Donnerstag, 14. Februar
1
Dennis meldete sich nicht einmal am Valentinstag. Rosanna hatte am Morgen auf einen Anruf gehofft, hatte auch zum Joggen ihr Handy mitgenommen, um gewappnet zu sein, aber aus Gibraltar kam weiterhin nichts als Schweigen.
Es war typisch Dennis. Wenn er beleidigt war, dann war er beleidigt. Das konnte ewig dauern.
Kurz hatte sie erwogen, die Klügere zu sein, nachzugeben und ihn von sich aus zu kontaktieren. Aber dann fürchtete sie die Debatte, die sich daraus ergeben konnte. Da er ihr offensichtlich noch immer grollte, würde er die Gelegenheit sicherlich nutzen, ihr erneut seinen Standpunkt darzulegen, und ihr überdies erklären, dass ihr eigener Standpunkt ihn dabei nicht im Mindesten interessierte. Sie würden in Streit geraten, und sie konnte jetzt nichts ertragen, was ihre Nerven zusätzlich belastete. Sie war angespannt genug wegen der Fernsehsendung am nächsten Tag. Zudem war sie für zehn Uhr mit Marc Reeve in einem Cafe verabredet. Sie wollte sich konzentrieren.
Sie hatte Reeve am Vorabend angerufen, um ihn über die geplante Sendung zu informieren, was sie angesichts seiner Bereitwilligkeit, ihr ein Gespräch zu gewähren, für fair hielt. Wie sich herausstellte, wusste er schon Bescheid und wirkte ziemlich deprimiert.
»Die haben bei mir auch angerufen«, hatte er erklärt, »und wollten mich einladen. Ich habe abgesagt, weil das nur bedeuten würde, dass mein Gesicht wieder allen ins Gedächtnis gerufen wird. Es reicht, dass der Fall gründlich aufgewirbelt wird. Und ich hatte schon gedacht, die Sache sei endlich ausgestanden.«
»Es tut mir sehr leid, Mr. Reeve. Die Geschichte bekommt mehr Publicity, als ich selbst geahnt habe. Ich kann leider meine Teilnahme an der Sendung nicht absagen. Mein Chefredakteur …«
»Ich weiß. Sie müssen Ihren Job machen. Ich verstehe das wirklich.«
Ihr war ein Einfall gekommen. »Meinen Sie, wir könnten uns vorher noch einmal treffen? Wenn man derart an Ihnen interessiert ist, wird man mich auch auf Ihre Rolle in der ganzen Geschichte ansprechen. Vielleicht sollte ich noch ein bisschen besser vorbereitet sein.«
Er hatte gezögert. Deutlich gezögert. Sie hatte begriffen, dass er ihr noch immer nicht vertraute.
»Es bleibt dabei«, sagte sie, »dass ich nichts schreiben oder sagen werde, was Sie nicht wollen.«
»Schon okay«, sagte er.
Er hatte eingewilligt, sich mit ihr zu treffen, immerhin. Aber für sie war deutlich spürbar, dass er viel lieber gesagt hätte: Lasst mich alle in Ruhe! Verschont mich endlich mit dieser Geschichte! Er war ihr gegenüber schon am ersten Tag ganz offen gewesen: Auf die Gespräche mit ihr ließ er sich nur deshalb ein, weil ihm damit eine Möglichkeit zur Einflussnahme blieb. Er tat es weder gern noch vertrauensvoll.
Eigentlich kam sie sich vor wie ein lästiger kleiner Terrier, der sich kläffend im Hosenbein eines Vorübergehenden festgebissen hatte. Eine Rolle, die ihr nicht im Mindesten behagte, und an diesem Morgen dachte sie plötzlich, dass dieser England-Aufenthalt, der ihre Ehe zum ersten Mal auf eine echte Bewährungsprobe stellte, am Ende sein Gutes hatte: Ihrem Beruf als Journalistin würde sie danach vielleicht nicht mehr nachtrauern. Es gehörte zum Job, sich in die Angelegenheiten anderer einzumischen, und offenbar hatte sich bei ihr im Laufe der Jahre etwas verändert. Sie war sensibler geworden. Sie fühlte sich unwohl dabei. Es schien nicht mehr das zu sein, was zu ihr passte.
Darüber zumindest wird Dennis sich freuen, dachte sie.
Sie saß eine Viertelstunde zu früh in dem vereinbarten Cafe an der Oxford Street, und dieser Umstand verriet ihr etwas über den steigenden Grad ihrer Nervosität. Für gewöhnlich wurde sie nicht von einer derartig heftigen inneren Unruhe vorangetrieben. Um sich zu beschäftigen, machte sie sich ein paar Notizen zu einem der anderen Fälle, von denen sie sich immer wieder ins Gedächtnis rufen musste, dass sie genauso wichtig waren wie Elaines Geschichte. Über das Wochenende, dazu war sie fest entschlossen, würde sie zu einem von ihnen ihren ersten Artikel schreiben. Überhaupt würde sie morgen Abend, nach ihrem Fernsehauftritt, mit Elaine abschließen. Sie würde das Material verwenden, das sie hatte, die Geschichte schreiben und von da an alles ruhen lassen. Fertig. Sie musste zu einem Ende kommen.
Marc Reeve erschien pünktlich auf die Minute. Wieder sah er müde und angestrengt aus, obwohl es noch früh am Tag war. Er wirkte wie jemand, der nachts schlecht schlief. Rosanna hatte sofort ein schlechtes Gewissen, und plötzlich empfand sie auch einen gewissen Ärger auf Nick. Er hatte sie auf Reeve gehetzt. Hätte man den Mann nicht in Ruhe lassen können?
»Warten Sie schon lange?«, fragte Reeve und blickte auf seine Uhr.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich war einfach zu früh. Das liegt an meiner Nervosität. Diese Sendung morgen…« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, sondern sagte stattdessen: »Danke, dass Sie sich mitten am Tag die Zeit nehmen.«
»Es liegt in meinem Interesse«, erwiderte Reeve. Er setzte sich. »Ich habe eine knappe Stunde für Sie. Meine Sekretärin hat die Grippe, ich bin allein im Büro, und es geht alles ziemlich drunter und drüber. Was möchten Sie wissen? Sie sagten, Sie wollten ein bisschen besser vorbereitet sein?«
»Äh … ja …« Sie räumte rasch ihre Unterlagen zu dem anderen Fall beiseite, kramte einen Notizblock hervor, auf dem sie sich einige Punkte notiert hatte. »Es gibt da das eine oder andere Problem …«
Die Kellnerin trat heran. Nachdem sie jeder einen Cappuccino bestellt hatten, sagte Rosanna: »Eine Frage hat sich für mich nicht geklärt. Sie waren an jenem Januarabend in Heathrow, um nach Berlin zu fliegen. Was, wie bei allen anderen, nicht klappte. Am nächsten Morgen begleiteten Sie Elaine in aller Frühe zur U-Bahn-Station Sloane Square. Warum fuhren Sie nicht auch zum Flughafen? Und versuchten erneut, einen Flug zu bekommen?«
»Weil sich für mich die Sache erledigt hatte. Es ging um ein Abendessen in Berlin. Mit einem polnischen Mandanten, an dem die Kanzlei, in der ich bald darauf assoziiert sein sollte, interessiert war. Nachdem alle Flüge abgesagt waren, rief ich unsere Kontaktperson an und fragte, ob sich die Begegnung auf den nächsten Tag verschieben ließe. Das war jedoch nicht möglich, unser potenzieller Mandant musste an jenem Samstagmorgen bereits nach Polen zurück. Wir vereinbarten einen erneuten Versuch ein paar Wochen später. Dazu kam es allerdings nicht mehr, jedenfalls nicht mit meiner Beteiligung. Denn da hatte mich die Presse bereits in der Luft zerrissen, und vonseiten der Kanzlei hatte man mir signalisiert, dass man an einer Zusammenarbeit nicht länger interessiert sei. Ich war draußen.« Er zuckte mit den Schultern. Sein Gesichtsausdruck verriet nichts darüber, was in ihm vorging.
Rosanna, die spürte, dass er Sachlichkeit wünschte und keinesfalls eine bedauernde Bemerkung, nickte und kritzelte zwei oder drei Stichworte aufs Papier. Ein Lebensschicksal, dachte sie, ein Lebensschicksal, innerhalb weniger Augenblicke völlig auf den Kopf gestellt.
»Sie sahen Elaine zuletzt am Eingang zur U-Bahn?«, fuhr sie fort.
»Nein«, sagte Reeve, »ich sah sie hinter dem Fenster der abfahrenden Bahn. Ich brachte sie bis hinunter, half ihr, das Ticket zu lösen, und achtete darauf, dass sie in den richtigen Zug stieg. Sie war ja zum ersten Mal in London und zudem noch immer ziemlich aufgelöst. Ich dachte, sie landet Gott-weiß-wo, wenn ich nicht aufpasse.«
»Noch immer aufgelöst?«
»Sie weinte nicht mehr. Aber sie war zweifellos sehr durcheinander. Es ging gar nicht so sehr um diesen Flug, um diese Reise nach Gibraltar. Es ging um ihr ganzes Leben. Ja, ich glaube, so hatte sie es selbst formuliert, nachts, als wir noch miteinander sprachen. Es geht um mein ganzes Leben, sagte sie irgendwann, ich habe das Gefühl, jetzt geht es um alles. So ungefähr lauteten ihre Worte.«
»Haben Sie eine Vorstellung, was genau sie damit meinte?«
Die Kellnerin brachte die beiden Cappuccino und stellte einen Teller mit bröselig wirkendem Gebäck dazu. Reeve griff sich einen der Kekse, aß ihn aber nicht, sondern drehte ihn zwischen seinen Fingern.
»Ich hatte durchaus eine Vorstellung. Und ich könnte mich heute ohrfeigen, dass bei mir nicht rechtzeitig die Alarmglocken ansprangen. Im Grunde hat sie mir ziemlich deutlich signalisiert, dass sie ausbrechen möchte. Dass sie mit dem Leben so, wie sie es führt, nicht mehr zurechtkommt. Dass sie weg will, in erster Linie von ihrem Bruder, aber auch von dem Dorf, von ihrem Job… von einfach allem. Wenn ich ein bisschen intensiver nachgedacht hätte, wäre mir vielleicht bewusst geworden, dass sie die Gelegenheit nutzen und untertauchen würde – und dass ich, als der Letzte, der mit ihr zusammen war, in irgendeiner Form da mit hineingezogen werden könnte. Aber so genau dachte ich eben nicht nach. Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass sie mich gar nicht genug interessierte, als dass ich mich noch viel mit ihr beschäftigt hätte. Ich hatte meine gute Tat vollbracht. Hatte ihr ein Zimmer für die Nacht gegeben, mir stundenlang ihre Klagen angehört und sie am Ende in die richtige U-Bahn gesetzt. Das war's für mich. Ich ging nach Hause, setzte mich an meinen Schreibtisch und fing an zu arbeiten.«
»Was hätten Sie auch tun sollen?«
»Ja. Was hätte ich tun sollen? Im Nachhinein habe ich mich das oft gefragt. Mit nach Heathrow fahren, mich vergewissern, dass sie ins Flugzeug steigt? Dann wäre nachweisbar gewesen, dass sie mein Haus lebend verlassen hat. Darauf bestehen, dass sie ihren Bruder anruft, ihm erklärt, dass es ihr gut geht? Sie eigenhändig nach Somerset zurückkutschieren, um sicherzugehen, dass sie keinen Blödsinn macht? Aber das sagt sich jetzt leicht. Im Übrigen – wie hätte ich mir das anmaßen können? Ich hatte keinen Teenager vor mir. Sie war jung, aber sie war erwachsen. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte.«
»Ich denke«, sagte Rosanna sanft, »Sie müssen sich nichts vorwerfen.«
Reeve schüttelte den Kopf. »Doch. Ich muss mir etwas vorwerfen. Aber kein Versäumnis. Ich muss mir nicht vorwerfen, etwas nicht getan zu haben, ich muss mir vorwerfen, etwas getan zu haben. Es war eine grobe Fehlhandlung, diese weinende junge Frau mit zu mir nach Hause zu nehmen. Es war die dümmste Tat meines Lebens. Es war …«, mit einer fast wütenden Bewegung legte er den zerbröselten Keks auf den Tisch, »es war kompletter Schwachsinn!«
»Sie wollten helfen.«
»Ja, ich wollte helfen. Und ich dachte einfach nicht an irgendwelche sich möglicherweise ergebenden Verwicklungen. Und dennoch … es gab da einen kurzen Augenblick auf dem Flughafen …« Er schwieg.
»Ja?«, fragte Rosanna.
Er sah sie nicht an. »Es gab einen Augenblick, da funktionierte mein Sicherungssystem. Kurz bevor ich ihr anbot, mitzukommen. Es war … fast wie ein Reflex. Ich sah sie an und checkte in Gedanken ihr Alter.«
»Ihr Alter?«
»Ich klärte für mich ab, dass sie nicht minderjährig war. Nicht, weil ich irgendetwas mit ihr vorgehabt hätte. Aber ein minderjähriges Mädchen hätte ich nicht mitgenommen. Einfach, um mir jede Art von Ärger zu ersparen. Und das ist es, was ich mir heute so übel nehme. Dass ich ein Warnlicht gesehen, es aber zu schnell ausgeschaltet habe. Elaine Dawson war deutlich mindestens zwanzig Jahre alt. Damit war für mich das Problem abgehakt. Und das war der Fehler. Mir hätte sofort klar sein müssen, dass aus dem Umstand, eine wildfremde Frau mit nach Hause zu nehmen, Schwierigkeiten erwachsen können, ganz gleich, ob sie fünfzehn ist oder dreiundzwanzig.«
»Ein Reflex«, sagte Rosanna, »Sie sprachen von einem Reflex.«
Er lächelte schwach. »Den Reflex haben wahrscheinlich die meisten Männer.«
»Schnell zu checken, ob eine junge Frau minderjährig ist oder nicht?«
»Na ja…«, meinte er entschuldigend.
Sie überlegte. Oder haben ihn nur die Aufreißer? Wie du? Laut der Aussage deines Nachbarn … Sie schüttelte diesen Gedanken rasch wieder ab. Sie durfte den Behauptungen von Marc Reeves einstigem Nachbarn nicht zu viel Gewicht beimessen. Seine persönliche Abneigung war allzu spürbar gewesen.
»Über diesen kurzen Moment, in dem Sie eine Warnung spürten, haben Sie nie gesprochen, oder?«, fragte sie. »Jedenfalls findet sich nichts in den Presseartikeln.«
»Nein, darüber habe ich nicht gesprochen. Man hätte das gegen mich ausgelegt. Man hätte geglaubt, ich habe Elaine vorsätzlich mitgenommen, weil ich ein Abenteuer suchte, und das wäre ein weiterer Schritt in Richtung Vergewaltigung und Mord gewesen, wohin ja die meisten gern wollten. Wohin sie dann allerdings trotzdem gingen, egal, was ich zu meiner Rechtfertigung vorbrachte.«
Sie waren an dem Punkt angelangt, der für Rosanna noch immer unklar war. Obwohl sie so viel darüber gelesen hatte. Obwohl es Aussagen von Marc Reeve dazu gab. Sie war bislang noch nicht sicher.
»Mr. Reeve«, sagte sie zögernd, »bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber… es gibt da noch etwas…«
»Ja?«
»Etwas, das ich nicht ganz verstehe. Obwohl Sie es oft genug erklärt haben. Ich möchte nicht, dass Sie glauben, ich misstraue Ihnen, oder …«
»Fragen Sie doch einfach.«
Sie gab sich einen Ruck. »Es klingt vielleicht blöd, aber es tut mir leid: Noch keine Ihrer Antworten auf diese Frage hat mich überzeugt. Deshalb stelle ich sie noch mal, obwohl sie Ihnen wahrscheinlich schon zum Hals heraushängt: Weshalb haben Sie Elaine Dawson an jenem 10. Januar mitgenommen? Warum haben Sie dieser wildfremden Frau ein Bett in Ihrem Haus angeboten? Was war an ihr, dass Sie einen solchen Schritt taten? Was hat sie in Ihnen berührt?«
Sie hätte gedacht, dass er ärgerlich reagieren würde. Zu oft schon war ihm diese Frage gestellt worden.
Zu ihrer Überraschung aber sah er sie nur sehr nachdenklich an.
»Das ist eine gute Frage«, sagte er schließlich, »so wurde sie noch nie formuliert. Dabei trifft es so den Punkt. Was hat Elaine Dawson in mir berührt? Darum geht es bei all dem, nicht wahr? In erster Linie darum. Ich will versuchen, Ihnen das zu erklären.«
2
Fast ihre gesamten Habseligkeiten passten in den einen Koffer, den sie besaß, und die paar Gegenstände, die nicht mehr hineingingen, Lebensmittel vor allem, die sie nicht wegwerfen mochte, packte sie kurz entschlossen in eine Plastiktüte. Sie hatte im Elephant angerufen und sich wegen eines Zahnarzttermins entschuldigt, was mit einigem Murren hingenommen wurde.
»Heute Abend komme ich«, sagte sie beruhigend.
»Das will ich hoffen«, knurrte Justin, »wir haben heute Abend eine Sportmannschaft hier zum Feiern. Wir brauchen dich!«
»Alles klar!« Sie hoffte, dass es ihr gelang, bis zum Abend ein Fahrrad zu organisieren. Vielleicht hatte Mrs. Smith-Hyde eines in ihrer Garage stehen.
Sie musste daheim bleiben, um den Moment abzupassen, wenn Mr. Cadwick das Haus verließ. Sie war entschlossen, einfach abzuhauen und sich nicht in lange Diskussionen einzulassen, aber sowie er sie mit einem Koffer gesehen hätte, wäre er unweigerlich mit Fragen über sie hergefallen. Er hatte ihr einmal erzählt, dass er an jedem Vormittag fortging, um sich sein Mittagessen zu kaufen.
»Vorratswirtschaft ist nichts für mich. Da käme ich ja gar nicht mehr raus!«
Hoffentlich musste er auch heute zum Gemischtwarenladen gehen. Die halbe Stunde räumte ihr genug Zeit ein, ungesehen aus der Wohnung zu verschwinden und zur Bushaltestelle zu gelangen. Wenn er seinen Aufbruch nicht zu lange verzögerte, könnte sie sogar noch den Bus um zwölf Uhr erreichen. Ein paar Tage später wollte sie dann zu ihm hingehen und um Herausgabe der Kaution bitten. Natürlich würde er sie heftig beschimpfen, aber sie konnte ihn darauf hinweisen, dass sie ihm ja die komplette Februarmiete überließ, obwohl sie sie nicht abwohnte. Sie hoffte, sich bis dahin in ihrem neuen Domizil ein wenig eingelebt zu haben und genügend Sicherheit zu empfinden, diesem Ekelpaket noch einmal gegenübertreten zu können.
Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Bis zehn Uhr hörte sie überhaupt nichts von ihm. Möglicherweise schlich er im Treppenhaus umher und fragte sich, weshalb seine Untermieterin nicht zur Arbeit ging. Oder er überlegte, ob er sie verpasst hatte, ob sie am frühen Morgen schon fortgegangen war. Natürlich konnte er eine Stichprobe machen und in die Wohnung kommen, daher hatte sie vorsichtshalber die Kommode unter der Türklinke stehen lassen. Wenn er das ausprobierte, wusste er, dass sie da war, aber dann musste sie ihm irgendetwas von Zahnschmerzen zurufen und hoffen, dass er dennoch zum Einkaufen ging. Im Grunde war das Leben mit diesem Vermieter untragbar. Sie fragte sich, warum sie so lange gezögert hatte, es zu beenden.
Um elf Uhr gab er endlich ein Lebenszeichen von sich. Sie schrak zusammen, als sie plötzlich seine Stimme hörte. Sie kam direkt von dem kleinen Flur vor ihrer Tür.
»Hallo? Hallo, Miss? Sind Sie da?«
Sie antwortete nicht. Also hatte er bemerkt, dass sie nicht zur Arbeit gegangen war.
»Ich weiß, dass Sie da sind!«, rief er.
Offenbar hegte er bei all seiner krankhaften Distanzlosigkeit doch eine gewisse Furcht, ihr plötzlich in ihrer Wohnung gegenüberzustehen, denn er probierte nicht, die Tür zu öffnen.
»Hallo!«, rief er noch einmal vorsichtig.
Sie hätte am liebsten jeden Kontakt vermieden, aber plötzlich kam ihr der Gedanke, dass er dann vielleicht überhaupt nicht mehr weggehen und sie für den Rest des Tages zur Gefangenen machen würde, und so antwortete sie schließlich, innerlich zitternd vor Wut.
»Ich bin hier, Mr. Cadwick. Alles in Ordnung.«
»Warum sind Sie nicht bei der Arbeit?«
»Zahnschmerzen,«
»Dann müssen Sie zum Arzt, Kind! So etwas sollte man nicht aufschieben!«
»Ich habe einen Termin heute Mittag. Ich gehe dann schon.«
»Kann ich etwas für Sie tun?«
»Nein. Danke. Ich komme zurecht.« Verpiss dich endlich!
Nach einem Moment des Schweigens verkündete er: »Ich gehe jetzt fort und kaufe mein Mittagessen ein. Soll ich Ihnen etwas mitbringen?«
»Ich habe alles da, was ich brauche.«
»Sie müssen essen! Sie sind so dünn!«
Man hätte ihn für einen netten, fürsorglichen älteren Herrn halten können.
Aber ich kenne dich zu gut, dachte sie.
»Ich esse ja. Wirklich, Mr. Cadwick, machen Sie sich keine Sorgen, alles klar bei mir!« Sie hätte ihm gern eine wirklich patzige Antwort gegeben, fürchtete aber, ihn damit in eine Diskussion zu verwickeln. Und wenn er nicht bald verschwand, wurde es knapp mit dem Zwölf-Uhr-Bus.
»Na gut. Ich gehe dann jetzt!«, rief er.
Ja! Beeil dich! Verschwinde und komm nicht so bald wieder!
Zwei Minuten später hörte sie unten die Haustür. Nach einer Weile wagte sie es, aus dem Fenster zu spähen. Sie sah ihn die Gasse hinunterschleichen, in jener unbeholfenen Gangart, die Menschen zu eigen ist, die zu viel sitzen. Leben Sie wohl, Mr. Cadwick. Vielleicht finden Sie ja irgendwann ein neues Opfer, das Sie tyrannisieren können!
Schnell zog sie ihre Stiefel und ihren Mantel an, ergriff Koffer und Plastiktüte und warf noch einen allerletzten Blick zurück in die Räume, die fast zwei Jahre lang ihr Zuhause gewesen waren. Sie hatte sich hier nie besonders wohl gefühlt, dennoch waren ihr die abgewohnten, hässlichen Gegenstände inzwischen sehr vertraut, und irgendwie war es schon ein Stück Heimat gewesen. Sie schob den Anflug von Wehmut rasch zur Seite. Bei ihrer Art zu leben konnte sie es sich nicht leisten, an einem Ort echte Wurzeln zu schlagen. Sie musste jederzeit zu Abschied und Aufbruch bereit sein.
Der Weg zur Bushaltestelle war nicht allzu weit, aber der Koffer war schwer. Immer wieder musste sie ihn absetzen und eine Pause einlegen. Zudem musste sie einen Umweg gehen, da sonst die Gefahr bestanden hätte, Mr. Cadwick zu begegnen, der vom Einkaufen zurückkam. Unterwegs dachte sie noch einmal über den Zeitungsartikel nach, der sie am Vortag so erschüttert hatte. Linda Biggs hieß das bedauernswerte junge Mädchen, das in London auf so grausame Weise umgebracht worden war. Natürlich musste Pit überhaupt nichts damit zu tun haben. Die Umstände, wie sie in der Zeitung geschildert wurden, erinnerten an Jane French, auch der Ort, an dem man ihre Leiche gefunden hatte. Andererseits hatte sie schon oft von sogenannten Nachahmungstätern gelesen. Die schnappten irgendeine Geschichte auf und machten sich einen Spaß daraus, den gesamten Ablauf in einem neuen Fall zu kopieren. Es konnte sich um einen durchgeknallten Typen handeln, der den Fall French im Internet aufgestöbert hatte und davon fasziniert gewesen war. Er hatte sich hineingesteigert, hatte an nichts anderes mehr gedacht, hatte all die grauenvollen Dinge, die mit ihr geschehen waren, in Gedanken wieder und wieder durchgespielt. Und nun, Jahre nach dem Verbrechen, waren seine Sicherungen durchgebrannt. Der Zufall hatte ihm das junge Mädchen in die Hände gespielt, die Umstände waren günstig gewesen, er hatte es getan.
So etwas gab es. Man hörte es immer wieder. Die Amokläufer, die inzwischen geradezu regelmäßig mit Vorliebe in Schulen oder Colleges eindrangen und alles abknallten, was ihren Weg kreuzte, hatten meist diesen Weg genommen. Waren ähnlich blutigen Szenarien wie denen, die sie später selbst anrichteten, in Filmen, Videospielen oder auch in Presseberichten begegnet und hatten nicht mehr davon lassen können. Warum sollte Linda Biggs nicht auch das Opfer eines solchen Verrückten geworden sein?
Auch deshalb, weil es mir lieber wäre, dachte sie, weil mir kalt wird bei dem Gedanken, dass Pit noch immer so drauf ist. Weil ich hoffe, dass sich irgendetwas bei ihm geändert hat.
Aber war das realistisch? Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie einer Utopie anhing. Pit war in den Fall Biggs vielleicht nicht verwickelt, aber deswegen hatte er sich noch lange nicht geändert. Sie hatte ihn als Psychopathen erkannt, sie war bis heute überzeugt, dass diese Einschätzung stimmte. Psychopathen blieben Psychopathen, sie legten diese tiefe Störung nicht plötzlich eines schönen Tages ab und waren dann nicht wiederzuerkennen.
Sie erreichte die Haltestelle rechtzeitig und saß zehn Minuten später im Bus. Das Wetter wurde besser, wie sie beim Hinausschauen feststellte. Zum ersten Mal seit Tagen zeigten sich große Wolkenlücken und dahinter blauer Himmel, und immer wieder fielen Sonnenstrahlen zur Erde und tauchten die winterkahle Landschaft in ein freundliches Licht. Noch immer war es kalt, und sie wusste auch, dass sich der Frühling hier oben mehr Zeit ließ als im Süden Englands, aber es war doch, als schicke er heute einen Vorboten, der sein baldiges Kommen ankündigte, und dies erschien ihr als ein gutes Zeichen.
Mit dem Bus bewältigte sie die Strecke innerhalb einer Viertelstunde. Mit dem schweren Koffer war es noch ein recht anstrengender Weg bis zum Haus von Mrs. Smith-Hyde, und trotz der sehr frischen Luft und des frostigen Windes war sie ziemlich verschwitzt, als sie keuchend dort anlangte. Wie schon bei der ersten Begegnung kam ihr Mrs. Smith-Hyde irgendwie missbilligend vor, aber möglicherweise war das einfach ihre Natur und hatte nichts weiter zu bedeuten.
»Da bin ich«, erklärte sie überflüssigerweise.
»Das sehe ich«, erwiderte ihre neue Wirtin streng, »unvernünftig, derart schweres Gepäck so weit zu schleppen! Da kann man sich leicht verheben, und später hat man es dann mit den Bandscheiben!«
»Es gab keine andere Möglichkeit. Und ehe ich es vergesse: Haben Sie vielleicht ein altes Fahrrad, das Sie mir verkaufen könnten? Oder kennen Sie jemanden, der eines hat?«
»Ein Fahrrad?«
»Ich komme sonst nachts nicht vom Elephant in Langbury zurück. Nach acht Uhr fährt kein Bus mehr.«
»Wissen Sie«, sagte Mrs. Smith-Hyde, »ich habe mir das überlegt. Es gefällt mir nicht, dass Sie in dieser Kneipe arbeiten. Kein guter Ort für eine junge Frau. Und jede Nacht mit dem Fahrrad unterwegs zu sein… wie stellen Sie sich das denn im Winter vor? Ganz abgesehen von den Gefahren, die selbst hier in unserer friedlichen Abgeschiedenheit lauern können.«
Sie erstarrte vor Schreck. Wollte Mrs. Smith-Hyde ihr das Apartment nun doch nicht vermieten? Es erschien ihr unvorstellbar, zu Mr. Cadwick zurückzukehren.
»Ich … nun, es ist meine Arbeit …«, stotterte sie.
»Ich könnte eine Putzfrau brauchen«, erklärte Mrs. Smith-Hyde unumwunden, »und ich weiß von etlichen Familien, denen das ebenso geht. Die junge Frau, die bislang für das halbe Dorf geputzt hat, bekommt ein Baby und fällt für längere Zeit aus. Wie wäre es? Sie arbeiten für mich, und ich empfehle Sie auch den anderen. Sie können abends zu Hause bleiben und haben überhaupt ein ruhigeres Leben.«
Sie überlegte. Ruhig würde ihr Leben wahrscheinlich nicht sein. Es war sicher nicht leicht, für Mrs. Smith-Hyde zu arbeiten, und wer wusste, wie die anderen waren. Allerdings ersparte sie sich tatsächlich die nächtlichen Radtouren, und zudem konnte sie dann ihre Brücken in Langbury wirklich endgültig abbrechen. Sie hatte sich schon ein paar Mal gefragt, ob Mr. Cadwick sie in seinem Ärger immer wieder im Elephant aufsuchen und behelligen würde. Wenn sie Mrs. Smith-Hydes Angebot annahm, ginge sie allen Problemen aus dem Weg.
»Ich überlege es mir«, sagte sie.
»Aber bitte nicht zu lange«, schnaubte Mrs. Smith-Hyde.
Im Grunde hatte sie sich bereits entschieden. Der Gedanke an einen sauberen Schnitt fühlte sich gut an.
Angela wurde am Donnerstagmittag fündig. Sie hatte am Mittwochabend nicht mehr lange im Computer suchen können, weil Gordon plötzlich zurückgekommen und völlig zusammengebrochen war. Er hatte im Wohnzimmer gekauert und geschluchzt und wieder und wieder beteuert, wie sehr er seine Linda geliebt hatte. Zwar war Angela versucht gewesen, ihn daran zu erinnern, wie abfällig er stets über sie gesprochen und wie lieblos er sie immer wieder behandelt hatte, aber dann hatte doch ihr Mitleid gesiegt, und sie hatte sich zu ihm gesetzt und ihn in den Arm genommen.
»Wer tut so etwas, wer tut so etwas?«, hatte er ein ums andere Mal gefragt, aber wie sollte sie ihm darauf eine Antwort geben? Schließlich erfüllten sie die Umstände von Lindas Tod ja selbst mit nichts als Fassungslosigkeit.
Ja, welcher Mensch tat einem anderen Menschen etwas Derartiges an?
Da sie sich für den Rest der Woche krankgemeldet hatte, blieb sie auch am Donnerstag daheim. Sally hatte mit einem für sie ungewöhnlichen Aufwand an Energie am Morgen ihre drei Söhne dazu überredet, in die Schule zu gehen, danach war sie mit Schlaftabletten und Schnaps angefüllt in der Küche in sich zusammengesunken. Gordon saß bei ihr und lamentierte vor sich hin, ohne dass ihm irgendjemand zugehört hätte.
Angela durchsuchte erneut die Masse an Eintragungen zum Mordfall Jane French, stieß aber zunächst nur auf die ewig gleichen Fakten: Janes Bruch mit der Familie, ihre Arbeit als Prostituierte in London, die Aussagen ihrer Freundin und Wohnungsgefährtin, was das gemeinsame Leben anging. Nichts von all dem ließ sich verwerten. Es schien keinen Berührungspunkt mit Linda Biggs zu geben.
Aber dann fand sie ein ausführlicheres Interview mit der Zimmergenossin, und zum ersten Mal wurde ein Fakt erwähnt, der sie aufhorchen ließ.
»Sie hatte offenbar irgendwo eine neue Geldquelle entdeckt«, hatte die Freundin auf die Frage nach Jane Frenchs Lebensumständen geantwortet, »jedenfalls in den letzten Wochen vor ihrem Verschwinden. Sie kaufte sich viel teurere Klamotten als ich. So viel Geld wie sie könnte ich nie für Kleider ausgeben!«
Angela kniff die Augen zusammen. Eine kribbelnde Unruhe erfüllte sie. Das ist es, dachte sie, da ist eine Gemeinsamkeit. Genau das ist uns auch bei Linda aufgefallen. Die Kleidung, die sich so schlagartig verbessert hatte.
Sie stand auf, verließ das Zimmer und lauschte zur Küche hin. Von ihrem Vater vernahm sie ein monotones Brabbeln. Von Sally war kein Laut zu hören. Was kein Wunder war. Angela hatte selbst gesehen, wie sie zwei Schlaftabletten schluckte, obwohl von dem Präparat eine einzige ausgereicht hätte, sie für Stunden in den Schlummer zu schicken.
Sie hatte keine Lust, ihren Eltern etwas zu erklären. Sie wollte direkt mit Inspector Fielder sprechen. Er hatte ihr seine Karte dagelassen.
»Wenn Ihnen irgendetwas einfällt«, hatte er gesagt, »egal, wie unwichtig es Ihnen erscheint – rufen Sie mich an. Bitte haben Sie keine Angst, sich lächerlich zu machen. Alles kann wichtig sein.«
Sie huschte ins Wohnzimmer, wo das Telefon stand. Ihre Eltern hatten an diesem Morgen vergessen, das Bett wieder zum Sofa zusammenzuschieben. Die Bettwäsche war völlig zerwühlt. Angela vermutete, dass sich Gordon die ganze Nacht hin- und hergeworfen hatte.
Sie hatte befürchtet, es sei gar nicht so einfach, sich mit Fielder verbinden zu lassen, aber das hing, wie sie später dachte, damit zusammen, dass sie im Innern angefüllt war mit der Überzeugung, ein Mensch, der wie sie aus dem sozialen Wohnungsbau von Islington stammte, werde grundsätzlich nie irgendwo auch nur eine Spur zuvorkommend behandelt. Tatsächlich stellte man sie aber sofort durch. Sie hatte Fielder in der Leitung, noch ehe sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte.
»Miss Biggs!« Er wirkte fast erfreut. »Ihnen ist etwas eingefallen?«
Die tappen ganz schön im Dunkeln, dachte sie, wenn er so enthusiastisch auf diese Möglichkeit reagiert.
»Nun ja … ich weiß natürlich nicht, ob es Sie irgendwie voranbringt, aber …« Sie berichtete ihm, was sie im Internet gefunden hatte. Er hörte aufmerksam zu.
»Das ist in der Tat eine wichtige Übereinstimmung«, sagte er, als sie fertig war. Sie hatte den Eindruck, dass er dieses Detail bereits gekannt hatte, aber zu freundlich war, ihr das zu sagen. »Ein weiterer Baustein für unsere Überlegung, dass es sich bei dem Mörder von Jane French und dem Ihrer Schwester um ein und denselben Täter handelt.«
»Aber wer dieser Täter ist …?«
»… wissen wir dadurch natürlich noch nicht. Doch wenn wir es mit demselben Mann zu tun haben, können wir ihn enger einkreisen. Wir haben nun immerhin das Umfeld Ihrer Schwester, um zu ermitteln.«
»Haben Sie mit Lindas Exfreund gesprochen?«, fragte Angela.
Fielder nickte. »Ja. Leider hat uns das nicht weitergebracht. Höchstens in dem Punkt, dass wir ihn als Täter meiner Ansicht nach ausschließen können. Er wirkt geschockt und verzweifelt und hat immer noch nicht die Trennung vom letzten Jahr überwunden. Linda hat ihm nicht die geringste Erklärung für den Abbruch der Beziehung gegeben. Natürlich hat auch er vermutet, dass ein anderer Mann im Spiel ist, aber sie hat dazu nichts gesagt.«
»Dann sind Sie keinen Schritt weiter«, meinte Angela mutlos.
Fielder versuchte sich zuversichtlich zu geben. »Ich möchte den Mörder Ihrer Schwester finden, Miss Biggs. Bitte glauben Sie mir das. Mir liegt so viel daran wie Ihnen. «
»Aber es gibt kaum Anhaltspunkte.«
»Es spricht vieles dafür, dass es einen neuen Mann im Leben Ihrer Schwester gab. Mit ihm hat sie Zeit verbracht – wahrscheinlich auch gerade die letzten Tage ihres Lebens, nach dem … Streit mit ihrem Vater. Irgendjemand muss sie mit ihm zusammen gesehen haben. Menschen bewegen sich immer in einer Umgebung, ganz gleich, wie konspirativ sie sich auch verhalten mögen. Lindas Bild ist in allen Zeitungen. Es wird sich jemand melden, Sie werden es sehen.«
»Aber hätte sich derjenige nicht bereits jetzt melden müssen?«
»Oh, da habe ich andere Erfahrungen«, sagte Fielder, »die meisten Leute haben große Angst, etwas Falsches zu sagen, sich zu täuschen und sich hinterher blamiert zu haben. Sie sehen so ein Zeitungsfoto und meinen, die Person darauf zu erkennen, aber dann beginnen sie sich abzusichern. Sie fragen reihum bei Freunden und Nachbarn: Ist das nicht die Frau, die letzte Woche bei Mr. Soundso im dritten Stock aus und ein gegangen ist? Ein paar Leute geben ihnen recht, andere nicht. Sie sind unsicher, grübeln. Dann rät ihnen irgendjemand dazu, zur Polizei zu gehen und den Verdacht zu äußern. Sie überlegen wieder hin und her, aber schließlich fassen sie sich ein Herz und tun es. Bis dahin kann gut und gern eine volle Woche verstrichen sein.«
»Sie halten mich auf dem Laufenden?«, fragte Angela.
»Selbstverständlich«, sagte Fielder sofort. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Ihre Entdeckung war wichtig, Miss Biggs. Gut, dass Sie mich angerufen haben. Bitte melden Sie sich, wenn Ihnen wieder etwas auffällt.«
Sie versprach, dies zu tun, dann verabschiedete sie sich und legte den Hörer auf. Sie hatte nicht den Eindruck, ihrer toten Schwester auch nur um einen einzigen Schritt näher gekommen zu sein. Wenn das überhaupt dadurch gelingen würde, dass man herausfand, wer ihr Mörder war. Die ganze Zeit über dachte sie, sie würde leichter atmen, wenn sie erst wusste, wer Lindas schweren Tod zu verantworten hatte.
Plötzlich war sie nicht mehr sicher. Vielleicht wurde gar nichts besser dadurch.
Vielleicht gab es für den Schmerz, den sie empfand, nie mehr eine Heilung.
4
Es war fünf Uhr am Nachmittag, als Dennis Hamilton vom Büro zurückkam, ungewöhnlich früh für ihn, und er hätte auch noch mehr als genug zu tun gehabt. Aber er fühlte sich nicht wohl, litt schon den ganzen Tag unter heftigen Kopfschmerzen und mutmaßte, dass er eine Grippe bekommen würde. Daheim nahm er als Erstes zwei Aspirin und hoffte, das mörderische Hämmern hinter seiner Stirn würde sich beruhigen.
Er war fast nie krank. Vielleicht kein Zufall, dass er es jetzt wurde.
Valentinstag. Und er hatte sich nicht bei Rosanna gemeldet. Er wusste, dass es an ihm gewesen wäre, das zu tun; nach dem letzten Gespräch, das sie miteinander geführt hatten, wäre ganz klar er an der Reihe gewesen. Er wusste, dass es nicht richtig gewesen war, sie wegen des beruflichen Auftrags in England derart zu attackieren. Er wusste eigentlich meistens, wann er sich falsch verhielt, auch gegenüber seinem Sohn. Trotzdem schien es, als könne er nichts daran ändern. Was ihn trieb, waren Ängste, die sich zu tief in ihm verankert hatten, als dass er ihrer hätte Herr werden können.
Er ging in die Küche, schenkte sich einen Weißwein ein und wanderte, das Glas in der Hand, durch die unteren Räume des Hauses. Der Alkohol mochte für seine Kopfschmerzen nicht gut sein, für seine Psyche war er es bestimmt. Das Haus symbolisierte für ihn so sehr Rosanna, dass ihn der Schmerz wegen ihrer Abwesenheit wieder einmal unerwartet heftig packte. Sie hatte die Bilder ausgesucht, die an den Wänden hingen, sie hatte die spanischen Teppiche gekauft, die auf den roten Terrakottafliesen lagen. Die gerahmten Familienbilder auf dem weiß gekalkten Kaminsims waren von ihr liebevoll dort angeordnet worden. Die gemütlichen Sofas mit den bunten Kissen, die schlichten weißen Vorhänge an den Fenstern, das alles war ihr Werk. Sie hatte dem Haus einen sehr ausgewogen gemischten Stil aus spanischen und englischen Elementen verliehen. Und die blühenden Beete draußen im steinernen Innenhof waren ebenfalls von ihr angelegt und gehegt und gepflegt worden. Sie hatte alles darangesetzt, für ihn, Robert und sich selbst ein gemütliches Nest zu schaffen. Und das, obwohl sie alles andere als glücklich war in Gibraltar. Er kannte ihr Heimweh nach England. Nur – was hätte er tun sollen?
Er blieb am Fenster stehen, starrte hinaus. Hier in Gibraltar war der Frühling Mitte Februar schon weit fortgeschritten. Die Bäume standen in schönster Blütenpracht. Er liebte das. Er mochte Spanien, die Wärme, die üppige Vegetation. Das englische Klima hatte er immer gehasst. Aber natürlich konnte er nicht erwarten, dass Rosanna ebenso empfand. Er konnte sich nur darauf berufen, dass sie gewusst hatte, wo er lebte, wo er seinen Beruf hatte. Dennoch hatte sie ihn geheiratet.
An jenem 11. Januar 2003. Jenem verrückten Tag vor fünf Jahren.
Der sie jetzt in gewisser Weise wieder einholte. Denn vielleicht wäre diese Elaine Dawson – die er selbst überhaupt nicht kannte – niemals verschwunden, hätte Rosanna sie nicht zu ihrer Hochzeit eingeladen. Oder wenn am Vortag nicht solch ein Nebel in London geherrscht hätte. Oder, oder … Auf jeden Fall hätte Nick Simon dann keinen Grund gehabt, ausgerechnet Rosanna mit dem Schreiben dieser blöden Serie über Verschwundene zu beauftragen, und sie wäre zwar zum Geburtstag ihres Vaters nach England geflogen, wäre aber schon einen Tag später zurückgekommen. Sie hätten den Valentinstag miteinander verbracht und wären jetzt am Abend irgendwohin zum Essen gegangen. Es hätte keinen Streit gegeben. Stattdessen …
Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas.
Der 11. Januar 2003. Etliche Gäste waren nicht erschienen, denn die meisten ihrer Freunde kamen aus England, und wer nicht etwas verfrüht geflogen war, saß in Heathrow oder auf einem der anderen Londoner Flughäfen fest. Rosannas Mutter, die schon drei Tage zuvor eingetroffen war, hatte lamentiert, es sei eben auch einfach keine gute Idee, im Januar zu heiraten. Auch Rosanna hatte wieder damit angefangen. Sie war immer gegen diesen Termin gewesen. Sie hatte im Sommer heiraten wollen. Doch Dennis hatte sich durchgesetzt. Er hatte auf die Sommerhitze in Gibraltar hingewiesen (»Na und? Wir könnten doch in England heiraten!«, hatte Rosanna darauf erwidert, und er hatte gestöhnt: »Ja – am Ende noch in Kingston St. Mary, oder wie?«), und außerdem war er ein Romantiker und hatte den Tag ihres Kennenlernens zum Hochzeitstag machen wollen. Und kennen gelernt hatten sie sich nun einmal an einem 11. Januar – Rosannas Geburtstag.
Mit dem Romantik-Argument hatte er Rosanna letztlich umgestimmt. Und damit alles ein wenig versiebt. Die Feier fand in viel kleinerem Kreis statt als geplant; Rosanna weinte, weil ihr geliebter Bruder, von New York kommend, bei der Zwischenlandung in London ebenfalls ein Opfer des Nebels geworden war; immer wieder riefen Leute an, entschuldigten sich oder gaben ihre neuen Anreisetermine bekannt. Es war ein einziges Chaos und weit entfernt vom schönsten Tag des Lebens.
»Wenigstens sind wir verheiratet«, hatte er gesagt, als er und Rosanna irgendwann tief in der Nacht völlig ausgelaugt ins Bett getaumelt waren.
Sie hatte sich zur Seite gedreht und nicht geantwortet. Er hatte ihr die Hochzeitsfeier verdorben, was sicher nicht der beste Start war, den eine Ehe haben konnte. Er hatte sich damit getröstet, dass schon Ehen gescheitert waren, die glanzvoll und glücklich begonnen hatten. Man durfte einfach nicht abergläubisch sein.
Er hatte sich bei der Wahl seiner Partnerin ganz sicher sein wollen. Vor allem wegen Robert. Der Junge sehnte sich so sehr nach einer Mutter. Als Rob fünf Jahre alt gewesen war, hatte Dennis eine Frau kennen gelernt, mit der er zwei Jahre lang zusammengelebt hatte. Rob hatte sie vergöttert und vollkommen als Mutter angenommen. Sie hatte sich davon überfordert gefühlt, zugleich nicht gewusst, wie sie sich den Liebesbeweisen des Jungen entziehen sollte. Schließlich hatte sie einen anderen Mann kennen gelernt und erleichtert das Weite gesucht. Für Rob war eine Welt zusammengebrochen. Es hatte lange gedauert, bis er den Verlust verwunden hatte, aber es war deutlich spürbar eine dicke Narbe auf seiner Seele zurückgeblieben. Dennis hatte sich geschworen, dass so etwas nicht noch einmal passieren durfte. Entweder blieb er mit seinem Sohn allein, bis dieser erwachsen war. Oder er fand die Frau, die ihm hundertprozentige Sicherheit versprach. Wenn es diese überhaupt gab. Er hatte Rosanna ganz zufällig kennen gelernt, als er sich beruflich für vierzehn Tage in London aufhielt. Er wohnte in dieser Zeit bei einem alten Freund aus Studientagen, der inzwischen Redakteur bei dem Magazin Cover war. Gleich am Abend von Dennis' Ankunft war er zu der Geburtstagsparty einer Kollegin eingeladen, und, getrieben vom schlechten Gewissen, den Freund allein in der Wohnung herumsitzen zu lassen, hatte er ihn aufgefordert, doch einfach mitzukommen. Dennis hatte das peinlich gefunden und war sich aufdringlich vorgekommen, war aber schließlich widerwillig mitgegangen. Zum Glück hatte in Rosanna Jones' kleiner Wohnung ein solches Gedränge und ununterbrochenes Kommen und Gehen geherrscht, dass er gar nicht aufgefallen war. Irgendwann war er mit der Gastgeberin ins Gespräch gekommen. Sie hatte vor dem großen Fenster ihres Wohnzimmers gestanden, und hinter ihr, jenseits der Scheibe, waren dicke Schneeflocken langsam durch die Januarnacht auf die Straßen und Plätze Londons hinuntergeschwebt und hatten die Stadt in jene seltsame Stille eingehüllt, die nur frisch gefallener Schnee hervorzurufen vermag. Im Zimmer hatten ein paar Kerzen gebrannt, und die meisten Gäste waren schon gegangen. Es war weit nach Mitternacht gewesen.
Er konnte sich bis heute genau erinnern, wie sie ausgesehen hatte. Sie hatte ein kurzes schwarzes Strickkleid getragen und keinen Schmuck bis auf zwei kleine Perlen in den Ohren. Ihr braunes Haar war sehr kurz geschnitten und stand frech vom Kopf ab, in lauter kleinen Wirbeln, die sich offenbar nicht bändigen ließen. Dennis liebte lange Haare an Frauen, aber Rosanna standen die kurzen Haare so gut, dass man sich nichts anderes an ihr vorstellen konnte. Ihre Augen waren sehr dunkel, das dunkelste Braun, das er je gesehen hatte. Sie war absolut nicht sein Typ, aber er fand sie bildschön. Er hatte ein altmodisches Mädchen mit konservativen Wertvorstellungen gesucht. Rosanna sah jung, flippig, lebenshungrig und wild aus. Das einzig Altmodische an ihr war ihr Name, den sie, wie er später erfuhr, aus tiefster Seele hasste. Und Kingston St. Mary, das Dorf, aus dem sie stammte. Dort war die Welt noch in Ordnung. Das machte ihm Mut.
Er hatte sich Hals über Kopf in Rosanna verliebt. Er musste sie gewinnen. Für sich und für Rob. Es schien ihm in jener Nacht undenkbar, nach Gibraltar zurückzufliegen ohne die Hoffnung, dass sie ihm folgen würde.
Während seiner Wochen in London hatten sie einander noch ein paar Mal gesehen, was auf seine hartnäckigen Anrufe bei ihr und seine ununterbrochenen Einladungen ins Kino, zum Essen, ins Theater, auf einen Drink zurückzuführen war. Er hatte sich an sie geheftet und sie mit seinen Aufmerksamkeiten völlig überrollt. Von irgendeinem Moment an hatte er gespürt, dass ihr Interesse geweckt war, und schließlich begann sie seine Gefühle zu erwidern. Zwei Tage vor seiner Rückkehr nach Gibraltar hatte sie ihn über das Wochenende nach Kingston St. Mary eingeladen, das Dorf, von dem sie ihm so viel erzählt hatte. Er war fasziniert gewesen, denn stellenweise hatte man dort tatsächlich den Eindruck, die Zeit sei stehen geblieben. Die kleinen Häuschen, die Gärten, die selbst im Januar verrieten, wie gepflegt und blühend sie im Sommer aussehen mussten, die schmalen Dorfstraßen, die kleine Schule, an deren Fenstern überall Wichtelmänner und Blumen aus Papier klebten. Die steinerne Kirche mit dem romantischen Friedhof und den schönen, alten Bäumen. Die zu jener Jahreszeit zwar kahl waren, sich aber im Sommer wie ein wunderbar grünes, kühles Dach über den Toten wölben mussten, und er hatte Rosanna verstanden, als sie sagte: »Wo auch immer ich mein Leben verbringen werde – hier möchte ich auf jeden Fall beerdigt werden.«
Er lernte Victor und Hazel Jones kennen, ihre Eltern, und dankte Gott dafür, dass sie ihn auf Anhieb zu mögen schienen. Insgeheim sah er in ihnen schon seine künftigen Schwiegereltern. Er begriff, dass Rosanna in einer Familie aufgewachsen war, in der konservative Wertvorstellungen vermittelt worden waren, und darüber hinaus in einem Dorf, in dem die Kinder und Jugendlichen weitgehend behütet gewesen waren vor schädlichen Einflüssen. Natürlich hatte sie sich mit ihrem Londoner Journalistenleben ein ganzes Stück weit davon entfernt, und ihr Bruder, den Dennis zu diesem Zeitpunkt nur aus Erzählungen kannte, musste in New York wohl auf einer reichlich abschüssigen Bahn herumschlittern. Trotzdem gefiel ihm Rosannas Prägung. Er hatte das Alleinsein so satt. Er wollte endlich in einer richtigen Familie leben. Er meinte, auch im Hinblick auf Rob, den Schritt wagen zu können.
Als sie ihm Glastonbury zeigte, jenen magischen Ort in den Somerset-Ebenen, in dem der Sage nach Josef von Arimathäa dreißig Jahre nach Christus' Tod die erste britische Kirche gebaut hatte, fragte er sie in der Kathedrale, ob sie ihn heiraten wolle. Sie war sehr perplex gewesen, und als sie sich gefasst hatte, hatte sie gesagt: »Das geht ein bisschen schnell, findest du nicht?«
Damit war sie zwar ausgewichen, hatte aber nicht nein gesagt. Er wertete dies als vielversprechendes Signal. Und tatsächlich hatte er es schließlich geschafft. Sie war seinen Einladungen nach Gibraltar gefolgt, sie hatte die Ferien mit ihm und Rob verbracht, er und sein Sohn waren an Weihnachten bei ihrer Familie in Kingston St. Mary gewesen. Genau ein Jahr nach ihrem Kennenlernen hatten sie geheiratet. Er hatte sich als der glücklichste Mann der Welt gefühlt und war seither auch immer glücklich gewesen. Bis jetzt. Als plötzlich die Angst in ihm emporkroch, eine Angst, die ihm umso mehr zusetzte, als er sie nicht recht zu benennen wusste. Er fand keinen Mechanismus, sich gegen sie zu wehren, solange er nicht genau definieren konnte, woher sie rührte. Wie sollte man einen Gegner angreifen, den man nur als unklaren Schatten vor sich sah?
Er hörte die Haustür aufgehen und wandte sich um. »Rob?«, rief er. »Bist du das?«
Rob kam ins Wohnzimmer. Wie immer machte er ein mürrisches, verschlossenes Gesicht. Dennis fragte sich manchmal, wie sein Sohn wohl aussah, wenn er lächelte. Wusste er eigentlich noch, wie das ging? Oder brachten es diese Mundwinkel überhaupt nicht mehr fertig, sich nach oben zu verziehen statt nach unten?
Rob ging auf seine launige Art nicht ein. »Du bist schon da?«, fragte er und klang dabei alles andere als erfreut.
»Ich habe Kopfschmerzen. Deshalb habe ich früher Schluss gemacht.« Er überlegte einen Moment. »He, wie ist es? Wollen wir zwei Strohwitwer heute Abend zusammen irgendetwas essen gehen? Du darfst dir auch den Ort aussuchen. Wenn es nicht gerade McDonald's ist …«
»Ich denke, du hast Kopfschmerzen«, sagte Rob.
»Ich habe zwei Aspirin genommen. Sie sind besser geworden.«
Rob zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht …«
Dennis blieb geduldig. »Es war nur ein Vorschlag. Wollen wir uns Pizza hierher bestellen?«
»Ich hab eigentlich keinen Hunger.« Robs Gesichtsausdruck war deutlich zu entnehmen, was er damit eigentlich sagen wollte: Er hatte keine Lust, mit seinem Vater zusammen zu essen. Keine Lust, auch nur einen Moment des Abends mit ihm zu verbringen.
Es nützt einfach nichts, dachte Dennis, ich komme nicht an ihn heran.
»Überleg es dir«, sagte er, »ich bin offen für alles.«
»Alles klar«, sagte Rob. Er machte Anstalten, das Zimmer zu verlassen, aber dann blieb er doch stehen und wandte sich noch einmal zu seinem Vater um. Seine Miene war jetzt eine einzige Kriegserklärung.
»Ich wollte nur sagen … dass du es weißt … ich geh morgen zu der Party. Definitiv.«
Dennis begriff nicht sofort. »Welche Party?«
»Die von den Abschlussklassen. Die ist morgen Abend.«
»Darüber hatten wir gesprochen. Und darüber war auch alles gesagt.«
»Du hast alles darüber gesagt!«, zischte Rob. »Was ich denke, hast du dir überhaupt nicht angehört!«
»Ich habe mir alles angehört. Aber ich habe dir auch meine Bedenken genannt und dir ganz genau erklärt, weshalb ich nicht möchte, dass du dorthin gehst.«
»Ich gehe trotzdem. Alle gehen. Ich werde nicht als Einziger daheim sitzen, nur weil mein Vater ein…« Er stockte.
»Ja?«, fragte Dennis. »Sprich dich aus! Was ist dein Vater? Ein Spießer? Ein Blödmann? Ein Spaßverderber? Ein …?«
»Ein Nazi!«, sagte Rob mit einem Hass in der Stimme, vor dem Dennis fast körperlich zurückzuckte. »Ein richtiger Nazi!«
Dennis war eher verblüfft als wütend. »Ein Nazi?«
»Du machst alles nieder, was dir nicht passt! Du lässt keine Meinung gelten, nur deine. Du würdest am liebsten jeden einsperren, der nicht tut, was du sagst. Auch Rosanna hast du damit aus dem Haus gejagt!«
»Moment! Lass Rosanna bitte aus dem Spiel. Sie ist in England, weil sie einen interessanten beruflichen Auftrag hat. Sie ist nicht vor mir geflüchtet!«