie früher hieß und wo sie lebte, dürfte fast unmöglich sein.«
Ihre einzige Antwort war gewesen: »Sie kennen ihn nicht.«
Er hatte den Gedanken wieder aufgegeben. Vielleicht war es besser so. Er hätte seinen Vater in die ganze Geschichte einweihen müssen, und das hätte den älteren Mann womöglich überfordert.
Sie gerieten von einem Stau in den nächsten und kamen nur langsam vorwärts. Je weiter der Tag voranschritt, desto häufiger machte Cedric den Vorschlag, in ein Dorf abzubiegen und eine Unterkunft zu suchen, aber jedes Mal wehrte Pamela ab. »Wir sind noch viel zu nahe an London!«
»Wir sind bald in Bristol!«, sagte Cedric. »Ich denke wirklich, wir sind aus der Reichweite jedes nur denkbaren Londoner Gewaltverbrechers heraus!«
Ihm wurde zunehmend klar, dass er einen schwierigen Part übernommen hatte. Er hätte sich gern mit Pamela unterhalten, um mehr über sie zu erfahren, aber jeden seiner diesbezüglichen Versuche blockte sie sehr rasch ab. Immer wieder betrachtete er sie verstohlen von der Seite. Sie saß tief in ihren Sitz gekauert, die Arme vor der Brust verschränkt, und das Stunde um Stunde. Den Kopf hatte sie zwischen die Schultern gezogen wie eine misstrauische Schildkröte. Sie machte den Eindruck eines Menschen, der sich am liebsten in Luft aufgelöst oder sich auf sonst irgendeine Art unsichtbar gemacht hätte. Die Angst umgab sie als eine fast sichtbare Aura, man meinte, sie fühlen oder sogar riechen zu können. Cedric glaubte zu spüren, dass die Angst längst ein integraler Bestandteil dieser Frau geworden war, so wenig je wieder von ihr abzuspalten wie ihre Organe. Selbst wenn alle Pit Wavers dieser Erde hinter Gittern säßen, würde die Angst bleiben. Pamela Luke konnte die Welt nur noch als einen Ort des Schreckens empfinden, wie ein Tier, das zu lange und zu schwer gequält worden ist, um das Gute überhaupt noch wahrnehmen zu können.
Als die Dunkelheit kam und sie sich kurz hinter Glas-tonbury in Richtung Burnham-on-Sea befanden, beschloss Cedric, sich über Pamelas panisches Weiter! Weiter! hinwegzusetzen. Er hatte begriffen, dass sie von selber nie mehr anhalten würde.
Er fuhr in eine Parkbucht und bremste. Er sah sie an, ihr bleiches Gesicht im rasch versickernden Tageslicht schien ihm wie die schmale Sichel des Mondes.
»Pamela, wir werden uns hier nun ein Quartier suchen«, sagte er behutsam, aber mit einem Unterton, der deutlich machte, er würde nicht mit sich verhandeln lassen. »Wir könnten noch weiter bis Cornwall und dann quer hindurch fahren, aber irgendwann erreichen wir Land's End, und dann ist sowieso Schluss. England ist eine Insel!«
Er konnte sehen, dass sie nickte. »Ich weiß. Es ist nur …« Sie zögerte. »Es ist nur so, dass ich eine solche Bedrohung spüre«, sagte sie dann. »Mein Herz rast. Irgendetwas …« Sie suchte nach Worten, um auszudrücken, was sie empfand, fand aber keine.
»Pamela, ich kann das verstehen, aber was Sie umtreibt, ist sicher kein objektives Empfinden, sondern Ihre Angst«, sagte er. »Sie wissen doch, wie das ist: Wenn man Angst hat, hört und sieht man überall Anzeichen von Gefahren. Ich erinnere mich genau an die Zeit, als ich ein kleiner Junge war. Ich fürchtete mich ganz schrecklich vor dem Keller in unserem Haus. Und jedes Mal, wenn ich dort hinuntergehen musste, um mir etwas zu trinken zu holen, hörte ich seltsame Geräusche oder sah sogar glühende Augen in der Dunkelheit. Ich hätte jedem geschworen, dass ich mir das nicht einbildete, ich bin sogar richtig wütend geworden, wenn mein Vater etwas von meiner wilden Fantasie erzählte. Na ja, aber heute weiß ich natürlich, dass es Blödsinn war. Es gab keine Gespenster im Keller. Es gibt keinen Pit Wavers in unserer Nähe. Wir sind ganz dicht am Meer, und morgen zeige ich Ihnen den Strand von Burnham-on-Sea. Ich bin früher oft dort gewesen. Die Gegend ist wunderschön. Vielleicht vergessen Sie dort ein wenig Ihre Ängste!«
Er merkte, dass er sie nicht wirklich mit seinen Worten erreichte, aber dass sie aufgeben würde, sich zu wehren. Nicht weil ihre Angst nachließ, sondern weil sie begriff, dass ihre Angst auch dann nicht kleiner würde, wenn sie bis ans andere Ende der Welt jagte.
Es erwies sich als nicht einfach, eine Unterkunft zu finden, und die nun sehr schnell einfallende Nacht machte die Sache nicht leichter. Cedric fluchte in sich hinein, weil er sich nicht durchgesetzt und noch bei Tageslicht nach einer Pension gesucht hatte. Sie erreichten Cannington, wo es ein paar Bed & Breakfast-Unterkünfte gab, und sie waren jetzt im Februar auch nicht belegt, aber unglücklicherweise hatten die meisten erst gar nicht geöffnet. Die Leute waren um diese Jahreszeit nicht auf Besucher eingestellt und hatten keine Lust, jetzt am Abend noch rasch ein Zimmer in Ordnung zu bringen, weil zwei unerwartete Gäste hereinschneiten. Cedric erwog, weiter nach Bridgewater zu fahren und sich nach einem Hotel umzusehen, aber Pamela begann schon wieder flach zu atmen.
»Nein, kein Hotel«, sagte sie flehentlich, und er gab es auf, ein logisches Gespräch mit ihr zu führen.
»Versuchen Sie es doch mal bei Mrs. Blum., die Straße runter, gleich an der Ecke«, riet eine Frau, bei der sie geläutet hatten, weil ein Schild an ihrem Haus auf freie Zimmer hinwies. Die Zimmer wurden jedoch gerade renoviert und waren nicht bewohnbar. »Mrs. Blum hat ein Haus etwas außerhalb mit vier Ferienapartments. Vielleicht können Sie da eines bekommen.«
Der Tipp erwies sich als nützlich. Mrs. Blum schien zwar nicht begeistert, an diesem kalten Abend ihre gemütliche Sofaecke verlassen zu müssen, aber die Aussicht auf einen unerwarteten Verdienst scheuchte sie schließlich doch auf die Beine.
»Auf welchen Namen?«, fragte sie misstrauisch, und Cedric beschloss, kein Risiko einzugehen.
»Mr. und Mrs. Jones«, erklärte er. »Wir sind auf der Durchreise, werden aber vielleicht ein paar Tage bleiben.«
»Komische Zeit, um zu reisen«, meinte Mrs. Blum kopfschüttelnd, »und es ist auch nicht klug, vorher nichts zu buchen. Die Apartments sind nicht geheizt, wissen Sie. Ist mir zu teuer, wenn doch keiner drin wohnt. Hätte ich Bescheid gewusst …«
»Wir kommen schon zurecht«, versicherte Cedric.
»Die Gasheizung funktioniert gut. Aber es wird eine Zeit lang dauern, bis es warm ist. Die Wände sind völlig ausgekühlt.«
Mrs. Blum fuhr mit ihrem Auto vorneweg, Cedric und Pamela folgten. Es ging über gewundene Landstraßen weiter ins Landesinnere hinein. Bald schon waren nirgendwo mehr Lichter zu sehen, die auf menschliche Behausungen hindeuteten. Immerhin begegneten ihnen hier und da andere Autos.
Pamela kroch immer tiefer in ihren Sitz. »Das liegt ja vollkommen einsam!«
Er reagierte leicht gereizt. »In eine größere Stadt und ein richtiges Hotel wollten Sie ja nicht. Wir können jetzt nicht mehr herumsuchen. Ich bin müde und will endlich ankommen. Wenn Sie die perfekte Unterkunft wollen, hätten Sie früher anfangen müssen, danach Ausschau zu halten. Bevor draußen rabenschwarze Nacht herrschte!«
Sie sagte nichts mehr, aber er nahm wahr, dass sie zitterte. Er hätte ihr gern für einen Moment beruhigend die Hand auf den Arm gelegt, wagte es aber nicht. Er hatte das Gefühl, dass jede Art von Berührung sie einschüchterte.
Irgendwann bog Mrs. Blum von der Landstraße ab und fuhr eine gewundene Auffahrt hinauf. Rechts und links standen hohe Bäume, die, obwohl noch winterlich kahl, doch so dicht standen, dass sie das Mondlicht schluckten und alles noch düsterer machten. Cedric fürchtete sich nicht, aber ihm war klar, dass dies ein ungeeigneter Ort für seine verstörte Begleiterin war.
Morgen suchen wir etwas anderes, nahm er sich vor.
Das Haus lag zwischen den Bäumen. Es war, soweit Cedric das erkennen konnte, modern und nicht besonders schön, ein lieblos hochgezogener, sehr funktionell erscheinender Bau mit flachem Dach, schmucklos und kalt.
»Mein Mann hat das Grundstück vor Jahren geerbt«, erklärte Mrs. Blum. »Wir haben das alte Haus abreißen lassen und dieses hier gebaut. Es hat vier Apartments. Wir haben uns damals ganz schön verschuldet, aber wir sind jeden Sommer komplett ausgebucht, und unsere Schulden sind bald abgetragen.«
Sie wirkte ausgesprochen selbstgefällig. Cedric mochte sie genauso wenig wie ihr Haus.
Er und Pamela folgten ihr in das Innere. Sie schloss gleich die erste Tür auf, die vom Hausflur abging, und betrat eine kleine Wohnung, die, wie Cedric rasch überblickte, aus zwei winzigen Schlafzimmern, einem Bad und einem Wohnzimmer mit Küchenzeile bestand. Billig eingerichtet und nur mit dem Notwendigsten ausgestattet. Und tatsächlich erbärmlich kalt. Egal. Für eine Nacht würde es gehen.
Mrs. Blum schraubte an einem Heizkörper herum, der an der Wand hing, und zu Cedrics Erleichterung erwachte er knirschend und ächzend zum Leben.
»Wird bald warm«, sagte Mrs. Blum. Sie händigte ihnen den Schlüsse! aus und ließ sich sogleich für die erste Übernachtung bezahlen.
»Morgen sehe ich nach Ihnen«, versprach sie, und es war klar, dass dieser Besuch vor allem dem Abkassieren der nächsten Nächte dienen würde. Cedric wusste, dass die Küste des Bristol Channel im Sommer von Touristen förmlich überschwemmt wurde. Nur so war zu erklären, dass diese unangenehme Frau das abgelegene Haus, das an sozialen Wohnungsbau erinnerte, offenbar ohne Probleme vermieten konnte.
Vielleicht ist aber auch die Landschaft ganz hübsch, dachte Cedric. Morgen wissen wir mehr.
Er schloss hinter Mrs. Blum sorgfältig die Tür ab, nicht so sehr aus eigenem Interesse, sondern um Pamela zu beruhigen. Sie stand in dem scheußlichen Wohnzimmer und hielt noch immer die Arme vor der Brust verschränkt. Sie war leichenblass.
»So«, sagte Cedric betont munter, »nun werde ich erst einmal Rosanna anrufen und ihr erzählen, wohin es uns verschlagen hat. Vielleicht hat sie auch schon Neuigkeiten zu berichten. Am Ende sitzt Wavers bereits hinter Schloss und Riegel.«
Sein Display zeigte an, dass mehrere Anrufe aufgelaufen waren, die er offenbar im Auto nicht gehört hatte. Wahrscheinlich von Rosanna. Klar, seine Schwester konnte sich nicht erklären, weshalb das alles so lange dauerte. Er fluchte in sich hinein, als er feststellte, dass er keinen Netzempfang bekam. Kein Wunder, in diesem abgelegenen, waldigen Tal. Er versuchte es an dem Telefon, das auf dem Küchentresen stand, aber die Leitung war tot. Der Apparat war stillgelegt. Verdammte, geizige Alte! Er vermutete, dass man eine Telefonkarte brauchte, um das Gerät zu aktivieren, und dass Mrs. Blum mit der Karte einen guten Zusatzgewinn erzielte.
Pamela starrte ihn an. »Das Telefon funktioniert nicht?«
»Wir brauchen eine Karte dafür. Mrs. Blum sorgt sich, jemand könnte sie in den Ruin telefonieren.«
»Und das Handy geht auch nicht?«
»Kein Empfang. Wahrscheinlich reicht es, wenn ich nach vorn zur Straße laufe. Ich …«
»Nein!« Sie wurde noch blasser. »Gehen Sie jetzt nicht weg!«
»Ich muss meine Schwester anrufen.« Er überlegte kurz. »Ich weiß ja nicht, wie das bei Ihnen ist, aber ich habe einen Bärenhunger. Ich schlage vor, wir setzen uns ins Auto und fahren rasch nach Burnham hinüber, suchen uns ein Pub und essen erst einmal. Von dort können wir dann auch telefonieren.«
Sie schien hin- und hergerissen. »Aber wenn wir weggehen und in der Zwischenzeit …«
»Was denn?« Sie nervte ihn. Sie sah aus wie eine Spitzmaus, und ihre Augen waren weit aufgerissen.
»In der Zwischenzeit könnte er hierherkommen und auf uns warten, bis wir zurückkehren.«
Das fand er so absurd, dass er fast gelacht hätte. Er verbiss es sich, weil er ihre echte Not und Bedrängnis spürte. »Da müsste er doch erst einmal wissen, wo wir sind. Wie soll er das denn herausfinden? Über diesen idyllischen Ort hier stolpert man nicht gerade!«
Sie schien nicht überzeugt, widersprach aber auch nicht. Er hatte den Eindruck, dass sie Männern überhaupt selten widersprach. Vermutlich war ihr das allzu oft schlecht bekommen.
Er nahm den Autoschlüssel vom Regal. »Gehen wir.«
Sie traten hinaus in die kalte Nacht.
Um sie herum war es vollkommen still und vollkommen dunkel, und nicht ein Windhauch bewegte die Äste der kahlen Bäume.
Rosanna stand in ihrem Hotelzimmer und fragte sich gerade, ob das schwarze Kleid, das sie trug, zu kurz war und als eindeutige Absicht ausgelegt werden konnte, als ihr Handy klingelte. Zu ihrer Überraschung war es Dennis, der anrief. Sie hatte es wieder und wieder bei ihm versucht und es inzwischen fast aufgegeben, ihn erreichen zu können. Nun meldete er sich selbst. Seine Stimme klang ungewöhnlich erschöpft.
»Rosanna? Ich bin's. Dennis.«
Sie brauchte ein paar Sekunden, aber dann fuhr sie ihn anstelle einer Begrüßung an: »Dennis? Das gibt es doch nicht! Hast du eine Vorstellung, wie viele Sorgen ich mir gemacht habe?«
»Rosanna …«
»Das Letzte, was ich von dir gehört habe, war, dass Rob verschwunden ist. Und dann verschwindest du vollkommen in der Versenkung, rührst dich nicht mehr und bist auch nicht zu erreichen. Gibt es etwas Neues?«
»Rob ist nach London geflogen. Zu seiner Mutter.«
Rosanna schnappte nach Luft.
»Was?«, fragte sie dann ungläubig.
»Hör zu, Rosanna, ich bin ebenfalls in London. Ich bin heute Mittag eingetroffen. Marina hat mich gestern Abend verständigt. Sie wollte nicht, dass ich komme; ich denke, auch Rob wollte es nicht. Aber ich … ich konnte nicht länger einfach in Gibraltar herumsitzen.«
Dennis war in London. In ihrer unmittelbaren Nähe. Von einem Moment zum anderen hatte sie das Gefühl, schwerer zu atmen.
»Können wir uns sehen?«, fragte Dennis. Sie schluckte. »Wann?«
»Jetzt. Ich nehme ein Taxi und komme zu dir ins Hotel.«
Sie war mit Marc zum Abendessen verabredet, aber es ging um Rob, und sie hatte den Eindruck, einem Gespräch unmöglich ausweichen zu können.
»Okay«, sagte sie widerwillig. Es schien, als wolle Dennis noch etwas fragen – er mochte registriert haben, wie wenig erbaut sie von der Aussicht auf eine Begegnung mit ihm war –, aber nach einigem Zögern sagte er nur: »Dann bis gleich!«, und legte den Hörer auf.
Im nächsten Moment läutete das Telefon erneut. Es war Cedric.
»Bei dir war besetzt!«, sagte er. Im Hintergrund waren Stimmengewirr und Gläserklirren zu hören. »Cedric! Endlich! Wo seid ihr?«
»In Burnham. Somerset. Pamela war nicht zu stoppen. Sie wollte am liebsten ans andere Ende der Welt. Sie ist wirklich völlig durch den Wind.«
»Cedric, Marc und ich waren bei Scotland Yard. Ron Malikowski, der Typ, in dessen Wohnung Pamela Elaines Pass gefunden hat, ist heute früh im Zusammenhang mit einem letzte Woche verübten Mord festgenommen worden. Es kann aber auch sein, dass Wavers dahintersteckt. Sie fahnden nach ihm.«
»Das ist gut. Ich hoffe, sie schnappen ihn bald.«
»Man war dort ziemlich ärgerlich, weil Pamela London verlassen hat. Der ermittelnde Beamte will unbedingt mit ihr sprechen.«
»Ich glaube nicht, dass ich sie überreden kann, nach London zurückzukehren, solange Wavers auf freiem Fuß ist.«
»Aber vielleicht stimmt sie einem Treffen in Burnham zu. Wo genau seid ihr da?«
»Ein Stück außerhalb von Cannington. In einem grauenvollen Apartmenthaus – wo ich bestimmt nicht länger als eine Nacht bleibe. Das Telefon dort ist gesperrt, und mein Handy hat kein Netz. Ich rufe dich jetzt von einem Pub aus an, wo wir etwas essen. Morgen suche ich eine bessere Unterkunft. «
»Bitte melde dich morgen früh wieder, sobald du kannst. Inspector Fielder muss mit Pamela sprechen.«
»Klar. Ich melde mich. In aller Frühe. Versprochen.«
Sie beendeten das Gespräch. Rosanna trat vor den Spiegel. Das Kleid war wirklich zu kurz, aber sie hatte keine Lust, sich noch einmal umzuziehen.
Sie betrachtete ihr Gesicht.
Du hast einige Probleme, Rose Anne!
Dabei liefen die Dinge gut. Das Verbrechen an Elaine – sie zweifelte kaum mehr daran, dass eines stattgefunden hatte, und die Polizei, wie sie deutlich gemerkt hatte, auch nicht – stand kurz vor seiner Aufklärung. Nach allem, was sie wusste, schien Pit Wavers die Schlüsselfigur zu sein. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man ihn hatte. Vielleicht würde Pamela Luke dann ein neues Leben beginnen können. Marc wäre von dem Albtraum seiner Vergangenheit befreit. Geoff Dawson hatte die Genugtuung, von seiner Schwester tatsächlich nicht freiwillig verlassen worden zu sein, vielleicht fand er darüber seinen Frieden. Unter Umständen konnte Elaine in das Grab ihrer Familie nach Kingston St. Mary überführt werden.
Alles würde gut werden.
Und ich kehre nach Gibraltar zurück und lebe glücklich und zufrieden mit Dennis.
Sie schnitt ihrem plötzlich so sorgenvoll dreinblickenden Spiegelbild eine Grimasse.
Ich habe mich in Marc Reeve verliebt. Kann ich so tun, als wäre das nicht passiert, und einfach da weitermachen, wo ich vorher war? Aber wo war ich eigentlich? Glücklich mit Dennis? Glücklich in Gibraltar? Zufrieden mit meinem Leben?
Die letzten drei Fragen musste sie, wenn sie ehrlich war, alle mit einem klaren Nein beantworten.
Und darin lag ein großes Problem. Sie hatte die Tatsache, dass sie in ihrer Ehe nicht allzu glücklich war, einigermaßen verdrängen und ignorieren können, solange kein anderer Mann aufgetaucht war. Jetzt gab es Marc. Jetzt würde sie keine Vogel-Strauß-Politik mehr betreiben können.
Sie wandte sich vom Spiegel ab. Marc! Sie musste ihn anrufen und ihm für heute Abend absagen.
Noch hatte ein Date mit ihrem Ehemann Vorrang.
»Hattest du heute Abend etwas vor?«, fragte Dennis prompt, nachdem sie einander ziemlich steif in der Hotellobby begrüßt und schließlich in einer der kleinen Sitzgruppen Platz genommen hatten. Ein Kellner brachte Mineralwasser für Rosanna und einen Gin Tonic für Dennis. Dennis, der immer sehr auf sein Äußeres zu achten pflegte, war ungewöhnlich nachlässig gekleidet: Jeans, ein nicht ganz sauberes kariertes Hemd, darüber ein Jackett, das farblich nicht passte. Er war schlecht rasiert und schien sehr müde zu sein. Wahrscheinlich hatte er seit Roberts Verschwinden kaum geschlafen.
Rosanna schüttelte den Kopf auf seine Frage hin. »Nein. Ich hatte nichts vor.«
»Du siehst sehr gut aus.«
»Danke.«
»Ja, nun«, Dennis räusperte sich, »die Lage ist alles andere als erfreulich. Wie ich schon sagte …«
»… ist Rob zu seiner Mutter geflüchtet. Du hast ihn gesprochen? Wie geht es ihm?«
»Er wirkt verstört. Er war keineswegs glücklich, mich zu sehen, und eigentlich hat er wenig geredet. Im Wesentlichen hat er gesagt, dass er nicht mehr mit mir nach Gibraltar zurückmöchte.«
»Er geht dort zur Schule!«
»Er meint, dass er hier in England genauso zur Schule gehen kann. Was natürlich stimmt.«
»Möchte er denn bei seiner Mutter leben?«
Dennis zuckte mit den Schultern. »Genaues scheint er sich da gar nicht vorzustellen. Ich habe den Eindruck, er will einfach nur weg von mir. Über die Konsequenzen hat er gar nicht richtig nachgedacht. Er ist durchgebrannt – und zwar zu dem einzigen Menschen, den er außer mir auf der Welt noch hat: zu seiner Mutter.«
»Wie geht sie damit um?«
»Marina? Auf mich wirkt sie etwas überfordert. Das Ganze kam für sie völlig überraschend, er hatte sich nicht angekündigt. Er stand plötzlich in ihrem Haus, als sie von einem Ausflug zurückkehrte, und sie wollte schon um Hilfe schreien, weil sie ihn für einen Einbrecher hielt. Nun hat sie auf einmal einen Sohn, der den Anspruch an sie stellt, sich wie eine Mutter zu verhalten. Sie hat sich erst einmal ein paar Tage freigenommen, um Zeit mit ihm verbringen zu können. Sie versucht ihr Bestes.«
»Im Grunde ist es ja gar nicht schlecht, dass die beiden einander kennen lernen«, sagte Rosanna. »Roberts Mutter ist schließlich nicht tot. Ich fand die Vorstellung immer etwas bedrückend, dass absolut kein Kontakt zwischen ihnen bestand. Robert ist in einem schwierigen Alter. Es geht jetzt für ihn auch darum, seine Identität zu finden, und dafür braucht er auch seine Mutter. Vielleicht hat seine Flucht nach England viel mehr mit diesem Bedürfnis zu tun als mit eurem Streit.«
»Du meinst, der Streit war eine Art Auslöser für etwas, das er ohnehin wollte?«
»Ich könnte mir denken, dass ihn die Frage nach seiner Herkunft schon länger beschäftigt. Er hat mit Marina etwas zu klären. Vielleicht sollte man das nicht unterbinden.«
»Es kommt aber noch etwas hinzu«, sagte Dennis. Er sah Rosanna nicht an, sondern blickte an ihr vorbei in die Hotellobby, in der das übliche Leben und Treiben eines normalen Abends herrschte: viele Geschäftsleute, die einander zum Essen trafen, ein paar ältere Paare, die sich, ihrer Kleidung nach zu schließen, auf den Weg ins Konzert oder ins Theater machten, Ankommende, die ihre Trolleys hinter sich herzogen und die Rezeption ansteuerten. Es herrschte lautes Stimmengewirr, und von irgendwoher erklangen die Töne eines Pianos.
»Es kommt noch etwas hinzu«, wiederholte Dennis. »Robert war sehr verstört, ehe er … von daheim weglief. Er ist von der fixen Idee besessen, dass du nicht zu uns zurückkommen wirst. Offenbar hegt er schon seit längerer Zeit Ängste in dieser Richtung, und durch deinen Aufenthalt in London sieht er sich bestätigt. Ich glaube, er hat das Gefühl, dass seine Welt zusammenbricht. Dass unsere Familie schon bald nicht mehr bestehen wird. Ich denke, wäre nur mein Verbot, zu dieser Party zu gehen, der Grund für sein Weglaufen gewesen, dann hätte er sich zu dir geflüchtet. Bei eurem guten Verhältnis wäre das nur logisch gewesen. Aber er glaubt, dass er dich verliert. Vielleicht schon verloren hat. Daher nannte ich Marina vorhin den einzigen Menschen, den er außer mir noch hat. Er versucht, sich in Marina den Ersatz für dich zu sichern. Was so natürlich nicht geht, und was sicher auch nicht funktionieren wird.«
Sie war froh, dass er so beharrlich an ihr vorbeiblickte, denn sie hatte den Eindruck, dass ihr Gesichtsausdruck sie verriet: Sie war sehr erschrocken, und sie fürchtete, dass man ihr das ansah.
»Er … hat er das so gesagt?«, fragte sie nach einer Weile mit belegter Stimme. »Dass … ich nicht zurückkommen werde?«
Dennis sah sie noch immer nicht an. »Er hat gesagt, dass du nicht glücklich mit mir bist. Und dass du gehen wirst. Er hat das in dieser Deutlichkeit gesagt.«
Sie erwiderte nichts. Schließlich wandte Dennis den Kopf.
»Kann es sein«, fragte er, »dass er recht hat?«
Sie hielt ihr Wasserglas umklammert. Wie in grelles Licht getaucht, sah sie sich selbst: das frisch gewaschene Haar, das Gesicht stärker geschminkt als sonst, das viel zu kurze Kleid. Dennis hatte eine andere Frau vor sich. Allein ihre Aufmachung beantwortete bereits seine Frage.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie, als das Schweigen zu lange dauerte und dadurch schon fast nicht mehr missverständlich war, »wirklich, Dennis, ich weiß es nicht genau.«
Er atmete tief.
»Weißt du, was du damit sagst?«, fragte er. Sie nickte.
Er betrachtete sie. »Es gibt einen anderen Mann. Und du warst heute Abend eigentlich mit ihm verabredet.« »Bitte, Dennis …«
»Könntest du bitte ehrlich sein?«
»Ich bin ehrlich, wenn ich dir sage, dass ich es nicht weiß. Ich habe einen anderen Mann kennen gelernt, ja. Aber ich weiß nicht, ob diese Sache eine Zukunft hat, ich weiß nicht einmal, ob ich will, dass sie eine hat. Ich bin mir weder über meine Gefühle für diesen Mann wirklich im Klaren noch über meine Gefühle für dich. Ich brauche Zeit.«
»Zeit!«, sagte er höhnisch, aber in dem Hohn schwang seine ganze Verletztheit.
»Ich muss mich in mir wieder zurechtfinden, Dennis.« Sie sah ihn bittend an, hoffte, dass er verstand, was sie sagen wollte. »Ich habe damals, als wir zusammenkamen, vollständig dein Leben übernommen. Dein Land, deinen Sohn, deine Freunde. Ich habe alles hinter mir gelassen, was zu mir gehörte. Und irgendwie bin ich damit nicht glücklich geworden.«
»Aber damals hast du …«
»Ich weiß. Niemand hat mich dazu gezwungen. Aber es war auch nicht so, dass ich eine Wahl gehabt hätte, wenn ich mit dir Zusammensein wollte. Es war einfach von Anfang an klar, dass wir dein Leben leben und nicht meines.«
»Ich hatte damals schon ein gutgehendes Immobilienunternehmen in Gibraltar. Ich konnte das nicht einfach aufgeben.«
»Ich hatte auch einen Job, der mir Spaß machte.«
»Aber du warst nicht selbstständig. Du konntest auch anderswo eine Anstellung suchen. Ich hätte alles hinwerfen müssen, was ich mir aufgebaut hatte, und ganz von vorn anfangen müssen.«
»Ja. Und deswegen gab es ja auch nie eine Diskussion zwischen uns in dieser Frage. Aber dadurch hast du vielleicht auch nie begriffen, dass ich einen sehr großen Schritt auf dich zu gemacht habe. Ich habe es mir ja selbst nicht richtig eingestanden. Aber wann immer ich davon anfing, wenigstens in Gibraltar dann wieder zu arbeiten, hast du so lange dagegen geredet, bis ich aufgegeben habe. Zum Schluss hatte ich das Gefühl, ich sitze nur noch daheim, wasche Wäsche, koche Essen und schlichte die Streitereien zwischen dir und Robert. Das hat mich nicht befriedigt. Dennis, das war zu wenig für mich.«
Er nickte langsam. »Ich wollte einfach … ich wollte Stabilität für Rob. Dass da eine Mutter ist, wenn er von der Schule zurückkommt. Dass seine Tage in der nötigen Regelmäßigkeit ablaufen. Als ich allein mit ihm war, wurde er ständig herumorganisiert, mal hier abgestellt, mal dort … Wir hangelten uns von einem Provisorium zum nächsten … Ich wollte, dass er das nie wieder mitmachen muss. Dass er Geborgenheit findet.«
Sie berührte kurz seinen Arm. Sie wusste, wie sehr er Robert liebte. Sie wusste auch, dass ein Großteil ihrer Gefühle für ihn dort ihren Ursprung hatten: in dieser Liebe zu seinem Sohn und der Rührung, die es in ihr ausgelöst hatte, dies zu beobachten. Aber die damit verbundene Erwartung an sie hatte sie zugleich erschlagen. Für Dennis war sie in gar keiner anderen Rolle mehr sichtbar gewesen als in der, die perfekte Mutter für Rob darzustellen. Alle anderen Anteile in ihr hatte Dennis nicht beachtet. Bis sie sie schließlich selbst kaum noch hatte wahrnehmen können.
»Vielleicht war das das Problem«, sagte sie. »Du hast in allererster Linie nach einer Mutter für Rob gesucht. Erst in zweiter nach einer Frau für dich. Das kann nicht funktionieren. Und das Traurige ist: Letztlich funktioniert es für Rob auch nicht.«
»Ja«, sagte er, »offenbar.«
Seine Augen waren gerötet vor Erschöpfung. Es drängte Rosanna, ihn in die Arme zu nehmen, über dieses müde Gesicht zu streichen und ihm zu sagen, dass alles gut würde.
Aber es wäre nicht ehrlich gewesen.
»Gib mir Zeit«, bat sie noch einmal, »irgendwo habe ich mich selbst verloren in den letzten Jahren. Ich muss herausfinden, was ich mit meinem weiteren Leben machen möchte.«
Er fuhr sich über die Augen. »Und wie sieht das aus? Ich gebe dir Zeit und warte, und am Ende erklärst du mir, dass du dich für diesen anderen Mann entschieden hast und leider nicht mehr wiederkommst. Und das war es dann.«
»Es geht absolut nicht in erster Linie um die Frage, für welchen Mann ich mich entscheide. Es geht um viel mehr.«
Wut flammte auf in seinen brennenden Augen. »Ach? Es geht nicht um Männer? Dann schau dich doch mal an! Deine Aufmachung heute Abend ist eine einzige Aufforderung an jeden Mann, dir wesentlich näher zu kommen, als ihm das gegenüber einer verheirateten Frau eigentlich zusteht. Jedenfalls sobald du das unangenehme Gespräch mit deinem Ehemann hinter dich gebracht und ihn endlich wieder zu seiner Exfreundin und seinem Sohn zurückkomplimentiert hast. Mit viel Selbstfindungsgesülze und der Bitte, dir Zeit zu lassen. Zeit, die du zweifellos auf sehr angenehme Weise verbringen wirst, so viel ist klar.«
»Ich habe mit diesem Mann nicht geschlafen, und ich habe es auch nicht vor.«
»Deshalb hast du auch zehn Pfund Make-up im Gesicht und steckst in einem Kleid, in dem du ständig aufpassen musst, dass niemand deinen Schlüpfer sieht – falls du überhaupt einen trägst. Mich hast du nie in solch einer Aufmachung erwartet.«
»Weil du das nicht magst.«
»Sehr richtig«, sagte er heftig, »ich mag es nicht!« Er stand auf, stellte klirrend sein Glas ab, winkte nach dem Kellner, der in der Lobby bediente.
»Das übernehme ich«, sagte Rosanna und erhob sich ebenfalls, »ich wohne schließlich im Moment hier.«
Er schüttelte störrisch den Kopf. »Wenigstens zu einem Drink darf ich dich vielleicht einladen. Das verpflichtet dich zu nichts.«
Er sah so verletzt aus, dass sie hätte heulen mögen. »Ich würde gern Rob sehen«, sagte sie, »morgen vielleicht?«
»Ruf ihn an«, sagte er kurz angebunden.
Unschlüssig standen sie einander gegenüber. Dann war der Kellner bei ihnen, und Dennis bezahlte.
»Ja, ich rufe ihn an«, griff Rosanna seine Worte auf.
»Was macht eigentlich dein Auftrag?«, fragte Dennis. »Der Grund – oder sollte ich sagen: der vorgeschobene Grund –, warum du hier bist?«
»Alles verworren«, antwortete sie, ohne auf seinen provokanten Nebensatz einzugehen, »aber die Nebel lichten sich.« Trotz allem musste sie kurz an Cedric denken, der mit der verstörten Pamela in Cannington saß. Und an die Polizei, die mit Hochdruck nach Pit Wavers fahndete. Und plötzlich auch an Geoff, den verbitterten, rachsüchtigen Geoff in dem schrecklichen Heim in Taunton. Es war so viel geschehen in ihrem Leben in den letzten Tagen, viel mehr als in den vergangenen fünf Jahren zusammen.
Dennis gab ihr einen angedeuteten Kuss auf die Wange. Sie spürte seine Bartstoppeln. Dennis und Bartstoppeln! Es ging ihm wirklich schlecht.
Sie sah ihm nach, als er das Hotel verließ. Er hatte die Situation mit mehr Würde ertragen, als sie ihm zugetraut hatte.
Auf einmal hatte sie das Bedürfnis, in ihr Zimmer zu gehen und zu weinen.
Sie würde Marc heute nicht mehr anrufen. Es wäre ihr unpassend erschienen.