Freitag, 10. Januar 2003

 

Hätte sie die Frühmaschine von Heathrow nach Malaga genommen, wäre sie jetzt längst am Ziel. In Gibraltar. Vermutlich war das Wetter in der britischen Enklave am südlichsten Zipfel der Iberischen Halbinsel wesentlich besser als in London, wo sich der Nebel seit den Morgenstunden nicht verzogen hatte, ja sogar immer dichter geworden war. Jetzt, verstärkt durch die frühe winterliche Dunkelheit, versank die Stadt in einer Art undurchdringlicher, feuchter Masse, die alle Lichter und sogar Geräusche und Bewegungen zu schlucken schien.

Während in Gibraltar die Sonne als roter Feuerball von einem pastelligen Himmel in ein dunkelblaues Meer gefallen war und nun erste Sterne aufzublitzen begannen. Wahrscheinlich. Und wenn nicht, so wäre das auch egal: Hauptsache, sie wäre jetzt dort.

Ohne Geoffs tränenreichen Zusammenbruch am Vorabend wäre sie bei ihrem Plan geblieben, die Maschine am Vormittag zu nehmen. Sie hätte sehr früh aufstehen müssen, um rechtzeitig in London zu sein, und das hätte bedeutet, dass die für die nächsten drei Tage angeheuerte Krankenschwester bereits das Frühstück für Geoff hätte zubereiten müssen. Aber alles war abgesprochen gewesen. Die resolute Pflegerin hatte zugesagt, pünktlich zu sein.

»Machen Sie sich mal keine Sorgen, Miss Dawson! Reisen Sie in aller Ruhe ab. Wir werden das Kind schon schaukeln.«

Später wusste sie, dass sie die ganze Zeit über insgeheim schon auf einen Zusammenbruch Geoffs gewartet hatte. Er hatte ihre Ankündigung, für drei Tage nach Gibraltar zu reisen, allzu ruhig aufgenommen. Er war nicht erfreut gewesen, aber er war auf eine ziemlich erwachsene Art damit umgegangen.

»Es tut dir gut, mal rauszukommen, Elaine. Klar bin ich nicht glücklich. Aber du tust so viel für mich, da will ich nicht egoistisch sein. Du brauchst mal ein bisschen Abstand!«

»Ich verstehe ja selber nicht, weshalb Rosanna mich eingeladen hat. Eigentlich hatten wir ja nie viel miteinander zu tun. Ich meine, ich bin nicht direkt eine Freundin von ihr …«

An dieser Stelle hatte Geoff durchblicken lassen, dass er ihre Reise nach Gibraltar im Grunde auch für völlig überflüssig hielt.

»Du musst wissen, was du tust, Elaine. Ich denke, es ist ein Almosen von Rosanna. Wahrscheinlich hat ihre Mutter sie dazu überredet. Die war doch schon immer so sozial angehaucht. Wir müssen der armen, lieben Elaine mal etwas Gutes tun … Und schließlich hat sich Rosanna seufzend bereit erklärt. Na ja …« Er schwieg vielsagend. Unausgesprochen standen die Worte im Raum: Wenn dir das trotzdem Spaß macht …

Spaß vielleicht nicht, dachte sie jetzt, während sie verzweifelt die blinkende Schalttafel anstarrte, die ihr signalisierte, dass ihr Flug nach Spanien gestrichen war, so wie alle anderen Flüge auch, die Heathrow an diesem späten Januarnachmittag hätten verlassen sollen, aber es erschien mir wie eine Möglichkeit. Eine Möglichkeit, dass sich … irgendetwas ändert. Es hätte eine Chance sein können, die mir das Schicksal schenkt.

An allen Schaltern drängten sich aufgeregte Menschen, Reisende, die wissen wollten, wie es nun weitergehen würde. Überfordertes Flughafenpersonal versuchte, die Ruhe zu bewahren und Auskunft zu geben. Im Grunde stand aber nur eines klar und unveränderlich fest: An diesem Abend würden von Heathrow keine Flüge mehr starten.

Es gelang ihr, eine Angestellte von British Airways anzusprechen.

»Entschuldigen Sie bitte … ich muss unbedingt heute Abend noch nach Malaga fliegen!«

Die andere lächelte, professionell und unbeteiligt. »Es tut mir leid. Wir können nichts gegen den Nebel unternehmen. Es wäre einfach zu gefährlich.«

»Ja, aber …« Sie konnte es einfach nicht fassen. Einmal, ein einziges Mal in ihrem verdammten dreiundzwanzigjährigen Leben verließ sie das Dorf, in dem sie geboren und aufgewachsen war, und schickte sich an, eine Reise anzutreten, versuchte, sich aus der tödlichen Routine und Eintönigkeit ihres Alltags zu befreien, und dann scheiterte sie am Londoner Nebel. Sie merkte, dass Tränen in ihr aufstiegen, und mühte sich panisch, sie zurückzuhalten. »Ich wollte eigentlich schon heute Morgen fliegen«, erklärte sie unsinnigerweise, »aber ich hatte umgebucht …«

»Das ist schade«, meinte die Angestellte, »bis heute Mittag ging noch alles klar.«

Geoff war am Vorabend völlig unvermittelt zusammengebrochen. Beim Abendessen hatte er plötzlich seinen Löffel sinken lassen. Schon vorher hatte er in allen Speisen nur lustlos gestochert, aber das tat er auch sonst oft. Nun rannen auf einmal Tränen über seine Wangen.

»Es tut mir leid«, schluchzte er, »es tut mir leid!«

»Ach, Geoff! Geoff, nicht weinen! Ist es wegen mir? Weil ich … weil ich nach Gibraltar reise?«

Eine rein rhetorische Frage. Sie wusste, dass es wegen Gibraltar war. Seltsamerweise hatte sich im darauffolgenden Gespräch alles um den Zeitpunkt ihrer Abreise gedreht, nicht um die Reise selbst.

»Wenn du wenigstens noch zum Frühstück da wärst! Dass du so früh wegmusst … dass ich dann so bald schon dieser Fremden ausgeliefert bin …«

»Vielleicht«, hatte sie halbherzig angeboten, »geht noch ein späterer Flug. Die Hochzeit ist ja erst am Samstag …«

Er war sofort darauf angesprungen. »Das würdest du tun? Das würdest du wirklich tun? Am Nachmittag fliegen? Mein Gott, Elaine, das würde einfach alles viel leichter für mich machen!«

Wieso eigentlich? Die paar Stunden? Das Frühstück? Aber sie hatte sich in all den Jahren an derartige Verhaltensweisen bei Geoff gewöhnt. Irrational. Unverständlich. Nicht nachvollziehbar. Aber so war er eben. So würde er immer sein.

»Was soll ich denn nun machen?«, fragte sie ratlos. »Glauben Sie, dass andere Flughäfen … Gatwick? Stan-sted? Glauben Sie, dort gehen Flüge?«

Die Angestellte von British Airways schüttelte den Kopf. »Die haben mit demselben Problem zu kämpfen wie wir.«

»Ja, aber …«

»Wohnen Sie in London?«, fragte die andere.

»Nein. Ich wohne in Kingston St. Mary.« Glaube ich ernsthaft, irgendjemand kennt das Kaff?, fragte sie sich. »In Somerset«, setzte sie hastig hinzu. »Es ist leider nicht allzu nah.«

Und verkehrstechnisch eine Katastrophe, wollte sie weiter erklären, hätte sie nicht gemerkt, dass ihr Gegenüber schon sein Lächeln verloren hatte und zwischen Entnervtheit und Gereiztheit schwankte. »Ich glaube, da komme ich heute Abend nicht mehr hin.«

»Dann würde ich mir rasch ein Hotel suchen. Hier in Heathrow sind heute Abend so viele Menschen gestrandet, da wird im Umkreis sehr schnell nichts mehr zu haben sein. Oder Sie sichern sich einen Platz in einer der Wartehallen und verbringen die Nacht dort. Essen und Getränke kann man sich hier ja überall besorgen.«

»Denken Sie, dass ich morgen früh fliegen kann?«

Schon im Weiterlaufen, zuckte die andere mit den Schultern. »Das kann Ihnen niemand garantieren. Aber es ist möglich!«

Eine Frau, die das Gespräch mitangehört hatte, schimpfte los. »Unmöglich! Keiner hilft einem hier weiter! Keine Ahnung, wohin ich jetzt gehen soll! Die müssten doch irgendetwas unternehmen!«

Elaine sah sich in der Abfertigungshalle um. Ein solches Gewimmel von Menschen hatte sie noch nie gesehen. Wer sollte da irgendetwas unternehmen? Die Angestellte hatte ihr vermutlich den einzigen Rat gegeben, der realistisch war: Sie musste sich einen halbwegs bequemen Platz für die Nacht suchen.

Schon wieder wollten ihr die Tränen kommen. Minutenlang blieb sie mit hängenden Armen inmitten des Chaos stehen, unfähig, sich zu rühren, unfähig, einen vernünftigen Plan zu fassen. Das Stimmengewirr der Menschen schwoll an zu einem Orkan. Lautsprecheransagen übertönten den Lärm. Vorbeihastende Reisende rempelten sie an. Sie vermochte nicht zu reagieren. Sie stand nur da, in ihrem abgetragenen braunen Wintermantel, der schon nicht elegant gewesen war, als sie ihn vor vier Jahren gekauft hatte, und der jetzt wie ein Sack aussah, den sie sich um die Schultern gehängt hatte. Neben ihr stand ihr Koffer. In der einen Hand hielt sie ihre Plastikhandtasche, eine Designerimitation, die bei Woolworth zehn Pfund gekostet hatte. Mit der anderen Hand umklammerte sie ihren Pass, der in ihrer Manteltasche steckte. Bereit zum Vorzeigen. Was sich offensichtlich für heute erledigt hatte.

Ich muss überlegen, was ich jetzt mache, dachte sie schließlich.

Sie hatte etwas sehr Leichtsinniges getan und sich für Rosannas Hochzeit ein wirklich teures Kleid gekauft. Für gewöhnlich ging sie sehr vorsichtig mit ihrem Geld um, denn ihre Halbtagsstelle in einer Arztpraxis im nahe gelegenen Taunton brachte nur wenig ein. Geoffrey erhielt eine kleine Rente, und so kamen sie halbwegs über die Runden. Es reichte nie für große Sprünge, aber trotzdem hatte Elaine dann und wann etwas zur Seite legen können, ihren Notgroschen, wie sie es nannte. Er war natürlich für echte Engpässe gedacht gewesen, nicht für ein schickes Kleid und einen Flug nach Gibraltar, aber plötzlich hatte sie gedacht: So etwas muss es doch für mich auch einmal geben! Ein schönes Kleid! Ein tolles Fest! Ein bisschen … Unvernunft.

Sie erlaubte sich für gewöhnlich wenig Unvernunft in ihrem Leben. Ein pflegebedürftiger Bruder im Rollstuhl ließ kaum Spielraum für alles, was leicht und unbesonnen war. Und Geoffrey selbst, als der Mensch, der er nun einmal war, ließ überhaupt in jeder Hinsicht wenig Spielraum.

Er war wie ein Krake. Mit langen, starken Schlingarmen. Er hielt sie fest, er hielt das Einzige fest, was ihm im Leben geblieben war: seine Schwester. Er würde sie niemals loslassen.

Und offensichtlich stand jeder Emanzipationsversuch ihrerseits unter einem schlechten Stern. Denn kaum raffte sie sich auf, dem Schicksal einen Spalt breit die Tür zu öffnen, verschworen sich alle Mächte gegen sie. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie sie nach einer Nacht aussehen würde, die sie sitzend in dieser überfüllten Abflughalle verbrachte. Wenn sie Glück hatte, ging morgen ein Flieger, der aber in jedem Fall so knapp landen würde, dass an einen kurzen Rückzug in ihr Hotel nicht mehr zu denken war. Wahrscheinlich musste sie sich in einer öffentlichen Toilette auf dem Flughafen von Malaga umziehen, wo es keine Chance gab, zu duschen oder wenigstens ihre Haare zu waschen und einigermaßen in Form zu föhnen. Das Kleid würde völlig zerdrückt und verknittert sein. Abgehetzt und wie ein struppiger Besen aussehend, würde sie im letzten Moment in der Kirche eintreffen. Während der gesamten Feierlichkeiten wäre sie sich ihrer unvorteilhaften Erscheinung mit quälender Intensität bewusst, und von irgendeinem Moment an würde sie die Minuten bis zu ihrer Heimreise zählen. So viel zu Leichtigkeit und Lebenslust!

Wieder einmal würde sie das gewohnte Bild abgeben, jeder würde sehen, dass sich nichts geändert hatte. Rosanna, die Braut, war natürlich da. Ihre Eltern. Ihr Bruder. Menschen, die Elaine kannte, seit sie auf der Welt war. Die ihr Heranwachsen begleitet hatten. Die nur zu gut wussten, dass sie schon immer auf der Schattenseite des Lebens gestanden hatte. Wie hatte es Geoffrey so schön zitiert? Wir müssen der lieben, armen Elaine etwas Gutes tun

Die liebe Elaine. Die arme Elaine. Zu deren Gesamtgeschichte es so perfekt passte, dass ihr Flug wegen Nebels gestrichen wurde, dass sie fast das Fest versäumte, dass sie in einem Kleid erschien, das wie eine einzige große Knitterfalte aussah. Ungeduscht und ungekämmt. Unscheinbar sowieso.

Die arme Elaine, wie sie leibt und lebt, würde es heißen.

Jetzt schossen ihr die Tränen mit solcher Gewalt in die Augen, dass sie sie nicht mehr zurückhalten konnte. Ein Mann sah sie erstaunt an. Zwei Frauen tuschelten und blickten zu ihr herüber. Ein Kind deutete auf sie und wandte sich dann aufgeregt an seine Mutter.

Sie konnte nicht hier stehen bleiben und sich ihrem Weinen hingeben, das in wenigen Sekunden einem Dammbruch gleichen würde. Sie nahm ihren Koffer hoch, stolperte schluchzend und fast blind vorwärts. Die Toilette. Irgendwo musste doch eine Toilette sein. Sie wollte in der Abgeschlossenheit einer kleinen, stinkenden Kabine verschwinden, allein im Dämmerlicht, verborgen vor den hastenden, rufenden, eilenden, glotzenden Menschen ringsum.

Auf einem Klodeckel zusammensinken können, sich vornüber zusammenrollen wie ein Embryo und weinen, weinen, weinen …

Durch den Schleier vor ihren Augen nahm sie das ersehnte Schild wahr. Die kleinen Piktogramme, die eine Möglichkeit zum Verstecken verhießen. Den Koffer hinter sich her zerrend, stolperte sie auf die Tür zu, fast blind von Tränen, stieß sie auf und prallte mit einem Mann zusammen, der den weiß gekachelten, menschenüberfüllten Raum gerade verlassen wollte.

»Hoppla«, sagte er.

Sie wollte an ihm vorbeidrängen, aber er hielt sie am Arm fest. »Entschuldigen Sie. Das ist die Herrentoilette. Möchten Sie da wirklich hinein?«

Obwohl sie schluchzte und zitterte, drangen die Worte irgendwie an ihr Ohr.

Sie starrte den Fremden an. »Die Herrentoilette?«, fragte sie in einem Ton, als habe sie dieses Wort noch nie gehört.

»Sie müssen eigentlich eine Tür weiter«, sagte er und zeigte nach nebenan.

»Ach so«, sagte sie, ließ den Koffer neben sich auf den Boden fallen und weinte weiter.

Da andere Männer sowohl in die Toilette hinein- als auch herauswollten und sie beide den Weg blockierten, nahm der Fremde Elaines Koffer hoch und zog Elaine ein paar Schritte mit sich, bis sie in einer Ecke standen, in der sie niemanden störten.

»Hören Sie«, sagte er, »kann ich irgendetwas für Sie tun? Ich meine … sind Sie ganz allein auf dem Flughafen, oder ist irgendwo …?« Er ließ seinen Blick schweifen, so als hege er die Hoffnung, aus der unüberschaubaren Menschenmenge werde jemand auftauchen und ihm die haltlos weinende Frau abnehmen. Da sich weder jemand zeigte, der zu der Fremden zu gehören schien, noch von dieser eine Antwort kam, kramte er schließlich ein Taschentuch hervor und reichte es ihr.

»Beruhigen Sie sich doch. Bestimmt ist alles nur halb so schlimm. Na, geht's wieder?«

Tatsächlich fühlte sie sich ein wenig ruhiger durch seine besänftigende Stimme. Sie entfaltete das Taschentuch, schnäuzte sich kräftig, betupfte ihr nasses Gesicht.

»Entschuldigen Sie bitte«, brachte sie leise hervor.

»Keine Ursache«, sagte er. Sie hatte den Eindruck, dass er gern weitergegangen wäre, jedoch aus irgendeinem Verpflichtungsgefühl heraus unschlüssig stehen blieb.

»Es ist nur … mein Flug nach Malaga ist gestrichen«, murmelte sie und kam sich gleich darauf albern vor.

Er lächelte. »Jeder Flug von London ist heute Abend gestrichen. Verdammter Nebel. Ich wollte nach Berlin und kann jetzt auch wieder nach Hause fahren.«

»Eine Freundin von mir heiratet morgen in Gibraltar.«

»Vielleicht schaffen Sie es ja morgen früh noch. Falls der Flugverkehr dann wieder aufgenommen wird.«

Ihr stiegen schon wieder die Tränen in die Augen. »Vielleicht …«

Er wirkte genervt. Kurz überlegte sie, was wohl in ihm vorging. Wahrscheinlich fragte er sich, weshalb er solches Pech haben musste an diesem Tag. Er kam nicht nach Berlin, und vielleicht platzte ihm dadurch ein wichtiges berufliches Vorhaben. Und dann stieß er noch mit einer verheulten, unattraktiven Frau zusammen, die konfus in die Herrentoilette zu stolpern versuchte, und war zu anständig, sie einfach ihrem Schicksal zu überlassen.

»Also, ich fahre jetzt nach Hause«, sagte er, »kann ich Sie irgendwo absetzen? Ich habe meinen Wagen hier am Flughafen.«

»Ich wohne nicht in London.« Sie schnäuzte sich noch einmal. Ich muss toll aussehen, dachte sie resigniert, mit rot geflecktem Gesicht und dicker Nase. »Ich wohne in … ach, da komme ich unmöglich heute noch hin. Am Ende der Welt. Ausgeschlossen.«

»Na ja …« Er sah sich um. »Hier am Flughafen übernachtet man nicht gerade komfortabel. Irgendein Hotel …?«

»Ich weiß nicht, ob noch irgendwo ein Zimmer frei ist. Außerdem …«

»Ja?«

Es spielte eigentlich keine Rolle mehr, es war ohnehin schon alles peinlich genug, »Außerdem reicht dafür mein Geld wahrscheinlich nicht. Das Hotel in Gibraltar muss ich bestimmt bezahlen, selbst wenn ich heute dort nicht erscheine …«

»Unter Umständen auch nicht«, meinte er, »aber Sie haben natürlich recht: Es ist sehr fraglich, ob man hier in Heathrow etwas findet.«

»Na ja«, sie versuchte ein Lächeln, froh, dass wenigstens ihre Tränen versiegten, »dann sehe ich mal zu, dass ich ein behagliches Plätzchen in einer der Wartehallen finde. Es ist hier ja zumindest warm und trocken.«

Er zögerte. »Wissen Sie, ich könnte Ihnen anbieten … möchten Sie vielleicht bei mir übernachten? Mein Gästezimmer ist winzig, aber es ist wahrscheinlich doch etwas bequemer als die Wartehallen hier. Und morgen früh könnten Sie problemlos mit der U-Bahn wieder hierherfahren.«

Sein Angebot überraschte sie. Sie konnte inzwischen wieder klar genug sehen und denken, um zu registrieren, dass sie einem sehr gut aussehenden Mann gegenüberstand. Groß und schlank, das Gesicht schmal und intelligent. Ende Dreißig, Anfang Vierzig. Teurer Mantel. Der Typ Mann, der mit dem Finger schnippt und sofort unter einer Menge attraktiver und interessanter Frauen seine Auswahl treffen konnte. Der ganz bestimmt nicht auf eine verheulte, unscheinbare Dreiundzwanzigjährige abfuhr, die auf dem Flughafen herumirrte und wie ein Kind quengelte, weil ihre Pläne durcheinandergeraten waren. Aber er bot ihr sein Gästezimmer natürlich auch nicht an, weil sie ihn in irgendeiner Form faszinierte. Oder weil er sie gern näher kennen lernen würde. Er war einfach nett, und sie tat ihm leid. Unter normalen Umständen hätte er sie überhaupt nicht wahrgenommen.

»Ich glaube, das kann ich nicht annehmen«, sagte sie, um Zeit zu gewinnen.

Er zuckte mit den Schultern, leicht ungeduldig, wie ihr schien. »Was mich betrifft, können Sie es annehmen, andernfalls hätte ich es nicht angeboten. Mein Name ist übrigens Reeve. Marc Reeve. Hier«, er kramte in der Innentasche seines Jacketts, zog eine Karte heraus und reichte sie Elaine, »meine Karte.«

»Sie sind Anwalt?«

»Ja.«

Ihre verstorbene Mutter hatte ihr natürlich beigebracht, dass man nie mit fremden Männern ging. Keinesfalls in ihre Autos einstieg oder sie gar in ihre Wohnungen begleitete.

»Das missverstehen Männer immer«, hatte sie erklärt, »und du stehst hinterher dumm da, weil dir keiner glaubt, dass du es nicht selber auf eine kompromittierende Situation angelegt hast.«

Ach, Mummy, dachte sie, du meintest es so gut, aber wenn du mich nicht immer vor allem und jedem gewarnt hättest, würde mein Leben heute vielleicht nicht in solch einer schrecklichen Sackgasse stecken.

Außerdem war ihr völlig klar, dass sie unglücklicherweise von Marc Reeve nicht das Geringste zu befürchten hatte. Ein attraktiver, offensichtlich wohlhabender, also erfolgreicher Londoner Anwalt. Er fand sie wahrscheinlich ebenso prickelnd wie einen Schluck abgestandenes Wasser. Hatte aber eine soziale Ader.

Ich bin seine gute Tat für heute. Na, großartig!

»Ich heiße Elaine Dawson«, sagte sie, »und es wäre wirklich sehr nett, wenn ich bei Ihnen übernachten dürfte.«

»Na also«, sagte er und nahm ihren Koffer, »dann kommen Sie mit. Mein Wagen steht im Parkhaus.«

Sie schoss noch einen Testballon ab. »Hat Ihre Frau nichts dagegen, wenn Sie unangekündigt jemanden mitbringen?«

»Ich lebe getrennt«, erwiderte er kurz.

Sie folgte ihm durch das Gewühl. Trotz der vielen Menschen schritt er sehr rasch voran, sie hatte etwas Mühe, ihn nicht zu verlieren. Ihr Herz klopfte schneller und stärker als sonst.

Und auch wenn nichts ist, wenn nichts daraus wird, es ist besser als Kingston St. Mary, dachte sie, es ist besser als immer dasselbe. Tagaus, tagein. Es ist besser!

Unauffällig ließ sie ihre Hand in ihre unelegante Plastikhandtasche gleiten, suchte ein wenig herum, fand ihr Handy und schaltete es aus. Es war gemein von ihr, aber ausnahmsweise wollte sie nicht für Geoffrey erreichbar sein.

Nur für diese eine Nacht.