Sonntag, 17. Februar
1
Marina Dowling hatte sich angewöhnt, jeden Morgen eine halbe Stunde zu joggen, gnadenlos, auch bei eisiger Kälte, Regenschauern oder dichtem Nebel, denn sie war eindeutig dabei, sich in eine vollschlanke Matrone zu verwandeln. Nicht, dass sie bereits richtig fett gewesen wäre. Aber überall an ihrem Körper saß genau so viel Speck, dass sie eben nicht mehr als wirklich schlanke Gestalt gelten konnte. Die Hüften etwas zu breit, der Bauch zu sehr gewölbt, und von ihrem Hintern und ihren Oberschenkeln wollte sie lieber gar nicht reden. Die meisten Frauen in dieser etwas biederen, sehr gepflegten Wohnsiedlung im Süden Londons sahen so aus, waren Ende dreißig oder Anfang vierzig und schlugen sich mehr oder weniger erfolgreich mit ihren Pfunden herum. Sie hatten Mann und Kinder und meist keinen Beruf, und sie trafen sich nachmittags zu oft mit ihren Freundinnen auf einen Drink mit irgendwelchem Knabberzeug dazu. Marina gehörte nicht wirklich dazu, schon deshalb nicht, weil sie ganztags als Steuerberaterin arbeitete, geschieden war und keine Kinder hatte. An einsamen Abenden trank sie oft zu viel Rotwein und betäubte das Gefühl des Alleinseins allzu häufig mit wahren Spaghettibergen. Es gab ihrer Meinung nach nichts, was so schön tröstete wie ein warmes, nach Tomaten und Basilikum duftendes Nudelgericht. Leider nahm man damit auch eine Menge Kalorien zu sich.
An ihrem achtunddreißigsten Geburtstag im November des vergangenen Jahres hatte Marina beschlossen, dass sich ihr Leben ändern musste. Sie wollte nicht länger allein sein. Sie wollte wieder einen Mann kennen lernen, wollte mit jemandem leben. Ihrem Aussehen mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, schien ihr eine gute Voraussetzung für einen möglichen Erfolg zu sein. Sie ließ sich die von reichlich grauen Strähnen durchzogenen Haare blond tönen, kaufte sich schicke Sportklamotten und arbeitete eine Jogging-Runde aus, die täglich dreißig Minuten in Anspruch nahm und sie richtig ins Schwitzen brachte. Jetzt, drei Monate später, hatte sie bereits vier Kilo verloren, und sie mutmaßte, dass es hätten mehr sein können, würde sie nicht in den langen Abendstunden noch immer allzu sehr dem Rotwein zusprechen. Ein möglicher Lebensgefährte nämlich – und erst dann, wenn dieser aufgetaucht wäre, könnte sie dem Alkohol endgültig abschwören – war noch nicht in Sicht. Vielleicht wenn der Sommer kam. Marina sagte sich, dass der Sommer geeigneter war, jemanden kennen zu lernen, auch wenn sie nicht wirklich hätte begründen können, weshalb das so sein sollte.
An diesem noch sehr frühen Sonntagmorgen versprach das Wetter strahlend schön zu werden, der Himmel schälte sich blau aus der Dunkelheit, und der Frühling, der bereits am Vortag angebrochen war, begann sich nun zu etablieren. Die Luft roch nach feuchter, frischer Erde. Die Vögel sangen. In den Vorgärten entfalteten sich die Narzissen. Bei einer etwas günstigen Wetterlage hatten sie manchmal hier in England diesen sehr zeitigen Frühling. Einen Wärmeeinbruch Mitte Februar und fast gleichzeitig damit das schlagartige Erwachen der Natur. Frost war auf der Insel nicht allzu häufig, ab März sowieso nicht mehr. Februartage wie dieser, fand Marina, entschädigten für manch verregneten Sommer.
Es hatte Spaß gemacht zu laufen. Keuchend und verschwitzt, bog sie in die Einfahrt ihres Hauses, kramte ihren Schlüssel aus der Tasche ihrer Jogginghose. Die große Frage war nun, was sie mit dem Rest des Tages anfing. Erst einmal duschen, dann einen schönen, heißen Kaffee trinken. Vielleicht gönnte sie sich ein weiches Ei zum Frühstück und ein paar Scheiben Toastbrot. Nein, höchstens eine Scheibe. Es musste endlich mit dem Abnehmen vorangehen.
Und dann? Dann war der Tag immer noch sehr lang. Sie las gerade in einem spannenden Buch, aber wollte sie diesen herrlichen Vorfrühlingstag lesend daheim verbringen? Das war das Teuflische an der helleren Jahreszeit, sie führte einem die eigene Einsamkeit noch viel deutlicher vor Augen. Im Winter konnte man es sich in einem kuscheligen Sessel vor dem Kamin gemütlich machen und sich dabei durchaus wohl fühlen. Im Frühjahr musste man hinaus, irgendwie durch lange, helle Tage kommen und überall Familien und Liebespaaren begegnen.
Sie hatte ein paar grundlegende Fehler in ihrem Leben begangen, wie sie fand, aber woher hätte sie in jungen Jahren wissen sollen, wie sich die Dinge entwickelten? Rückblickend konnte man leicht erkennen, an welcher Kreuzung man die andere Abzweigung hätte nehmen sollen. Stand man direkt davor, war es bei weitem nicht so einfach.
Sie änderte ihren Plan, gleich ins Haus zu gehen, und wandte sich stattdessen in Richtung Garage. Ihr war der Gedanke gekommen, dass sie nach dem Frühstück zu einer Radtour aufbrechen würde. Das bedeutete, dass sie nicht einsam im Haus sitzen musste, und ihrer Zielsetzung, demnächst eine Traumfigur zu haben, würde das ebenfalls entgegenkommen. Sie hatte ihr Rad den ganzen Winter über nicht benutzt und hoffte, dass es in einem fahrtauglichen Zustand war. Sie würde das gleich überprüfen.
Die Garage war ungewöhnlich geräumig, eigentlich für die Unterbringung von zwei Autos vorgesehen, aber da Marina nur ein Auto hatte, war der übrige Platz mit jeder Menge nützlicher und unnützer Gerätschaften zugestellt. Die Gartenmöbel stapelten sich hier, ebenso waren Rasenmäher, Terrakottatöpfe, Hacke und Spaten untergebracht. Aber auch ein altes Sofa, eine kaputte Waschmaschine, zusammengerollte Teppiche, mehrere prall gefüllte Altkleidersäcke, Umzugskartons und bergeweise Zeitschriften hatten ihren Weg hierher gefunden.
Die Glühbirne an der Decke war schon lange kaputt, aber es drang ein wenig Tageslicht durch das kleine Fenster an der Gartenseite herein. Die Tür zur Garage war nie verschlossen. Marina kämpfte sich durch das Gerümpel bis zu ihrem Fahrrad, das zumindest auf den ersten Blick recht ordentlich aussah. Daneben stand sogar noch Kens altes Rad. Wieso hatte er es eigentlich nicht mitgenommen? Wahrscheinlich fuhr er Tandem mit seiner hübschen neuen Frau. Sicher bevorzugten beide auch beim Sport größtmögliche Nähe.
Sie kniete nieder, begutachtete die Reifen. Sie schienen genug Luft zu enthalten und in gutem Zustand zu sein. Sie konnte kilometerweit fahren. Heute Abend würde ihr dann alles weh tun, aber sie würde sich dafür sehr heldenhaft fühlen.
Sie richtete sich auf, und ganz plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie nicht allein in der Garage war. Sie hätte nicht erklären können, weshalb diese Empfindung so jäh in ihr erwachte, denn weder hatte sie ein Geräusch gehört noch einen Schatten wahrgenommen. Da war kein Atmen, nichts.
Und doch fühlte sie Augen auf sich gerichtet, und alle Härchen an ihren Armen sträubten sich.
Sie fuhr herum, wünschte, sie könnte in dem Dämmerlicht besser sehen.
»Ist da jemand?«, rief sie.
Es kam keine Antwort.
»Hallo?«, wiederholte sie.
Jeder konnte hier herein. Aber was sollte ein Mensch in diesem Chaos aus größtenteils wertlosen Gegenständen suchen? Das Auto war abgeschlossen. Klaute heutzutage noch ernsthaft irgendjemand ein Fahrrad, es sei denn, er fand es praktisch auf dem Präsentierteller vor?
Alles blieb still, nichts bewegte sich.
Vielleicht geht es nicht darum, etwas zu stehlen, vielleicht hat es jemand auf mich abgesehen?
»Quatsch!«, sagte sie laut. Wer vergewaltigte eine fast vierzigjährige, vollschlanke Steuerberaterin? Es wäre wirklich ein schlechter Witz, wenn sie, nachdem ihr seit Jahren kein männliches Wesen trotz aller Bemühungen ihrerseits auch nur einen zweiten Blick geschenkt hatte, plötzlich Opfer eines Triebtäters würde. In ihrer eigenen Garage.
Ihr Herz, das, wie sie plötzlich merkte, rasend zu pochen angefangen hatte, beruhigte sich wieder. Die Gänsehaut am ganzen Körper legte sich.
Vielleicht hatte sie sich alles nur eingebildet.
Und was war da überhaupt gewesen, das Grund für diese Angst hätte sein können? Nichts. Gar nichts, bis auf ein plötzliches Gefühl.
Da ist jemand. Ich werde beobachtet. Zwei Augen saugen sich an meinem Rücken fest.
Noch einmal sagte sie laut: »Quatsch!«
Es war wieder alles ganz normal. Niemand starrte sie an, niemand war da. Sie wurde wahrscheinlich langsam wunderlich. Vielleicht wurde man das, wenn man zu lang allein lebte.
Trotzdem ließ sie, als sie wieder in der Tür nach draußen stand, noch einen letzten, langen Blick durch den düsteren Raum streichen. Verstecke gab es hier genug, keine Frage. Aber da war nichts, kein Rascheln, kein Scharren, kein Kratzen. Dunkles, kaltes Schweigen.
Sie hatte sich einfach in etwas hineingesteigert.
Aber als sie in ihrem Haus verschwand, verschloss sie, ganz entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit, die Haustür hinter sich. Sie drehte sogar den Schlüssel gleich zweimal herum.
2
Schlechter als in der vergangenen Nacht hatte Rosanna noch nie geschlafen. Jedenfalls konnte sie sich nicht erinnern. Sie hatte in Elaines Bett gelegen, dessen Matratze so durchhing, dass man in eine Art Kuhle in der Mitte rutschte und wie ein Taschenmesser zusammenklappte. Schon nach einer Stunde taten Rosanna alle Knochen weh. Zudem quälten sie verschiedene Bilder; Rob, der nicht nach Hause gekommen war. Dennis, der wahrscheinlich, von Sorgen gepeinigt, daheim auf und ab ging, allein, während seine Frau in Northumberland nach einer verschwundenen Freundin suchte und dabei, wie es aussah, einem Phantom hinterherlief.
War es nicht so, dass ihr die ganze Sache aus dem Ruder lief? Oder wie hatte sie sonst in diesem abgeschiedenen Dorf, in dieser schrecklichen Behausung, bei diesem widerlichen Mr. Cadwick landen können?
Als endlich von draußen graues Morgenlicht durch die Fensterläden kroch, stand sie auf. Zum Glück hatte die Bettwäsche sauber gewirkt. Rosanna vermutete, dass sie seit Elaines Auszug nicht gewechselt worden war – Mr. Cadwick würde sie wahrscheinlich noch seinem nächsten Untermieter ungewaschen andrehen, wenn er denn überhaupt einen fand –, aber Elaine war offenbar recht reinlich gewesen. Das Bett schien vor nicht allzu langer Zeit neu bezogen worden zu sein und roch angenehm nach einem blütenduftenden Waschmittel.
Im Bad gab es kein Handtuch, zumindest nicht auf den ersten Blick. Im Wäschekorb fand Rosanna schließlich einen zusammengeknüllten Waschlappen, der modrig roch. Vor dem Spiegel lag ein kleines Stück Seife. Sie wusch sich mehr schlecht als recht und kämmte sich mit den Fingern die Haare. Sie fand, dass sie schrecklich aussah. Ihre Haarwirbel vermochte sie nur mit Hilfe eines Föhns und einer Menge Spray zu bändigen, und beides stand ihr hier nicht zur Verfügung. Ihr Kopf erinnerte an das Fell einer kranken Katze.
»Oder an das einer räudigen Ratte, wenn man ganz gemein sein will«, murmelte sie. Warum hatte sie nicht wenigstens etwas Wimperntusche oder einen Eyeliner dabei? In ihrer Handtasche fand sie nur einen Lippenstift, aber die Tatsache, dass sie nun mit einem leuchtend roten Mund herumlief, machte den Gesamteindruck nicht besser.
In der winzigen Küche traf sie Marc, barfuß, in Boxershorts und T-Shirt. Er schien überrascht, dass sie schon wach war.
»Ich dachte, um diese Uhrzeit schlafen Sie noch tief und fest«, sagte er.
»Ich glaube, ich habe keine Sekunde geschlafen«, erwiderte Rosanna, »dieses Bett ist eine Art Foltergerät. Wie war Ihr Sofa?«
»Auch nicht viel besser, fürchte ich. Ich bin sofort bis auf den Boden durchgesunken. Ich halte mich eigentlich für ganz fit und sportlich, aber meine ersten Schritte heute Morgen waren die eines steinalten Mannes. Ich wusste bislang nicht, dass ein Rücken so weh tun kann.«
»Meiner fühlt sich an, wie frisch aus einem Schraubstock entlassen oder so ähnlich.« Sie fuhr sich mit einer unsicheren Bewegung durch die Haare. »Im Bad ist leider nicht viel zu finden, womit man sich einigermaßen in Form bringen kann. Sie müssen heute mit einer Frau vorliebnehmen, deren Haare in alle Himmelsrichtungen abstehen. Ich kann es nicht ändern.«
»Dafür kann ich mich nicht rasieren«, sagte Marc, »alles halb so wild. Hören Sie, ich habe mich umgeschaut, hier gibt es nicht einmal einen Kaffee, den wir uns machen könnten. Ich würde vorschlagen, wir stehlen uns so leise wie möglich davon und suchen nach diesem Pub – Elephant heißt es, glaube ich. Vielleicht haben wir Glück, und die bieten sonntagmorgens ein Frühstück an. Andernfalls blüht uns wahrscheinlich ein Kaffeetisch in Mr. Cadwicks sauberer Wohnung, und ich denke, darauf haben Sie so wenig Lust wie ich.«
Rosanna schauderte. »Ich bin nicht pingelig, aber wenn ich sein dreckiges Geschirr sehe, habe ich Angst, mir irgendeine Krankheit zu holen. Außerdem ist der Typ einfach widerlich. Schleimig und total indiskret. Allein hier mit ihm in diesem Haus würde ich Alpträume bekommen. Was meinen Sie, stimmt die ganze Geschichte? Dass hier eine Elaine Dawson gewohnt hat? Dass hier überhaupt eine Frau gewohnt hat?«
»Sie meinen, weil sie gar so passend gerade jetzt verschwunden ist?« Marc nickte. »Ich habe mir das heute Nacht auch überlegt. Natürlich besteht die Möglichkeit, dass er sich das alles nur ausgedacht hat. Ich vermute, er würde vor wenig zurückschrecken, wenn er sich damit ein bisschen Gesellschaft in sein trostloses Leben holen könnte. Im Grunde ist er ein armer Kerl.«
»Ich kann trotzdem kein Mitleid mit ihm aufbringen.«
»Auf jeden Fall ist das ein Grund mehr, den Elephant aufzusuchen. Denn dort soll sie gearbeitet haben, und wenn sich nicht alles verschworen hat, müssten wir dort eine glaubwürdige Bestätigung von Mr. Cadwicks Geschichte bekommen. Oder das Gegenteil hören.«
Während Marc im Bad war, ging Rosanna ins Schlafzimmer, machte ihr Bett und wählte dann Dennis' Nummer in Gibraltar. Sie wollte hören, ob Rob zurückgekommen war, aber ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie hatte Angst, von Dennis erneut attackiert zu werden oder seinem Drängen auf Rückkehr nicht mehr länger ausweichen zu können.
Und vielleicht sollte ich das auch einfach tun, dachte sie, Elaine finden wir sowieso nicht, genug Material habe ich auch. Ich könnte morgen früh nach Gibraltar fliegen …
In ihrem Haus meldete sich niemand. Sonntagmorgens ging Dennis manchmal in seinen Fitnessclub. Vielleicht streifte er aber auch umher und suchte nach Robert. Dass dieser nicht an den Apparat ging, besagte nichts: An den Wochenenden schlief er bis zum Mittag, und nicht einmal eine Atombombe hätte ihn aus dem Bett geholt – geschweige denn das Läuten des Telefons.
Marc war fertig angezogen. Sie schlüpften in ihre Jacken und verließen auf Zehenspitzen die Wohnung. Mr. Cadwick schien noch zu schlafen, denn obwohl etliche Treppenstufen deutlich knarrten, rührte sich nichts im Haus. Sie atmeten beide auf, als sie unten in Marcs Auto saßen und endlich losfahren konnten.
Bei Tageslicht war alles viel einfacher. Sie begriffen rasch die Anordnung der schmalen Straßen und Gassen von Langbury, und nachdem sie begonnen hatten, sie systematisch abzufahren, standen sie recht bald vor dem Elephant, einem wuchtigen Bau aus roten Backsteinen, behäbig und gepflegt wirkend. Es gehörte sogar ein kleines Gärtchen dazu, in dem man im Sommer recht schön unter hohen, ausladenden Bäumen sitzen konnte. Jetzt waren ihre Zweige noch kahl, und Stühle und Tische standen an die Hauswand gerückt, mit großen Plastikplanen gegen die Witterung abgedeckt.
Zu ihrer Erleichterung ließ sich die Tür zur Gaststube öffnen, und der einladende Duft von frischem Kaffee wehte ihnen entgegen. Ein ziemlich übernächtigt wirkender Mann stand hinter der Theke und starrte sie erstaunt an.
»So früh kommt hier sonst niemand«, sagte er.
Rosanna setzte ein gewinnendes Lächeln auf. »Könnten wir trotzdem einen Kaffee bekommen?«
Der Mann nickte. »Klar. Kaffee ist fertig. Mit dem übrigen Frühstück dauert es ein bisschen. Wir halten sonntags hier immer ab zehn Uhr einen kleinen Brunch bereit. Ich kann Ihnen jetzt nur Toast und Marmelade anbieten.«
»Das reicht völlig«, versicherte Marc, »wir brauchen nur irgendetwas, um ein bisschen auf die Beine zu kommen.«
Sie ließen sich an einem Ecktisch nieder, registrierten dankbar die saubere weiße Tischdecke und das geblümte Porzellan, in dem der Kaffee serviert wurde. Der müde Mann selber brachte ihnen ein Körbchen mit Toastbrot und einen großen Teller mit mehreren Marmeladengläsern und portionsweise abgepackten Butterpäckchen. Rosanna vermutete, dass es sich um den Besitzer des Elephant handelte.
Offenbar hatte Marc den gleichen Gedanken, denn er fragte: »Sie sind Mr. Justin McDrummond?« »Ja. Warum?«
»Marc Reeve. Dies ist Rosanna Hamilton. Wir sind aus London hierhergekommen.«
»Nicht gerade die schönste Jahreszeit, um Urlaub in dieser Gegend zu machen.«
»Wir sind nicht im Urlaub«, sagte Marc. »Wir sind auf der Suche nach einer alten Bekannten, und man sagte uns, dass sie hier gearbeitet hat. Elaine Dawson.«
Justin zog die Augenbrauen hoch. »Elli?«
»Stimmt es? Hat sie hier gearbeitet?«
Justin stellte den Brotkorb mit einem etwas zu heftigen Schwung auf den Tisch. Sein erschöpftes Gesicht wirkte mit einem Mal sehr zornig. »Und ob«, sagte er, »und ob sie hier gearbeitet hat! Und eines kann ich Ihnen sagen: Ihre Bekannte war mit Sicherheit die durchgeknallteste Person, die ich je beschäftigt habe. Sie ist ziemlich oft ausgefallen, aber ich hatte immer irgendwie Verständnis, weil sie mir einfach leidtat. Deshalb habe ich es auch nicht verdient …« Er brach ab.
»Ja?«, fragte Rosanna. »Was haben Sie nicht verdient?«
»Dass sie sich einfach aus dem Staub macht«, sagte Justin wütend, »von heute auf morgen, ohne ein Wort zu sagen. Wissen Sie, um diese Jahreszeit ist hier nicht allzu viel los, aber an den Samstagabenden kommen die Einheimischen hierher – viele auch aus den umliegenden Dörfern. Und gestern Abend hatten wir hier eine Hochzeitsgesellschaft. Einhundertzwölf Personen, die bis nachts um ein Uhr gefeiert haben. Elli wusste das. Ich hatte noch zwei Aushilfskräfte angeheuert, aber Elli war fest eingeplant. Und erscheint einfach nicht. Donnerstagabend, Freitagabend, gestern Abend. Weg. Verschwunden. Ihr musste klar sein, dass ich so schnell keinen vollwertigen Ersatz finden konnte. Immerhin kannte sie sich aus, war eingearbeitet. Sie glauben nicht, wie wir gestern Abend alle gekämpft haben. Ich sage Ihnen, wenn die sich hier noch einmal blicken lässt…«
»Könnte es sein, dass ihr irgendetwas zugestoßen ist?«, fragte Rosanna.
Justin schnaubte. »Das hätte ich vielleicht sogar zu ihren Gunsten angenommen. Aber dann war der alte Schleimer hier – Cadwick. Ihr Vermieter. In seiner Bruchbude hatte sie eine Wohnung gemietet. Und der erzählte, dass sie mit Sack und Pack ausgezogen ist. Auch ohne irgendetwas zu sagen. Ich meine, wenn jemand überfahren wird oder entführt oder ermordet, dann räumt er ja nicht vorher seine Wohnung leer, oder? Nein, die hat irgendwo einen besseren Job und eine bessere Bleibe gefunden und ist auf und davon!«
Rosanna hatte in ihrer Handtasche gekramt und zog das Foto von Elaine hervor, das sie stets mit sich führte. »Ist sie das?«
Justin betrachtete das Bild eingehend. »Ich weiß nicht …«, meinte er zögernd, »Elli ist viel schlanker. Fast mager.«
»Das Foto ist mehr als fünf Jahre alt«, erklärte Rosanna, »ein neueres haben wir leider nicht. In den fünf Jahren kann sie natürlich erheblich an Gewicht verloren haben.«
»Vom Typ her könnte sie es sein«, sagte Justin, »die Haarfarbe stimmt, die Frisur auch. Es ist einfach schwer zu sagen. Diese kugelrunde Person hier – und dann die ausgezehrte Elli. Aber, ja, es könnte hinkommen. Mit Sicherheit kann ich es nicht sagen.«
»Elaine müsste jetzt achtundzwanzig Jahre alt sein«, sagte Rosanna, »am ersten August diesen Jahres wird sie neunundzwanzig.«
»Vom Alter her könnte das auf jeden Fall stimmen«, bestätigte Justin. »Ehrlich gesagt, ich wusste weder, wann sie Geburtstag hat, noch wie alt sie ist, aber ich habe sie auf etwa Ende zwanzig geschätzt.«
»Seit wann hat sie hier gearbeitet?«, fragte Marc.
»Seit Juni letzten Jahres. Sie tauchte eines Tages auf und fragte, ob ich einen Job für sie hätte. Zu ihrem Glück hatte mich gerade meine Serviererin verlassen. Ich gab ihr die Stelle.«
»Sie wollten doch sicher Papiere sehen? Ausweis, Zeugnisse oder Ähnliches«, sagte Marc.
Justin schien sich ein wenig zu winden. »Ihren Pass hat sie mir gezeigt. Zeugnisse hatte sie keine. Sie hatte schwarz in einem Schuhladen gearbeitet, wie sie berichtete. Im Lager.«
»Und sie wollte für Sie auch gerne schwarz arbeiten«, folgerte Marc. »Nun ja, sie …«
»Wir sind weder von der Polizei noch von der Finanzbehörde«, stellte Rosanna klar, »also machen Sie sich keine Sorgen.«
Justin ließ sich neben seinen Gästen auf einen Stuhl fallen, stützte seinen Kopf auf die Hände. »Wissen Sie, mir war das auch etwas suspekt. Sie schien buchstäblich aus dem Nichts zu kommen. Ich hatte mal Ärger wegen eines Kochs, Pakistani, der hatte dann gar keine Aufenthaltsgenehmigung, wie sich herausstellte, und die Polizei hat bei mir alles durchsucht. Aber Elli hatte zumindest einen britischen Pass, der mir in Ordnung schien. Ich komme natürlich ganz günstig weg, wenn jemand schwarz für mich arbeitet. Aber… vielleicht hätte ich sie weggeschickt. Es war nur eine ähnliche Situation wie letzten Abend. Ein Wochenende stand bevor, eine große Gesellschaft hatte sich angesagt. Ich konnte jeden brauchen, der zu kriegen war. Sie kam praktisch wie gerufen, und dann ist sie geblieben, und … na ja, irgendwann war mir dann ihre Vorgeschichte egal.«
Rosanna packte das Foto wieder weg. Sie war jetzt hellwach. Was auch an dem Kaffee liegen mochte, den sie in kleinen Schlucken nebenher trank und der köstlich schmeckte.
»Sie bezeichneten Elaine als durchgeknallt. Was genau meinten Sie damit?«
Justin überlegte. »Da war so etwas an ihr«, sagte er dann, »etwas… wie soll ich es ausdrücken? Etwas Krankes. Verstörtes. Hysterisches. Depressives. Alles, was Sie wollen. Ich würde sagen, sie wirkte auf mich wie ein ganz schön kaputter Mensch. Welche junge Frau setzt sich nach Langbury in die Wohnung von Mr. Cadwick und sieht ihren Lebensinhalt darin, bei mir im Pub zu arbeiten? Sie hatte überhaupt keine Freunde. Keine Kontakte. Sie erzählte nichts von sich, nie. Es war wirklich so, als sei sie aus dem Nichts gekommen. Nie erwähnte sie Eltern. Oder Geschwister. Freunde, Verwandte, Bekannte. Lehrer, Nachbarn… irgendetwas. Ich meine, selbst der kontaktärmste Mensch kommt nicht umhin, ein paar Bekanntschaften in seinem Leben zu schließen, oder? Aber sie nicht. Als wandle sie allein über diesen Planeten, so kam sie mir vor.«
»Und sie fiel öfter aus?«, hakte Rosanna nach.
»Ja. In gewissen Abständen, und dann stets zwei, drei Tage hintereinander. Sie meldete sich aber immer ab. Wegen Zahnweh, Halsentzündung. Was weiß ich. Komischerweise… hatte ich immer das Gefühl, dass das nicht stimmte. Dass sie nicht körperlich krank war, sondern das nur vorschob. Ich hätte ihr das aber nicht nachweisen können.«
»Was war Ihrer Meinung nach tatsächlich los?«, fragte Marc.
Wieder zögerte Justin. »Ich glaube, dass sie Panikanfälle hatte. Dass sie von Zeit zu Zeit von ihren Ängsten überwältigt wurde. Und dass sie dann das Rattenloch, in dem sie hauste, nicht verlassen konnte.«
»Ihre Ängste?«, fragte Rosanna. »Sie hatte Angst?«
Justin blickte sie erstaunt an. »Ich denke, Sie kennen sie? Ich glaube nicht, dass das irgendjemandem verborgen bleiben konnte. Elli hatte Angst. Vor irgendetwas oder irgendjemandem hatte sie entsetzliche Angst. Sie schrak jedes Mal zusammen, wenn hier die Tür aufging. Manchmal, wenn jemand laut lachte oder grölte, wurde sie plötzlich kreidebleich.«
Er überlegte noch einmal kurz und fügte dann hinzu: »Ich würde so weit gehen zu sagen, dass sie Todesangst hatte. Das war spürbar. Elli hatte Todesangst, aber in der ganzen Zeit ist es mir nicht gelungen, dahinterzukommen, warum das so war.«
3
Geoffrey begriff, dass Selbstmitleid zum Automatismus mit höchst unangenehmen Begleiterscheinungen werden konnte: Eine Zeit lang mochte es die Menschen ringsum in Atem halten, in Schuldgefühle stürzen und damit manipulierbar machen, aber irgendwann richtete es sich gegen einen selbst.
Wer sich zu lange und zu behaglich in der Opferrolle einrichtet, wird wirklich zum Opfer.
Irgendjemand hatte dies einmal zu ihm gesagt, er wusste nur nicht mehr, wer es gewesen war. Eine Schwester, ein Arzt, ein Pfleger? Einer von den Leuten, die sich um ihn kümmerten und ihm beharrlich einzureden versuchten, sein Leben sei trotz allem noch lebenswert. Was es definitiv nicht war, und es stürzte ihn jedes Mal in Wut, wenn sich ein Gesunder anmaßte, einem Kranken zu erklären, dass seine Lage nicht so schlimm sei, wie er glaubte.
Allerdings war an dem Gerede um die Opferrolle und ihre Auswirkungen etwas dran. Denn wenn er, Geoff, sich nicht so tief in seine Mir-ist-alles-egal-Haltung vergraben hätte, verfügte er jetzt über ein Handy, könnte einen versteckten Platz im Heim oder draußen aufsuchen und telefonieren. Stattdessen musste er den verdammten Münzfernsprecher im Flur benutzen und ständig fürchten, dass jemand vorbeikam und neugierig lauschte.
Aus den Jahren mit Elaine besaß er zwar ein Handy, aber dessen Karte war seit Ewigkeiten nicht mehr aufgeladen worden. Mehrfach hatten ihm Schwestern angeboten, dies für ihn zu übernehmen.
»Kommen Sie, Mr. Dawson. Wir laden die Karte für Sie auf! Ist doch viel schöner, wenn Sie problemlos erreichbar sind!«
Er hatte stets abgelehnt. Hatte die hilfsbereiten Geister oft genug sogar angeschnauzt. Für wen, bitte schön, er denn erreichbar sein solle? Wer rief ihn denn an? Wer interessierte sich denn noch für ihn? Er existierte doch praktisch schon nicht mehr.
Dumm gelaufen, dachte er nun.
Zum Glück war es Sonntag. Sämtliche Aktivitäten im Pflegeheim liefen sonntags in reduzierter Form ab, was bedeutete, dass auf dem Gang nicht das übliche Gewusel von Patienten und Pflegekräften herrschte. Es bestand daher die Chance, ungestört zu telefonieren. Wobei sich dies natürlich jeden Moment ändern konnte. Geoff wusste, dass ihm nur ein kleines, noch dazu nicht berechenbares Zeitfenster blieb.
Es war einfach gewesen, über die Auskunft die Nummer des Fernsehsenders herauszubekommen, der die Sendung Private Talk ausstrahlte; schwieriger gestaltete es sich, mit der betreffenden Redaktion sprechen zu können. Eine missmutige Frauenstimme in der Zentrale hatte ihm mitgeteilt, sie versuche, ihn zu verbinden, aber seitdem hing Geoff in einer Warteschleife und lauschte, zunehmend genervt, den Klängen irgendeines ihm unbekannten Klavierstücks. Das war der Nachteil an einem Sonntag: Auch in einem Sender herrschte nicht umtriebige Geschäftigkeit wie sonst. Immerhin mussten die Beschäftigten dort auch an den Wochenenden ihren Dienst tun. Ob Lee Pearce da war? Mit ihr hätte Geoff am liebsten gesprochen.
Die ganze Nacht über hatte er wach gelegen und überlegt, was er tun sollte. Cedrics Nachricht vom Auftauchen einer möglichen neuen Spur hatte ihn von Stunde zu Stunde in größere Unruhe, Aufregung und Angst versetzt. Tausend Gefühle stritten in ihm: die Hoffnung, Elaine könnte tatsächlich am Leben sein, zu ihm zurückkehren und ihn damit erlösen. Die Sorge, sie könnte zwar am Leben sein, sich jedoch weigern, zurückzukommen, und zudem erklären, ihr Bruder sei es, vor dem sie sich all die Jahre versteckt gehalten habe. Gleich darauf war ein neuer Gedanke in ihm erwacht: Was, wenn sie es nicht war, Rosanna Hamilton, die falsche Schlange, jedoch behaupten würde, sie habe sie dort oben in Northumberland angetroffen? Seitdem Geoff die einstige Jugendfreundin in der Talkshow gesehen hatte, wusste er zwei Dinge: Rosanna war scharf auf Marc Reeve, hatte womöglich bereits ein Verhältnis mit ihm. Und aus diesem Umstand wiederum ergab sich ihr Verhalten: Rosanna wollte Reeve von jeglichem Verdacht im Hinblick auf Elaine reinwaschen. Um jeden Preis. Geoff traute es ihr absolut zu, dass sie eine lebende Elaine erfand, dies in ihrem schäbigen Boulevardblatt großartig verkündete und damit Marc Reeve ein Leben in Ansehen und Rehabilitierung ermöglichte. Wer würde ihre Angaben schon überprüfen? Die Polizei hatte den Fall längst zu den Akten gelegt, längst abgehakt.
»Was glauben Sie, wie viele Frauen und Männer sich tagtäglich einfach aus ihrem Leben verabschieden, untertauchen und fröhlich eine neue Existenz gründen?«, hatte ihm einer der Beamten damals, unmittelbar nach Elaines Verschwinden, gesagt. »Sogar Leute, die Familien haben, Kinder. Leute, in deren Leben es scheinbar überhaupt keine Schwierigkeiten gibt, von denen man es nie erwartet hätte. Tief in ihrem Innern aber hatten sie alles satt, die Verantwortung, die Bindung, was auch immer. Und weg sind sie. Und in ihrem ganzen Umfeld ist man fassungslos.«
In seinem, Geoffs, Umfeld war man nicht einmal wirklich fassungslos gewesen, das war das Schlimme. Man hatte ihm das nicht so deutlich gesagt, aber er war nicht blöd, er hatte es überall zwischen den Zeilen herausgehört: Jeder konnte sich durchaus vorstellen, dass Elaine aus dem Dasein an der Seite eines Krüppels, der ihr Leben blockierte, ausgebrochen war. Und jeder hatte es verstanden. Wäre nicht die Geschichte mit Marc Reeve ans Tageslicht gekommen und damit zumindest kurzfristig ein Verbrechen in Betracht gezogen worden – niemand hätte auch nur einen Finger krumm gemacht, um die vom Erdboden verschluckte Frau wieder aufzustöbern.
Ja, und auch er selbst konnte schwerlich in den Norden reisen und nachsehen, ob es sich wirklich um Elaine handelte, die sich dort vor ihm versteckt hielt. Selten hatte er seine Hilflosigkeit mehr verwünscht, die Unbeweglichkeit seines Körpers mehr verflucht. Zunehmend war der Hass auf seinen Körper während der endlos langen, durchwachten Nachtstunden übergegangen in einen überwältigenden Hass auf Rosanna Hamilton, die ihn dieser Situation ausgesetzt hatte, die sich erdreistete, in seinem Leben herumzupfuschen, die sich anmaßte, Schicksal für andere zu spielen und sich dabei einen Dreck um die Folgen für die Betroffenen zu scheren. Das war so typisch für sie, ebenso wie für ihren Bruder, für diese beiden arroganten, gleichgültigen Jones-Geschwister. Gleichgültig jedenfalls, wenn es um echte Not, wirkliche Sorgen anderer Menschen ging. Wenn sie für ihre eigenen Belange fochten – wie Rosanna jetzt offenbar im Zusammenhang mit dem Schönling Reeve – konnten sie sehr aktiv und einfallsreich werden.
Am allermeisten erboste ihn die Tatsache, dass man ihm von all dem gar nichts hatte mitteilen wollen. Es bestätigte ihn zudem in der Überzeugung, dass ein krummes Ding geplant wurde. Rosanna hatte ihm kein Sterbenswörtchen von der neuen Spur verraten, und Cedric hatte es auch nicht vorgehabt, so viel war ihm gestern durchaus klar geworden. Er hatte sich in die Enge getrieben gefühlt und ihm rasch einen Brotkrumen hinwerfen wollen, um ihn abzulenken, aber vermutlich bereute er seine Geschwätzigkeit jetzt schon tief. Rosanna, die die ausgefuchstere von beiden war, würde ihn ganz schön zur Schnecke machen, wenn sie davon erfuhr. Geschah ihm ganz recht.
In den frühen Morgenstunden hatte Geoffs Plan festgestanden. Er würde sich nicht ausbooten, in die Ecke stellen und zur Passivität verurteilen lassen, nicht von Typen wie Rosanna und Cedric. Auch wenn er seinen verdammten Körper nicht bewegen konnte, sein Kopf arbeitete noch, und er war durchaus in der Lage, auf seine Art aktiv zu werden. Er würde einfach andere Menschen instrumentalisieren, die in Northumberland forschen und Rosannas Pläne, wie immer sie aussehen mochten, vereiteln würden. Wer war dafür geeigneter als die Fernsehjournalistin Lee Pearce, die den Fall gerade als Thema ihrer Sendung behandelt hatte? Und sicher nicht abgeneigt war, Rosanna Hamilton eins auszuwischen.
Die Stimme der Dame aus der Zentrale klang unvermittelt wieder an sein Ohr. »Ich stelle durch«, sagte sie gelangweilt.
Es klickte in der Leitung.
»Hallo?«, sagte eine andere weibliche Stimme, immerhin deutlich freundlicher und fröhlicher.
»Äh … hallo«, sagte Geoff, »hier ist Geoffrey Dawson.« Er machte eine Pause, in der Hoffnung, dass der Name der Person am anderen Ende der Leitung schon etwas sagte. Immerhin war der Fall Dawson Thema der letzten Sendung gewesen. Aber es schien nicht so, als zucke seine Gesprächspartnerin wie elektrisiert zusammen.
»Was kann ich für Sie tun, Mr. Dawson?«, fragte sie unverändert freundlich.
Es ist einfach eine zu schnelllebige Zeit, dachte Geoff, die bereiten jetzt schon die nächste Sendung vor und wissen kaum noch, womit sie sich zwei Tage zuvor beschäftigt haben.
Er hatte sich kein wirkliches Konzept zurechtgelegt, vor allem auch deshalb, weil er in erster Linie um die Frage gekreist war, ob er es bewerkstelligen könnte, überhaupt ein halbwegs ungestörtes Gespräch zu führen.
Jetzt sprang er einfach mitten hinein.
»Ich hätte gerne Mrs. Lee Pearce gesprochen«, bat er kühn.
»Worum geht es denn bitte?«
»Mein Name ist Dawson«, wiederholte er mit Nachdruck, »ich bin der Bruder von Elaine Dawson. Erinnern Sie sich? Elaine Dawson war Thema in Private Talk am vergangenen Freitag. Eines der Themen«, setzte er hinzu.
»Richtig, jetzt kann ich den Namen einordnen«, sagte die andere immer noch fröhlich, wobei er sich fragte, was an der ganzen Geschichte Anlass zu solch penetranter Fröhlichkeit gab. »Was genau möchten Sie mit Mrs. Pearce besprechen?«
Immerhin hatte sie ihn nicht gleich mit der Auskunft abgewimmelt, dass Mrs. Pearce nicht da sei. Was darauf schließen ließ, dass sich die Moderatorin im Sender aufhielt und er eine echte Chance hatte, mit ihr ins Gespräch zu kommen, wenn es ihm gelang, diese Frohnatur an seinem Ohr von der eben dahingehenden Notwendigkeit zu überzeugen.
»Es hat sich aufgrund der Sendung eine sehr interessante neue Spur ergeben«, erklärte er. »Es gibt einen Hinweis, dass meine Schwester noch lebt.«
»Dann sollten Sie sich damit vielleicht an die Polizei wenden.«
»Die Polizei ist an dem Fall schon lange nicht mehr interessiert. Ich glaube nicht, dass sie die Grafschaft Northumberland wegen eines einzigen Hinweises umgraben werden.«
Vom anderen Ende der Leitung kam ein kaum hörbares Seufzen. »Mr. Dawson, ich sehe nicht, wie Mrs. Pearce Ihnen helfen könnte.«
»Es geht um noch mehr«, sagte Geoff hastig. Er hörte Schritte den Gang entlangkommen und sah sich verstohlen um. Ganz hinten war eine Schwester aufgetaucht, verharrte jedoch an einer der geöffneten Zimmertüren und sprach augenscheinlich mit einem der Bewohner. Bald würde sie jedoch weitergehen und hoffentlich nicht auf seiner Höhe erneut stehen bleiben.
Scheiße! Konnte ihn diese Kuh nicht endlich verbinden?
»Hören Sie«, sagte er mit gedämpfter Stimme, »ich habe Grund zu der Annahme, dass Mrs. Hamilton, die am Freitag bei Ihnen zu Gast war, in dieser Angelegenheit etwas zu vertuschen sucht. Wegen sehr pikanter persönlicher Verstrickungen …« Er hielt inne. Private Talk war eine höchst primitive Boulevard-Talkshow. Er hoffte, dass er seine Gesprächspartnerin ein wenig heißgemacht hatte.
Sie seufzte erneut, diesmal aber gab sie sich keine Mühe, es zu verbergen. »Ich werde Mrs. Pearce fragen, falls sie überhaupt gerade zu sprechen ist«, sagte sie, »möglicherweise ist sie auch in einer Konferenz. Warten Sie!«
Er wurde aus der Leitung geklickt und sah sich wieder der penetranten Klaviermusik ausgesetzt.
Die Schwester kam jetzt näher, mit jenem forschen, eiligen, so überaus viel Wichtigkeit signalisierenden Gang, den er hasste, mit dem er hier jedoch ständig konfrontiert wurde.
Haben die mal darüber nachgedacht, wie ihre Gangart auf uns Krüppel wirkt?, fragte er sich nicht zum ersten Mal. Wollen sie uns ihre Überlegenheit demonstrieren, uns ständig deutlich machen, dass sie die Stärkeren sind? Oder setzt diese Vorstellung eine Auseinandersetzung mit uns voraus, die es gar nicht gibt? Sind wir ihnen in Wahrheit scheißegal, und sie machen einfach ihren Job und denken über gar nichts nach?
Die Schwester war auf seiner Höhe angekommen und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, was er abartig fand.
»Na, Mr. Dawson?« Sie war munter wie ein Fisch im Wasser. Hatten heute alle Leute eine so scheißgute Laune? Vor allem die, die am Sonntag arbeiten mussten? »Wie geht's Ihnen denn?«
Er nickte ihr abweisend zu. Sah sie eigentlich nicht, dass er telefonierte? Hätte sie sich einem Nicht-Patienten gegenüber auch so verhalten? Ohne Respekt davor, dass er gerade mit etwas anderem beschäftigt war?
Sie setzte zu ihrer nächsten Frage an, aber in diesem Moment ertönte das bereits bekannte Klicken an Geoffs Ohr. »Mr. Dawson? Ich verbinde Sie mit Mrs. Pearce.«
Gleich darauf erklang ein kühles: »Pearce. Was gibt es?«
Er hielt seine Hand auf die Sprechmuschel, wandte sich, soweit sein gelähmter Körper es zuließ, zu der ihn unverwandt angrinsenden Schwester um und zischte leise, aber deutlich: »Scheren Sie sich zum Teufel, verdammt noch mal!«
4
Sie waren ziellos ein wenig in der Gegend herumgefahren, hatten den Wagen dann in einer kleinen Parkbucht unweit vom Meer abgestellt und waren zum Strand gelaufen. Außer dem Heranrollen der Wellen und den Schreien der Möwen war nichts zu hören. Trotz des strahlenden Frühlingstages wehte hier am Wasser ein scharfer Wind, der eiskalt durch die Kleidung drang. Sie liefen mit schnellen Schritten über den Sand, um sich aufzuwärmen. Weit und breit war kein Mensch zu sehen.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Rosanna, »ich meine, der Begriff Todesangst – der erscheint mir so … überzogen. Wir sind davon ausgegangen, dass sich Elaine vor dem Leben als Pflegerin ihres Bruders in Sicherheit bringen wollte, und ganz bestimmt wäre sie alles andere als begeistert gewesen, wenn er plötzlich in der Tür dieses Pubs aufgetaucht wäre, aber es hätte sie doch kaum mit Todesangst erfüllt. Was hätte er ihr schon anhaben können?«
Marc bückte sich, hob einen flachen, kleinen Stein auf und warf ihn dann achtlos wieder zu Boden. »Vielleicht liegen wir mit der Vermutung, dass ihr Verschwinden – sofern wir nach wie vor von einem freiwilligen Verschwinden ausgehen – etwas mit ihrem Bruder zu tun hat, völlig falsch. Immerhin hat sie bei mir einen Mann erwähnt, der eine wesentliche Rolle in ihrem Leben spielte. Könnte es sein, dass mit dem etwas schiefgelaufen ist? Dass sie sich vor ihm versteckt?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Elaine auf einen windigen Typen einlässt, der später zur Gefahr wird«, meinte Rosanna und sah wieder den pickligen Teenager vor sich, der vor allem und jedem Angst hatte und sich nie an Unternehmungen beteiligte, die auch nur einen Anflug von Risiko bargen. »Sie war übertrieben vorsichtig. Extrem schüchtern. Nicht die Art Mensch, die plötzlich in eine gefährliche Situation gerät.«
»Aber gerade diesen Menschen kann genau das passieren«, sagte Marc, »dass sie Opfer von irgendwelchem Gesindel werden. Elaine erschien mir äußerst unerfahren. Keine Ahnung von der Welt, vom Leben. Natürlich voller Angst, aber zugleich zu unwissend, echte Gefahren auch wirklich zu erkennen. Elaine ist – oder war – durchaus jemand, den sich einer aussuchen könnte, der Böses im Schilde führt.«
»Aber weshalb? Ich meine, was kann man denn gegenüber Elaine Böses im Schilde führen?«
Er zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Das müsste gar nichts mit ihr zu tun gehabt haben. Es gibt Menschen, die brauchen einfach nur ein Opfer. Egal, welches. Es geht nicht um das Opfer als Person, es geht nur um seinen Status als Opfer. Elaine könnte zu so etwas eingeladen haben. Aber auch das ist natürlich eine reine Vermutung.«
»Gut, unterstellen wir, sie hat sich auf den falschen Mann eingelassen«, sagte Rosanna, »sie ist mit ihm durchgebrannt damals. Und irgendwann in den vergangenen fünf Jahren ist etwas passiert. Etwas, das zur Bedrohung wurde. Weshalb ist sie dann nicht zur Polizei gegangen?«
»Weil sie vielleicht wusste, dass das in manchen Fällen nichts nützt«, sagte Marc. »Ich bin Anwalt, ich kenne mich nur zu gut aus. Sie mag an einen Psychopathen geraten sein, der aber noch nichts angestellt hat, was rechtfertigen würde, ihn festzusetzen. Sie spürt, dass er eine Gefahr für sie darstellt, aber es ist nun einmal so, dass die Polizei erst dann aktiv werden kann, wenn sich jemand etwas hat zuschulden kommen lassen. Manchmal bleibt dem Opfer dann wirklich nichts übrig, als sich zu verstecken.«
»Das würde aber bedeuten, dass Elaine, ausgerechnet Elaine, ein paar Mechanismen, nach denen das Leben läuft, ganz gut begriffen hat.«
»Fünf Jahre sind eine lange Zeit. Den Schutz von Kingston St. Mary hatte sie verlassen. Sie hat vielleicht eine Art Crashkurs durchlaufen, was die Einschätzung der Realität betrifft. Die Elaine von heute hat möglicherweise kaum noch etwas gemein mit der Elaine von damals. Nicht nur, was ihr Körpergewicht angeht.«
Rosanna nickte nachdenklich. »Und warum ändert sie dann nicht ihren Namen? Das hätte doch weit mehr Schutz bedeutet!«
»Das ist nicht so einfach. In den meisten Fällen muss man sich ausweisen, um eine Wohnung oder einen Job zu bekommen. Das bedeutet, sie hätte sich falsche Papiere beschaffen müssen. Wie soll ein Mädchen wie Elaine das bewerkstelligen?«
»Schwer vorstellbar«, stimmte Rosanna zu, »aber schließlich ist das alles mehr als verwirrend. Kaum mit meiner Elaine von damals in Einklang zu bringen.«
»Vielleicht sollten wir aufhören, Spekulationen anzustellen«, meinte Marc, »es führt zu nichts und verwirrt uns nur. Wahrscheinlich müssen wir uns einfach damit abfinden, zu spät gekommen zu sein. Die in Langbury untergetauchte Elaine Dawson haben wir haarscharf verpasst und finden sie wohl auch nicht mehr. Pech gehabt. Vielleicht war sie es, vielleicht auch nicht. Wir werden den Fall auf sich beruhen lassen müssen.«
Rosanna blieb stehen. »Ich wundere mich, dass Sie das so gelassen sehen können. Für Sie geht es um viel mehr als für mich. Elaine zu finden, hätte volle Rehabilitierung für Sie bedeutet. Aber ich habe den Eindruck, mich macht es verrückter, sie so knapp verfehlt zu haben, als Sie!«
Auch Marc blieb stehen. »Rosanna, ich will gar nicht abstreiten, dass ich große Hoffnungen gehegt hatte. Aber ich versuche auch, die ganze Angelegenheit realistisch zu sehen. Die Wogen im Fall Dawson haben sich wirklich geglättet. Es ist nicht mehr so, dass mir auf Schritt und Tritt Misstrauen entgegenschlägt. In meinem Umfeld interessiert sich kein Mensch mehr für diese Angelegenheit. Sie jetzt zu finden, würde gar nicht so viel ändern für mich.«
Sie sah an ihm vorbei, weil sie wusste, dass sie einen wunden Punkt berührte. »Aber Ihrem Sohn … Ihrem Sohn könnten Sie den Beweis erbringen. Wäre Ihnen das nicht wichtig?«
Er schwieg so lange, dass sie schon fürchtete, zu weit gegangen zu sein.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie hastig, »ich hätte vielleicht …«
»Schon in Ordnung«, unterbrach er, »Sie haben ja recht. Mein Sohn wäre es wert gewesen. Obwohl auch das möglicherweise nichts mehr geändert hätte.«
Sie gingen weiter, fröstelnd im scharfen, kalten Nordostwind, und auf einmal kam Rosanna der Strand unwirtlich und abweisend vor und das ganze Unternehmen verrückt und von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Sie blieb erneut stehen. Sie mochte sich nicht noch weiter vom Auto entfernen.
»Marc«, sagte sie, »wir sollten …«
Sie unterbrach sich, weil er sich zu ihr umwandte und sie voller Staunen zusah, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte, bevor er sie küsste. Es war ein beinahe flüchtiger Kuss, eigentlich nur ein kurzes, sanftes Berühren ihrer Lippen.
Er trat einen Schritt zurück. »Entschuldige«, sagte er, »das war … unmöglich.«
Sie starrte ihn noch immer an.
»Am besten …«, setzte er an, sprach aber nicht weiter und hob in einer hilflosen, entschuldigenden Geste beide Hände. »Ich hätte das nicht tun sollen.«
Sie fand endlich ihre Sprache wieder. »Es ist nur …«
»Ich weiß. Es ist unmöglich.«
»Nein, es ist …« Sie suchte nach Worten. »Also, ich bin nicht ärgerlich oder so. Wirklich nicht.«
Er stand vor ihr, grub seine beiden Hände nun tief in die Taschen seiner Jacke. Der kalte Wind hatte seine Wangen gerötet. »Ich weiß, dass du verheiratet bist. Einen Stiefsohn hast, der sich auf dich verlässt. Dass dein Lebensmittelpunkt nicht hier in England liegt. Ich weiß das alles. Trotzdem, schon den ganzen Morgen … immer, wenn ich dich ansehe …« Er ließ auch diesen Satz unvollendet, als sei es klar, was er zum Ausdruck bringen wollte.
Sie strich sich mit der Hand durch ihre zerzausten Haarwirbel, die durch den Wind noch mehr gelitten hatten. Sie dachte an ihre ungeschminkten Augen, an ihr Gesicht, das sicherlich den Ausdruck von Müdigkeit nach einer halb durchwachten Nacht zeigte.
»Ausgerechnet heute«, sagte sie, »ausgerechnet heute sehe ich so … schrecklich aus!«
»Ausgerechnet heute«, sagte Marc, »siehst du so jung aus.«
Er nahm sie in die Arme und küsste sie erneut, länger und weit weniger unschuldig als zuvor, und diesmal erwiderte sie seinen Kuss und seine Umarmung und verlor sich für einige Augenblicke daran, verlor sich so weit, dass sie sekundenlang nicht an Dennis dachte, nicht an Rob, nicht an Gibraltar, nicht an ihr eigentliches Leben.
Als sie sich Minuten später voneinander lösten, war alles um sie herum wie vorher, der noch winterlich scheinende Strand, die grelle Frühlingssonne, der eisige Wind.
Die Frage war, ob sich in ihnen und ihrer beider Leben etwas verändert hatte.
Nur, wenn wir es zulassen, dachte Rosanna.
»Meine Entschuldigung war ganz offensichtlich so wenig wert«, sagte Marc, »dass ich diesmal gar nicht erst behaupte, es tue mir leid. Es wäre ohnehin gelogen.«
»Wofür solltest du dich auch entschuldigen?«, fragte Rosanna. »Ich wollte das genauso wie du. Aber natürlich… kann es Probleme geben, wenn wir … wenn wir weiter gehen. «
»Tja«, sagte er unbestimmt.
Sie standen einander gegenüber. Auf bedrückende Weise wurde Rosanna klar, dass der schwarze Peter bei ihr lag. Marc war frei. Sie nicht.
»Mir ist kalt«, sagte sie schließlich. Es war eine einigermaßen unverfängliche Bemerkung, und sie stimmte. »Können wir zum Auto zurückgehen? Und irgendwohin fahren, wo wir einen heißen Kaffee bekommen?«
»Natürlich«, sagte Marc sofort. »Nichts weckt die Lebensgeister besser als ein heißer Kaffee.«
Rosanna musste plötzlich lachen, wenn sie auch den Eindruck hatte, dass in diesem Lachen jede Menge Ratlosigkeit schwang. »Ich hatte gar nicht den Eindruck, dass unsere Lebensgeister so schwach dahindümpelten«, meinte sie.
Er nahm ihre Hand, als sie zurückgingen, und sie hatte keine Lust, sie ihm zu entziehen. Wozu auch? Sie hatten mehr getan, als einander nur an der Hand zu halten. Ihre Küsse machte sie nicht ungeschehen, indem sie jetzt auf Abstand zu ihm ging.
Sie waren viel weiter gelaufen, als sie gemerkt hatte, und es dauerte lange, bis sie die kleine Parkbucht am Rand der einsamen Landstraße erreichten, in der ihr Auto stand. Rosanna sank erleichtert in ihren Sitz. Marc ließ den Motor an und drehte sofort die Heizung hoch.
»Dauert ein bisschen. Aber gleich wird es warm.« Er machte keine Anstalten, loszufahren.
»Was ist?«, fragte Rosanna.
Er zögerte. »Ich glaube, du bist es«, sagte er schließlich, »du bist der Grund, weshalb ich Elaine gern finden und ihr Auge in Auge gegenüberstehen würde. Ich weiß, dass ich sie nicht auf dem Gewissen habe, aber ich würde viel darum geben, wenn auch in dir nicht mehr der Schatten eines Zweifels daran bestünde.«
»Aber ich zweifle nicht«, sagte Rosanna, »ich habe schon aufgehört zu zweifeln, als ich begann, mich ernsthaft mit dem Fall zu beschäftigen.«
Er nickte, wendete den Wagen und fuhr auf die Straße hinaus. Sie hätte ihn gerne überzeugt, wie ernst es ihr war mit dem, was sie gesagt hatte, aber sie fürchtete, dass er ihre Beteuerungen als das nehmen würde, was sie waren: Beteuerungen, in deren echten Wahrheitsgehalt er niemals hineinblicken konnte. Selbst wenn in ihr nicht der kleinste Rest von Unsicherheit wäre, so bliebe doch in ihm einer, was ihre Überzeugung anging. Dieser Umstand mochte keine Bedeutung für ihre Zukunft haben, denn sie würden sich nicht in einer gemeinsamen Zukunft wiederfinden – sie durften es nicht. Würde es ihn stören, welches Bild von ihm sie in sich trug, wenn sie wieder bei ihrer Familie in Gibraltar war? Würde es sie stören, dass er an ihr zweifelte, wenn er wieder in London seinem Job nachging und sie nie wiedersah?
Es war unerheblich. Für sie beide war es unerheblich, ob sie Elaine fanden oder nicht.
»Wir müssen sie unbedingt finden«, sagte sie, in völligem Widerspruch zu ihren Gedanken, als sie über die sonnenbeschienene Landstraße dahinglitten.
Marc sah sie an. »Es wäre ein Problem weniger«, sagte er.
Sie wussten beide, dass genügend andere blieben.
5
»Telefon für dich«, sagte Sally und streckte den Kopf in Angelas Zimmer – das Zimmer, das bis vor kurzem Angelas und Lindas Zimmer genannt worden war. Sie sprach mit schwerer Zunge.
Angela, die auf ihrem Bett lag und in ihrem Innern den Stimmen nachlauschte, die das Zimmer noch immer zu erfüllen schienen – ihre Stimme und die ihrer Schwester –, hob den Kopf.
»Wer ist es denn?«
»Habe den Namen nicht so genau verstanden«, murmelte Sally, »war ein komischer Name. Will dich aber sprechen.«
Angela erhob sich mit müden Bewegungen. Sie fühlte sich krank und zerschlagen. Stundenlang hatte sie gestern mit Dawn bei der Polizei gesessen, zugesehen, wie die andere Verbrecherkarteien durchging, gewartet, dass ein Phantombild erstellt wurde. Dawn hatte sich alle Mühe gegeben, jedoch immer wieder beteuert, sich nur schwer erinnern zu können.
»Ich habe den Typen ja nur kurz gesehen. Und auch nicht so besonders auf ihn geachtet. Ich war ja viel mehr mit Linda beschäftigt. Und es ist auch schon eine Weile her …«
»Lassen Sie sich Zeit«, hatte Fielder immer wieder gesagt, »manchmal kommt das Gedächtnis einfach so nach und nach auf die Sprünge. Setzen Sie sich nicht selbst unter Druck!«
Dawn hatte niemanden in der Kartei gefunden, war sich aber bei fünf oder sechs Gesichtern unsicher gewesen.
»Der könnte es gewesen sein«, meinte sie, aber drei Bilder weiter schien ihr ein anderer noch wahrscheinlicher zu sein. »Nein, der hier. Obwohl … an so abstehende Ohren müsste ich mich doch erinnern? Oder hat er eine Mütze getragen?«
Schließlich wurde eine Zeichnung angefertigt, aber Dawn war so zögerlich bei der Angabe von Details, dass Angela nicht an den Wert des Bildes glaubte. Ihr selbst sagte das Gesicht nichts, überhaupt nichts.
»Nein. So jemanden kenne ich nicht. Mit so jemandem habe ich Linda auch bestimmt nie zusammen gesehen. Allerdings habe ich sie sowieso mit niemandem gesehen. Dieser neue Freund war ja offenbar ihr bestgehütetes Geheimnis.«
Als die beiden jungen Frauen schließlich gingen, war Inspector Fielder dennoch recht zufrieden gewesen. »Wir haben einen kleinen Ansatzpunkt«, sagte er, »und das ist auf jeden Fall besser als nichts.«
»Aber es ist so wenig, woran ich mich erinnern konnte«, hatte Dawn frustriert gesagt.
»Das ist normal«, meinte Fielder, »Sie haben ihn nur kurz gesehen, und es gab natürlich keine Notwendigkeit, sich ihn besonders einzuprägen. Aber jetzt ist Ihr Unterbewusstsein angestoßen, und möglicherweise findet noch die eine oder andere tief gespeicherte Erinnerung den Weg in Ihr Gedächtnis. Ich habe so etwas schon manchmal erlebt.«
Angela war nicht überzeugt gewesen, hatte sich dennoch mit viel Enthusiasmus bei Dawn bedankt. »Das war riesig nett von dir, Dawn, dass du so viel Zeit geopfert hast. Und du weißt, wenn dir noch irgendetwas einfällt, egal, wie klein und unbedeutend, dann rufst du mich an. Oder am besten gleich den Inspector.«
Dieser Gedanke kam ihr nun, während sie zum Telefon ging. Ob es Dawn war? Am Ende hatte sie noch irgendeinen Geistesblitz gehabt.
Der Wodkagestank im Wohnzimmer verschlug ihr fast den Atem. Sie nahm den Hörer auf. »Ja? Hallo?«
Es war tatsächlich Dawn. Ihre aufgeregte Stimme klang unnatürlich hell.
»Angela? Bist du es?«
»Ja. Was ist denn los?«
»Ich hab ihn gesehen!« Dawn quiekte fast. »Ich hab ihn gesehen! Lindas Freund. Ich bin mir ganz sicher. Und diesmal habe ich ihn mir ganz genau angeschaut!«
»Es war an fast derselben Stelle wie beim letzten Mal«, sprudelte Dawn los, als sie und Angela Inspector Fielder gegenübersaßen. Fielder hatte seinen Sonntag unterbrochen und war in sein Büro bei Scotland Yard gekommen. Er hatte noch ein wenig Tomatensoße in den Mundwinkeln, und Angela vermutete, dass es bei den Fielders Nudeln zum Mittagessen gegeben hatte. »Ganz nah bei dem Woolworth. Er saß auf dem Platz davor, auf dem Brunnenrand. Wenn dort richtig viel los gewesen wäre, hätte ich ihn wahrscheinlich gar nicht entdeckt. Aber heute ist ja das Kaufhaus geschlossen, und es liefen nur wenige Leute herum. Nur solche wie ich, die sich sonntags tödlich langweilen und einfach ziellos ein bisschen in der Stadt herumwandern.«
»Er saß auf dem Brunnenrand?«, fragte Fielder. »Könnte es sein, dass er immer noch… ?«
Dawn schüttelte bedauernd den Kopf. »Er stand gerade auf, als ich kam. Ich habe ihn in einer der Straßen verschwinden sehen.«
»Hat er Sie erkannt? Ist er deswegen…?«
»Ich glaube nicht. So wirkte er nicht. Er hat auch nicht zu mir herübergeschaut. Er hatte sich einfach ein paar Minuten lang die Sonne aufs Gesicht scheinen lassen und ist dann weitergeschlendert. So hatte es jedenfalls den Anschein.«
Fielder zündete sich eine Zigarette an, nachdem er den beiden Frauen das Päckchen hingehalten hatte und abschlägig beschieden worden war.
»Miss Sparks, Sie waren gestern bei einigen Kandidaten in unserer Kartei etwas unsicher. Würden Sie vielleicht noch einmal hineinschauen? Die Chance, jemanden zu erkennen, hat sich bestimmt vergrößert.«
Dawn nickte eifrig. »Wenn er da drin ist, finde ich ihn. Ich habe ihn mir jetzt ganz genau eingeprägt. Meine Güte, bestimmt wohnt er in der Ecke! Wer weiß, wie oft ich ihm in den letzten Monaten begegnet bin, ohne ihn zu beachten!«
Eine Viertelstunde später hatte sie ihn entdeckt.
»Das ist er«, sagte sie mit Bestimmtheit und deutete auf die brutale Visage eines dunkelhaarigen Mannes, dem keiner der Anwesenden allein im Dunkeln hätte begegnen mögen. »Hundert Prozent! Das ist er!«
»Ronald Malikowski«, sagte Fielder langsam, »sieh an!«
Angela betrachtete schaudernd das Gesicht des einstigen Freundes ihrer toten Schwester. Wie, um Himmels willen, hatte sich Linda mit einem solchen Typen einlassen können? Das Kriminelle in seinem Wesen sprang jeden Betrachter so deutlich an, dass kaum jemand hätte glauben können, ungeschoren davonzukommen, wenn er sich in den Dunstkreis eines solchen Menschen begab. Geschweige denn, zu seiner Geliebten wurde.
»Mein Gott!«, sagte sie unwillkürlich.
»Ja, ein feiner Bursche«, bestätigte Fielder. »Mehrfach vorbestraft. Rauschgift, Zuhälterei, Erpressung… Er war in eine Menge unsauberer Geschäfte verwickelt. Er geriet immer wieder an ziemlich liberale Richter – leider! Meiner Ansicht nach gehört ein Kerl wie er hinter Gitter, und zwar für eine lange Zeit!«
»Hatten Sie mit ihm zu tun?«, fragte Angela.
»Mehr als einmal«, knurrte Fielder, »und ich wäre nur zu glücklich, ihn endlich richtig zu fassen zu kriegen.«
»Zuhälterei!«, wiederholte Angela. »Das würde doch zu dem Fall Jane French passen! Schließlich arbeitete sie als Prostituierte!«
Fielder kratzte sich am Kopf. »Das stimmt. Allerdings …«, er hielt inne. Die beiden Frauen blickten ihn erwartungsvoll an.
»Malikowski ist ein Stück Scheiße«, sagte Fielder mit größter Direktheit, »ein absolut widerlicher Mistkerl mit einiger Gewaltbereitschaft. Das stimmt. Aber soweit ich das beurteilen kann, und ich habe einige Erfahrung, ist er kein Psychopath. Dieses stundenlange gezielte Foltern, dem Jane French und auch Linda Biggs zum Opfer gefallen sind, ohne dass offenbar mit diesen Folterungen ein Ziel verbunden wurde – das vermag ich mit meinen Erkenntnissen über Malikowski nicht recht in Einklang zu bringen.
Ich hätte auch geschworen, dass er sich immer vor einem Mord hüten würde.«
»Ja, meinen Sie denn nicht …?«, fragte Dawn enttäuscht.
Fielder lächelte ihr ermutigend zu. »Wir finden das heraus«, versprach er. »Sie haben uns wirklich sehr geholfen, Miss Sparks. Wir haben jetzt eine echte Spur. Wenn es nicht Malikowski selbst war, dann vielleicht jemand aus seinem Umfeld. Und wir haben jetzt ziemlich gute Karten, um den Typen zu erwischen!«
6
Marina kehrte gegen halb fünf von ihrer Fahrradtour zurück und fand, dass sie sich tapfer geschlagen hatte. Gegen elf am Vormittag war sie schließlich aufgebrochen, nachdem sie gefrühstückt, ausgiebig geduscht und im Haus dieses und jenes aufgeräumt und geordnet hatte. Schließlich hatte sie sich aufgerafft und war noch einmal in die Garage gegangen, neugierig, ob das seltsame Gefühl vom frühen Morgen sie noch einmal befallen würde. Diesmal jedoch hatte sie nicht den Eindruck, von irgendjemandem beobachtet zu werden, und so hatte sie jenes eigenartige Erlebnis – das, wie sie sich sagte, eigentlich gar kein Erlebnis gewesen war – schließlich endgültig abgehakt.
Von der Siedlung aus, in der sie lebte, gelangte man sehr rasch hinaus in eine ländliche Umgebung. Wie in vielen Großstädten waren auch in London die Übergänge zwischen Hochhäusern, Menschenmassen, brodelndem Verkehr einerseits und weiten Feldern, Wäldern und kleinen Dörfern andererseits manchmal jäh und seltsam abrupt. Marina hatte sich bald auf einer schmalen Landstraße befunden, die an einem Kanal, dessen Ufer links und rechts zu grasbewachsenen Dämmen aufgeschüttet waren, entlangführte. Es war ein gemütliches Dahingleiten, unterbrochen nur von ein paar unwesentlichen Steigungen und selten gestört von einem Auto. Dafür waren jede Menge anderer Radfahrer unterwegs, und natürlich, wie Marina schon befürchtet hatte, hauptsächlich Familien. Oder Paare. Sie traf nicht eine einzige einsame Frau, die so wie sie mutterseelenallein in der Gegend herumradelte. Die Welt war seltsam, fand sie. Die Medien berichteten von der Singlegesellschaft, in der man lebte und die, glaubte man Zeitungen und Fernsehen, zunehmend aus karrierebewussten, erfolgreichen, aber alleinstehenden Frauen und Männern zwischen dreißig und fünfzig bestand. Verließ man dann jedoch an einem sonnigen Vorfrühlingstag die eigenen vier Wände, so stieß man überall auf glückliche Familien, in denen sich mindestens drei Kinder tummelten.
Oder bin nur ich so blöd, hier entlangzuradeln?, fragte sie sich. Tun sich all die anderen Singles so etwas Dummes einfach gar nicht erst an? Bleiben sie entweder daheim oder gehen irgendwohin, wo man sicher ist vor all den glücklichen Familien und verliebten Paaren?
In einem Dorfgasthof hatte sie ein spätes Mittagessen zu sich genommen, obwohl sie es hasste, allein in einem Restaurant zu sitzen. Aber sie hatte Hunger und musste außerdem die Toilette benutzen. Als sie sich auf den Heimweg machte, stand die Sonne schon tief, und es war deutlich kälter geworden. Sie trat kräftig in die Pedale. Der Wind spielte in ihren Haaren, und die klare, frische Luft tat ihren Lungen gut. Es war schön, den ganzen Tag in Bewegung zu sein. Noch schöner wäre es, sich daheim nun zu zweit vor den Kamin zu setzen, ein Glas Wein zu trinken und sich auf den gemeinsamen Abend zu freuen.
Sie stellte ihr Fahrrad in der Garage ab und bemerkte das Ziehen in den Oberschenkeln, als sie zum Haus hinüberging. Morgen würde sie einen schmerzhaften Muskelkater haben. Gut so. Er würde sie wenigstens die ganze Woche über an ihre heroische sportliche Leistung vom Sonntag erinnern.
Sie schloss die Haustür auf und trat in den schmalen Flur, von dem rechts unmittelbar die gewundene Treppe nach oben führte.
»Ich bin wieder da!«, rief sie, obwohl niemand sie hören konnte. Sie würde sich jetzt eben allein ein Feuer im Kamin anzünden und eine Flasche entkorken. Sie wusste, dass der Alkohol schon zu sehr die Funktion eines Seelentrösters in ihrem Leben übernommen hatte, aber für den Moment sah sie keinen Weg aus diesem Problem.
Sie ging in die Küche, die nach hinten zum Garten hinaus lag. Eine altmodische Küche mit weiß lackierten Schränken und Möbeln, einem kleinen Sprossenfenster, vor dem blaue Gardinen hingen, und einer Tür, die in den Garten führte. Die Stufen dahinter waren so wackelig, dass es inzwischen fast lebensgefährlich war, sie hinunterzusteigen, weshalb Marina seit einiger Zeit den Garten nur noch durch das nebenan gelegene Esszimmer betrat. Gewohnheitsmäßig prüfte sie die Küchentür jedoch kurz und erschrak: Sie war nicht verschlossen.
»Verdammt«, fluchte sie leise. »Schon wieder!« Sie drehte den Schlüssel um und schob den Riegel vor. Es passierte ihr immer wieder, dass sie hier abzuschließen vergaß. Nach dem Frühstück warf sie stets ihre Brotkrumen hinaus auf die wackelige Treppe, für ein Taubenpärchen, das seit Jahren in ihrem Garten wohnte und schon immer sehnsüchtig auf diese Mahlzeit wartete. Allzu häufig ließ sie hinterher die Tür aus Versehen unverschlossen. Schon manchmal war sie von einem Arbeitstag zurückgekehrt und hatte festgestellt, dass wieder einmal jeder Einbrecher bequem hätte in ihr Haus spazieren können. Wobei noch nie etwas passiert war. Die Gegend war nicht ausgesprochen reich, und ihr Haus zählte sowieso nicht zu denen, die den Kontostand ihrer Besitzer offenbarten. Es hätte dringend einen neuen Anstrich gebraucht, und dass der Vorgarten noch nie die ordnende Hand eines ausgebildeten Gärtners gespürt hatte, stach ebenfalls ins Auge. Marina fand, man vermute in ihrem Haus eine Familie, die gerade so über die Runden kam, und das vermittelte ihr ein gewisses Sicherheitsgefühl.
Sie nahm eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank und schenkte sich ein Glas großzügig voll.
Dann ging sie ins Wohnzimmer hinüber, schaltete den Fernseher ein, um wenigstens irgendwelche Stimmen um sich zu haben. Es lief eine Reportage über Waisenkinder in Indien. Für Sekunden starrte sie auf den Bildschirm. Ein Kind …
Sie schaltete in ein anderes Programm um, in dem ein alter Spielfilm gezeigt wurde, und wandte sich dann dem Kamin zu. Ein schöner, steinerner Kamin, den ihr Exmann selbst gemauert hatte. Die Dunkelheit würde jetzt bald hereinbrechen, und ein Feuer würde Gemütlichkeit und Wärme verbreiten.
Gerade als sie niederkniete und einige der sorgfältig gestapelten Holzscheite aus dem Korb an der Wand nahm, hörte sie das Geräusch.
Es war das Knacken einer Fußbodendiele, und es kam von irgendwo oben im Haus. Wenn sie sich hätte festlegen sollen, hätte sie gesagt: aus ihrem Arbeitszimmer.
Sie richtete sich auf, lauschte nach oben. Alles war still.
Wahrscheinlich hatte sie sich getäuscht. Sie wollte mit ihrer Arbeit fortfahren, da vernahm sie das Geräusch schon wieder. Sie lebte lange genug in diesem Haus, um sicher zu sein, dass es sich um die Bodendielen handelte, und nun war sie auch überzeugt, dass es die in ihrem Arbeitszimmer sein mussten.
Sie sprang auf die Füße.
Nur ruhig, ermahnte sie sich, alte Häuser knacken manchmal, das bedeutet vielleicht überhaupt nichts.
Sie hatte sich ihre Hausschuhe noch nicht angezogen und tappte lautlos in Socken in den Flur hinaus. Direkt gegenüber der Wohnzimmertür schraubte sich die Treppe nach oben.
»Hallo?«, rief sie leise. Ihre Hand lag auf der Klinke der Haustür. Sie konnte jederzeit nach draußen stürzen und um Hilfe schreien. Sie hatte genügend Nachbarn. Irgendeiner würde sie hören.
Alles blieb still. Marina sagte sich, dass sie wohl hysterisch war. Es gab tausend Gründe, weshalb Dielenbretter knarren konnten.
Welche Gründe eigentlich?, fragte sie sich gleich darauf, und ihr wollte nicht einer einfallen, der sie überzeugt hätte.
Geh hinauf und sieh nach, ehe du den ganzen Abend nervös und ängstlich herumzappelst!
Kurz überlegte sie, ob sie rasch nach nebenan laufen und ihre Nachbarin bitten sollte, mit ihr zu kommen, aber dann kam ihr das doch zu lächerlich vor. Wahrscheinlich fanden sie nichts, aber in der ganzen Gegend würde man darüber sprechen, wie überspannt und altjüngferlich sie doch war.
Sie lebt schon zu lange allein. Das bekommt ihr nicht. Sie wird immer seltsamer. Na ja, so findet sie natürlich keinen Mann mehr!
Sie biss die Zähne zusammen, schaltete das Licht im Treppenhaus an und stieg mit einiger Entschlossenheit die Stufen hinauf. Ihr fiel wieder das seltsame Gefühl am frühen Morgen in der Garage ein, und die Tatsache, dass sie den ganzen Tag fort und die Küchentür unverschlossen gewesen war. Jeder hätte leicht in ihr Haus gelangen können. Aber wozu? Einbrecher kamen, um zu stehlen, nicht um sich versteckt zu halten und der Bewohnerin aufzulauern.
Oder doch? Vielleicht hockte dort oben ein Typ. der nicht auf Computer, Schmuck oder Bargeld scharf war. Sondern auf eine Frau.
Blödsinn, Marina, dich hat so lange keiner mehr angefasst, dass du schon Vergewaltigungsfantasien hegst, sagte sie grob zu sich, aber ihr Herz schlug weiterhin bis zum Hals. Hier oben saß sie in der Falle. Hier oben konnte sie nur hoffen, ein Fenster zu erreichen, es aufzureißen und in den Abend hinauszubrüllen.
Sie ging weiter.
Still und leer lag der obere Flur vor ihr. Vier Türen zweigten ab: zum Bad, zum Schlafzimmer, zu Kens einstigem Büro, das Marina in ein Gästezimmer umgestaltet hatte, und zu ihrem eigenen Arbeitszimmer. Dessen Tür befand sich direkt gegenüber der Treppe und war, im Unterschied zu den anderen Türen, nur angelehnt.
Hatte sie selbst die Tür am Morgen offen gelassen? War sie überhaupt im Arbeitszimmer gewesen? Sie wusste es nicht, und es schien auch sinnlos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Die Tür war halb offen, und das konnte an ihr liegen oder an irgendeinem anderen Umstand, und sie würde das jetzt herausfinden und nicht noch länger voller Angst hier am oberen Ende der Treppe verharren.
Sie holte tief Luft, richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und marschierte entschlossen den Gang entlang, stieß die Tür zu ihrem Arbeitszimmer auf und griff gleichzeitig zum Lichtschalter an der Wand. Sofort warf die Deckenlampe ihr strahlend helles Licht über den ganzen Raum.
Marina war trotz ihrer Angst überzeugt gewesen, niemanden anzutreffen. Letztlich war die Vorstellung, jemand könne in ihrem Haus herumlungern, einfach zu absurd.
Zu ihrem Entsetzen stand jedoch ein Mann mitten im Zimmer. Direkt unter der Lampe. Er blinzelte geblendet und starrte sie ebenso fassungslos an wie sie ihn.
Ein oder zwei Sekunden standen sie einander gegenüber. Marina realisierte, dass der Mann sehr groß und sehr jung war und ihr wahrscheinlich an körperlicher Kraft überlegen. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, aber gerade da machte der junge Mann einen Schritt auf sie zu und sagte: »Nicht! Bitte nicht schreien!« In seinen Augen flackerte Angst. Seine Stimme bebte.
»Was, zum Teufel …«, begann Marina, heiser vor Furcht und noch immer völlig perplex über der Erkenntnis, dass sich tatsächlich jemand während ihrer Abwesenheit in ihre Räume geschlichen hatte. So etwas passierte in Büchern. In Filmen. Nicht im wirklichen Leben.
Quatsch. Wieso nicht im wirklichen Leben? Neulich erst hatte sie gelesen, dass allein in Großbritannien alle zwei Minuten in ein Haus eingebrochen wurde. Es war wie mit Krankheiten, Unfällen und anderen Schicksalsschlägen: Man dachte stets, es träfe nur die anderen.
»Ich … die Tür war offen …«, sagte der Junge hastig. Sehr viel älter als ein Junge war ihr Gegenüber nämlich nicht, das begriff Marina nach und nach, jetzt, da sich die erste Panik legte.
»Die Tür war offen? Und da spazierst du einfach in ein wildfremdes Haus hinein? Das kann doch wohl nicht wahr sein!«
»Mir war so kalt.«
»Warst du heute früh in der Garage?«, fragte Marina.
Er nickte. »Ja. Aber irgendwann habe ich dort so gefroren, da bin ich um das Haus herum und habe geschaut, ob ich irgendwo hineinkomme. Na ja, und die Küchentür …«
»Du bist von zu Hause ausgerissen«, stellte Marina fest, »und ausgerechnet bei mir versteckst du dich. Hör zu, ich möchte jetzt wissen, wer …«
Er unterbrach sie. »Sind Sie Marina Dowling?«
»Ja. Aber …«
Er unterbrach sie erneut. Seine Augen saugten sich förmlich an ihr fest, und er sagte: »Ich bin Robert Hamilton. Ich bin Ihr Sohn.«
7
Der Anruf erreichte Rosanna, als sie und Marc sich bereits wieder auf den Rückweg nach London gemacht hatten. Es war später Nachmittag, und die Dämmerung legte sich über das Land. Sie waren in der Gegend von Langbury herumgefahren, hatten immer wieder Halt gemacht, waren durch Dörfer geschlendert, hatten sich umgesehen, als ob es eine Chance gäbe, der Gesuchten durch Zufall zu begegnen, und hatten versucht, mit zwei Dingen fertigzuwerden: mit der Tatsache, dass sie Elaine verpasst hatten, dass ihre eifrige, hektische Suche ins Nichts gelaufen war und dass es so aussah, als müssten sie endgültig aufgeben und sich mit einem auf ewig ungeklärten Fall abfinden. Zudem mussten sie auf irgendeine Weise mit den Gefühlen umgehen, die sie im anderen geweckt hatten und die am Strand offenbar geworden waren. Sie hatten kein einziges Mal mehr über das Geschehene gesprochen. Rosanna hatte Angst vor dem Moment, da dies passieren würde. Sie presste ihr Gesicht an die Fensterscheibe und sah hinaus in die vorüberrauschende, winterkahle Landschaft. Eines stand für sie fest: Sie durfte Marc Reeve nicht wiedersehen. Und sie musste so rasch wie möglich zurück nach Gibraltar. Dort war ihr Platz, und dort wurde sie gerade jetzt gebraucht. Elaine und ihr Schicksal waren Vergangenheit, ein Geheimnis, das sich nicht lösen ließ und das sie, Rosanna, auch nicht lösen musste. Dennis und Robert hingegen waren die Gegenwart, ihre Gegenwart. Und was ist deine Zukunft?, fragte sie sich. Die Antwort darauf mochte sie sich nicht geben. Sie war zu gefährlich.
Sie hatten die Grafschaft bereits verlassen und fuhren Richtung York, als Rosannas Handy klingelte. Sie riss es förmlich aus ihrer Tasche. Hoffentlich war es Dennis, der ihr mitteilte, dass Robert wieder daheim war, sicher und gesund.
»Ja?«, rief sie.
»Mrs. Hamilton, mein Gott, wo sind Sie? Wo sind Sie?«
Sie erkannte die Stimme nicht gleich, wusste aber, dass es nicht Dennis war. »Wer spricht denn da?«
»Ich bin's, Brent! Brent Cadwick!«
»Oh, Mr. Cadwick. Was gibt es denn?« Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Marc ruckartig den Kopf zu ihr wandte.
Mr. Cadwicks Stimme überschlug sich fast. »Ich habe sie! Elaine Dawson! Ich habe sie! Kommen Sie, so schnell Sie können! Beeilen Sie sich!«
Mr. Cadwicks Gesicht hatte eine ungesunde dunkelrote Farbe angenommen. Sein Blutdruck musste sich in gefährlichen Höhen bewegen. Er stand in der Eingangstür seines Hauses und trat von einem Fuß auf den anderen, als Marc und Rosanna mehr als eine Stunde nach dem Anruf bei ihm anlangten. Marc war schneller gefahren, als erlaubt, aber sie hatten zahlreiche Dörfer durchqueren müssen, in denen er das Tempo wenigstens ein bisschen hatte drosseln müssen, und einmal mussten sie tanken, weil sie sonst bestenfalls mit dem allerletzten Tropfen Benzin in Langbury eingerollt wären.
»Endlich!«, rief Mr. Cadwick aufgeregt. »Endlich! Mein Gott, wo waren Sie denn?«
»Schon fast daheim«, sagte Rosanna unwirsch. Sie traute Cadwick nicht. Der Typ brachte es fertig und zitierte sie in diese Weltabgeschiedenheit zurück, nur um ihnen dann zu erklären, Elaine sei leider schon wieder untergetaucht. »Also, Mr. Cadwick, wo ist sie? Wo ist Elaine Dawson?«
Er drohte ihr mit dem Finger. »Ich war ja eigentlich ganz schön böse auf Sie, Mrs. Hamilton! Das war gar nicht nett, heute früh einfach so davonzuschleichen, ohne sich zu verabschieden. Ich meine, gehört sich das denn?«
»Es ist Sonntag, und wir wollten Sie nicht so früh wecken«, sagte Marc. »Also, Mr. Cadwick, Miss Dawson ist wieder aufgetaucht?«
Cadwick senkte die Stimme und deutete mit dem Finger auf die Fenster seines Hauses im ersten Stock. »Da oben. Sie ist im Apartment. Ich habe sie eingeschlossen!«
Rosanna zuckte zusammen. »Eingeschlossen? Sie können sie doch nicht einfach einsperren!«
»Ja, glauben Sie, die hätte freiwillig hier gewartet, bis Sie beide endlich auftauchen?«, rief Cadwick. »Die wollte nur ihr Geld und dann gleich wieder verschwinden!«
»Welches Geld?«, fragte Marc.
»Die Kaution. Sie hatte ja noch zwei Monatsmieten Kaution bei mir hinterlegt. Die wollte sie haben. Braucht sie wohl für ihre neue Unterkunft. Na ja, und da habe ich es ganz schlau angefangen. Ich hab gesagt, oben sind noch Sachen von ihr, die hätte ich gefunden, und sie soll sie bitte abholen, und kaum war sie drinnen, habe ich schnell von außen abgeschlossen. Und dann hab ich Sie angerufen!«
»Das kann Ihnen eine Anzeige wegen Freiheitsberaubung und Nötigung einbringen«, sagte Marc.
Cadwick grinste. Er war immer noch dunkelrot im Gesicht. Dies war der Tag seines Lebens. »Die geht nicht zur Polizei. Jede Wette. Die nicht. Die hat selber zu viel Angst.«
»Können wir jetzt nach oben gehen?«, fragte Rosanna. »Wir möchten diese Frau ja nur kurz kennen lernen, dann soll sie um Gottes willen wieder ihrer Wege gehen.«
Cadwick zögerte. »Der andere Herr war auch schon oben«, nuschelte er.
Rosanna und Marc sahen einander an. »Welcher andere Herr?«
»Na, der von der Presse.«
»Von der Presse? Sie haben die Presse informiert?«, rief Rosanna.
Cadwick schien ein wenig ärgerlich. »Nein. Natürlich nicht. Die einzige Presse, mit der ich gesprochen habe, war Mr. Simon von Cover, und da wollte ich nur Ihre Telefonnummer haben. Nein, keine Ahnung, woher die Presse Wind von der Sache bekommen hat. Jedenfalls war da plötzlich einer.«
»Tony Harper«, sagte eine Stimme hinter ihm. Ein Mann tauchte aus dem schlecht beleuchteten Flur auf. Rosanna hätte nicht zu sagen vermocht, ob er da schon die ganze Zeit über gestanden hatte. Er trat neben Mr. Cadwick. »Daily Mirror. Wir haben heute Morgen einen Hinweis bekommen, dass hier eine Frau aufgetaucht ist, die seit Jahren als vermisst gilt.«
»Das gibt es doch nicht!«, sagte Rosanna fassungslos.
»Woher kam dieser Hinweis?«, fragte Marc scharf.
Harper zuckte mit den Schultern. »Lee Pearce. Private Talk. Die hat das irgendwie meinem Chef gesteckt. Keine Ahnung, woher sie das hatte. Jedenfalls soll ich herausfinden, ob es sich bei der Frau da oben«, er machte eine Kopfbewegung zum Stockwerk über sich, »ob es sich bei ihr um die gesuchte Elaine Dawson handelt. Deshalb schlage ich vor, wir gehen jetzt zusammen nach oben und Sie identifizieren sie. Dann verschwinde ich sofort. Ich muss mir sowieso noch ein Quartier suchen.«
»Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass wir jetzt mit Ihnen zusammen da hinaufgehen und die Frau, die dort oben wartet, als Erstes an Sie und Ihre Zeitung verkaufen«, sagte Marc. »Wer immer sie ist, und wie immer ihre Geschichte aussieht – es geht Sie nichts an!«
Tony grinste und tippte auf die große Umhängetasche, die an seiner linken Seite baumelte. »Ein Foto von ihr habe ich. Das heißt, wir kriegen raus, wer sie ist, so oder so. Sie könnten mir nur das Vorgehen etwas erleichtern, indem Sie mir jetzt sofort die gewünschte Auskunft geben.«
»Den Teufel werde ich tun!«, sagte Marc wütend. »Verschwinden Sie bitte! Andernfalls stehen wir die ganze Nacht hier, denn ich gehe bestimmt nicht mit Ihnen hinauf!«
Harper zuckte mit den Schultern. Er wirkte nicht einmal beleidigt. »Der Chef sagte schon, dass hier irgendetwas vertuscht werden soll. Mich stört das nicht, Mr. Reeve. Je dubioser Ihre Angelegenheiten, desto brisanter unsere Story. Wie gesagt, ich habe ein paar gute Bilder im Kasten, und was wir erfahren wollen, erfahren wir auch.« Er nickte Cadwick zu. »Wiedersehen, Mr. Cadwick. Ich suche mir jetzt hier irgendwo einen Platz zum Übernachten. Später komme ich vielleicht noch einmal zu Ihnen!«
Cadwick nickte eifrig. »Klar. Kommen Sie, wann immer Sie mögen!«
Kaum war Tony Harper in der Dunkelheit verschwunden, fuhr Rosanna zu Cadwick herum. »Sie haben Lee Pearce angerufen!«, rief sie. »Geben Sie es doch zu!«
Cadwick schüttelte den Kopf. Er wirkte tatsächlich betroffen. »Ich schwöre es, nein. Ich habe niemanden angerufen, nur Sie! Er stand heute am späten Nachmittag plötzlich vor der Tür und stellte mir eine Menge Fragen. Ich habe ihn hereingebeten, und noch während wir im Wohnzimmer saßen, kreuzte die Dawson auf. Ich setzte sie oben fest, und …« Er verstummte, peinlich berührt, wie es schien.
»… und da wollte Mr. Harper unbedingt hinaufgehen und ein Foto von ihr machen«, vollendete Marc, »und Sie hatten nichts Eiligeres zu tun, als ihm diesen Wunsch großzügig zu erfüllen.«
»Wie ist sie denn mit mir umgegangen?«, verteidigte sich Cadwick sofort. »Einfach abzuhauen und mich hier sitzen zu lassen! Nach allem, was ich für sie getan habe! Das war nicht nett! Ich bin menschlich sehr enttäuscht und …«
»Mr. Cadwick, könnten wir jetzt bitte hinaufgehen und Miss Dawson sehen?«, unterbrach Rosanna kühl.
Während sie hinter dem Alten die Treppe hinaufstiegen, flüsterte sie: »Was kann da passiert sein?«
Marc zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Nick Simon kommt wohl nicht in Frage?«
»Nick würde nicht die Konkurrenz auf den Fall ansetzen. Der würde selber hier auftauchen, aber nicht jemanden vom Daily Mirror schicken!«
»Stimmt. Aber außer uns beiden ist er der Einzige, der Bescheid weiß. Nein – deinem Bruder hast du es auch gesagt. Zumindest angedeutet.«
»Cedric? Der würde sich mit der Information nicht an die Presse wenden. Niemals.«
»Wir klären das später«, sagte Marc. »Jetzt haben wir anderes zu tun.«
Sie waren oben vor der Wohnungstür angekommen. Mr. Cadwick schloss auf. »Bitte sehr«, sagte er leise, »treten Sie ein. Sie kennen sich ja aus!«
Rosanna und Marc betraten die enge, dunkle Wohnung, aus der sie sich fast zwölf Stunden zuvor heimlich und leise auf Zehenspitzen davongestohlen hatten. Halb und halb hatte Rosanna erwartet, eine wutschnaubende junge Frau, Elaine oder wen auch immer, direkt hinter der Tür anzutreffen und von ihr aufgebracht zur Rede gestellt zu werden, aber niemand hielt sich im Flur auf, und es herrschte auch völlige Stille in den Räumen.
Hoffentlich ist sie nicht inzwischen aus einem der Fenster geklettert, schoss es Rosanna durch den Kopf, aber das wäre ein halsbrecherisches Unterfangen gewesen, und sie vermochte es sich nicht recht vorzustellen.
Gefolgt von Marc, trat sie in das Wohnzimmer. Nur die Stehlampe in der Ecke brannte dort und verbreitete ein schwaches, diffuses Licht.
Auf dem Sofa saß eine Frau. Sie trug einen dicken Parka, Schal und Handschuhe, so als sitze sie nicht seit bald zwei Stunden in dem Zimmer, sondern wolle jeden Augenblick wieder gehen – was ja auch den Tatsachen entsprach. Sie wandte den Kopf, als Marc und Rosanna ins Zimmer kamen, aber sie sagte nichts, sprang auch nicht auf. Sie sah die beiden nur an. Rosanna erkannte keine Wut in ihren Augen. Keinen Zorn, nicht einmal einen Funken von Ärger oder wenigstens Verwirrung. Da war nur Resignation. Ergebenheit. Vor ihnen saß ein Mensch, zusammengekauert und still, dem nur eines noch wirklich wichtig schien: kein Aufsehen zu erregen, so unauffällig und unbemerkt wie nur möglich durch das Leben zu gehen. Die Frau harte Angst, aber auch ihre Angst hatte ein Stadium erreicht, in dem kein Kampfeswillen mehr vorhanden war. Die Angst war längst ein Bestandteil von ihr geworden, so wenig abzulegen wie Arme oder Beine, Mund oder Nase. Die Angst flackerte nicht mehr. Sie hatte sich eingegraben und verwoben.
Und noch etwas erkannte Rosanna sofort: Bei dieser Frau handelte es sich nicht um Elaine Dawson.
8
»Ich muss deinen Vater anrufen«, sagte Marina, »er wird außer sich sein vor Sorge. Du verstehst das sicher?«
Er zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Muss das sein?«, fragte er mit unglücklicher Stimme.
Sie hatte immer noch weiche Knie und zittrige Hände. Hätte ein echter Einbrecher dort oben in ihrem Zimmer gestanden, sie hätte kaum fassungsloser und entgeisterter reagieren können.
Ihr Sohn. Robert. Der Junge, den sie zuletzt gesehen hatte, als er vier Wochen alt gewesen war – ein rosiges, weiches Baby mit einem feinen Flaum von Haaren auf dem Kopf. Ein unschuldiges Wesen, das sie nicht ärgern wollte, das aber ständig schrie, wenig schlief und immerzu Hunger hatte. Das eine ganze Skala von Panikgefühlen in ihr ausgelöst und sie in tagelange, hysterische Tränenausbrüche gestürzt hatte.
Sie saßen im Wohnzimmer. Robert hatte das Feuer im Kamin entzündet, während Marina drei große Butterbrote für ihn schmierte und Kakao kochte.
Ist Kakao für einen Sechzehnjährigen überhaupt richtig?, fragte sie sich, als sie in der Küche stand, zwischendurch ihren Weißwein hinunterkippte, um ihre Nerven unter Kontrolle zu bekommen, und merkte, dass ihre bebenden Finger kaum das Brotmesser halten konnten. Vielleicht sollte ich ihm auch einen Wein anbieten? Nein, keinen Alkohol. Was trinken die jungen Leute? Cola. Aber Cola habe ich nicht im Haus.
Letztlich hatte sich der Kakao als durchaus richtig erwiesen. Robert stürzte ihn hinunter und machte sich dann halb verhungert über die Brote her.
»Meine Güte«, sagte sie, während sie ihn dabei beobachtete, »warum hast du dir im Lauf des Tages nichts aus dem Kühlschrank geholt? Du hast wohl längere Zeit nichts gegessen?«
Er schüttelte den Kopf. »Seit gestern Mittag nicht. Aber ich wollte dich nicht beklauen.«
Ich bin aber doch deine Mutter, hätte sie beinahe gesagt, aber der Satz kam ihr schrecklich falsch vor. Wie sollte Robert sie denn als Mutter empfinden? Sie empfand sich ja selbst nicht so. Im Grunde waren sie zwei Fremde, die zusammen in einem Wohnzimmer saßen und nicht wussten, was als Nächstes geschehen würde.
Sie betrachtete ihn verstohlen. Er sah Dennis recht ähnlich, zeigte sogar bestimmte Bewegungen, die sie an ihre Jugendliebe aus lang vergangenen Tagen erinnerten. Von sich selbst konnte sie nichts an ihm entdecken. Er war hübsch. Hoch aufgeschossen. Wirkte sportlich. Aber auch sehr sensibel. Scheu.
»Wie hast du mich gefunden?«, fragte sie. Es gab keinerlei Kontakt mehr zwischen ihr und Dennis, seit Jahren schon nicht mehr.
Er sah auf. »Vor ein paar Jahren habe ich mal deine Adresse auf Daddys Schreibtisch gesehen«, erklärte er, »und ich habe sie mir abgeschrieben. Einfach nur so. Und jetzt habe ich gedacht, ich schaue dort mal nach. Ich dachte, vielleicht habe ich Glück und du wohnst noch hier.«
Sie entsann sich dunkel, dass sie Dennis ihre Anschrift mitgeteilt hatte, nachdem sie Ken geheiratet hatte und in dieses Haus gezogen war. Es musste acht Jahre her sein. Kurz und bündig hatte sie ihm geschrieben, sie habe geheiratet und wohne nun unter der angegebenen Adresse. Später hatte sie sich gefragt, weshalb sie ihm das überhaupt mitteilte. Sie wollte nichts von ihm. Als Robert drei Jahre alt war, hatte er ihr zu seinem Geburtstag ein paar Fotos des Kleinen geschickt, und sie hatte ihm geantwortet, er solle das nicht mehr tun, sie wolle dieses Kapitel ihres Lebens endgültig abschließen. Daraufhin harte Dennis sich nie mehr gemeldet. Ihr war klar gewesen, dass er sie für die gefühlloseste Mutter aller Zeiten hielt, aber sie hatte auch gewusst, dass sie mit der Tatsache, einen Sohn zu haben und ihn nicht in ihr Leben integrieren zu können, nicht anders umgehen konnte.
Acht Jahre. Roben musste die Adresse lange mit sich herumgetragen haben.
»Und du bist einfach zum Flughafen gegangen, hast ein Ticket gekauft und bist nach London geflogen?«, fragte sie. Sie fand, dies war eine erstaunlich selbstständige Handlungsweise für einen Sechzehnjährigen.
Er nickte, betont cool, aber sichtlich auch ein wenig stolz.
»So ähnlich. Ich habe ein elektronisches Ticket übers Internet gebucht. Musste ich mir am Flughafen nur noch ausdrucken lassen.«
»Wie hast du es bezahlt?«
Er sah gleich nicht mehr so selbstbewusst aus. »Mit Dads Kreditkarte. Ich gebe ihm aber alles zurück. Ich habe Geld auf meinem Sparbuch.«
»Die Karte brauchtest du dann aber am Flughafen. Das heißt, du bist mitsamt der Kreditkarte deines Vaters durchgebrannt.«
»Ich habe mir aber kein Geld mehr abgehoben. Ehrlich nicht. Ich hatte nur Angst, dass die mir kein Ticket verkaufen, wenn die sehen, dass ich erst sechzehn bin, und deshalb …« Er ließ die angefangene Erklärung unbeendet.
»Ganz schön clever«, sagte Marina, weil ihr nichts anderes dazu einfiel.
Robert schaute an ihr vorbei in die Flammen des Kaminfeuers. »Ich möchte nicht mehr zu Dad zurück. Es funktioniert nicht zwischen uns.«
»Was genau ist denn vorgefallen?«
»Eigentlich fällt dauernd etwas vor«, sagte Robert. »Er motzt nur an mir herum. Nichts findet er an mir in Ordnung. Nichts darf ich machen. Am liebsten würde er mich einsperren. Jetzt war es eine Party. Schulfeier der Abschlussklasse. Da gehen alle hin. Nur ich durfte mal wieder nicht. Weil es da Alkohol gibt, und Dad meint, ich steige hinterher mit irgendwem ins Auto und lasse mich an einen Baum fahren. Mann, als ob ich blöd wäre!« Er blickte Marina herausfordernd an.
»Statt zur Party bist du dann zum Flughafen gefahren«, folgerte sie.
»Weil ich mir das nicht mehr gefallen lasse. Im nächsten Herbst werde ich siebzehn! Wie lange will er mich denn noch als Baby behandeln? Und außerdem ist jetzt auch noch …« Er stockte.
»Was?«, fragte Marina.
»Rosanna ist weg. Jetzt ist es gar nicht mehr auszuhalten. «
»Rosanna?«
Robert schien überrascht. »Wusstest du nicht, dass Dad geheiratet hat?«
»Nein. Nein, davon hat er mir nichts geschrieben. Aber wir hatten ohnehin keinen Kontakt.«
»Also, vor fünf Jahren war das. Und Rosanna ist wirklich klasse. Viel offener als Dad, viel großzügiger. Meistens steht sie auf meiner Seite. Sie ist wirklich cool.«
»Und warum ist sie jetzt weg?«
»Sie war früher Journalistin. Sie hat jetzt einen Auftrag in England angenommen.«
»Aber dann kommt sie doch wieder!« Er sah sie an. »Nein. Ich glaube nicht.« »Weshalb glaubst du das?«
»Zwischen ihr und Dad stimmt es einfach nicht mehr. Sie streiten ständig. Und Rosanna ist unglücklich in Gibraltar. Sie ist unglücklich mit Dad.«
»Vielleicht wirkt das auf dich so. Vielleicht sehen aber dein Dad und Rosanna das ganz anders. Außerdem gibt es manchmal Phasen, in denen sich ein Paar nicht so gut versteht, und später funktioniert es dann doch wieder.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. So ist das bei denen nicht.« Übergangslos fragte er: »Bist du verheiratet?«
»Ich bin geschieden.«
»Siehst du. Manchmal kommt es eben nicht wieder in Ordnung«, sagte Robert.
»Das war eine ganz andere Geschichte. Hör zu, Robert, wie ich schon sagte: Ich muss deinen Vater anrufen. Er muss wissen, wo du bist.«
»Aber …«
»Ich mache mich sonst strafbar.« »Aber du bist meine Mutter.«
»Er hat aber das Sorgerecht. Abgesehen davon: Ich denke nicht, dass er es verdient hat, in solch eine Angst und Ungewissheit gestürzt zu werden. Das ist nicht in Ordnung. Ganz gleich, welche Probleme du mit ihm hast.«
Robert machte ein unzufriedenes Gesicht. »Ich möchte aber nicht zu ihm zurück.«
»Robert, du gehst doch dort zur Schule. Du hast deine Freunde da, dein ganzes Leben… du kannst nicht einfach so aussteigen. Nur weil dein Dad der Ansicht ist, du bist zu jung für Partys, auf denen Alkohol ausgeschenkt wird! Was ich, beiläufig gesagt, übrigens auch nicht so toll finde. Ich meine, Alkohol in deinem Alter. Ich bin nicht sicher, ob du bei mir größere Chancen hättest, mit so etwas durchzukommen.«
»Es ist auch… seine Art«, meinte Robert vage.
Marina konnte sich denken, was er meinte. Ihre Beziehung zu Dennis Hamilton hatte etliche Jahre gewährt. Sie kannte ihn. Er war, wie sie wusste, im Grunde ein guter Kerl, aber Diplomatie hatte nie zu seinen Stärken gehört. Er konnte sehr barsch und ruppig werden, wenn er Dinge durchsetzen wollte. Sie selbst war oft deswegen mit ihm aneinandergeraten. Für einen pubertierenden Jugendlichen war es mit Sicherheit noch viel schwerer.
»Bitte sag mir eure Telefonnummer«, beharrte sie dennoch, »ich muss ihn anrufen. Ich finde das auch über die Auskunft heraus, aber du könntest es mir leichter machen.«
»Okay«, sagte Robert widerwillig. Dann schaute er ihr plötzlich direkt in die Augen, und sie dachte auf einmal: die Augen. Die Augen hat er von mir.
Es war, als blicke sie in einen Spiegel. Es war faszinierend.
»Kann ich hierbleiben?«, fragte er. Sie erschrak. »Für heute Nacht?« »Für immer.« »Robert, ich …«
»Ich will nicht zu Dad zurück. Und ich habe sonst niemanden. Du bist meine Mutter. Ich dachte…«
»Was?«
»Ich dachte, du freust dich vielleicht, mich kennen zu lernen«, sagte Robert.
9
»Es tut uns leid«, sagte Rosanna zu Brent Cadwick. »Aber diese Frau ist nicht die Elaine Dawson, die wir suchen.«
Sie standen im Treppenhaus. Durch die Haustür, die zu schließen niemandem eingefallen war, drang beißende Kälte herein. Cadwick blickte enttäuscht drein. Die Sensation, auf die er gehofft hatte, hatte sich innerhalb weniger Sekunden in nichts aufgelöst.
Aber enttäuschter als ich kann er gar nicht sein, dachte Rosanna.
Sie fühlte sich plötzlich überwältigt von Müdigkeit – und von dem Gefühl tiefer Frustration. Sie merkte erst jetzt, wie sehr sie auf einen Erfolg gehofft hatte. Als es den Anschein hatte, dass sie die Suche abbrechen mussten, weil sie Elaine haarscharf verpasst hatten, war sie auch traurig gewesen, aber da hatte es immer noch den Gedanken gegeben: Vielleicht ist sie es. Und vielleicht gibt es doch noch eine Chance, sie zu finden.
Nun stand fest: Sie waren einer falschen Fährte gefolgt. Ein konkreter Hinweis, wundersam genug nach fünf Jahren, hatte sich als Irrtum erwiesen. Eine Frau, die zufällig denselben Namen trug und eine vage Ähnlichkeit mit der Gesuchten aufwies, mehr war es nicht. Sie standen mit ebenso leeren Händen da wie zuvor.
Das Rätsel würde sich wohl nie mehr lösen lassen.
»Aber«, sagte Cadwick trotzig, als könne er durch Hartnäckigkeit irgendetwas an den Tatsachen ändern, »diese Frau ist doch wirklich merkwürdig!«
»Das ist sie«, gab Rosanna zu. Der seltsame Blick, die Angst … mit der Frau stimmte zweifellos etwas nicht.
»Aber das macht sie noch nicht zu der von uns gesuchten Person«, sagte Marc.
»Ich hatte es gut gemeint«, sagte Cadwick.
»Wir sind Ihnen auch wirklich dankbar«, räumte Rosanna widerwillig ein.
Unschlüssig standen sie herum.
Nach London kommen wir heute nicht mehr, dachte Rosanna müde und im nächsten Moment: Ich muss es unbedingt noch einmal telefonisch bei Dennis versuchen.
Sie vernahmen schleppende Schritte und wandten sich um. Die Frau, die Elaine Dawson hieß, kam langsam aus der Wohnung.
»Ich kann dann gehen?«, fragte sie.
Rosanna wunderte sich, wie sie so demütig und fast unterwürfig sein konnte. Cadwick hatte sie eingesperrt. Er hatte zuerst einen Journalisten auf sie losgelassen und dann zwei wildfremde Menschen auf sie gehetzt, die – verwirrend und seltsam für sie – offensichtlich jemand ganz anderen vorzufinden erwartet hatten. Rosanna hätte sich kein bisschen gewundert, wenn die Fremde getobt und geschimpft, Aufklärung und sodann jede Menge Entschuldigungen verlangt hätte. Sie hätte sogar mit einer Anzeige drohen können. Stattdessen schien sie immer kleiner und unscheinbarer zu werden und keinen anderen Gedanken zu hegen als den, möglichst ohne weiteren Schaden zu nehmen aus dieser Situation herauszukommen. Sie wirkte wie ein Mensch, der sich am liebsten aufgelöst hätte. Jeder ihrer Blicke schien zu sagen: Ich bin nicht da! Vergesst mich ganz schnell. Ihr habt mich nie gesehen. Es gibt mich überhaupt nicht!
»Natürlich können Sie gehen«, sagte Rosanna anstelle von Brent Cadwick, der diese Antwort eigentlich hätte geben müssen. Er schwieg jedoch und starrte mürrisch zu Boden. »Es tut uns sehr leid, was vorgefallen ist. Sie sind das Opfer einer Namensgleichheit geworden, aber das alles hätte natürlich nie so weit gehen dürfen. Es tut mir wirklich leid.«
Die Frau sah sie an. Ihre Augen waren dunkel von Angst. »Ein Mann hat mich fotografiert«, sagte sie mit leiser Stimme. »Gehört er auch zu Ihnen?«
Rosanna schüttelte den Kopf. »Ein Journalist«, sagte sie, »wir wissen, woher er den Tipp bekommen hat, aber ich habe keine Ahnung, wo bei uns die undichte Stelle war. Ich werde versuchen, es herauszufinden, aber bislang tappe ich völlig im Dunkeln.«
Die Augen der Frau weiteten sich ein wenig. »Ein Journalist?«, fragte sie, plötzlich Atemlosigkeit in der Stimme.
»Vom Daily Mirror, ja. Aber …«
»Was will er? Was will er mit dem Foto?«
Rosanna spürte die aufkommende Panik bei ihrem Gegenüber. Sie legte der Fremden die Hand auf den Arm. »Vermutlich gar nichts«, sagte sie beruhigend, »denn Sie sind ja nicht die Person, um die es uns allen ging. Ihr Foto dürfte damit gar keinen Wert für die Presse haben. Selbst wenn es jemand veröffentlicht, wird sich schnell herausstellen, dass …«
»Was heißt: wenn es jemand veröffentlicht? Was heißt das? Heißt das, dass …«
»Wahrscheinlich wird niemand …«, setzte Marc beruhigend an, aber die junge Frau, die auf einmal nichts mehr mit der erstarrten Person zu tun hatte, die sie gerade noch gewesen war, unterbrach ihn sofort: »Wahrscheinlich? Wahrscheinlich? Ich kann mich nicht auf ein Wahrscheinlich einlassen! Ich muss sicher sein, absolut sicher, dass mein Foto nicht in einer Zeitung erscheint! Verstehen Sie? Absolut sicher!«
Sie war kalkweiß im Gesicht. »Es ist wichtig!«, rief sie. »Es ist sehr wichtig! Sie haben ja keine Ahnung …«
Und zu Rosannas Schrecken brach sie in Tränen aus, in ein lautes, verzweifeltes Schluchzen, und dann rutschte sie langsam mit dem Rücken an der Wand entlang zu Boden, krümmte sich zusammen und blieb weinend und zitternd auf den schmutzigen Dielen liegen.
Irgendwie hatten sie sie die Treppe hinunter – und ins Auto geschafft. Es war klar, dass sie sie nicht einfach liegen lassen und verschwinden konnten. Zudem hatte Rosanna den Eindruck, was immer diese junge Frau, die Elaine Dawson hieß, ihnen zu erzählen hatte, es sollte nicht in Gegenwart Brent Cadwicks geschehen. Diesem stand die Sensationsgier allzu deutlich ins Gesicht geschrieben, und man konnte nicht wissen, was er mit den Informationen anfangen würde, die er bekam. Noch immer hatte Rosanna ihn im Verdacht, Lee Pearce verständigt zu haben. Sie hatte keine Ahnung, wovor die Fremde solche Angst hatte, aber bei Brent Cadwick war ihr Geheimnis jedenfalls am schlechtesten aufgehoben.
Cadwick hatte natürlich sein Wohnzimmer angeboten und war dann, als er begriff, dass er seine Besucher nicht würde aufhalten können, in wüste Beschimpfungen ausgebrochen. Er lamentierte über mangelnde Dankbarkeit, fehlenden Respekt und die allgemeine Gefühlskälte in der Gesellschaft, aber niemand kümmerte sich darum. Marc schaffte es, die Fremde, deren Ausbruch völlige Apathie folgte, vorsichtig auf dem Rücksitz seines Wagens zu platzieren, und Rosanna setzte sich neben sie.
Cadwicks Fluchen ignorierend, starteten sie in die Nacht. Rosanna blickte angestrengt durch das Rückfenster, um sicher zu sein, dass nicht Tony Harper noch irgendwo herumlungerte und ihnen zu folgen versuchte, aber offenbar hatte sich dieser vorläufig getrollt. Es blieb jedenfalls alles still und dunkel, und so durften sie hoffen, dass außer dem tobenden Cadwick niemand ihren Aufbruch mitbekam.
Sie fuhren etwa zwanzig Minuten lang durch die Nacht, ohne dass einer im Wagen ein Wort sagte, dann bog Marc unvermittelt in einen schmalen Feldweg, der von der Landstraße abzweigte und den er im Licht der Scheinwerfer plötzlich erspäht hatte. Das Auto rumpelte ein Stück weit über Steine und andere Unebenheiten hinweg, dann hielt es an. Marc schaltete die Scheinwerfer und den Motor aus und die Innenbeleuchtung ein.
Er drehte sich zu den beiden Frauen um.
»Kein sehr idyllischer Platz, ich weiß«, meinte er entschuldigend, »aber immerhin außerhalb der Reichweite des unangenehmen Mr. Cadwick. Ich denke, ehe wir weiterfahren, sollten wir uns unterhalten. Darüber, ob Miss Dawson überhaupt mit uns fahren möchte. Oder wo wir sie absetzen sollen. Oder vielleicht …« Er zögerte kurz, fuhr dann fort: »Oder Sie sagen uns, wovor Sie solche Angst haben, Miss Dawson. Ich meine … in gewisser Weise sind wir schuld an der Sache mit dem Journalisten, auch wenn wir ihn wirklich nicht auf unserer Fährte haben wollten. Aber vielleicht können wir Ihnen helfen, falls das alles größere Unannehmlichkeiten für Sie nach sich zieht.«
Die Frau reagierte nicht. Sie starrte an ihm vorbei, abwesend, so als sei sie gar nicht da.
Rosanna griff nach ihrer Hand, stellte fest, dass diese eiskalt und schlaff war. »Miss Dawson – Elaine, vielleicht müssen wir Ihnen zuvor ein paar Dinge erklären. Wie Sie sicher schon begriffen haben, sind Sie Opfer einer Verwechslung geworden. Wir suchen händeringend eine Frau, die vor fünf Jahren verschwunden ist und die ebenfalls Elaine Dawson heißt. Mr. Cadwick hat sich aufgrund einer Fernsehsendung bei mir gemeldet und behauptet, die gesuchte Person lebe bei ihm zur Untermiete. Deshalb sind Mr. Reeve und ich von London hierhergekommen. Aber wie sich herausgestellt hat, heißen Sie zwar Elaine Dawson, aber …«
Die Fremde reagierte nun doch. Zum ersten Mal, seit sie in Brent Cadwicks Treppenhaus weinend zusammengebrochen war, bewegte sie sich aus eigenem Willen. Sie wandte den Kopf und sah Rosanna an. Ihre Augen hatten noch immer den erschreckenden Ausdruck von Leere, aber etwas in ihr schien sich zu verändern. Ein Anflug von Leben war spürbar, der Wunsch, sich nicht länger zu verstecken.
»Ich heiße nicht Elaine Dawson«, sagte sie, und dann stieß sie plötzlich blitzschnell die Wagentür auf.
»Nicht! Hier kommen Sie nicht weit!«, rief Rosanna, die glaubte, die andere wolle davonlaufen, erschrocken.
Aber die Frau wollte nicht entkommen. Sie lehnte sich hinaus und erbrach sich auf den steinigen Feldweg, würgend und zitternd, und wieder und wieder.
Als sie fertig war, blieb sie schwer atmend sitzen, griff aber nach dem Taschentuch, das Rosanna ihr reichte, und tupfte sich damit den Mund ab.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie schließlich.
Wieder sah sie Rosanna an. »Ich heiße Pamela«, sagte sie, »Pamela Luke. Der Name Elaine Dawson war meine Tarnung in den letzten Jahren.« Sie griff in ihre Handtasche, kramte darin herum. Sie fand, was sie suchte, und warf es Rosanna in den Schoß: einen britischen Pass.
Rosanna schlug ihn auf und meinte, ihren Augen nicht trauen zu können.
»Das gibt es nicht!«, keuchte sie.
»Was denn?«, fragte Marc.
Fassungslos starrte sie auf das Dokument. Es war kein Zweifel möglich: das Foto, die Daten…
Sie hielt die Ausweispapiere der vermissten Elaine Dawson in den Händen.