Mittwoch, 20. Februar
1
Die Trauer und mehr noch das Unfassbare, das plötzlich in ihr Leben eingebrochen war, hatte ihre Gesichter zu Masken verwandelt. Das war Inspector Fielders erster Eindruck, als er der Familie Biggs wieder gegenüberstand. In den wenigen Tagen hatten sie alle sich verändert, auch die Jungs, obwohl diese nach wie vor versuchten, so cool wie möglich aufzutreten.
Sie stehen unter Schock, dachte Fielder, und das sieht man ihnen an.
Angela hatte es am schlimmsten getroffen. Die Verzweiflung begann sich in ihre Züge einzugraben. So jung sie war, schien sie doch auf einmal seltsam verhärmt. Die Augen glanzlos, die Lippen fest aufeinandergepresst und dadurch schmaler als vorher.
Ihr Vater, Gordon, wirkte wie ein Schlafwandler. Ein Mann, der sich durch einen bizarren Albtraum bewegt und kaum Hoffnung hat, daraus je wieder erwachen zu dürfen. Er war bereits in einen Zustand der Resignation geglitten. Was immer der gewaltsame Tod seiner Tochter aus ihm machen würde, er würde sich nicht dagegen wehren. Er wehrte sich nie im Leben.
Sally erschien Fielder noch am unverändertsten, was daran lag, dass sie betrunken war und den Alkohol als einen Schutzwall zwischen sich und die Wirklichkeit gelegt hatte. Sie hatte sich nur insofern verändert, als sie nun seltsamerweise ein hohes, schlankes Sektglas für ihren Schnaps benutzte. Sie schenkte sich mit konzentriertem Gesichtsausdruck nach, wobei sie den Arm mit der anderen Hand abstützen musste, um des Zitterns Herr zu werden. Sie tat, als seien das Glas und die Flasche das einzig Wesentliche in ihrem Leben. Das Einzige, was wirklich zählte.
Wieder saßen sie in der Fielder nun schon vertrauten Küche. Alle hatten sich versammelt, obwohl es mitten am Vormittag war. Die Jungs schienen den Tod ihrer Schwester zum Anlass zu nehmen, vorerst überhaupt nicht mehr zur Schule zu gehen, und auch Angela hatte sich offensichtlich für längere Zeit von ihrer Lehrstelle beurlauben lassen.
Es könnte sein, dass sie jetzt alle auch noch das bisschen Gerüst verlieren, das sie bislang zusammengehalten hat, dachte Fielder, und bei dem Gedanken fühlte er sich plötzlich sehr müde und sehr traurig.
»Haben Sie Neuigkeiten für uns?«, fragte Angela. Sie hatte sich die Haare aus der Stirn gekämmt und keinerlei Schminke aufgelegt. Ihr Aussehen schien sie nicht zu interessieren. »War es der Mann, den Dawn identifiziert hat?«
Fielder schüttelte den Kopf. »Aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Aber die Aussage von Miss Sparks war dennoch von großer Bedeutung. Denn nach allen Erkenntnissen, die wir derzeit haben, steht ein enger Freund von diesem Ron Malikowski unter dringendem Tatverdacht. Pit Wavers. Wissen Sie, ob Linda den Namen irgendwann einmal fallen ließ?«
Alle sahen einander an, außer Sally, die gerade wieder den Balanceakt zwischen Flasche und Sektglas auszuführen versuchte.
»Nein«, sagte Gordon, »den Namen hat sie nie erwähnt. «
»Bestimmt nicht«, versicherte Angela, »daran würde ich mich erinnern. Das Problem war, dass sie eben überhaupt nichts mehr erwähnte im letzten halben Jahr.«
»Wir haben Malikowski vorgestern früh festgenommen«, sagte Fielder, »und nach einigem Hin und Her hat er eine Menge berichtet. Demnach haben sich Pit Wavers und Linda im letzten Sommer kennen gelernt. Malikowski meint, dass Wavers sie in der U-Bahn angesprochen hat, aber so genau wurde das wohl nie besprochen. Ob er sich wirklich in sie verliebt hatte oder ihr solche Gefühle nur vorgaukelte, ist schwer zu sagen. Jedenfalls kehrte er wohl den Mann von Welt heraus, ging mit ihr in tolle Restaurants und machte ihr großzügige Geschenke. Das deckt sich mit Ihrer Beobachtung, dass sie plötzlich teure Kleider trug und irgendwie über ihre persönlichen Verhältnisse zu leben schien. Malikowski sagt, dass Linda sehr rasch in eine Abhängigkeit von Wavers geriet. Sie wollte ihm gefallen, wollte sich unbedingt seine Zuneigung und sein Wohlwollen erhalten. Er sagt, dass dies der typische Ablauf bei allen Beziehungen war, die Wavers einging. Auf irgendeine Weise gelang es ihm immer recht schnell, die Mädchen gefügig zu machen.«
»Das passt gar nicht zu Linda«, sagte Angela tonlos.
Fielder warf ihr einen teilnahmsvollen Blick zu. »Dass sie eigentlich eine willensstarke Persönlichkeit war, wurde ihr vielleicht zum Verhängnis«, sagte er leise. »Malikowski berichtet, dass Wavers' Gefühle für Linda rasch abkühlten und dass er genau das vorhatte, was er mit allen Frauen irgendwann tat: Er wollte sie auf den Strich schicken. Und daran kräftig verdienen.«
Von Gordon kam ein entsetzter Laut. Er stützte den Kopf in beide Hände. »Mein Gott«, flüsterte er.
»Es schien Probleme zu geben, weil sich Linda diesem Ansinnen widersetzte. Malikowski sagt, die beiden hätten ständig Streit miteinander gehabt. Dann fand Wavers heraus, dass Linda ihn belogen hatte, was ihre Lebensumstände anging. Sie hatte wohl behauptet, nur mit ihrer großen Schwester zusammenzuleben, aber schließlich erfuhr Wavers, dass es auch noch Vater, Mutter und drei Brüder gab.
Das machte Linda zum Risiko. Wavers hatte sich bis dahin nur mit jungen Mädchen eingelassen, die aus jeglichem familiären Verbund herausgefallen waren. Malikowski kann nur vermuten, dass Wavers im Zuge einer der nun immer häufiger stattfindenden Auseinandersetzungen die Beherrschung verlor. Das scheint etwas zu sein, was zu ihm passt. Er kann Widerspruch nicht ertragen. Er verliert dann leicht die Kontrolle über sich.«
»Und wie sicher ist, dass nicht dieser Malikowski selbst …?«, fragte Angela.
»Sicher ist im Moment gar nichts«, antwortete Fielder, »und wir sind mit Malikowski auch noch nicht am Ende. Wir kriegen ihn sowieso dran wegen Zwangsprostitution, Vergewaltigung und Körperverletzung. Aber wir haben eine absolut ernst zu nehmende Zeugenaussage, was den Fall Jane French betrifft. Eine Augenzeugin hat Wavers beobachtet, wie er die junge Frau zu Tode quälte. Wegen der Ähnlichkeit der Tatumstände spricht vieles dafür, dass er auch der Mörder von Linda ist. Einen Beweis haben wir allerdings dafür bislang nicht.«
»Können Sie Wavers festnehmen?«, fragte Angela. »Fahnden Sie nach ihm?«
Fielder schwieg einen Moment lang bedrückt. »Wavers ist tot«, sagte er dann.
Alle starrten ihn an.
»Tot?«, wiederholte einer der Brüder, so ungläubig, als liege diese Möglichkeit weit außerhalb von allem Vorstellbaren.
»Wavers wurde in der Nacht von Montag auf Dienstag in Cornwall getötet. In Notwehr und von einer Frau, die sich seit Jahren auf der Flucht vor ihm befand und die er nun gestellt hatte. Er war bewusstlos und nicht vernehmungsfähig, als er in ein Krankenhaus gebracht wurde. Dort starb er nach wenigen Stunden.«
Schweigen folgte auf seine Worte. Alle versuchten sich über die Bedeutung dessen, was sie gerade erfahren hatten, klar zu werden.
Angela sprach als Erste. »Dann wird es nie Gewissheit geben«, sagte sie.
Fielder zuckte bedauernd die Schultern. »In Form eines Geständnisses von Pit Wavers sicher nicht. Was gerichtsmedizinisch und spurentechnisch noch möglich ist und vielleicht Beweise erbringt, muss man sehen. Vielleicht hat auch Malikowski noch nicht alles gesagt, was er weiß. Er hat so viele Probleme am Hals, dass er sicher zu dem einen oder anderen Deal mit der Polizei bereit sein wird. Aber nach allem, was ich jetzt weiß, und zusammen mit meiner jahrelangen Erfahrung bin ich zu neunzig Prozent sicher, dass Pit Wavers Linda ermordet hat.«
»Es wird keinen Prozess geben«, sagte Angela.
»Nein«, entgegnete Fielder, »einen Prozess gegen Wavers wird es nicht geben.«
Wieder Schweigen. Sally kämpfte mit der Flasche, murmelte irgendetwas, das niemand verstand.
»Ich hätte dem Kerl gern Auge in Auge gegenübergestanden«, sagte Gordon, ein Ausspruch, der seinem ältesten Sohn ein zynisches Grinsen entlockte. »Und dann, Dad? Was dann? Hättest du dann etwas richtig Schlimmes mit ihm gemacht? Ihm deine starken Fäuste gezeigt?«
»Wenn du nicht aufpasst, siehst du gleich meine Fäuste«, fauchte Gordon, aber er wirkte auch dabei nicht überzeugend.
»Glauben Sie mir«, sagte Fielder, »auch mir gefällt ein Ausgang wie dieser überhaupt nicht. Ich bevorzuge klare Beweise und einen richtigen Prozess. Was das Duo Malikowski und Wavers betrifft, ermitteln wir auch noch im Zusammenhang mit einer vor Jahren spurlos verschwundenen Frau, die ebenfalls ein Opfer gewesen sein könnte.
Auch in diesem Fall bremst uns Wavers' Tod ziemlich aus. Auf der ganzen Linie unerfreulich – aber es hilft ja nichts. Wir können ihn nicht wieder lebendig machen.«
»Natürlich nicht«, sagte Angela mit erschöpfter Stimme.
Fielder erhob sich. Er hätte gerne einen Kaffee gehabt, aber niemand hatte daran gedacht, ihm etwas anzubieten. Er hatte in der vergangenen Nacht nur drei Stunden geschlafen. Er brauchte dringend irgendetwas, das ihn wach machte.
»Sie sollten auf jeden Fall gleich Bescheid wissen«, sagte er, »deshalb bin ich hergekommen. Ganz gleich, was wir herausfinden, es bringt Ihnen Ihre Tochter und Schwester nicht zurück. Aber aus Erfahrung in solchen Fällen weiß ich, dass es für die Angehörigen alles noch schlimmer macht, wenn sie nicht Bescheid wissen. Man muss, trotz allem, seinen Frieden wiederfinden. Das geht vielleicht nur, wenn da ein klares Bild ist, das man irgendwann so stehen lassen kann.«
Niemand erwiderte etwas. Gordon starrte vor sich hin. Sally hatte die Augen geschlossen. Die Brüder schauten auf den Boden vor sich und malten imaginäre Kreise mit ihren Schuhspitzen darauf.
»Ich bringe Sie zur Tür«, sagte Angela.
Sie geht ihren Weg, dachte Fielder, sie hat mehr Intelligenz und Energie als der ganze Rest der Familie zusammengenommen. Wenn diese Geschichte sie nicht aus der Bahn wirft, dann packt sie das Leben schon.
An der Wohnungstür sagte er: »Trauern Sie, Miss Biggs. Es klingt banal, aber leben Sie Ihren Schmerz aus. Betäuben Sie sich nicht, wie Ihre Mutter es tut, und vergraben Sie sich nicht hinter Abgestumpftheit wie Ihr Vater. Stellen Sie sich diesem unfassbaren Kummer. Nur dann …«
Er zögerte. Sie sah ihn sehr aufmerksam an.
»Ja?«
»Nur dann können Sie irgendwann wieder leben. Und etwas aus Ihrem Leben machen. Ich bin sicher, das hätte Ihre Schwester gewollt.«
Sie nickte und erwiderte seinen Händedruck. Nicht fest, aber auch nicht völlig kraftlos. Ihre Hand war eiskalt.
Als er die Treppe schon halb hinuntergelaufen war, dachte Fielder: Dummes Geschwätz. Was wollte ich ihr eigentlich sagen?
Er strich sich über die Augen. Er war wirklich völlig übermüdet.