Donnerstag, 21. Februar

 

1

 

Der Zauber verlor sich nicht am nächsten Morgen, obwohl der Tag grau und neblig erwachte und ohne eine Spur der Sonne, an die man sich schon gewöhnt und die man als dauerhaften Sieg des Frühlings über den Winter empfunden hatte. Plötzlich schien der November zurückgekehrt. Die noch kahlen Bäume fielen wieder auf, die Farblosigkeit der Stadt. Der Nebel dämpfte alle Geräusche. Jeder Blick aus dem Fenster ließ frösteln. Es würde nass und kalt draußen sein, und in den U-Bahnen und Bussen würde es von Erkältungsviren wimmeln.

Rosanna und Marc hatten den Wohnzimmerfußboden irgendwann in der Nacht verlassen und sich in Marcs Bett eng aneinandergekuschelt, sie hatten einander immer wieder geliebt, dazwischen geredet, geschlafen, und einmal hatte Rosanna geweint, ohne genau zu wissen, weshalb. Marc hatte keine Fragen gestellt. Er schien zu wissen, dass sie selbst keine Worte fand für die Spannung in sich.

Sie standen um halb sieben auf, weil Marc einen Gerichtstermin hatte. Rosanna entdeckte ein paar Muffins, die noch von dem Frühstück mit Pamela stammten, im Eisfach des Kühlschranks.

Marc nahm zwei heraus und schob sie in die Mikrowelle, ließ zwei Tassen Kaffee durch seine Maschine laufen.

»Wie ungewohnt«, sagte er, »Frühstück für zwei. Das hatte ich lang nicht mehr.«

»Du hattest nie eine Frau hier über Nacht, seitdem du geschieden bist?«

Er lächelte. »Hier in dieser Wohnung tatsächlich nicht.

Im ersten halben Jahr nach der Trennung gab es ein paar Frauen, aber das war noch im alten Haus. Irgendwann hatte ich keine Lust mehr auf One-Night-Stands. Letztlich fühlt man sich danach leerer, als wenn man gleich allein bliebe. Mir geht es jedenfalls so.«

Sie rührte langsam in ihrer Tasse. »Und wie empfindest du das, was zwischen uns war?«

»Ich hoffe«, sagte Marc ernst, »dass die letzte Nacht nicht alles war.«

»Ich muss heute eigentlich nach Taunton.«

»Und wenn du wartest bis morgen? Heute komme ich nicht aus meinen Terminen heraus, aber morgen bin ich ab fünf Uhr frei. Ich könnte mitkommen, wenn du das möchtest.«

»Nach Kingston St. Mary?« »Hättest du etwas dagegen?« »Mein Vater …« »Er wäre schockiert?«

»Er hat keine Ahnung, dass es zwischen mir und Dennis nicht mehr stimmt. Ich muss ihm das langsam beibringen. Er ist erst seit wenigen Monaten Witwer und fängt gerade an, diesen Verlust zu verarbeiten. Und da komme ich und erkläre ihm, dass meine Ehe gescheitert ist!« Sie sah Marc unglücklich an. »Es wird ihn sehr treffen. Mein Vater hat … sehr konservative Wertvorstellungen.«

»Ich verstehe«, sagte Marc. Er lehnte mit dem Rücken an einem Küchenschrank, Rosanna hatte sich ihm gegenüber auf die Theke geschwungen. Es war, wie sie vermutet hatte: Marc frühstückte im Stehen in seiner Küchenzeile.

»Pass auf, ich schlage dir etwas vor«, sagte er. »Du fährst nach Kingston St. Mary. Allein. Besuchst deinen Bruder und deinen Vater. Versuchst für dich zu klären, wie es weitergehen soll. Was du als Nächstes tun willst. All diese Dinge. Nimm dir Zeit dafür.«

»Ich finde es sehr schwer, jetzt von dir wegzugehen.«

»Glaubst du, mir fällt es leicht, dich gehen zu lassen? Aber du hast eine Familie. Deinen Mann und deinen Stiefsohn. Für mich ist es leichter, mich auf dich einzulassen. Du musst einen weit gewichtigeren Schritt tun. Vielleicht brauchst du einfach ein paar Tage Ruhe.«

Sie wusste, dass er recht hatte. Aber der Gedanke, ihn zurückzulassen, tat überraschend heftig weh.

»Du kannst meinen Wagen haben«, sagte Marc, »ich brauche ihn weder jetzt noch über das Wochenende.«

»Aber …«

»Bitte, nimm ihn. Wenigstens zwingt dich das …«

»Wozu?«, fragte Rosanna, als er nicht weitersprach.

Er stellte seine Kaffeetasse ab, nahm Rosanna die ihre sanft aus der Hand. Er presste sich an sie, vergrub sein Gesicht an ihrem Hals.

»Es zwingt dich, zu mir zurückzukommen«, flüsterte er, »denn schließlich kannst du nicht mit einem Auto durchbrennen, das dir nicht gehört. Komm irgendwann in der nächsten Woche wieder. Bitte. Länger werde ich es nicht aushalten können.«

 

Nachdem Marc die Wohnung verlassen hatte, spülte Rosanna die Tassen ab, räumte sie in den Schrank. Sie ging ins Schlafzimmer hinüber, um das Bett zu machen, drückte ein paar Sekunden lang ihre Nase in das Laken, roch den Duft, der von ihrer Nacht mit Marc geblieben war. Sie erinnerte sich an den gestrigen Tag, an dem sie sich so sehr danach gesehnt hatte, in das Dorf ihrer Kindheit zu fliehen, sich in ihrem Elternhaus zu verkriechen, nach den vergangenen Tagen ihren Frieden wiederzufinden. Nichts war von diesem Bedürfnis geblieben, es war über Nacht vollständig in sich zusammengefallen. Sie war voller Schuldgefühle bei dem Gedanken an ihren Bruder, der verletzt und zerschlagen im Krankenhaus lag, aber es drängte sie nicht mehr zu ihm hin. Sie wollte nichts, als bei Marc bleiben. Wollte ihn erwarten, wenn er am Abend zurückkehrte. Wollte mit ihm in das bunte Londoner Nachtleben eintauchen, irgendwo etwas essen, einen Wein trinken. Arm in Arm mit ihm zurücklaufen. Die ganze Nacht in seinen Armen liegen.

Sie ging ins Bad hinüber, schaute im Spiegel in ihre Augen. Sie waren groß und glänzend.

»Schöner Mist«, sagte sie, »dich hat es komplett erwischt. «

Nachdem sie jede Menge sinnloser Dinge getan hatte, die im Augenblick überhaupt nicht anstanden – imaginären Staub im sauberen Bücherregal gewischt, den spärlichen Inhalt des Wäschekorbs im Bad in die Waschmaschine gesteckt, den fast leeren Müllbeutel hinuntergebracht –, gab sie es auf, sich selbst vorzumachen, sie werde irgendwann im Lauf des Tages noch nach Taunton aufbrechen. Sie schaffte es nicht. Nicht nur, weil sie die Trennung von Marc fürchtete. Sie hatte Angst vor allem, was sie erwartete: Telefonanrufe von Dennis und Rob, die sanften Vorhaltungen ihres verstörten Vaters, Cedrics Warnungen. Wie musste das alles auf die anderen wirken? Sie hatte ihr Unbehagen der letzten Jahre so erfolgreich geheim gehalten, manchmal sogar sich selbst gegenüber nicht zugelassen, dass jeder denken musste, sie werfe eine glückliche Ehe hin für eine kurze Sexaffäre. Zumindest fast jeder. Cedric hatte etwas gemerkt. Aber alle anderen … Man würde sie für verrückt halten. Niemand würde sie verstehen. Sie würde sich das ganze Wochenende über rechtfertigen und am Ende doch keine Absolution bekommen.

Sie machte sich schließlich einen heißen Tee, und während sie ihn in kleinen Schlucken, am Fenster stehend, trank, dachte sie nach.

Cedric braucht mich im Moment nicht. Er hat Daddy, der sich um ihn kümmert. Rob ist bei seiner Mutter, und auch wenn er sich dort nicht sonderlich wohl fühlt, ist der Aufenthalt wichtig für ihn. Dennis macht seine Arbeit und rechnet ohnehin damit, dass ich noch eine Weile in England bleibe. Er erwartet mich nicht so bald. Den Auftrag für Nick habe ich abgebrochen. Um Pamela Luke kümmert sich Scotland Yard, und wenn mit ihr wirklieb irgendetwas nicht in Ordnung ist, so ist das zumindest nicht meine Sache.

Sie war frei. Im Grunde war sie frei zu tun, was sie mochte. Zum ersten Mal seit langer Zeit. Frei von ihrem Job als Ehefrau und Mutter. Frei von ihrem Job als Tochter und Schwester. Frei von ihrem Job als Journalistin.

Und plötzlich wusste sie, was sie tun wollte. Etwas, wozu sie nicht verpflichtet war. Was niemand von ihr erwartete. Am wenigsten Marc.

Sie kippte den restlichen Tee in die Spüle, zog ihre Stiefel und ihren Mantel an, bürstete sich noch einmal kurz über ihre Haare, die sich bei dem feuchten Wetter heute besonders widerspenstig aufführen würden.

Sie nahm den Autoschlüssel und verließ die Wohnung.

 

2

 

Sie hoffte, dass sie sich an den Namen richtig erinnerte. Marc hatte ihn nur einmal erwähnt. Binfield Heath.

In Marcs Autoatlas hatte sie den Ort bald gefunden. Binfield Heath, nicht weit von Henley-on-Thames gelegen. Dort war sie früher schon manchmal gewesen. Es war zehn Uhr, als sie auf die M40 Richtung Oxford fuhr.

Schon bald verließ sie den Motorway wieder und suchte sich den Weg über Landstraßen durch idyllische kleine Dörfer und Städtchen, die entlang der Themse lagen. Der Nebel war nicht mehr so dicht wie am frühen Morgen, aber noch immer woben sich seine dunstigen Schleier über Wiesen und Mauern, über schwarz glänzende, nasse Baumäste, über Hausdächer, Ställe und Weiden. Immer wieder sah sie plötzlich Kirchen auftauchen oder gemauerte Gehöfte, die inmitten weiter Wiesen ruhten. Ein paar Mal gewahrte sie den Fluss, einmal einen großen schwarzen Schleppkahn, der langsam und fast majestätisch über das Wasser glitt. Der Nebel ließ ihn, genau wie die Dörfer und Wälder ringsum, melancholisch und einsam erscheinen. Die Welt war nass, still, wie ausgestorben. Immer wieder wurde Rosanna von einem Frösteln befallen, das nicht von eigentlicher Kälte herrührte, denn die Heizung funktionierte zuverlässig. Es war die Stimmung ringsum, die sie frieren ließ. Sie wusste, dass sie durch eine der schönsten Gegenden Englands fuhr und dass die Dörfer im Sommer oder auch nur bei klarem Wetter ein Traum waren. Am heutigen Tag waren sie einfach nur trostlos. Sie hätte doch auf der Autobahn bleiben sollen.

Sie passierte die Orte Marlow, Henley und Shiplake. Der nächste Ort war Binfield Heath.

Ein kleines Dorf, das an diesem grauen Tag, der keine Sicht zuließ, nur wie eine zufällige Ansammlung einiger weniger Häuser irgendwo in der Landschaft wirkte. Vermutlich kletterten Straßen und Wohnhäuser die Hügel ringsum hinauf, aber sie verschwanden völlig hinter den grauen Schleiern. Es gab eine Kreuzung im Dorfkern, an der ein wuchtiges Backsteingebäude stand, das einen Laden und ein Postamt zu beherbergen schien, und es sah so aus, als handele es sich dabei um die einzigen Geschäfte am Platz. Ein Schild wies darauf hin, dass man im Sommer im angrenzenden Garten Tee trinken konnte und Gebäck serviert bekam.

Hübsch, dachte Rosanna. Sie parkte vor dem Haus und beschloss, sich dort nach Jacqueline Reeve zu erkundigen. Sie vermutete, dass in diesem Dorf jeder jeden kannte und dass der Laden, vor dem sie stand, Mittelpunkt und Umschlagplatz aller Nachrichten und Informationen war.

Kälte und Nässe schlugen ihr unangenehm entgegen, als sie das warme Auto verließ. Für einen Moment zögerte sie. War es verrückt, was sie tat? Noch konnte sie umkehren. Binfield Heath und Jacqueline Reeve unbehelligt lassen. Und nicht nur das. Sie konnte nach London zurückfahren, Marcs Auto wieder vor seinem Haus abstellen, ihren Koffer nehmen und sich in den Zug nach Taunton setzen. Dad und Cedric besuchen und dann gemeinsam mit einem wahrscheinlich überglücklichen Rob zurück nach Gibraltar fliegen. Das alte Leben wieder aufnehmen. Ihr Zwischenspiel in England, Elaine, Pamela, Pit Wavers und Marc vergessen.

Ich bin wahnsinnig, wenn ich das nicht tue, dachte sie, und mit einem plötzlich fast panischen Gefühl fügte sie hinzu: Vielleicht verliere ich völlig die Kontrolle.

Trotzdem verriegelte sie den Wagen, schlug den Mantelkragen hoch und betrat den Laden, in dem es von Tee und Kaffee über Nägel und Schrauben bis hin zu Zeitungen und Postkarten alles gab, was zum täglichen Bedarf der Bevölkerung gehörte. Hinter der Theke stand eine junge Frau, die ein wenig gelangweilt in einer Illustrierten blätterte. Wie zu erwarten gewesen war, kannte sie Jacqueline Reeve.

»O ja, ich weiß, wo sie wohnt! Sie ist eine wirklich begabte Malerin! Wir sind hier recht stolz auf sie!« Sie musterte Rosanna neugierig. »Sind Sie eine Galeristin?«

»Nein. Es geht eher um eine … private Angelegenheit.«

»Ach so.« Die Verkäuferin schien etwas enttäuscht. »Also, von hier aus können Sie problemlos zu Fuß zu ihr gehen. Ein kleines Stück die Straße entlang, dann gleich rechts. Das dritte Haus auf der linken Seite. Dort wohnt sie.«

»Und wo ist ihr Atelier?«

»Im selben Haus. Es ist wirklich ganz einfach.«

Vielleicht würde ich umkehren, wenn es nicht so einfach wäre, dachte Rosanna, als sie wieder draußen stand.

Fünf Minuten später langte sie vor Jacquelines Atelier und Wohnhaus an. Ein uraltes, sehr kleines Häuschen mit weiß gekalkten Wänden, einer leuchtend rot lackierten Eingangstür und einem tief gezogenen Strohdach. Es gab einen winzigen Vorgarten, in dem ein Meer von Krokussen wuchs. An der Hauswand war ein Spalier befestigt, an dessen Fuß ein zurückgeschnittener Rosenstrauch stand. Im Sommer mussten seine Blüten die gesamte Vorderfront überwuchern.

Die Idylle war perfekt, aber der Unterschied zu London, zu dem Haus in Belgravia, dem einstigen Wohnsitz der Reeves, drängte sich Rosanna so heftig auf, dass sie schlucken musste. Dieses Haus hier in Binfield Heath vermittelte ein so völlig anderes Lebensgefühl, stand für eine ganz andere Welt, eine andere Lebensweise. Wie mochte der kleine Josh diese jähe Veränderung empfunden haben?

Sie öffnete das Gartentor, ging über nasse, unregelmäßig geformte graue Steine zur Haustür. Auf ihr vorsichtiges Klopfen reagierte niemand, dafür gab die Tür nach, als sie vorsichtig dagegendrückte. Ein leises Bimmeln ertönte. Rosanna stand in einem kleinen Vorraum, an dessen Wänden etliche Bilder hingen. Ausnahmslos schien es sich um Motive aus der Gegend zu handeln. Eine Weide am Fluss. Ein paar Hügel in dunstigem Morgenlicht. Ein Segelboot auf der Themse. Die Aquarelle hätten kitschig anmuten können, taten es jedoch nicht. Rosanna dachte, dass sie einfach nur schön waren. Jedes davon hätte sie sofort in ihrem Zimmer aufgehängt.

Die Luft war gesättigt mit dem Geruch nach Farbe und Terpentin. Ein dicker, dunkelgrüner Vorhang verhinderte den Blick in das angrenzende Zimmer. Irgendwo spielte leise Klaviermusik.

»Ja bitte?« Eine Frau trat durch den Vorhang und sah Rosanna an. Sie trug über einem dunkelgrauen Rollkragenpullover und Jeans ein bis zu den Knien reichendes weißes Männerhemd, das über und über mit Farbspritzern und Klecksen bedeckt war. Ihre dunklen Haare hatte sie am Hinterkopf zusammengezwirbelt und mehr schlecht als recht mit etlichen Spangen fixiert. Sie war völlig ungeschminkt.

Trotzdem war sie eine der schönsten Frauen, die Rosanna je gesehen hatte.

Sie musste schon wieder schlucken. Wer hätte gedacht, dass Marc mit einer so attraktiven Frau verheiratet gewesen war? Wieso hatte sich Jacqueline je Sorgen gemacht, er könne sie betrügen? Welche Frau hätte sie schon ausstechen können?

Nicht unfreundlich, aber etwas ungeduldig fragte Jacqueline: »Kann ich etwas für Sie tun? Ich bin gerade am Arbeiten …«

Plötzlich fand sie sich selbst vollkommen unmöglich. Zudringlich und indiskret. Plump. Am liebsten hätte sie irgendeine Entschuldigung gemurmelt und sowohl das Haus als auch das ganze Dorf fluchtartig wieder verlassen, aber aus irgendeinem Grund mochten sich ihre Beine nicht bewegen. Sie stand wie blockiert.

»Jacqueline Reeve?«, fragte sie.

»Ja, die bin ich.«

Rosanna gab sich einen Ruck und streckte ihrem Gegenüber die Hand hin. »Rosanna Hamilton.«

Jacqueline wischte sich die Hand an ihrem Hemd ab, erwiderte dann den dargebotenen Gruß. »Freut mich, Mrs. Hamilton. Was führt Sie zu mir?«

»Es ist etwas kompliziert …«, sagte Rosanna zögernd.

»Geht es um die Bilder? Um meine Ausstellung nächste Woche?«

»Nein. Nein, es hat damit nichts zu tun. Ich …« Es war warm in dem Raum. Rosanna brach unter ihrem dicken Wintermantel der Schweiß aus.

»Es geht um Ihren Mann«, sagte sie, sich einen Ruck gebend. »Um Ihren Exmann. Um Marc Reeve.«

Jacquelines Blick verdüsterte sich sofort. Ohne dass sie einen Schritt zurücktrat, schien doch plötzlich eine fast räumliche Distanz zwischen ihr und ihrer Besucherin zu entstehen.

»Oh. Ich wüsste nicht, was …«, begann sie.

Rosanna hatte inzwischen etwas von ihrer Sicherheit zurückgewonnen. »Bitte«, sagte sie, »es ist wichtig. Hätten Sie ein paar Minuten Zeit für mich?«

Jacqueline wirkte nicht glücklich über dieses Ansinnen. »Ich bin mitten in der Arbeit. Ich habe nächste Woche eine Ausstellung, und ich weiß kaum, wie ich bis dahin …«

»Ein paar Minuten«, unterbrach Rosanna. »Bitte!«

Jacqueline kapitulierte. Sie mochte die Dringlichkeit in Rosannas Stimme wahrnehmen, aber vielleicht, so dachte Rosanna, ist sie ja auch einfach ein bisschen neugierig.

»Okay«, sagte sie und schob den Vorhang zur Seite, »kommen Sie und setzen Sie sich. Legen Sie doch Ihren Mantel ab. Möchten Sie einen Tee?«

 

»Sie sind also Marcs Neue«, sagte Jacqueline. Sie klang nicht unfreundlich, nur ein wenig belustigt. Sie hatte Rosanna nicht in ihr Atelier geführt, sondern ihr in einer winzigen Küche einen Platz an einem kleinen Bistrotisch angeboten. Rosanna hatte endlich ihren dicken Mantel abgelegt und begann sich langsam zu akklimatisieren. In einem Spiegel mit rattangeflochtenem Rahmen, der an der Wand hing, erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf ihr blasses, spitzes Gesicht und die dunklen Haare, die sich wegen der Feuchtigkeit draußen wie befürchtet noch wilder gebärdeten als sonst. Resigniert fragte sie sich, ob irgendwann einmal der Tag käme, an dem sie mit sich und ihrem Aussehen zufrieden wäre. Wahrscheinlich nie. Schon gar nicht, solange ihr Schönheiten wie Marcs Exfrau über den Weg liefen.

Es gab einen sehr heißen, süßen Früchtetee. Von nebenan erklang noch immer die beruhigende Klaviermusik.

Wahrscheinlich Jacquelines Art, Inspiration zu finden. Welch ungewöhnliche Art zu leben! Das Dorf, der Nebel, der Geruch nach Farbe … die Stille, in der nur die Pianoklänge zu hören waren … Dafür hatte sie also das Londoner Leben an der Seite eines Mannes wie Marc aufgegeben.

»Na ja«, sagte Rosanna nun auf Jacquelines Bemerkung hin, »wir kennen uns noch nicht allzu lang. Aber wir sind …« Sie stockte.

» … schwer verliebt«, beendete Jacqueline den Satz, »ja, das kann ich mir vorstellen. Er ist ein sehr attraktiver Mann. Er ist verständnisvoll, großzügig und liebenswürdig. Ich kann verstehen, dass Sie sich in ihn verliebt haben.«

Sie sagte dies sehr offen und unverkrampft. Rosanna lauschte nach einem Hauch von Ironie in ihren Worten, konnte jedoch nichts davon spüren. Jacqueline schien aufrichtig zu meinen, was sie sagte.

»Mrs. Reeve, ich …«

»Nennen Sie mich ruhig Jacqueline.«

»Jacqueline, ich bin mir absolut nicht sicher, ob es richtig ist, hier bei Ihnen zu sitzen. Den Entschluss, Sie aufzusuchen, traf ich heute früh ganz spontan. Marc hat keine Ahnung davon. Vielleicht wäre er entsetzt.«

»Wahrscheinlich.«

»Aber es gibt ein paar Unklarheiten, die ich… Es gibt Dinge, die für mich sehr schwer verständlich sind …« Sie brach ab. Ich hätte nicht kommen sollen, dachte sie unglücklich. Ich stammle herum, und das alles ist mir peinlich.

Jacqueline lehnte sich nach vorn. »Was möchten Sie wissen, Rosanna? Was beunruhigt Sie so sehr? Ist es die Geschichte von damals?«

»Sie meinen …«

»Die Geschichte mit dieser Frau. Wie hieß sie noch … Madeleine … ?«

»Elaine. Elaine Dawson.«

»Genau. Elaine Dawson. Sie kennen den Fall?«

Nur zu gut! »Ja.«

»Sie wollen von mir wissen, ob ich glaube, dass mein Mann Elaine Dawson umgebracht hat? Sie haben Angst, dass Sie sich in einen Mörder verliebt haben?«

Rosanna lehnte sich zurück, ein wenig entspannter. Wenigstens in dieser Frage war sie von Anfang an sicher gewesen. »Nein. Diese Angst habe ich nicht. Aber mein Besuch bei Ihnen hat etwas mit dem Fall Dawson zu tun, das ist richtig. Es ist zu langwierig, Ihnen jetzt alles zu erklären, aber es sieht so aus, als ob sich das Rätsel gerade auflöst. Elaine Dawson ist wohl tatsächlich Opfer eines Verbrechens geworden. Mit fast neunundneunzigprozentiger Sicherheit kennt die Polizei den Täter.«

Pit Wavers. Der tote Pit. Und was ist mit Pamela Luke?

Es war nur ein kurzer Gedanke, der ihr durch den Kopf schoss. Pamela hatte London verlassen. Was, wenn sie zu Cedric geflohen war? Könnte das sein? Und was bedeutete es für Cedric, wenn sie tatsächlich nicht das Unschuldslamm war, das alle in ihr gesehen hatten?

Befindet sich mein Bruder in der Gesellschaft einer Mörderin?

Sie verdrängte das Bild sofort. Es war nicht der Moment, darüber nachzugrübeln. Aber Jacqueline hatte die Veränderung in ihrem Blick gesehen.

»Tatsächlich?«, fragte sie. »Der Fall ist geklärt?«

»So gut wie. Ich vermute, dass in den nächsten Tagen auch die Presse darüber berichten wird. Und das brachte mich auf die Idee …«

»Auf welche Idee?«

Rosanna gab sich einen Ruck. »Es geht um Josh. Ihren Sohn. Es geht um das Verhältnis, genau genommen: um das Nicht-Verhältnis, das er zu seinem Vater hat. Was ja auch ein Stück weit mit dem Fall Dawson und dem nie ganz ausgeräumten Verdacht gegen Marc zu tun hat.«

»Und?«

»Jacqueline, Marc leidet entsetzlich. Er hat resigniert, was Josh angeht, aber die Tatsache, dass sein Sohn jeglichen Kontakt zu ihm abgebrochen hat, liegt wirklich als dunkler Schatten über seinem Leben. Er vergräbt sich in seine Arbeit, hat wohl auch Erfolg, aber er ist ein zutiefst einsamer Mann, der keine echte Lebensfreude mehr empfinden kann.«

»So einsam kann er nicht sein. Er hat ja Sie!«

»Aber ich ersetze ihm nicht sein eigenes Kind. Das ist es ja, was ich als so schlimm empfinde: Er ist einsam, auch wenn ich bei ihm bin. Er ist einsam unter einer Million Menschen. Er ist traurig, auch wenn er lacht. Er ist ohne Hoffnung.«

»Tja«, sagte Jacqueline, aber sie war nicht ganz so gelassen, wie sie tat. Sie nahm ein Zigarettenpäckchen von der Anrichte, hielt es Rosanna mit fragendem Blick hin und zündete sich, nachdem ihr Gast abgelehnt hatte, selbst eine Zigarette an. Sie inhalierte tief.

»Und wie kann ich Ihnen bei dem Problem helfen?«, fragte sie.

Rosanna sah sie eindringlich an. »Meinen Sie nicht, dass es eine Möglichkeit der Annäherung von Josh an seinen Vater gäbe? Einfach ein kurzes Treffen. Ein kurzes Gespräch.

Irgendeine Chance, dass der abgerissene Faden wieder aufgenommen wird? Wenn sich nun herausstellt, dass Marc wirklich kein Verbrechen begangen hat, und wenn …«

»Rosanna! Wachen Sie auf!«, sagte Jacqueline schroff. Sie erhob sich, blieb mitten in der Küche stehen, die brennende Zigarette in der Hand. »Ich habe keinen Moment lang geglaubt, dass Marc etwas mit dem Verschwinden von dieser Dawson zu tun hatte. Und ich weiß, dass auch Josh im tiefsten Innern das nicht geglaubt hat und immer noch nicht glaubt. Wenn die Polizei nun einen Täter ausfindig gemacht hat und wir ihn in den nächsten Tagen als Schlagzeile in einer Zeitung präsentiert bekommen, so ist das für uns nicht die ganz große Überraschung. Es freut mich, wenn Marc dann endlich ein für alle Mal reingewaschen ist, die Sache hat ihm weiß Gott zugesetzt. Aber für mich ist das kein Aha-Erlebnis. Und für meinen Sohn auch nicht.«

»Aber …«

»Natürlich hat Josh den Fall damals aufgegriffen. In der Art: Siehst du, Daddy ist wirklich ganz schrecklich, nun hat er auch noch eine Frau umgebracht! Er hat das gewissermaßen als zusätzliche Rechtfertigung für seinen eigenen Rückzug benutzt. Die Schuldgefühle, die er vielleicht seinem Vater gegenüber doch hatte, damit zum Schweigen gebracht. Niemand konnte ihn zwingen, seine Wochenenden mit einem Mann zu verbringen, an dem dieser Verdacht klebte, nicht wahr? In gewisser Weise kam ihm diese Geschichte gar nicht ungelegen. Und löste natürlich zugleich eine heftige Ambivalenz in ihm aus: Er hasste seinen Vater umso mehr wegen der Presseberichte. Jeder in seiner Schule wusste Bescheid, seine Freunde im Fußballclub, alle Nachbarn … Josh war noch keine zehn Jahre alt. Was glauben Sie, wie schlimm es für einen Jungen ist, den eigenen Vater in dieser Weise bloßgestellt zu erleben? Vergewaltiger und Mörder! Auf welch tönernen Füßen diese Vorwürfe standen, wie rasch der Verdacht von Seiten der Polizei fallen gelassen wurde, das hat doch niemanden interessiert. Die Leute fanden es herrlich schaurig und spannend. Es war ein Spießrutenlauf für uns beide. Und für Josh bestimmt noch schlimmer.«

»Das kann ich gut nachvollziehen«, sagte Rosanna, »es muss furchtbar gewesen sein. Aber … Jacqueline, bitte sagen Sie mir, wenn ich Ihnen zu aufdringlich und zu indiskret bin, aber ich kann mir das nicht erklären. Ich kann mir diesen Hass eines Jungen auf seinen Vater nicht erklären.«

Jacqueline lachte, ohne dabei im Geringsten fröhlich zu wirken. Sie drückte ihre Zigarette auf einem Teller aus und setzte sich wieder. »Josh hat sich von Marc getrennt, Rosanna, unwiderruflich. Genau wie ich.«

Sie wusste, dass sie eine Grenze überschritt. »Warum? Warum diese Trennung?«

Jacqueline sah sie einen Moment lang schweigend an. Nicht feindselig, eher nachdenklich. Rosanna fürchtete, dass sie gleich aufstehen und das Gespräch für beendet erklären würde. War nett, Sie kennen gelernt zu haben, Rosanna, aber meine Eheschwierigkeiten gehen Sie nichts an. Lernen Sie Marc doch selbst kennen. Das Leben mit einem anderen Menschen besteht aus mehr als ein paar leidenschaftlichen Nächten. Finden Sie den ganzen verdammten Alltag mit Marc Reeve selbst heraus!

Das würde ich jetzt an ihrer Stelle sagen, dachte sie.

Aber Jacqueline sagte es nicht. Sie griff nach der nächsten Zigarette. Ohne sie anzuzünden, hielt sie sie zwischen den Fingern. Leise sagte sie: »Das Leben mit Marc war die Hölle, Rosanna. Für mich und damit auch für Josh. Ich glaube nicht, dass Josh seinem Vater verzeihen möchte, was dieser seiner Mutter angetan hat.«

 

3

 

Das Zimmer war eng und mit wenig Geschmack eingerichtet, aber sie fand es besser als das großkotzige Hotel in London. Dort hatte sie das Gefühl gehabt, verrückt werden zu müssen. Die Fenster hatten sich nicht öffnen lassen, sie war mit der Regulierung der Heizung nicht zurechtgekommen, und sie hatte sich von dem Luxus dort erschlagen gefühlt. Allein das riesige, marmorverkleidete Bad mit der Spiegelwand war überwältigend gewesen. Wenn sie kurz auf die Straße wollte, um frische Luft zu schnappen, hatte sie eine Hotellobby durchqueren müssen, die sie an die Abfertigungshalle eines Flughafens erinnerte. Viele Menschen, viele Stimmen, neugierige Blicke, hin und her eilendes Personal. Alles laut und hektisch, der Kopf hatte ihr gedröhnt.

Und dann dieser Inspector Fielder. Er war nett gewesen, hatte ihr Kaffee und Mineralwasser angeboten und freundlich mit ihr gesprochen. Aber sie hatte seine Augen nicht gemocht, diesen kühlen, unbestechlichen Blick. Seine Fragen hatten ihr verraten, wie viel Misstrauen er ihr gegenüber empfand. Er glaubte ihr nicht, was den Fundort des Passes anging. Er glaubte ihr nicht, dass sie nie zuvor im Leben eine Waffe in den Händen gehalten hatte. Er lächelte sie liebenswürdig an und stellte dabei kalte, unnachgiebige Fragen. Bohrte immer weiter nach. Ließ sie keinen Moment in Ruhe.

Sie hatte es nicht mehr ausgehalten. Das Hotel nicht und das Vernehmungszimmer schon gar nicht. Vielleicht hatte sie zu lange auf der Flucht gelebt. Zu lange weltabgeschiedene Dörfer aufgesucht. Zu lange den Kontakt mit anderen Menschen gemieden.

Sie trat an das niedrige Fenster, stieß die Flügel auf. Neblige, kalte Luft strömte ins Zimmer. Sie atmete tief. Unter ihr lag eine Wohnstraße, ganz still, kein Mensch war zu sehen. Sie bemerkte ein Eichhörnchen, das von einem Garten in den nächsten flitzte. Sonst regte sich nichts. Die Stille war Balsam für ihre Seele.

Cedric hatte ihr die Pension genannt. Ihr zwanzig Pfund in die Hand gedrückt und sie zum Übernachten hierhergeschickt. Sie wäre gern bei ihm im Krankenhaus geblieben, aber sie hatte eingesehen, dass die Stationsschwester etwas dagegen haben würde.

»Willst du, dass sie dir unangenehme Fragen stellt und am Ende die Polizei holt?«, hatte Cedric gefragt, und natürlich hatte sie das nicht gewollt.

Die Wirtin hatte ihr das Zimmer ohne viel Hin und Her gegeben, aber am Morgen, bei einem üppigen Frühstück – von dem Pamela kaum etwas angerührt hatte –, hatte sie sich als ziemlich neugierig und indiskret entpuppt. Pamela begriff, dass sie auch hier rasch fort musste. Sie sah abgerissen aus und hatte kein Gepäck – die perfekte Kombination, sich verdächtig zu machen und die Fantasie der Menschen anzuheizen.

»Mein Vater holt mich mittags aus dem Krankenhaus ab«, hatte Cedric gesagt, »wir kommen dann bei dir vorbei und nehmen dich mit. Du kannst erst mal das Zimmer meiner Schwester haben. Aber, Pamela, eins muss dir klar sein: Weder ich noch mein Vater werden dich vor Scotland Yard verstecken. Du wirst dich dort melden müssen. Du wirst ihnen erzählen, was du mir erzählt hast!«

Sie wandte sich vom Fenster ab. Sie fror, aber zugleich tat ihr die frische Luft gut, sie mochte sie nicht wieder aussperren. Sie hätte nicht sicher zu sagen gewusst, ob Cedric ihr geglaubt hatte. Sie hatte ihm alles erzählt, und er hatte ernst und ohne sie zu unterbrechen zugehört.

»Warum hast du das nicht gleich gesagt?«, hatte er hinterher gefragt, und sie hatte ihm klarzumachen versucht, dass sie gefürchtet hatte, in einen bösen Verdacht zu geraten.

»Das bist du nun noch mehr«, hatte er gesagt.

Richtig. Sie hatte einen Fehler gemacht. Sie brauchte ihn nicht, dass er ihr das sagte. Sie brauchte ihn, dass er ihr half.

An der Wand ihres Zimmers hing eine altmodische Porzellanuhr, die mit grünen, rankenden Blättern verziert war und zwei Pendel hatte, die aus dunkellila bemalten Weintrauben bestanden. Wo, um alles in der Welt, bekam man so etwas? Es war noch nicht einmal zwölf Uhr. Wahrscheinlich würde es noch dauern, bis Cedric und sein Vater hier auftauchten. Wenn sie das überhaupt taten und nicht kurzerhand die Polizei schickten. Aber die wäre dann schon längst da, oder?

In den letzten beiden Tagen sah sie ständig Pit Wavers vor sich. Und zwar nicht den starken, krummbeinigen, brutalen Pit, der sie jahrelang in Todesangst versetzt hatte, sondern den Pit, der reglos auf einem Waldweg irgendwo in der Gegend von Cannington in Somerset lag. Mit einem Loch in der Brust. Und mit geschlossenen Augen.

Sie hatte sich über ihn gebeugt und kaum geatmet vor Angst. Wenn er sich verstellte? Wenn er plötzlich emporschoss, mit seiner eisernen Faust ihr Handgelenk umklammerte? Ihr die andere Faust in den Magen schlug, so wie er es früher oft getan hatte? Er war zu Boden gegangen, nachdem sie den Schuss abgefeuert hatte, das hatte sie noch gesehen, ehe sich in Sekundenschnelle ihre Windschutzscheibe in ein gigantisches Spinnennetz verwandelt hatte. Aber ob er getroffen war, hätte sie nicht zu sagen gewusst. Er konnte sich genauso gut geduckt haben.

Sie hatte weitere sinnlose Schüsse auf ihr längst unsichtbar gewordenes Ziel abzufeuern versucht, aber die Pistole war leer gewesen, und irgendwann hatte sie aufgegeben. Sie war einfach sitzen geblieben. Regungslos. Buchstäblich erstarrt vor Angst. Gewärtig, dass er jeden Moment neben ihr an der Tür auftauchen konnte. Dass sie in seine kleinen, grausamen Augen blicken würde. Seine Augen hatten immer alles über ihn verraten. Sie hatte einmal in einer Zeitung gelesen, einen Psychopathen zeichne das vollkommene Fehlen jedweden Gefühls aus, das Nichtvorhandensein jeglicher Empathie, die ihn zu Mitgefühl und zur Rücksicht auf andere befähigen würde. Da hatte sie gewusst, dass sie es bei Pit mit einer hochgradig gestörten Persönlichkeit zu tun hatte. Ihre Verzweiflung war ins Unermessliche gestiegen.

Irgendwann hatte sie begriffen, dass sie nicht ewig auf dem Fahrersitz verharren und auf die kaputte Windschutzscheibe starren konnte. Cedric neben ihr hatte offensichtlich das Bewusstsein verloren. Sein Atem ging schleppend und unregelmäßig. Er brauchte einen Arzt, so viel war klar, und er brauchte ihn schnell.

Sie war schließlich ausgestiegen. Bis jetzt erinnerte sie sich an diesen Moment voller Grauen. Irgendwie hatte sie plötzlich die fixe Idee gehabt, er könne lauernd direkt neben dem Auto warten und nach ihrem Knöchel greifen. Sie hielt noch immer die Waffe in der Hand, auch wenn das sinnlos war. Den einen, einzigen Schuss hatte sie abgegeben.

Es war dunkel gewesen, aber ihre Augen hatten sich einigermaßen an die Nacht gewöhnt. Sie war um das Auto herumgeschlichen und dann fast über Pits Körper gestolpert, der genau an der Stelle lag, an der er zu Boden gegangen war. Sie hatte ihn angestarrt, ihr eigenes Blut in den Ohren pochen gehört und darauf gewartet, dass irgendetwas passierte, ohne zu wissen, was das sein sollte.

Es war wieder der Gedanke an Cedric gewesen, der sie schließlich vorwärtsgetrieben hatte. Wenn sie noch länger hier stand, war er tot, ehe sie den nächsten Schritt tat. Sie hatte sich hinuntergebeugt, hatte gelauscht und gespäht. Sie konnte nicht feststellen, ob Pit lebte oder tot war, ob er atmete oder nicht. Schließlich überwand sie sich und legte eine Hand auf seine linke Brust, meinte, einen schwachen Herzschlag zu spüren. Es hätte aber auch das Zittern ihrer eigenen Hand sein können, das vermochte sie nicht sicher zu sagen. Als sie die Hand wegnahm, war diese nass und klebrig gewesen, und nach einem Moment des Staunens wurde ihr klar, dass es Blut war.

Ich habe dein Herz erwischt, Fit. Sieh mal an, die kleine Pam, das Stück Scheiße, wie du mich so oft genannt hast, sie ist hingegangen, hat gezielt und geschossen und ins Schwarze getroffen. Nicht schlecht. Das hättest du im Leben nicht erwartet, stimmt's?

Nein, das hätte er nicht für möglich gehalten. Noch zwei Stunden zuvor, in dem hässlichen Ferienapartment, hatte sie ihm kaum Angst eingeflößt, als sie plötzlich die Waffe auf ihn gerichtet hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie jedoch selbst nicht geglaubt, dass sie es tun könnte. Deswegen hatte sie so sehr gezittert. Und war so erleichtert gewesen, als Cedric die Pistole an sich genommen hatte.

Eine Woge der Euphorie hatte sie überschwemmt, aber sie hatte deutlich gespürt, dass nicht echte Erleichterung sie erfüllte, sondern dass ihre Nerven kurz vor dem Kollaps standen. Ihr war zum Lachen zumute, gleichzeitig zum Weinen, und nicht mehr lange und sie würde schreien.

Du darfst zusammenbrechen. Aber erst wenn du Cedric ins Krankenhaus gebracht hast!

Sie hatte die nutzlose Pistole irgendwo hinter sich ins Gras geworfen, dann hatte sie all ihre Überwindung zusammengenommen, Pit unter den Armen gepackt und zur Seite gezogen. Ihn am Wegesrand liegen gelassen. Sie war in sein Auto gestiegen und hatte zu ihrer Erleichterung festgestellt, dass der Zündschlüssel steckte. Grauenhaft, wenn sie den toten oder schwer verletzten, blutenden Pit nun noch nach dem Schlüssel hätte absuchen müssen. Ihre Hände zitterten, erst beim vierten Versuch gelang es ihr, das Auto anzulassen. Sie hatte es ein Stück nach vorn gesetzt, weit genug, dass es nicht länger die Durchfahrt blockierte. Dann war sie ausgestiegen, zurück zu Cedrics Auto gehastet, hatte wieder eine halbe Ewigkeit gebraucht, um es zu starten. Während der ganzen Fahrt – erst später ging ihr auf, dass sie ohne Licht gefahren war – hatte sie auf ihn eingeredet.

Mach dir keine Sorgen. Bald sind wir in einem Krankenhaus. Dir wird dann ganz schnell geholfen. Pit kann uns nichts mehr anhaben. Ich habe ihn erledigt, wie findest du das? Der liegt im Wald und ist tot, oder fast tot. Aber wir beide, wir schaffen es!

Wie sie es dann tatsächlich geschafft hatte, wusste sie nicht mehr. Sie war planlos durch die Gegend gekurvt, hatte irgendwann nicht mehr die geringste Ahnung gehabt, wo sie sich eigentlich befand. Es ging nur darum, entweder in irgendeiner Stadt zu landen und ein Krankenhaus zu entdecken oder an einer Polizeiwache vorbeizukommen. Als sie schließlich in einer schlafenden Kleinstadt das flimmernde Schild erblickte, das auf eine Dienststelle hinwies, hätte sie vor Erleichterung weinen mögen.

Von da an hatten andere die Regie übernommen. Dunkel entsann sie sich eines unbequemen Plastikstuhles im Polizeirevier, auf dem sie wenigstens eine Stunde lang gesessen hatte, einen Pappbecher mit Kaffee in der Hand, und still und unaufhaltsam geweint hatte.

Sie trat erneut ans Fenster, schloss es diesmal. Es wurde zu kalt, und eine Erkältung konnte sie jetzt nicht brauchen.

Sie hätte nie geglaubt, dass sie eines Tages noch einmal freundlich an ihren Bruder Liam denken würde. Er war ein brutaler Typ gewesen, hinterhältig und gemein, faul und versoffen, aber er war es auch gewesen, der seine kleine Schwester mit zum Schießstand genommen hatte. Liam war von Waffen besessen gewesen. Bevor ihn der Alkohol in ein Wrack verwandelte, hatte er jede freie Minute beim Training mit seiner Pistole verbracht. Pam, stets auf der Flucht vor ihrem Vater, der sie ab ihrem elften Lebensjahr lüstern beäugt hatte und ab ihrem dreizehnten Lebensjahr regelmäßig in ihr Bett gestiegen war, hatte Liam angefleht, sie mitzunehmen. Er behandelte sie oft scheußlich, aber er begrapschte sie wenigstens nicht. Irgendwann, so hatte sie jedenfalls den Eindruck gehabt, hatte es ihm ein wenig Spaß zu machen begonnen, sie in seinem liebsten Hobby zu unterrichten, und in ihrem Eifer, ihm zu gefallen, hatte sie sich viel Mühe gegeben und war schließlich richtig gut gewesen. Sogar Liam hatte sie hin und wieder gelobt, und sie hatte gemerkt, dass er seinen Kumpels gegenüber sogar ziemlich stolz auf seine Schwester gewesen war.

»Die ist ein Naturtalent«, hatte er geprahlt, »am Ende landet die mal bei den Bullen, so klasse, wie die das macht!«

Bei den Bullen war sie nun tatsächlich gelandet. Aber anders, als es Liam gemeint hatte. Gern hätte sie ihn wissen lassen, dass im Grunde er es war, der ihr das Leben gerettet hatte, aber zuletzt hatte sie ihn vor fast zwölf Jahren sturzbetrunken im Eingang einer Liverpooler Ladenpassage gesehen, zusammengerollt schlafend, stinkend vor Dreck, aufgedunsen vom Schnaps. Er hatte die Flasche umklammert gehalten, und als sie ihn weckte, hatte er sie nicht erkannt. Danach hatte sie nie wieder von ihm gehört.

Dass Pit eine Pistole besaß, hatte sie herausgefunden, kurz nachdem sie bei ihm eingezogen war. Sie hatte in einem Schuhschrank gelegen, weit hinten, verborgen hinter alten Gummistiefeln, Baseballschlägern und muffig riechenden Wollschals. Da sie vermutete, dass sie dort nicht hätte herumkramen dürfen, und bereits Bekanntschaft mit seinen Tobsuchtsanfällen gemacht hatte, erwähnte sie ihre Entdeckung ihm gegenüber nicht. Aus einer unbestimmten Vorsicht heraus ließ sie ihn auch nicht wissen, dass sie schießen konnte wie ein Profi. Irgendwie hatte sie die Ahnung, es könnte sich noch einmal als vorteilhaft erweisen, einen ihm unbekannten Vorsprung zu haben.

Nachdem Pit angefangen hatte, sie zunehmend wie Dreck zu behandeln und zu schikanieren, nachdem er regelmäßig gewalttätig wurde und sie nur noch in Angst vor ihm lebte, hatte sie begonnen, von der Pistole zu träumen. Nicht nachts, sondern tagsüber. Das Bild, wie sie ihrem Peiniger den Lauf ins Gesicht hielt, abdrückte und die grinsende, grausame Visage zerfetzte, wurde zu ihrem Fluchtpunkt. Sie malte sich diese Szene aus, während seine Fäuste in ihren Magen krachten, während er sie so brutal vögelte, dass sie vor Schmerzen schrie, während er sie an den Haaren durch die Wohnung zerrte, um ihr an irgendeiner Stelle einen Fleck zu zeigen, den sie beim Saubermachen vergessen hatte. Sie brauchte diese innere Flucht, um nicht völlig zu verzweifeln, sich aus dem Fenster zu stürzen oder sich die Pulsadern aufzuschneiden. In düsteren Momenten begriff sie zwar, dass sie nie den Mut aufbrächte, es wirklich zu tun. Sie würde nie hinter der Tür stehen, auf ihn warten und ihn beim Hereinkommen einfach abknallen. Aber auch ein Traum vermochte Kraft zu verleihen, das hatte sie damals festgestellt. Als sie sich zur Flucht entschloss, spielte sie mit dem Gedanken, die Waffe mitzunehmen, um nicht ganz schutzlos zu sein, aber zwei Wochen, bevor sie den entscheidenden Schritt tat, war die Pistole plötzlich aus dem Schuhschrank verschwunden gewesen. Offenbar hielt Pit das Versteck nicht mehr für sicher. Es war ihr nicht mehr gelungen herauszufinden, wo er die Waffe danach deponiert hatte.

Und nun habe ich es getan, dachte sie, und bei all dem Elend, in dem sie sich befand, ging doch ein kleiner Schauer der Erregung durch ihren Körper. Nach so vielen Jahren war ihr Traum nun wahr geworden. Sie hatte Pit erledigt. Wenn sie jetzt nicht im Knast landete, bedeutete dies, dass sie zum ersten Mal seit langer Zeit wirklich frei sein würde.

Wieder ein Blick zu der kitschigen Uhr. Fünf Minuten waren vergangen.

Hatte es Sinn, auf Cedric und seinen Vater zu warten? Vielleicht holte der Vater sofort die Polizei. Aber wohin sollte sie gehen? Sie hatte kaum Geld, sie hatte keine Papiere, sie besaß nicht mal Wäsche zum Wechseln. Und vermutlich dauerte es nicht mehr lange, bis ein Haftbefehl gegen sie lief.

»Vertrau mir«, hatte Cedric am Abend zuvor gesagt, ehe sie Abschied nahmen, »bitte! Du allein kannst deine Lage jetzt nur noch verschlechtern!«

Vertrau mir!

Sie setzte sich auf das Bett und stützte den Kopf in die Hände. Wenn sie eines im Leben kapiert hatte, dann war es die Unmöglichkeit, einem Mann vertrauen zu können, und alles in ihr wehrte sich dagegen, ihr weiteres Schicksal auch nur ansatzweise in Cedrics Hände zu legen.

Sie hasste das Gefühl, keine Wahl zu haben. Weitere fünf Minuten später hatte sie ihre Fingernägel bis aufs Fleisch abgekaut und sich selbst ein Zeitlimit gesetzt: Sie würde noch eine halbe Stunde warten. Wären Cedric und sein Daddy dann nicht bei ihr aufgetaucht, würde sie auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

 

Der Nebel schien wieder dichter zu werden, anstatt sich, wie es sonst meist der Fall war, zum Mittag hin aufzulösen. Grau und undurchdringlich wogte er jenseits des kleinen Fensters. In der Küche war es wunderbar warm. Jacqueline hatte die zweite Kanne Tee gekocht, Zucker auf den Tisch gestellt. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen.

»Es hat ziemlich lang gedauert, bis ich begriff, dass Marc ein notorischer Fremdgeher war. Vielleicht hat es auch eine Weile gedauert, bis er damit anfing. Am Anfang mögen ihn seine Gefühle für mich noch gebremst haben. Aber später … wurde er hemmungslos. Das Schlimme war, er musste gar nicht mal aktiv werden. Die Frauen werfen sich ihm an den Hals. Es ist nicht nur sein Aussehen. Es ist auch seine Art. Dieses zurückhaltende, ernste Wesen, sein höfliches Benehmen, diese distanzierte Freundlichkeit … Vielleicht ist es nicht verwunderlich, dass ein Mann schwach wird, dem es so leicht gemacht wird.«

Rosanna nippte an ihrem Tee. Er war heiß, sie verbrannte sich die Lippen. Mit einem leisen Schmerzenslaut setzte sie die Tasse ab.

Jacqueline hatte die Situation missverstanden. »Ja, das hört sich unangenehm für Sie an«, sagte sie, »aber Sie wollten über ihn Bescheid wissen.«

»Ich wollte wissen, weshalb sein Sohn …«

Jacqueline lachte. »Können Sie sich das nicht denken? Fast jeden Abend, wenn Marc wieder einmal nicht nach Hause kam, obwohl er es mir versprochen hatte, wachte Josh von meinem Weinen auf. Er kam dann herüber in unser Schlafzimmer, wo ich allein in dem großen, leeren Bett lag und mir die Augen ausweinte. Ist Daddy noch immer nicht da?, fragte er dann, und ich sagte, nein, Daddy arbeite noch, es würde wieder spät werden. Wein doch nicht, Mummy, sagte er dann und kroch zu mir unter die Decke, umarmte mich ganz fest und drückte sein Gesicht gegen meine nassen Wangen. Am Anfang glaubte er wohl noch, dass Daddy wirklich immer so viel arbeitete und dass ich einfach nur weinte, weil ich allein war. Aber er wurde älter, Marcs und meine Auseinandersetzungen wurden heftiger, Josh schnappte immer mehr davon auf und kapierte schließlich, worum es ging. Daddy arbeitete nicht, Daddy lag mit anderen Frauen im Bett, und Mummy litt ganz furchtbar darunter. Verstehen Sie, dass unter diesen Umständen ein Sohn anfangen kann, seinen Vater zu hassen?«

Rosanna antwortete nicht, sondern stellte ihrerseits eine Frage: »Dass Marc wirklich nur gearbeitet hat – das ist nicht vorstellbar? Mir gegenüber hat er erklärt, ein schrecklicher Workaholic gewesen zu sein. Ihm ist durchaus bewusst, dass er darüber seine Familie vernachlässigt hat, und er bereut das sehr.«

»Wissen Sie«, sagte Jacqueline, »wenn ich im Begriff wäre, eine neue Beziehung einzugehen, würde ich dem neuen Partner auch nicht als Erstes erklären, dass meine Ehe an meinen Seitensprüngen gescheitert ist. Klar, Marc war außerdem ein Workaholic. Krankhaft ehrgeizig. Mit seinem Job mehr verheiratet als mit mir. Das war das andere Problem, neben dem Fremdgehen. Er versetzte uns ständig. Egal, was wir als Familie zusammen geplant hatten, im Sommer mal übers Wochenende ans Meer zu fahren oder ins Kino zu gehen, oder einen Fahrradausflug zu machen, ich konnte in neun von zehn Fällen sicher sein, am Ende allein mit Josh loszuziehen. Von Marc kam garantiert im letzten Moment ein Anruf, es sei etwas furchtbar Wichtiges dazwischengekommen. Darauf konnte ich schon wetten. Und Sie würden nicht glauben, wie bitterlich ein kleiner Junge weinen kann, wenn ihm so etwas wieder und wieder geschieht.«

»Und Sie meinen, er hat in den meisten Fällen …«

»… irgendeine Blondine gebumst, statt zu arbeiten? Ich denke, es hält sich die Waage. Die Kanzlei, in der er arbeitete, laugte ihre Mitarbeiter tatsächlich bis aufs Blut aus, und man schien der Ansicht zu sein, ein freier Samstagabend sei für einen dort assoziierten Mitarbeiter geradezu etwas Unanständiges. Ich weiß nicht, wie oft ich ihn anflehte, von da wegzugehen, aber er meinte, er habe das ideale Sprungbrett zur großen Karriere gefunden. Es war dann übrigens ganz interessant zu sehen, wie sie ihn wie eine heiße Kartoffel fallen ließen, als er wegen der Dawson in die Schlagzeilen geriet. Jahrelang hatte er sich für das Büro den Arsch aufgerissen und sein Familienleben geopfert, und nun konnten sie ihn nicht schnell genug loswerden. Aber«, sie zuckte mit den Schultern, »das war ja dann schon nicht mehr meine Sache.«

Rosanna beschloss, den Stier bei den Hörnern zu packen, auch auf die Gefahr hin, dass Jacqueline sie im nächsten Moment hinauswerfen würde. »Marc hat mir erzählt, dass Sie ihm etliche Affären unterstellten«, sagte sie, »aber er behauptet, dies sei eine Art … fixe Idee von Ihnen. Er sei viel zu sehr im Stress gewesen, um fremdzugehen. Er schwört, er habe Sie nicht ein einziges Mal betrogen.«

Jacqueline lachte. »Eine fixe Idee? So würde ich das an seiner Stelle auch nennen. Und es ist noch nett formuliert. Mir warf er ständig vor, nervenkrank zu sein. Wissen Sie, es gab eine schwierige Phase, in der ich meine dahinsiechende Mutter zu betreuen versuchte. Sie war in einem Altenheim in der Gegend von Cambridge, und ich fuhr ständig dorthin, um ihr ein Gefühl von Nähe und Wärme zu geben. Ihre Leiden mitanzusehen, war schrecklich und hat mich ungeheuer deprimiert. Ich habe viel geweint in dieser Zeit. Ich war sehr traurig – aber keineswegs nervlich zerrüttet. Ich habe nicht angefangen, mir Dinge einzubilden, und das ist es ja, was mir mein Exmann unterstellt. Ich hatte durchaus noch einen klaren Blick für das, was um mich herum geschah.«

Hatte sie den tatsächlich gehabt? Rosanna mochte nicht in ein Klischeedenken verfallen, und sie wusste auch, dass ihre Verliebtheit in Marc nicht gerade dazu führte, sie objektiv sein zu lassen, aber sie war auch nicht bereit, Jacquelines Behauptungen als allein gültige Wahrheit stehen zu lassen. Die Frau kam ihr ein wenig überspannt vor. Setzte sich in dieses gottverlassene Dorf und malte Aquarelle. Zwang ihrem Sohn ein Leben in dieser Gegend auf, wobei sie einen dramatischeren, krasseren Unterschied zu seinem früheren Leben kaum hätte herstellen können. Sie mochte begabt sein – aber neigten nicht gerade begabte Künstler dazu, sich in eine Fantasie weit hineinzusteigern? Marc war selten zu Hause gewesen, hatte Frau und Sohn emotional verhungern lassen, das hatte er selbst unumwunden zugegeben. Musste er deshalb auch durch fremde Betten gewandert sein? Jacqueline war in ihren Anschuldigungen recht unkonkret geblieben. Sie hatte von Frauen gesprochen, die sich ihm scharenweise an den Hals geworfen hatten, aber es war nicht ein Name oder eine nähere Beschreibung erfolgt, in der Art: Es gab da eine blonde Kollegin, mit der war er monatelang zusammen oder Immer wenn ich bei meiner Mutter war, trieb er es mit der Frau, die drei Häuser weiter wohnte. Wurde man nicht genauer, wenn man schon so offen war wie Jacqueline? Und dann hatte sie schließlich eingeräumt, sehr belastet gewesen zu sein durch das lange Dahinsiechen ihrer Mutter – was ja nur normal war. Ich war keineswegs nervlich zerrüttet, hatte sie gesagt, aber eine Frau, die regelmäßig von London nach Cambridge fuhr, um dort hilflos das Leiden eines geliebten Menschen mitanzusehen, die deswegen häufig und heftig weinte, war genau das – nervlich zumindest angeschlagen. Sie mochte sich von ihrem hart arbeitenden Mann in dieser Zeit allein gelassen gefühlt haben, was sie bestimmt noch trauriger und elender gemacht hatte und vielleicht ungerechter. Es konnte so sein, und es konnte ganz anders sein. Es standen zwei Aussagen gegeneinander, und Rosanna hatte die unklare Empfindung, dass sie weder für die eine noch für die andere je einen Beweis finden würde.

Sie schob ihre Tasse zurück und erhob sich, zum Zeichen, dass sie die Geduld ihrer Gastgeberin nicht länger in Anspruch zu nehmen gedachte. »Ich weiß, dass Sie sehr beschäftigt sind«, sagte sie, »und ich möchte Sie nicht länger stören. Ich danke Ihnen, dass Sie mir gegenüber so offen waren.«

Auch Jacqueline stand auf, die brennende Zigarette zwischen den Fingern. »Es hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen«, sagte sie, und es klang aufrichtig, »und ich wünsche Ihnen wirklich viel Glück mit Marc. Mehr Glück, als ich hatte.«

»Es gibt wohl gar keine Chance, eine Versöhnung mit Josh herbeizuführen? Ich glaube, dass Marc keinen größeren Wunsch hat.«

Jacqueline zuckte bedauernd die Schultern. »Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass ich da viel erreichen werde. Ich werde Josh erzählen, dass sich die Geschichte um Elaine Dawson geklärt hat, aber wie ich schon sagte, das war ohnehin ein eher vorgeschobener Grund. Vielleicht muss er älter werden, um sich seinem Vater wieder anzunähern. Ich würde das durchaus begrüßen.«

»Ja«, sagte Rosanna bedrückt. Ihr schöner Traum, Marc eine herzerweichende Versöhnung mit seinem Sohn zu organisieren, war geplatzt. Hatte sich ihr Weg nach Binfield Heath nun überhaupt gelohnt? Sie hatte einiges erfahren, was sie lieber nicht erfahren hätte. Wenn es Wahnvorstellungen gewesen waren, denen Jacqueline Reeve erlegen war, so konnten sich diese durchaus als ansteckend erweisen. Ganz gleich, was geschah, Jacquelines Anschuldigungen würden als kleiner, nagender Zweifel in Rosannas Kopf bleiben, leise bohrend und immer dann präsent, wenn Marc ihr irgendwelche Ungereimtheiten präsentierte. Sie wusste plötzlich, dass es besser gewesen wäre, diesen Ausflug zu unterlassen.

Im Hinausgehen fragte sie: »War das eigentlich für Marc ein typisches Verhalten? Eine fremde, verzweifelte Frau mitzunehmen und ihr ein Quartier anzubieten?«

Jacqueline verzog das Gesicht. »Wäre die Frau attraktiv gewesen, hätte ich gesagt, es war ein höchst typisches Verhalten für Marc. Aber ich habe später ein Bild von ihr in der Zeitung gesehen. Danach muss es von seiner Seite aus reines Mitleid gewesen sein.«

»Eigentlich ein schöner Charakterzug.«

»Ich habe nie behauptet, dass Marc ein durch und durch schlechter Mensch ist«, sagte Jacqueline, »ich habe mich auch einmal sehr in ihn verliebt. Er konnte von großer Wärme und Herzlichkeit sein. Ich denke, diese Dawson hat ihm wirklich leidgetan. Er zeigte oft eine sehr spontane Hilfsbereitschaft. Ich weiß noch, wie beliebt er in unserem Yachtclub war, jedenfalls solange wir dort noch die meisten Wochenenden verbrachten. Später fehlte ihm ja auch dazu die Zeit. Aber er packte immer an, wo Not am Mann war, und spürte auch, wenn er gebraucht wurde.«

»So empfinde ich ihn auch.«

»Na, dann steht einem gemeinsamen Glück ja nichts mehr im Weg«, bemerkte Jacqueline, aber diesmal meinte Rosanna doch, etwas Bosheit in ihren Worten zu spüren.

Sie traten hinaus. Der Nebel schlug ihnen wie ein nasser, schwerer Waschlappen entgegen.

»Im Sonnenschein ist es hier sicher recht malerisch«, meinte Rosanna.

»Sehr«, bestätigte Jacqueline. »Trotzdem ist und bleibt es ein etwas spießiges Dorf. Aber ich habe hier und in der Umgebung recht viele Bekannte, und das macht alles leichter. «

Die beiden Frauen reichten einander die Hand. Rosanna machte nur ein paar Schritte, dann verschluckte sie bereits der Nebel. Man sah nicht mal wenige Meter weit.

Wie damals, dachte sie plötzlich und fröstelte, wie an jenem Januarabend. Als kein Flugzeug mehr ging. Als Elaine plötzlich in Heathrow festsaß. Werden wir je wirklich wissen, was geschehen ist?

Wann und wo war Elaine ihrem Mörder begegnet?

Und hieß er wirklich Pit Wavers?

 

 

5

 

Der Nebel lastete bis zum Abend über London. Die Dämmerung kam, der Tag verging, ohne dass sich das bleierne Grau jenseits der Fenster bewegt hätte. Rosanna hatte in einem Burger King etwas gegessen und drei Tassen Kaffee getrunken, um sich ein wenig lebendiger zu fühlen, dann hatte sie ein paar Sachen für ein Abendessen gekauft und war am frühen Nachmittag in Marcs Wohnung zurückgekehrt. Sie fühlte sich niedergeschlagen. Sie wünschte, sie wäre nie nach Binfield Heath gefahren.

Gegen vier Uhr rief sie bei ihrem Vater in Kingston St. Mary an. Victor meldete sich sofort. Seine Stimme klang bedrückt.

»Gut, dass du anrufst«, sagte er, »wann kommst du?« »Bald, Dad. Ich … habe hier noch etwas zu erledigen. Wie geht es Cedric?«

»Den Umständen entsprechend recht gut, würde ich sagen. Ich habe ihn heute Mittag aus dem Krankenhaus abgeholt. Er hat noch große Schmerzen, aber er bekommt Medikamente dagegen. Wird schon werden.«

»Dad – was ist los? Du klingst nicht gut!«

Victor schien mit sich zu ringen. »Diese Pamela Luke ist hier«, sagte er schließlich.

Rosanna schnappte nach Luft. »Pamela Luke? Scotland Yard sucht nach ihr!«

»Ich weiß. Sie ist oben bei Cedric, und er versucht sie zu überreden, sich zu stellen. Sie ist gestern Abend bei ihm im Krankenhaus aufgetaucht. Sie sieht aus wie eine Landstreicherin und steht völlig neben sich. Ich muss sagen, ich bin über diese ganze Entwicklung nicht glücklich.«

Das konnte sich Rosanna nur zu gut vorstellen. Ihr armer Vater! Gesetzestreu und immer korrekt – das äußerste Vergehen, das er sich in seinem bisherigen Leben geleistet hatte, waren zwei oder drei Strafzettel wegen falschen Parkens gewesen. Und nun versteckte sich eine dubiose junge Frau in seinem Haus, hinter der die Polizei her war und die womöglich mit skrupellosen Verbrechern gemeinsame Sache gemacht hatte. Zwei Nächte zuvor hatte sie einen Mann erschossen, und sein eigener Sohn war zusammengeschlagen worden und hatte nun vier gebrochene Rippen. Victor Jones musste das Gefühl haben, in einem Albtraum gelandet zu sein.

»Kannst du mich mit Cedric verbinden?«, fragte Rosanna.

»Einen Moment bitte«, erwiderte Victor in seiner manchmal so förmlichen Art und drückte ein paar Tasten.

Zwei Minuten später meldete sich Cedric. »Rosanna?«

»Cedric! Was ist los? Wieso ist Pamela weggelaufen? Kannst du offen reden?«

Cedric seufzte. »Sie ist drüben in deinem Zimmer und hat sich hingelegt«, sagte er. »Es geht ihr psychisch sehr schlecht. Sie hat sich in einen ganz schönen Schlamassel hineingeritten, indem sie am Anfang gelogen hat. Es stimmt nicht, dass sie Elaines Pass in Ron Malikowskis Schlafzimmer gefunden hat. Sie ist dort nie gewesen, und das weiß die Polizei inzwischen auch.«

»Aber … woher hat sie ihn dann? Ich meine … hat sie etwas mit Elaines Verschwinden zu tun?«

»Sie behauptet nein. Wobei es ein wenig schwierig sein wird, dies nun glaubhaft zu machen, nachdem sie zunächst herumgeschwindelt hat.«

»Aber wo …?«

»Sie sagt, sie hat den Ausweis gefunden. Im Januar 2003. Offenbar unmittelbar nachdem Elaine verschwunden war.«

»Und wo?«

»In einem abgelegenen Dorf. Wiltonfield oder so ähnlich. Ziemlich weit außerhalb Londons. Sie und Pit machten gemeinsam einen Ausflug, und sie entdeckte den Pass neben mehreren Containern, die am Dorfrand, gleich neben einem Parkplatz, stehen. Altkleidersammlung. Er lag auf dem Boden. Sie hob ihn auf und ließ ihn in ihrer Manteltasche verschwinden. Pit bekam nichts mit. Zu Hause stellte sie fest, dass er auf den Namen Elaine Dawson ausgestellt war und dass diese Dawson in etwa demselben Alter wie sie selbst war. Sie erkannte ihre Chance, hielt ihn gut versteckt – und entschloss sich im darauffolgenden April zur Flucht.«

»Glaubst du ihr?«

»Schwer zu sagen. Ich meine – wenn es stimmt, dann weißt du, was das bedeutet?«

»Jemand hat Elaines Kleidung in den Container geworfen. Dabei ist ihr Pass herausgefallen.«

»Sie war auf dem Flughafen gewesen. Ich könnte mir vorstellen, dass ihr Pass in der Manteltasche steckte, weil sie natürlich davon ausging, ihn vorzeigen zu müssen. Klar, dass ihn irgendjemand finden würde.«

»Aber normalerweise meldet man so etwas dann bei der Polizei.«

»Es sei denn, man ist in einer verzweifelten Notlage und erkennt plötzlich, dass ein solches Papier der Schlüssel zu einem neuen Leben sein kann.«

Rosanna schwieg einen Augenblick. »Das heißt …«

»Das heißt, dass auch nach dieser Variante Elaine höchstwahrscheinlich Opfer eines Gewaltverbrechens geworden ist«, vervollständigte Cedric ihren Satz, »denn weshalb sollte sie selbst ihren Pass neben einen Kleidercontainer irgendwo in der Provinz werfen? Oder ihre Kleider dort entsorgen. Das ergibt kaum einen Sinn.«

»Aber dann ist wieder völlig offen, wer der Täter sein könnte. Pamela ist absolut zufällig an den Pass gekommen, was bedeutet, das Verbrechen muss nichts mit ihrem Umfeld zu tun gehabt haben. Wavers und Malikowski scheiden damit eigentlich aus.«

»Zumindest ist ihre Beteiligung nicht mehr und nicht weniger wahrscheinlich als die irgendeines anderen Kriminellen«, stimmte Cedric zu. »Wie schrecklich für Geoff. Er war so erleichtert, einen Namen zu kennen.«

»Wie, um Himmels willen, ist Elaine in dieses Dorf gekommen?«

»Keine Ahnung. Vielleicht ist sie in das falsche Auto zum falschen Mann gestiegen. Der fährt mit ihr in eine abgelegene Gegend, vergewaltigt sie, bringt sie um, verscharrt sie irgendwo und entsorgt dann die Kleider. Diese Geschichten passieren ja leider häufig.«

»Aber sie war auf dem Weg nach Heathrow!«

»Sie war verzweifelt. Sie kann irgendwo zwischendurch die U-Bahn verlassen haben. Was dann geschah… werden wir wahrscheinlich nie mit Sicherheit wissen!«

Rosanna kam noch ein anderer Gedanke. »Warum hat Pamela dann Malikowski in Verdacht bringen wollen? Wäre Wavers nicht die bessere Wahl gewesen? Immerhin hatte er bereits ein Verbrechen begangen.«

»Ich habe sie das auch gefragt. Sie begründet es mit ihrer Angst. Malikowski etwas anzuhängen, schien ihr weniger gefährlich – was eine mögliche Rache anging. Wavers hat sie geradezu paralysiert. Das habe ich ja selbst gemerkt, als ich mit ihr unterwegs war. Natürlich, nachdem Wavers tot war, wäre es das Beste gewesen, ihm die ganze Geschichte in die Schuhe zu schieben. Aber da hatte sie sich dir und Marc Reeve gegenüber ja schon anders geäußert und konnte nun von ihrer ursprünglichen Behauptung nicht mehr abrücken. Sie musste die Geschichte mit dem Pass aus Malikowskis Schlafzimmer weiter durchziehen.«

»Warum hat sie nicht von Anfang an gesagt, wie es wirklich war? So unwahrscheinlich ist doch ihre Geschichte gar nicht!«

»Rosanna, Pamela ist in einem kriminellen Umfeld groß geworden«, sagte Cedric, »und kaum von daheim fort, ist sie schon wieder in einem kriminellen Umfeld gelandet. In gewisser Weise waren Verbrechen – oder zumindest die verschiedensten Delikte – ihre gewohnte Realität im Alltag. Solche Leute ticken anders als wir. Du und ich, wir würden einfach erzählen, wie es war, weil wir ein gutes Gewissen hätten und gar nicht auf den Gedanken kämen, jemand könnte uns etwas anderes unterstellen. Aber Leute wie Pamela wissen, dass sie schon auf Grund des Milieus, aus dem sie stammen, immer von vornherein verdächtig für die Polizei sind. Sie stehen stets mit einem Fuß im Knast, und prinzipiell wird ihnen wenig geglaubt. Deshalb hat es in Pamelas Augen durchaus Sinn, der Polizei gleich einen Verdächtigen zu präsentieren und gar nicht erst den Gedanken aufkommen zu lassen, sie könnte selbst in irgendeiner Weise verstrickt sein. Denn immerhin hätte sie ein Motiv gehabt, Elaine beiseitezuschaffen: Sie brauchte dringend deren Ausweispapiere. Und jetzt sitzt sie wirklich in der Tinte.«

»Wie siehst du die Sache? Glaubst du ihr?«

Er zögerte. »Irgendwie – ja«, sagte er dann. »Ich kann es nicht genau begründen, aber ich habe nicht den Eindruck, dass sie mich belügt. Natürlich kann ich mich furchtbar täuschen. Eine Frau, die fünf Jahre lang unter falscher Identität lebt, ist es gewohnt, ihrer Umwelt etwas vorzuspielen. Vielleicht ist sie ein ganz abgefeimtes Stück. Ich weiß es nicht.«

»Sie wirkte auf mich wie ein Opfer. Absolut nicht wie ein Täter.«

»Immerhin kann sie auch richtig gut schießen. Das hat sie mir inzwischen auch gestanden. Ihr Bruder hat es ihr beigebracht, als sie ein Teenager war. Dass sie Wavers so glatt erledigt hat, war alles andere als ein glücklicher Zufall oder die Hand Gottes. Der Schuss saß, weil sie es verdammt gut kann.«

»Und Wavers besaß eine Waffe, die ihr womöglich zugänglich war.«

»Ja«, sagte Cedric, »so kann es gewesen sein. Oder ganz anders.«

Rosanna sagte drängend: »Cedric, wie auch immer, sie muss zur Polizei. Sie kann sich nicht bei euch verstecken. Das kannst du Dad nicht antun. Es geht ihm überhaupt nicht gut damit, und wir dürfen ihn in all das nicht mit hineinziehen.«

»Ich weiß«, sagte Cedric, »und ich tue mein Bestes, sie zu überzeugen, das kannst du mir glauben.«

Sie schwiegen beide einen Moment. Ich wollte, es wäre vorbei, dachte Rosanna, einfach endlich vorbei, und wir alle hätten Gewissheit darüber, was geschehen ist.

Sie hörte einen Schlüssel an der Wohnungstür. Marc! Er würde überrascht sein, sie anzutreffen. Noch immer hatte sie nicht entschieden, ob sie ihm von ihrem Besuch bei seiner Exfrau erzählen sollte.

»Ich muss Schluss machen«, sagte sie, »Marc kommt gerade.«

»Du bist bei Marc Reeve?«, fragte ihr Bruder.

»Ja«, entgegnete sie einfach und legte den Hörer auf.

Cedrics Meinung zu diesem Thema wollte sie jedenfalls nicht hören. Sie hatte genug um die Ohren. Schon allein deshalb, weil sie das unangenehme Gefühl nicht loswurde, irgendetwas übersehen zu haben, das sich aus dem Gespräch mit Cedric hätte ergeben müssen. Da war etwas gewesen, wo sie gedanklich hätte einhaken müssen.

Sie kam nur beim besten Willen nicht darauf, worum es sich dabei gehandelt hatte.

 

6

 

In der Nacht konnte Rosanna keinen Schlaf finden. Zu viele Probleme bedrängten sie, zu viele Gedanken geisterten in ihrem Kopf umher. Am späten Abend hatte sie auf ihrem Handy entdeckt, dass Dennis zweimal versucht hatte, sie zu erreichen, aber sie war zu feige, ihn zurückzurufen. Er wähnte sie in Kingston St. Mary. Was sollte sie ihm erklären, weshalb sie sich noch immer in London aufhielt?

Marc war ebenso überrascht wie erfreut gewesen, sie in seiner Wohnung anzutreffen.

»He«, hatte er leise gesagt und sie an sich gezogen, »was ist passiert? Weshalb bist du nicht zu deinem Bruder gefahren?«

»Ich mochte nicht fort von hier«, hatte sie nur geantwortet, und daraufhin waren sie sofort im Schlafzimmer gelandet und hatten zwei Stunden im Bett verbracht, und sie hatte das Läuten ihres Handys ignoriert und damit ihrem Mann keine Möglichkeit gegeben, sie zu erreichen. Später hatten sie sich in Bademäntel gehüllt und aus den Vorräten, die Rosanna gekauft hatte, ein Abendessen gekocht, Kerzen angezündet und eine Flasche Wein aufgemacht, die Marc aus dem Keller holte. Draußen blieben Dunkelheit und Nebel, und die kleine, triste Wohnung wurde mit einem Mal zu einem Ort der Wärme und Behaglichkeit, der Romantik und des Zusammengehörigkeitsgefühls. Beim Essen erzählte Rosanna von Cedrics Anruf und von Pamelas Aussage.

Marc hörte aufmerksam zu.

»Das ist ja ein Ding!«, sagte er, als sie geendet hatte. »Hältst du es für wahrscheinlich, was sie sagt?«

Rosanna zuckte die Schultern. »Schwer zu beurteilen. Ich kenne Pamela ja praktisch nicht, ich habe sie ja auch nur ziemlich kurz erlebt. Cedric, der nun schon mehr Zeit mit ihr verbracht hat, ist geneigt, ihr zu glauben. Aber sicher kann er natürlich auch nicht sein.«

»Wenn es stimmt, was sie sagt, dann ist alles wieder so rätselhaft wie zuvor«, meinte Marc. Frustriert verzog er das Gesicht. »Ich bin dann eigentlich auch wieder im Rennen um einen Platz als Tatverdächtiger!«

»Ich glaube, das nimmt wirklich niemand mehr an«, widersprach Rosanna sofort. »Du hast sie …«

»Ich habe sie in die District Line gesetzt, und dann fuhr sie los, und mehr weiß ich nicht. Kann stimmen oder auch nicht.«

»Du hast ihr erklärt, dass sie umsteigen muss?«

»Klar. South Ealing. Piccadilly Line. Vielleicht hat sie das vermasselt. Ist dort in die falsche Bahn gestiegen und ganz woanders gelandet. Wir werden das wahrscheinlich nie herausfinden, Rosanna. Und weißt du, was?« Er schob seinen noch halbvollen Teller zurück und stand auf. »Es macht mich langsam verrückt, ständig darüber nachzudenken, was geschehen ist. Es ist so sinnlos. Wir kommen nicht dahinter. Ich wünschte, wir könnten das alles endlich abhaken und vergessen.«

Sie hatten dann nicht mehr darüber gesprochen, aber Rosanna hatte auch nicht gewagt, Marc von ihrem Besuch bei Jacqueline zu erzählen. Die Stimmung war ohnehin getrübt, weshalb sollte sie sie völlig verderben. Sie sahen sich zusammen eine Talkshow im Fernsehen an und tranken den Wein aus, und Rosanna spürte, dass ihr Hals zu kratzen begann und ihre Augen brannten. Nun hatte sie sich auch noch eine Erkältung eingefangen. Es war genau das, was sie jetzt gebrauchen konnte.

Als sie im Bett lagen, nahmen ihre Halsschmerzen zu. Und das Gedankenkarussell setzte sich in Bewegung. Sie lauschte auf Marcs gleichmäßige Atemzüge, während sie sich mit Bildern quälte, die vor ihren Augen entstanden. Marc, der mit attraktiven, jungen Frauen durch London zog. Sie selbst daheim wartend, sich sorgend, langsam zerfressen von Eifersucht. Marc, der irgendwann nach Hause kam, nach fremdem Parfüm roch und fadenscheinige Erklärungen von sich gab. Sie konnte die Frustration spüren, die sich in ihr Leben schleichen würde, konnte ahnen, wie quälend es sein musste, sich ständig mit der Frage herumzuschlagen, ob er log oder nicht.

Sie stand schließlich auf, huschte leise ins Wohnzimmer hinüber, schloss die Tür zum Schlafzimmer hinter sich. Sie knipste das Licht in der Küchenecke an, nahm sich ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit kaltem Wasser. Die Kälte tat ihrem wunden Hals gut. Das Glas in der Hand, wanderte sie langsam im Zimmer herum. Sie musste zur Ruhe kommen. Sie durfte sich den vielen Bildern, die sie bestürmten, nicht ausliefern. Nächtliches Wachliegen heizte die Fantasie an, man sah Gespenster, die sich am Tag in Luft auflösten.

Marc hatte längst allem widersprochen, was seine Ex-frau gegen ihn vorbrachte. Er hatte sie als krankhaft eifersüchtig beschrieben, als einen Menschen, der sich in diesem Punkt praktisch in einen Wahn hineingesteigert hatte. Er hatte keineswegs versucht, sich als idealen Ehemann, tollen Vater und fürsorgliches Familienoberhaupt darzustellen. Er hatte alle seine Fehler eingeräumt, war dabei durchaus schonungslos mit sich umgegangen. Aber er hatte es von sich gewiesen, seine Frau betrogen zu haben. Weshalb sollte sie Jacqueline eher glauben als ihm?

Wenn ich in Begriff wäre, eine neue Beziehung einzugehen, würde ich meinem neuen Bartner auch nicht als Erstes erklären, dass meine Ehe an meinen Seitensprüngen gescheitert ist, hatte Jacqueline gesagt. Klar, da hatte sie recht. Trotzdem musste es nicht so sein, wie sie sagte. Es konnte auch so sein, wie Marc es darstellte.

Rosanna drückte ihre heiße Stirn gegen die kühle Fensterscheibe. Es war wie bei der Sache mit Elaine und Pamela. Es konnte so sein, wie Pamela sagte. Es konnte auch ganz anders sein. Alles verschwamm im Nichtwissen. Es war wie da draußen auf der Strasse: Nebel. Einfach nur Nebel.

Der Gedanke an Pamela erinnerte sie daran, dass es etwas in ihrer Schilderung gab, was in ihr einen Impuls ausgelöst hatte. Als Cedric sein Gespräch mit Pamela wiedergegeben hatte, hatte es an irgendeiner Stelle Klick gemacht.

Wann, zum Teufel, und warum nur?

Sie trank das Glas aus. Das Halsweh setzte ihr zu, und nun schien sie auch noch Fieber zu bekommen. Zweifellos eine gute Voraussetzung, sämtliche Ungereimtheiten zu lösen. Wenn sie das überhaupt tun musste.

Warum lasse ich es nicht einfach, dachte sie, lasse das Rätsel um Elaines Verschwinden, wie es ist? Lasse die Zukunft mit Marc einfach auf mich zukommen? Warum höre ich nicht einfach damit auf, all die verworrenen Geschichten um mich herum unbedingt aufklären zu wollen?

Aus schmerzenden Augen blickte sie auf Jacqueline Reeves Aquarell an der Wand, blickte hindurch, ohne es wirklich wahrzunehmen. Ein wolkenverhangener Himmel. Berge im Hintergrund, deren Gipfel im Regen verschwammen. Graues Wasser. Ein Segelboot, das vor einer Hafenmauer vor Anker lag. Ein schwermütiges Bild, traurig und dunkel.

Irgendwie drang das Bild in ihr Bewusstsein vor.

Das Segelboot. Mit abgetakelten Segeln. Der Regen.

Warum malt sie das so traurig?, dachte sie, Marc und sie haben Schiffe doch so geliebt.

Und in diesem Augenblick wusste sie es. Wusste, was die ganze Zeit an ihr nagte. Wusste, was ihr zu schaffen machte, seit Cedric Pamelas Geschichte wiedergegeben hatte.

Der Ort. Wiltonfield. Den Namen des Ortes hatte sie vorher schon einmal gehört. Als Marc ihr von seinem Boot erzählt hatte, auf der Fahrt nach Cambridge. Von dem Club, in dem er mit Jacqueline Mitglied gewesen war. Der Yachtclub in Wiltonfield.

Mit einem Schlag war sie hellwach. Ihr Herz schien plötzlich viel schneller zu schlagen.

Ich muss die Ruhe bewahren, dachte sie, ich darf mich jetzt nicht in voreiligen Schlüssen verlieren.

Sie ging wieder in die Küche, füllte das Glas erneut. Trank in kleinen, konzentrierten Schlucken. Fixierte einen imaginären Punkt in der Nachtschwärze jenseits des Fensters.

Was sind die Fakten – vorausgesetzt, Pamelas Geschichte stimmt?

Pamela Luke findet im Januar 2003, offenbar kurz nach Elaines Verschwinden, deren Pass am Ortsrand eines kleinen Dorfes außerhalb von London. Wiltonfield. Der Ausweis liegt gleich neben einem Altkleidercontainer.

In Wiltonfield befindet sich der Yachtclub, in dem Marc und Jacqueline Reeve seit Jahren Mitglieder sind.

Falsch. Konzentriere dich!

Im Januar 2003 ist Marc nicht mehr Mitglied. Nach der Trennung mochte er dort nicht mehr mit seiner Frau zusammentreffen und hat die Mitgliedschaft gekündigt. Das Boot hat er Jacqueline überlassen. Sie besitzt es bis heute, ist noch immer aktives Mitglied des Clubs.

Sie erinnerte sich, was Jacqueline heute gesagt hatte: Sie halte es in Binfield Heath aus, weil so viele Freunde von ihr in der Umgebung lebten.

Natürlich. Wiltonfield musste ganz in der Nähe liegen, ein oder zwei Ortschaften weiter vielleicht. Wahrscheinlich wohnten etliche Mitglieder des Yachtclubs rund um Wiltonfield und Binfield Heath. Menschen, die Jacqueline seit vielen Jahren kannte, mit denen sie gut befreundet war. Deshalb hatte sie Binfield Heath als neuen Wohnort gewählt. Sie musste sich dort nicht allein fühlen.

Im Januar 2003 nimmt Marc Reeve die ihm völlig fremde Elaine Dawson mit in seine Wohnung. Die junge Frau verschwindet anschließend spurlos. Ihr Pass taucht kurz darauf an dem Ort auf, an dem Jacqueline Reeves Boot liegt, an dem Ort, der sich in unmittelbarer Nähe zu ihrem neuen Zuhause befindet.

Zufall?

Rosanna massierte langsam ihre Schläfen. Sie mochte krank sein, fiebrig, aber sie war nun hellwach. Das kann kein Zufall sein.

Die Geschichte um Elaines Verschwinden hatte mit einem Reeve begonnen. Und nun schien sie auch genau dort zu enden. In einem Zusammenhang mit der Familie Reeve. Aber vielleicht nicht mit Marc.

Ein Gedanke keimte in ihr, eine Idee, aberwitzig vielleicht, aber doch schien sie ihr nicht völlig aus der Luft gegriffen zu sein. Die Idee, dass Jacqueline in die ganze Geschichte involviert war. Die geschiedene Frau – damals, vor fünf Jahren, die in Scheidung lebende Frau –, an die nie einer gedacht hatte.

Die Frau, die krankhaft eifersüchtig, in dieser Hinsicht fast von einem Wahn besessen war?

Marc hatte sie so beschrieben. Dass sie ihn ununterbrochen verdächtigt hatte. Verfolgt hatte mit ihren Anschuldigungen. Dass ihr gemeinsames Leben irgendwann nur noch aus Streitereien, Vorwürfen und hässlichen Szenen bestanden hatte. Dass sie geradezu besessen gewesen war von der Vorstellung, er hintergehe sie fortwährend.

Und dass er ihr dafür in Wahrheit nicht einen einzigen Grund gegeben hatte.

Wenn das stimmte, so war sie wirklich in einer fixen Idee gefangen. Schließlich hatte sie auch im Gespräch mit Rosanna praktisch von nichts anderem geredet. Auch der Nachbar damals hatte von Auseinandersetzungen über dieses Thema berichtet. Immer vorausgesetzt, dass Marc die Wahrheit sagte und zwar ein rücksichtsloser Workaholic, aber kein Ehebrecher gewesen war, kristallisierte sich tatsächlich das Bild einer Frau heraus, die sich in eine eigene Vorstellungswelt hineingesteigert und dabei den Bezug zur Realität mehr und mehr verloren hatte.

Und wenn sie an jenem Abend Elaine in Marcs Haus hat gehen sehen?

Rosanna presste das kalte Glas an ihre Stirn, als könne sie damit ihr Fieber vertreiben. Fantasierte sie, oder war das eine plausible Möglichkeit? Es setzte voraus, dass Jacqueline in der Nähe ihres früheren Hauses gewesen war. Vielleicht hatte sie in ihrem Auto gesessen. Vielleicht hatte sie es sich zur Angewohnheit gemacht, ein Dreivierteljahr nach ihrem Auszug dort ihren Ehemann noch immer zu bespitzeln und zu beschatten. Wenn sie krankhaft eifersüchtig und in einem Wahn gefangen war, so mochte dies nicht einfach dadurch aufgehört haben, dass sie sich getrennt hatte und in einen anderen Ort gezogen war.

Vielleicht war Jacqueline auch am Flughafen gewesen. Hatte selbst irgendwohin gewollt, war wegen des Nebels nicht fortgekommen und hatte gesehen, wie ihr Mann mit einer anderen Frau davonging. Oder war sie am nächsten Morgen in der U-Bahn gewesen? Hatte sie Elaine angesprochen? Ihr irgendetwas erzählt, sie aus der Stadt gelockt?

Rosanna zwang sich, ruhig und sachlich zu denken. All ihre Gedankenspiele schienen absurd, aber nicht zu absurd für die Wirklichkeit. Es mochte ein Zufall gewesen sein oder eine Situation, die Jacqueline bewusst herbeigeführt hatte, aber es erschien ihr nicht zu weit hergeholt, sich vorzustellen, dass Jacqueline Reeve etwas gesehen oder mitbekommen hatte, was ihre Zwanghaftigkeit angeheizt hatte.

Und dann?

War es denkbar, dass Jacqueline Reeve Elaine Dawson umgebracht hatte?

So denkbar und so wenig denkbar zugleich wie die Vorstellung, Marc könne es getan haben. Der unbekannte Täter war immer noch der wahrscheinlichste, weil er aus einer Welt kommen mochte, in der es Verbrechen dieser Art gab: Körperverletzung und Mord und Totschlag, herbeigeführt durch Triebhaftigkeit oder Geldgier oder Lust an Gewalt. Niemand konnte abstreiten, dass es diese dunkle Welt gab, die Taten ihrer Bewohner füllten jeden Tag die Seiten der Zeitungen. Aber Marc gehörte nicht dorthin. Und auch von Jacqueline hätte es Rosanna nie geglaubt. Sie beide jedoch auszuklammern hätte bedeutet, den Fundort von Elaines Ausweis als einen Zufall abzutun. Aber selbst das war denkbar. Zufälle waren immer denkbar.

Sie schrak zusammen, als sie Schritte hinter sich hörte. Marc kam aus dem Schlafzimmer und blinzelte geblendet in das Licht aus der Küchenecke.

»Ich bin aufgewacht, und du warst fort«, sagte er, »was ist los? Kannst du nicht schlafen?«

»Ich bekomme eine Erkältung, glaube ich«, sagte Rosanna, »ich habe Halsschmerzen. Ich brauchte etwas zum Trinken.«

Er nahm sie in die Arme. Sein Körper fühlte sich warm und irgendwie tröstlich an.

»Armer Schatz. Aber du solltest hier nicht ohne Bademantel herumstehen. Das ist viel zu kalt.« Er schob sie ein Stück von sich weg, musterte sie prüfend und legte ihr dann die Hand auf die Stirn.

»Du hast Fieber«, stellte er fest.

Vielleicht lag alles an dem Fieber. Vielleicht steigerte sie sich deshalb in verrückte Ideen hinein. Trotzdem…

»Marc, könnte es sein …«, begann sie und brach dann ab.

Könnte es sein, dass dich deine Frau damals gesehen hat? Deine krankhaft eifersüchtige Frau? Als du Elaine mit in dein Haus genommen hast?

Es war zu früh für diese Frage. Zu früh, ihn mit ihrem ungeheuerlichen Verdacht zu konfrontieren.

»Ja?«, fragte er.

Sie lächelte, schüttelte den Kopf. »Ach, nichts. Du hast recht, mir ist kalt. Lass uns wieder ins Bett gehen.«