Samstag, 16. Februar
1
»Du warst unmöglich gestern Abend«, sagte Nick wütend, »absolut unmöglich. Du hast dich aufgeführt wie eine Anwältin vor Gericht. Wie Marc Reeves Anwältin!«
Rosanna saß noch etwas benommen in ihrem Hotelbett. Das Telefon hatte um halb sieben morgens geklingelt und sie aus tiefem Schlaf gerissen. Sie hatte geahnt, dass es Nick war, der sie anrief. Am Vorabend hatte sie nach Ablauf der Sendung vergeblich nach ihm Ausschau gehalten. In seinem Ärger war er einfach nach Hause gegangen, ohne noch ein einziges Wort mit ihr zu wechseln.
Dafür redete er jetzt umso mehr.
»Wie du Mrs. Pearce angegriffen hast! Und in gewisser Weise die ganze Sendung. Auch unser eigenes Blatt im Übrigen. Du bist über die Art von Journalismus hergefallen, für den Private Talk und Cover nun einmal stehen. Ich frage mich, was du dir dabei gedacht hast!«
»Nick, ich …«
»Wir sollen Elaine Dawson in Ruhe lassen! Ich meine, merkst du nicht selbst, wie absurd das wirken muss? Du hast den Auftrag, eine Geschichte über sie zu schreiben, und verbreitest dann derartige Reden im Fernsehen!«
Rosanna konnte ihn fast ein wenig verstehen.
»Nick, ich hätte nicht in diese Sendung gehen sollen«, erwiderte sie, als er endlich einmal Luft holte und ihr damit die Gelegenheit gab, auch etwas zu sagen. »Hätte ich gewusst, wie sich diese Lee Pearce verhält, dann wäre mir von vornherein klar gewesen, dass es keinen Sinn hat. Du wirfst mir vor, dass ich mich wie Reeves Anwältin aufgeführt habe? Nun, das lag daran, dass Mrs. Pearce sich wie seine Anklägerin benahm. Sie hat alles getan, ihn wie einen Schuldigen dastehen zu lassen.«
»Dagegen hätte er sich ja wehren können. Er hätte nur die Einladung in die Sendung annehmen müssen.«
»Vielleicht hat er einfach keine Lust mehr, sich zu wehren. Wegen einer Geschichte, mit der er nichts zu tun hat!«
»Aha. Und dass er nichts damit zu tun, das weißt du, oder wie?«
»Ich bin nicht allwissend. Aber er wirkt sehr ehrlich auf mich. Ich kann mir auch einfach kein Motiv vorstellen. Zudem hat ihm die Polizei ebenfalls nichts nachweisen können. Nick, man kann doch einen Mann nicht sein Leben lang verfolgen wegen einer Geschichte, an der ihn vielleicht wirklich nicht die geringste Schuld trifft.«
»Darum geht es überhaupt nicht«, sagte Nick. »Es geht nicht um die Frage, ob Reeve unschuldig ist oder nicht. Offen gestanden, interessiert mich das auch gar nicht. Ich verkaufe Geschichten, und in diesem Zusammenhang ist für mich nur die Auflagenhöhe meiner Zeitung wichtig, sonst nichts. Um es einmal ganz brutal zu sagen, Rosanna: Ein Marc Reeve, über dem nach wie vor der Schatten eines Verdachts schwebt, lässt sich besser verkaufen als eine Elaine Dawson, die sich einfach nur abgeseilt hat und irgendwo ein vergnügtes Leben führt. So ist das nun mal. Du warst lange genug in dem Job. Du wusstest das vorher.«
Sie schwieg. Er hatte recht. Sie konnte nicht gut behaupten, völlig überrascht worden zu sein.
»Darüber hinaus«, fuhr Nick fort, »hat es mich schon sehr erstaunt, von deinem guten persönlichen Draht zu Reeve zu hören. Zwei lange und vertrauensvolle Gespräche? Sehr interessant, auf diese Weise davon zu erfahren. Mir gegenüber hattest du schließlich behauptet, Reeve verweigere jedes Gespräch.«
»Ich weiß. Es tut mir leid. Ich musste ihm versprechen, von unseren Gesprächen nichts zu erwähnen.«
»Dann dürfte er über deine Äußerung von gestern Abend auch nicht allzu glücklich sein.«
»Vermutlich nicht. Ich sah aber keine andere Möglichkeit, mich zu seiner Anwältin zu machen, wie du es nennst. Ich hoffe, dass er das verstehen wird.«
»Es sollte dir wichtiger sein, ob ich dich verstehe«, schnauzte Nick, »denn immerhin bezahle ich dich und deinen gesamten Londoner Aufenthalt. Und damit fährst du nicht schlecht!«
»Ich weiß. Und ich würde es auch verstehen, wenn du nun sagst, du möchtest meine Mitarbeit nicht länger …«
»Oh, so einfach kommst du nicht davon«, unterbrach Nick sofort, »du machst weiter. Wir haben eine Abmachung. Aber von jetzt an benimmst du dich konform. Was beinhaltet, dass du dich bei möglichen zukünftigen Presse oder Fernsehterminen absolut im Sinne von Cover und der dir gestellten Aufgabe verhältst. Und, Rosanna, alles, wirklich alles, jeder Schritt wird mit mir abgesprochen. Verstanden? Ich will informiert sein. Vergiss nicht, dass ich dein Boss bin!« Mit diesen Worten legte er den Hörer auf.
Rosanna fluchte leise, legte dann ebenfalls auf und zuckte zusammen, als das Telefon sofort erneut klingelte. Sie überlegte kurz, ob sie abnehmen sollte, weil sie eigentlich keine Lust auf die nächste Auseinandersetzung hatte. Vermutlich handelte es sich bei dem Anrufer um Marc Reeve. Vor dem Gespräch mit ihm hätte sie gern wenigstens einen starken Kaffee gehabt.
Dennoch meldete sie sich schließlich. »Ja?«
»Bist du nicht ganz bei Trost?«, schrie Geoffrey in den Apparat. »Was war denn das für eine unsägliche Show, die du gestern abgezogen hast? Ich dachte, ich trau meinen Ohren nicht! Marc Reeve, das Unschuldslamm! Und Elaine, die einfach mit irgendeinem Typen durchgebrannt ist! Sag mal, weißt du eigentlich, was für eine unsägliche Scheiße du da in die Welt gesetzt hast?«
»Geoffrey, ich weiß, dass du deine eigenen Theorien hegst, was Elaine betrifft, aber du musst einfach akzeptieren, dass …«
»Ich muss überhaupt nichts akzeptieren! Schon gar nicht, dass du den guten Ruf meiner ermordeten Schwester beschmutzt. Als was stellst du sie denn hin? Als ein leichtsinniges Flittchen, das sich mit einem Kerl absetzt und den eigenen hilflosen Bruder im Elend zurücklässt? Die nicht einmal den Anstand hat, sich von dem armen Krüppel wenigstens zu verabschieden? Weißt du, was ich so obermies an dir finde? Du hast diesen Auftrag bekommen, weil du damit herumgeprahlt hast, Elaine seit frühester Kindheit so gut gekannt zu haben. Aber wer sie wirklich kennt, verstehst du, wer sie wirklich kennt, weiß, dass sie so etwas nie getan hätte. Dafür hatte sie viel zu viel Stil. Und Anstand. Charaktereigenschaften, die dir leider vollkommen fehlen, und deshalb …«
Rosanna mochte die beleidigenden Vorwürfe nicht länger hören. Sie tat, was Nick Simon wenige Momente zuvor getan hatte: Sie knallte den Hörer auf die Gabel.
»Mir reicht es«, sagte sie laut. »Nicht in diesem Ton und nicht um diese Uhrzeit.«
Das Telefon begann sofort wieder zu läuten, aber sie ignorierte es, stieg aus dem Bett und ging ins Bad hinüber. Sollte Geoffrey sich doch die Finger blutig wählen. Auch ein Mann mit seinem Schicksal konnte sich nicht alles herausnehmen. Sie hätte diesem Hysteriker nie ihr Hotel nennen, nie eine Telefonnummer geben sollen.
Geduscht, geföhnt und angezogen, fühlte sie sich besser. Sie konnte Nicks Unmut verstehen und sich sogar irgendwie in Geoffreys Kränkung hineinversetzen, aber in ihr blieb die Überzeugung, richtig gehandelt zu haben. Alles andere hätte ihr weniger Ärger eingebracht, aber sie hätte es nicht vor sich selbst verantworten können. Und letztlich war es wichtiger, zu der eigenen Überzeugung zu stehen, als es den Menschen ringsum um jeden Preis recht zu machen.
Als das Telefon erneut klingelte, fühlte sie sich gekräftigt und gewappnet für den nächsten Angriff. Sie meldete sich mit kräftiger Stimme.
»Ja? Hier spricht Rosanna Hamilton.«
»Hier ist Marc Reeve. Ich hoffe, ich rufe nicht zu früh an?«
»Oh – keineswegs. Um halb sieben hat mich bereits mein Chefredakteur angebrüllt, und kaum war er damit fertig, meldete sich Geoffrey Dawson und fuhr um noch ein paar Töne schärfer damit fort. Ich bin also hellwach. Wenn Sie mich jetzt auch anschreien wollen – bitte! Mich erschüttert heute nichts mehr!«
Reeve lachte leise. »Das war zu erwarten, oder? Ich meine, die Reaktion Ihres Chefs und die von Mr. Dawson!«
»Vermutlich. Aber aus dem Tiefschlaf kommend, trifft es einen doch recht unvermittelt.«
»Das tut mir leid. Aber ich werde Sie nicht anschreien, im Gegenteil. Ich wollte mich bedanken.«
»Wirklich?«, fragte Rosanna überrascht.
»Wirklich. Ich gebe zu, auch ich war gestern Abend zuerst entsetzt, als Sie unsere Gespräche erwähnten. Für einen Moment dachte ich… egal. Ich begriff sehr schnell, warum Sie es getan haben. Sie haben ein wunderbares Plädoyer für mich gehalten, und Sie haben Lee Pearce wirklich auflaufen lassen. Ich habe es genossen.«
Rosanna fühlte sich ganz unerwartet erleichtert. »Das freut mich. Wirklich, Mr. Reeve. Ich habe manchmal das Gefühl, die ganze Geschichte könnte mir entgleiten, aber solange Sie sich noch nicht schlecht behandelt von mir fühlen, scheine ich die Dinge im Griff zu haben.«
»Sie haben sich jedenfalls von Mrs. Pearce nicht einschüchtern lassen, und das hat mir gefallen. Sagen Sie«, fuhr er übergangslos fort, »hätten Sie Lust, irgendwo mit mir zusammen zu Mittag zu essen? Nachdem Sie gestern öffentlich versichert haben, mich nicht für einen Vergewaltiger und Mörder zu halten, kann ich es ja riskieren, Sie das zu fragen. Wir könnten aufs Land fahren und ein gemütliches Pub suchen. Es ist herrliches Wetter.«
»Ach ja?« Rosanna hatte noch nicht hinausgeschaut, die schweren Vorhänge waren noch immer vor die Fenster gezogen. »Das wäre schön. Doch, ich hätte größte Lust!«
Sie wusste, dass sie eigentlich hätte arbeiten müssen. Aber nach dem gestrigen Abend, nach all den herzlichen Begrüßungen am Morgen, nach dem tagelangen Regen hatte sie das Gefühl, dass ein Ausflug aufs Land an einem sonnigen Frühlingstag genau das war, was sie brauchte.
»Dann hole ich Sie um zehn Uhr in Ihrem Hotel ab«, sagte Marc Reeve.
2
Brent Cadwick war ratlos, was er tun sollte. Er hatte die ganze Nacht vor Aufregung nicht geschlafen und war schließlich um fünf Uhr aufgestanden, weil er es im Bett einfach nicht mehr aushielt. Es war noch ganz dunkel draußen gewesen. Er hatte sich einen Kaffee gekocht und ein Brot gestrichen, aber er hatte kaum einen Bissen heruntergebracht. Zu vieles war ihm im Kopf herumgegangen.
Irgendwann dämmerte draußen der Tag. Er spähte durch sein kleines Wohnzimmerfenster, verrenkte ein wenig den Kopf und konnte ein Stück Himmel zwischen den Häusern hoch über der Gasse erkennen. Blauer Himmel. Es schien endlich einmal schönes Wetter zu herrschen.
Am Vorabend hatte es ihn wie ein Blitz getroffen. Eigentlich sah er sich die Sendung Private Talk nur selten an. Sie wurde viel zu spät am Abend ausgestrahlt, meist schlief er um diese Zeit schon, und die Themen, die dort behandelt wurden, interessierten ihn nicht besonders. Gestern jedoch war er beim Herumschalten zufällig bei Lee Pearce gelandet und zunächst einmal nur deshalb bei der Sendung hängengeblieben, weil er es komisch fand, dass die Moderatorin und ihr weiblicher Studiogast fast identisch angezogen waren. Beide Frauen waren darüber sicher alles andere als glücklich, und über derartige Missgeschicke konnte er sich, glucksend vor Vergnügen, amüsieren. Und dann war plötzlich der Name gefallen, der ihn elektrisierte, er hatte sich in seinem Sessel aufgerichtet und laut gesagt: »Also, das ist ja ein Ding!«
Elaine Dawson.
Sie sprachen in der Sendung über Elaine Dawson.
Vor knapp zwei Jahren war sie in sein Apartment – er nannte die Wohnung im ersten Stock gerne Apartment, weil das, wie er fand, sehr vornehm klang – eingezogen, an einem warmen, windigen Apriltag, und hatte sich ihm mit ihrer leisen Stimme vorgestellt. »Elaine. Elaine Dawson. Ich habe Ihr Inserat gelesen und wäre an der Wohnung interessiert.«
Da sie die Einzige war, die sich gemeldet hatte, waren sie schnell einig geworden. Er hatte sich ihren Ausweis zeigen lassen und eine Kaution von zwei Monatsmieten gefordert, die sie anstandslos bezahlt hatte. Sie hatte in einem Schuhgeschäft in einem Vorort von Morpeth gearbeitet, aber dann hatte sie diesen Job verloren und für einige Monate keinen Ersatz gefunden. Sie war in Zahlungsschwierigkeiten geraten und hatte ihn mit der Miete warten lassen. Trotzdem hatte er sie nicht hinausgeworfen. Gut, er hatte natürlich etwas Druck gemacht, verständlich, es ging ja um Geld, das ihm rechtmäßig zustand. Aber immerhin, sie hatte im Apartment bleiben dürfen, und endlich war da der Job im Elephant gewesen, und von da an hatte es keine Probleme mehr gegeben. Jetzt platzte er natürlich fast vor Wut. Großzügig war er gewesen, verständnisvoll. Immer wieder hatte er ihr seine Unterstützung bei all ihren Schwierigkeiten angeboten. Und was war der Dank? Abgehauen war sie. Verschwunden seit Donnerstag. Sang- und klanglos und ohne ein einziges Wort zu verlieren.
Das hatte ihn getroffen. Wirklich getroffen.
Normalerweise hätte er natürlich vermutet, dass sie einfach – endlich – einen Mann kennen gelernt hatte und sich ein paar vergnügte Nächte mit ihm machte. Sie war jung, es wurde Zeit, dass sie anfing, das Leben zu genießen. Aber er hatte es sich nicht verkneifen können, ein wenig im Apartment herumzustöbern, während sie fort war, und da war ihm das Fehlen all ihrer persönlichen Gegenstände sofort ins Auge gesprungen. Ihr Koffer war fort, der Kleiderschrank leer geräumt.
Minutenlang hatte er sprachlos in ihrem Schlafzimmer gestanden und zu begreifen versucht, was sich ihm als Erkenntnis aufzwang: dass sie ausgeflogen war und ganz offenbar nicht vorhatte, zurückzukommen. Und es nicht einmal für nötig befunden hatte, ihn darüber zu informieren.
Das große Foto an der Studiowand wurde leider zum Teil von den beiden davor sitzenden Frauen verdeckt, dennoch war er ganz dicht an den Fernsehapparat herangekrochen, um festzustellen, ob es sich um seine Elaine Dawson handelte. Denn natürlich konnte es den Namen öfter geben. Er wusste beispielsweise von einem Brent Cadwick, der nur ein paar Dörfer entfernt wohnte. Das Leben war voll seltsamer Zufälle.
Aber es könnte sein … Die dunklen, glatten Haare stimmten auf jeden Fall. Das Gesicht seiner Elaine war wesentlich schmaler als das des offenbar recht pummeligen Mädchens im Studio, aber wie er dem Gespräch der beiden Frauen entnahm, handelte es sich um eine Aufnahme, die mindestens fünf Jahre alt war. In fünf Jahren konnte eine Frau eine Menge Babyspeck verlieren und sich in einen anderen Typ verwandeln.
Atemlos hatte er die Sendung weiterverfolgt und dabei erfahren, dass Elaine Dawson offenbar vor nunmehr fünf Jahren spurlos verschwunden war und dass es einen Mann gab, einen Londoner Anwalt, der im Verdacht gestanden hatte, sie ermordet zu haben. Die Journalistin jedoch, die man in die Sendung eingeladen hatte, schien sicher zu sein, dass Dawson noch lebte.
Und wenn es stimmte, was er, Brent Cadwick, dachte, dann hatte sie damit verdammt recht.
Brent Cadwick hatte sich immer gewünscht, dass in seinem Leben einmal etwas wirklich Aufregendes passieren möge, aber achtundsechzig Jahre lang war dieser Wunsch ins Leere gelaufen. Nun schien sich etwas anzubahnen. Wenn seine Elaine identisch war mit der seinerzeit in London verschwundenen Frau, dann war er, Brent, der Mann, der den Fall aufklären würde. Der ihrer Familie Gewissheit bringen, der den Londoner Anwalt von jedem Verdacht reinwaschen würde. Wie dankbar man ihm wäre! Sicher käme er in die Presse. Man würde ihn vor seinem Haus fotografieren, man würde auch das Apartment sehen wollen, in dem Dawson gelebt hatte. Man würde Interviews mit ihm führen. Wahrscheinlich würde er auch zu Private Talk eingeladen werden. Er sah sich schon in dem Studio sitzen und von dieser höchst attraktiven Blondine Lee Pearce befragt werden. Schlagartig wäre er im ganzen Land bekannt. Dawsons Familie würde ihm in den nächsten Jahren zu jedem Weihnachtsfest eine Karte schreiben und vielleicht auch zu seinen Geburtstagen. Da er zu beiden Gelegenheiten nie von irgendjemandem Post bekam, war allein diese Vorstellung schon dazu angetan, ihn in freudige Aufregung zu versetzen.
Was ihn in der Nacht wach gehalten hatte und ihn auch jetzt, an diesem sonnigen Morgen, beschäftigte, waren drei Fragen:
Konnte er sicher sein, dass es sich wirklich um die richtige Elaine handelte?
An wen sollte er sich nun am besten wenden?
Und wo, verdammt noch mal, war sie abgeblieben?
Die letzte Frage beunruhigte ihn am meisten. Denn wenn er sich bei der Polizei oder bei wem auch immer meldete und als Erstes bekennen musste, dass er keine Ahnung hatte, wo sich die Gesuchte eigentlich aufhielt, kam das einer ganz schönen Blamage gleich. Also … erwähnte er es am besten vorerst gar nicht.
Und was die Identität Elaines anging … Ganz sicher konnte er nicht sein. Aber fast sicher. Denn schließlich musste er auch das seltsame Verhalten, die eigenartige Lebensweise seiner Untermieterin in die Waagschale werfen. Und das hatte in seiner Vorstellung schon immer auf irgendein Geheimnis in ihrer Vergangenheit hingedeutet.
Im hellen Licht des Tages fand er nun die Antworten und konnte sich endlich einen Schlachtplan zurechtlegen.
Er nickte zufrieden. Er würde das alles ganz schlau anfangen.
An diesem Samstag verließ Angela endlich einmal die elterliche Wohnung. Sie hatte ihre dicke Winterjacke und einen Schal angezogen, merkte draußen jedoch schnell, dass es ihr darin zu warm wurde. Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel und bewies bereits eine erstaunlich starke Strahlkraft. Islington mit seinen einfallslosen Sozialbauten, den noch kahlen Bäumen und flachen, braunen Wiesenstücken dazwischen, sah zwar noch immer recht trostlos aus, aber trotzdem verschönte der blaue Himmel auch diese Gegend, und im leichten Wind schwang der Geruch nach Frühling.
Ein Frühling, den Linda nicht mehr erlebte.
Angela merkte, wie ihr schon wieder die Tränen in die Augen stiegen. Sie schluckte energisch, versuchte jeden Gedanken an ihre Schwester beiseitezuschieben. Seit der Nachricht von Lindas Tod hatte sie an nichts anderes denken können als an die Grausamkeiten, die ihr zugefügt worden waren, und sie wusste, dass sie den Verstand verlieren oder krank werden würde, wenn sie nicht damit aufhörte. Oder sich nicht zumindest eine Pause verschaffte. Einfach spazieren ging, sich den Wind um die Nase wehen ließ und andere Gedanken und Bilder in ihrem Kopf zuließ. Nur dass das so schwer war. So schrecklich schwer.
Sie lief eine Weile ziellos herum, einfach so durch die Straßen, und sie merkte, dass ihr das zumindest besser bekam, als daheim in der Wohnung zu sitzen. Als sie schließlich atemlos stehen blieb – sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie so schnell gelaufen war –, stellte sie fest, dass sie vor der Autowerkstatt gelandet war, in der Linda ein halbes Jahr lang gearbeitet hatte. Gordon kannte einen der Mitarbeiter dort, und es war ihm gelungen, Linda im Büro unterzubringen, wo sie Rechnungen tippte und die Ablage machte. Linda hatte den Job gehasst und vor etwa einem Dreivierteljahr alles hingeworfen und erklärt, eher springe sie nackt von der Tower Bridge, als noch ein einziges Mal das dunkle Gebäude zu betreten, in dem sie ihrer langweiligen Tätigkeit nachgegangen war. Angela erinnerte sich an den Riesenkrach, den es deswegen daheim gegeben hatte; Gordon hatte gebrüllt und getobt, aber Linda war standhaft geblieben.
Auch Angela hatte ihrer Schwester damals Vorhaltungen gemacht. In diesem Punkt waren sie grundverschieden gewesen. Angela vertrat die Auffassung, dass jede Arbeit besser war als keine Arbeit und dass man im Leben Durststrecken durchzustehen hatte. Linda argumentierte, man habe nur dieses eine Leben und sie sei nicht gewillt, es sich vermiesen zu lassen.
Ein berührender Ausspruch im Nachhinein. Man hatte ihr nun ihr Leben nicht einfach nur vermiest. Man hatte es ihr genommen.
Angela dachte, dass sie sicher nicht zufällig ausgerechnet hier gelandet war. Sosehr sie sich bemühte, an etwas anderes zu denken, Linda war einfach in ihrem Kopf. Sie hatte ihre Schwester damals häufig an der Werkstatt abgeholt, auf dem Heimweg von der Gärtnerei. Manchmal waren sie zu der Chips-Bude schräg gegenüber gegangen und hatten sich einen Hot Dog gekauft. Linda hatte über die Arbeit geschimpft. An Sommerabenden war es schön gewesen, nebeneinander die Straße entlangzugehen.
Sie hob die Hand, wischte eine Träne aus den Augenwinkeln. Die Chips-Bude gab es noch, wie sie feststellte.
»Scheiße«, sagte sie laut, »einfach Scheiße!«
Ein Schatten tauchte plötzlich neben ihr auf, und eine Stimme sagte: »Bist du nicht Lindas Schwester?«
Sie drehte sich um. Vor ihr stand ein großes, dünnes Mädchen im blauen Arbeitsanzug, eine Baseballmütze auf den rotblonden Haaren. Sie roch leicht nach Motoröl.
»Doch«, fuhr sie fort, »du bist doch Angela Biggs?«
Angela zog ein Taschentuch aus ihrer Manteltasche und schnäuzte sich kräftig, ehe sie antwortete.
»Ja«, sagte sie dann, »ich bin Lindas Schwester.«
»Dawn Sparks«, sagte das Mädchen, »ich mache hier eine Ausbildung zum Mechaniker.« Sie wies auf die Werkstatt. »Ich hab dich hier stehen sehen, und da dachte ich … na ja, ich wollte dir sagen, mir tut es verdammt leid, was mit Linda passiert ist. Ehrlich, ich konnte es zuerst gar nicht glauben. Als ich das in der Zeitung gelesen habe … o Gott, mir ist es kalt den Rücken hinuntergelaufen. Wer macht denn so etwas?«
Sie sah Angela fragend an.
»Ich weiß es nicht«, sagte Angela.
»Ich habe mich gut mit Linda verstanden. Sie war ja total unglücklich hier und hat dauernd gejammert, aber ich fand sie nett. Ich fand's schade, als sie aufhörte.«
»Ich auch«, sagte Angela, »die ganze Familie. Wir waren so froh, dass sie einen Job hatte. Aber…« Sie hob hilflos die Arme zum Zeichen, dass es in mancher Hinsicht keinerlei Einflussmöglichkeit auf Linda gegeben hatte.
»Das hier war wohl nicht das Richtige für sie«, meinte Dawn, »sie hatte andere Vorstellungen von ihrem Leben.«
»Ich glaube eher«, sagte Angela, »dass sie ihre eigenen Vorstellungen noch gar nicht richtig kannte. Das war ihr Problem. Aber sie war ja auch noch so jung. Sie wollte einfach leben. Einfach nur leben …«
Die beiden jungen Frauen schwiegen. Sie sahen Linda vor sich, die lebendige Linda, mit ihrem hübschen Gesicht, ihrer freizügigen Kleidung, dem lauten Lachen, der wilden Fröhlichkeit. Es schien kaum vorstellbar, dass sie, auf grässliche Art verstümmelt, im Keller der Gerichtsmedizin lag und auf Spuren untersucht wurde, die Aufschluss über den Menschen geben sollten, der ihr das Leben genommen hatte.
»Wie gesagt, ich mochte Linda«, fuhr Dawn schließlich fort, »aber jetzt zuletzt machte ich mir auch ein bisschen Sorgen um sie. Ich meine, sie ist … war ein Mensch, der nicht so gut auf sich selber aufpasste. Bestimmte Warnsignale schien sie einfach nicht wahrzunehmen. Spätestens seit ich sie mit ihrem neuen Freund gesehen hatte, hatte ich ein ausgesprochen ungutes Gefühl, aber …«
Angela, die ein wenig geistesabwesend zugehört hatte, zuckte zusammen. Sie starrte Dawn an. »Was meinst du? Welcher neue Freund?«
»Sie hatte doch einen neuen Freund. Jedenfalls war sie mit einem Typen unterwegs.«
»Du meinst nicht Ben Brooks?«
»Nein. Den kannte ich ja. Der hat sie hier manchmal abgeholt. Bei dem hätte sie übrigens bleiben sollen. Der war richtig nett.«
»Aber wer war es dann? Wir wussten nichts von einem neuen Freund.«
Dawn schien überrascht. »Nicht? Vielleicht war sie sich nicht so ganz sicher. Hoffentlich jedenfalls. Denn der Kerl war das Allerletzte. Brutal und gewöhnlich.«
Angela hätte sie am liebsten geschüttelt. »Wo hast du die beiden getroffen?«
»Das war ganz in der Nähe. Gleich bei Woolworth hier um die Ecke. Ich hätte Linda zuerst fast gar nicht erkannt. Hierher zu uns kam sie ja nicht so aufgedonnert. Aber vor dem Kaufhaus … meine Güte, dachte ich, sie sieht aus als ob …« Sie sprach nicht weiter, biss sich auf die Lippen.
Angela erriet, was sie hatte sagen wollen, aus Pietät jedoch zurückgehalten hatte. »Sie sah aus, als ob sie auf den Strich ginge«, sagte sie.
Dawn wirkte verlegen. »Na ja. Also, ein bisschen schon. Aber den Eindruck bekam man vielleicht auch durch den Typ neben ihr. Der sah jedenfalls voll und ganz wie ein Zuhälter aus. Ich bin richtig erschrocken.«
»Wann genau war das?«
»Das ist noch gar nicht so lange her. Kurz vor Weihnachten, würde ich sagen. Ich war ja unterwegs, um Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Mitte Dezember etwa.«
»Und du hast Linda angesprochen?«
»Nein, sie hat mich angesprochen. Hi, Dawn, sagte plötzlich jemand neben mir, und, wie gesagt, ich musste zweimal hinschauen, ehe ich Linda erkannte. Ich hatte den Eindruck, dass sie stehen bleiben und ein bisschen mit mir plaudern wollte, aber der Typ neben ihr war in Eile. Er zog sie einfach weiter.«
»Aber sie stellte ihn dir noch als ihren Freund vor?«
»Eigentlich nicht. Sie sagte etwas in der Art wie Na, wir haben es aber mal wieder eilig, ein bisschen ironisch, weißt du. Ich hab einfach angenommen, er ist ihr neuer Freund. Aber natürlich – genau weiß ich nicht, wie sie zueinander standen.«
»Seinen Namen hat sie nicht zufällig …?«
Dawn hob bedauernd die Schultern. »Nein, den sagte sie nicht. Es ging alles sehr schnell. Ich war ja auch total in Hetze. Es war meine Mittagspause, und ich wollte wenigstens noch ein paar Geschenke finden. Ich versuchte gar nicht, sie festzuhalten. Aber ich weiß, dass ich im Weitergehen dachte: O Gott, wo hat sie denn den her? Hoffentlich legt sie den schnell wieder ab. Der sieht ja richtig kriminell aus!«
Angelas Herz klopfte wie rasend. Da war sie. Die allererste kleine Spur. Ein Hinweis auf die neue Bekanntschaft, die es in Lindas Leben gegeben haben musste. Die Polizei war sicher gewesen, dass da jemand gewesen war. Der nichts mit ihrem Tod zu tun haben brauchte. Aber zu tun haben konnte.
»Dawn, das ist jetzt sehr wichtig«, sagte sie und merkte selbst, dass ihre Stimme vor Erregung schrill klang, »es ist sehr wichtig, dass du dich so gut wie möglich an Lindas Begleiter erinnerst. An jedes mögliche Detail, verstehst du? Die Polizei sucht nach diesem Mann, bisher aber ohne den kleinsten Hinweis auf seine Person. Meinst du, du kannst eine Beschreibung abgeben?«
Dawn wirkte alles andere als glücklich. »Ich weiß nicht … du meinst, bei der Polizei?«
»Ja. Bitte, Dawn. Ich gehe mit dir dorthin. Aber das ist der erste Anhaltspunkt, den es gibt.«
Sie kramte ihr Handy aus der Manteltasche, dazu die Karte von Inspector Fielder, die sie immer bei sich trug. »Ich rufe jetzt den ermittelnden Beamten an«, sagte sie, »vielleicht will er, dass wir gleich zu ihm kommen. Oder er kommt hierher.«
»Aber es ist mitten in meiner Arbeitszeit«, protestierte Dawn. »Samstags arbeite ich bis zwölf. Danach …«
»Das dauert zu lange«, sagte Angela. »Inspector Fielder wird mit deinem Chef sprechen. Du bekommst garantiert keinen Ärger, versprochen!«
Dawn sah nicht so aus, als schenke sie Angelas Worten großes Vertrauen. Sie schien es bereits schwer zu bereuen, nach draußen gelaufen zu sein und Lindas Schwester angesprochen zu haben.
Während Angela insgeheim dem Schicksal dankte, dass es sie an diesem Morgen genau hierher, zu Lindas ehemaliger Arbeitsstelle, geführt hatte.
Wenn es das Schicksal gewesen war. Angela war zwar recht gläubig, häufig jedoch im Zweifel, was die Frage eines Weiterlebens nach dem Tod betraf, aber plötzlich hatte sie das Gefühl, dass es Linda selbst gewesen sein konnte.
Vielleicht hatte der Geist ihrer toten Schwester ihre Schritte gelenkt.
4
Sie waren bis in die Gegend von Cambridge hinaufgefahren, über Landstraßen, die an diesem Samstagmorgen sehr leer und sehr sonnig waren. Marc Reeve fuhr schnell und sicher. Er wirkte gelöster als bei den anderen beiden Verabredungen, die sie gehabt hatten. Rosanna überlegte, dass es daran liegen mochte, dass er sich diesmal nicht befragt und damit irgendwie zur Rechtfertigung gezwungen fühlte. Er hatte diese Verabredung von sich aus erbeten. Seit der Fernsehsendung vom Vorabend schien er sich nicht mehr wie ein gehetztes Tier zu fühlen.
Dabei, dachte Rosanna, bin es bislang immer noch ausschließlich ich, die für ihn in die Bresche springt. Ob das irgendeine Wirkung zeigt, wird sich erst später herausstellen.
Er hatte ein bisschen von sich erzählt während der Fahrt. Davon, dass er ein begeisterter Wassersportler gewesen war, ein eigenes Motorboot besessen hatte.
»Im Yachthafen von Wiltonfield. Sehr ländlich und idyllisch. Ich bin oft auf der Themse gefahren.«
»Jetzt nicht mehr?«
Er hatte den Kopf geschüttelt. »Nach der Trennung von meiner Frau habe ich ihr das Schiff überlassen. Wir beide im selben Yachtclub – das ging ganz einfach nicht. Es machte so mehr Sinn: Sie lebt jetzt in Binfield Heath, das ist dort ganz in der Nähe, und mir fehlt die Zeit, mich regelmäßig um ein Boot zu kümmern.«
»In Ihrem Leben hat sich vieles verändert, nicht? Nick erzählte, dass Sie auch in Ihrem Haus von damals heute nicht mehr wohnen.«
»Das wurde verkauft, ja. Es war viel zu groß für mich allein. Ich habe jetzt eine Wohnung in Marylebone.«
»Und dort besucht Sie Ihr Sohn an den Wochenenden?«
Das war der einzige Moment gewesen, an dem ein unsichtbarer Vorhang vor Reeves Gesicht glitt und seine Züge sich verschlossen. »Nein«, hatte er knapp erwidert, »mein Sohn hat keinen Kontakt mehr zu mir.«
Die Art, wie er dies sagte, verbot es Rosanna, weiter nachzufragen. Sie hätte gern gewusst, ob Marc Reeves Sohn den Kontakt abgebrochen hatte wegen Elaine Dawson oder wegen der Scheidung seiner Eltern. Vielleicht leitete sich sein Verhalten von einem übermäßigen Solidaritätsgefühl mit seiner Mutter ab. Möglicherweise hetzte die Mutter auch gegen den Vater. Rosanna hatte jedenfalls den Eindruck, den wundesten Punkt in Marc Reeves Leben berührt zu haben.
Das Pub hieß The Duke of Wellington und war fast völlig leer. Nur ein älteres Paar saß in einer Ecke, schwieg verbissen und betrachtete die Neuankömmlinge mit unverhohlener Neugier.
»Die haben sehr gutes Essen hier«, sagte Marc. »Meine Schwiegermutter war hier in der Gegend in einem Pflegeheim untergebracht, und hin und wieder habe ich Jacqueline – meine Frau – dorthin begleitet. Daher kenne ich mich in der Ecke ein wenig aus.«
Nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten, wagte Rosanna noch einen Vorstoß in das heikle Thema. »Wie alt ist Ihr Sohn?«, fragte sie vorsichtig.
»Er wird jetzt am ersten März fünfzehn«, sagte Marc.
»Und selbst an seinem Geburtstag sehen Sie ihn nicht?«
»Nein.«
»Nun, das ist …«
»Rosanna«, sagte Marc, »ich darf Sie doch Rosanna nennen? Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich möchte nicht über Josh sprechen. Es war an seinem neunten Geburtstag, am ersten März 2002. Als ich abends aus der Kanzlei kam, waren er und meine Frau ausgezogen, ohne mir eine Anschrift zu hinterlassen. Als Nächstes bekam ich den Scheidungsantrag von der Anwältin meiner Frau zugestellt, dazu ein Schreiben, dass man mir juristisch natürlich ein Umgangsrecht mit Josh nicht verwehren könne, dass der Junge sich aber vehement weigere, mich zu sehen oder zu sprechen. Bis auf eine einzige sehr unerfreuliche Begegnung kam es dann tatsächlich zu keinem Kontakt mehr. In dieser Konstellation muss ich seit sechs Jahren leben, und es geht mir besser, wenn ich das alles nicht thematisiere.«
»Ich verstehe das. Aber, verzeihen Sie – warum haben Sie das sechs Jahre lang hingenommen? Ich meine …«
»Es gab jede Menge Bemühungen von meiner Seite, natürlich. Aber daraufhin bekam ich ärztliche Bescheinigungen zugeschickt, denen zufolge Josh mit Neurodermitis auf jeden Gedanken an eine Begegnung mit mir reagiere. Was soll man da noch tun? Beharrlichkeit zeigen? Sich über all das hinwegsetzen? Das wollte ich nicht.« Er schob den Salzstreuer hin und her, blickte aus dem Fenster in den strahlenden Vorfrühlingstag hinaus. »Ein unerfreuliches Thema «, sagte er.
Sie nickte. Sie spürte, dass sie keine weitere Frage stellen durfte, sie war ohnehin recht weit gegangen, und sie mochte das fragile erste Vertrauen, das sich zwischen ihnen aufgebaut hatte, nicht in Gefahr bringen. Immerhin wusste sie nun, dass das Problem, das Marc Reeve mit seinem Sohn hatte, nicht von der Geschichte um Elaine Dawson herrührte. Die Tatsache, dass sein Vater als potenzieller Mörder durch die Presse gezerrt worden war, mochte die ungute Situation noch verschlechtert haben, ausschlaggebend war sie jedoch offensichtlich nicht gewesen. Irgendetwas anderes war zuvor geschehen und hatte Josh dazu gebracht, sich in gnadenloser Konsequenz von seinem Vater abzuwenden. Vielleicht wurde er aber auch nur von der Mutter instrumentalisiert. Es mochte ein Leichtes gewesen sein, den knapp neunjährigen Jungen, der er damals gewesen war, in jede noch so absurde Richtung zu beeinflussen. In diesem Fall allerdings arbeitete die Zeit für Marc Reeve. Irgendwann würde Josh alt genug sein, die Zusammenhänge zu durchschauen und sich sein eigenes Bild zu machen.
»Mein Stiefsohn ist sechzehn«, sagte sie, »ein schwieriges Alter.«
»Aus der ersten Ehe Ihres Mannes?«
»Es war eine Studentenbeziehung. Das Kind war ungeplant und kam in einem ziemlich ungünstigen Moment. Die Mutter wollte es unter keinen Umständen haben. Sie hat meinen Mann geradezu bekniet, den Jungen zu nehmen. Der war zunächst auch nicht sehr glücklich darüber. «
»Aber heute schon, vermute ich.«
Sie nickte. »Ja. Aber die beiden reiben sich furchtbar aneinander. Und mir tut Robert immer etwas leid. Ich bilde mir ein, dass man es ihm anmerkt. Dieses Nicht-gewollt-Werden seiner ersten Monate und Jahre. Es liegt so ein Schatten über ihm. Eine Traurigkeit. Daraus resultiert viel Trotz. Viele Aggressionen. Und das wiederum lässt ihn unsagbar heftig mit seinem Vater zusammenstoßen. Immer wieder und immer häufiger.«
»Trotzdem«, sagte Marc, »ist eine Beziehung besser als keine Beziehung. Selbst wenn sie im Wesentlichen aus Streitigkeiten besteht.«
»Das ist sicher richtig«, stimmte Rosanna zu.
Das Essen wurde gebracht. Es war köstlich, wie Reeve versprochen hatte. Nachdem sie ein paar Minuten schweigend gegessen und genossen hatten, sagte Marc: »Sie wissen inzwischen eine Menge über mich. Und ich praktisch gar nichts über Sie.«
Sie lachte. »Sie wissen doch einiges.«
Er überlegte. »Warten Sie – ich weiß, dass Sie in Gibraltar leben. Dass Sie verheiratet sind und einen sechzehnjährigen Stiefsohn haben. Sie haben vor Ihrer Heirat als Journalistin gearbeitet. Sie stammen aus einem Dorf am Ende der Welt. Sie sind …«
»Ich bin sechsunddreißig.«
Jetzt lachte er. »Das wollte ich so genau gar nicht wissen. Ich habe mir gerade Gedanken über Ihren Namen gemacht. Rosanna. Sehr …«
Wieder vollendete sie seinen Satz. »Sehr altmodisch.«
»Sehr melodisch wollte ich sagen. Nach Ihrem Gesichtsausdruck zu schließen, mögen Sie den Namen nicht besonders?«
Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie eine Grimasse geschnitten hatte. »Ich hasse den Namen«, sagte sie, »und eigentlich ist es noch viel schlimmer: Ich bin auf Rose Anne getauft. Stellen Sie sich das vor. Ich liebe meine Eltern wirklich sehr, aber ich frage mich bis heute, was sie sich dabei gedacht haben. Rose Anne Jones. Mein Vater machte daraus Rosanna, und das ist mir bis heute geblieben. Ich finde es ein bisschen besser als Rose Anne. Aber wirklich nur ein bisschen.«
»Rose Anne«, wiederholte er langsam und nachdenklich, lauschte dem Klang. »Mir gefällt das. Wie hätten Sie denn gern geheißen?«
»Ich weiß nicht. Als Teenager vielleicht Nancy. Oder Patty. In der Art.«
»Das klingt nach einem amerikanischen Cheerleader.«
»Na ja, in einem bestimmten Alter wäre man ganz gern ein typisch amerikanischer Cheerleader. Mit langen blonden Haaren, blauen Augen und Stupsnase. Und eben dem richtigen Namen.«
»Jetzt sagen Sie nicht, dass Sie Ihre Haar- und Augenfarbe auch nicht mögen?«
Sie fuhr sich mit der Hand durch ihre kurzen dunklen Haarwirbel. »Ich habe mich daran gewöhnt. Ich glaube, ich bin noch ein ganzes Stück davon entfernt, mich selbst ganz zu akzeptieren, aber ich merke, dass es mit den Jahren besser wird. Das ist wahrscheinlich der einzige echte Vorteil am Älterwerden. Dass man langsam lernt, sich anzunehmen.«
Reeve nickte. Er schien plötzlich sehr ernst. »Ja«, bestätigte er, »so ist es. Es ist wirklich gut, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Es verändert alles, finden Sie nicht auch? Es gibt einem so viel Gelassenheit.«
Sie wollte etwas erwidern, aber in diesem Moment schrillte ihr Handy. Mit einem genervten Gesichtsausdruck kramte sie in ihrer Tasche. »Ich weiß, das ist unhöflich beim Essen. Aber ich muss für Nick Simon erreichbar sein. Ich kann mir nicht noch mehr Ärger mit ihm leisten.«
»Ich habe kein Problem damit«, versicherte Marc.
Sie meldete sich. »Rosanna Hamilton. Nick? Ja, ich verstehe dich. Die Verbindung ist nicht allzu gut, aber …« Sie lauschte seinen Worten. Ihre Augen wurden immer größer und runder. Schließlich stieß sie atemlos hervor: »Natürlich. Natürlich gibst du ihm meine Nummer. Ja. Klar. Ich bin erreichbar. Ich halte dich auf dem Laufenden. Selbstverständlich.«
Sie schaltete das Handy aus. »Das ist unglaublich«, sagte sie.
Marc legte seine Gabel zur Seite. »Was ist passiert?«
»Das war Nick Simon. Er hat einen Anruf bekommen. Anonym. Ein Mann aus Northumberland. Seine genaue Adresse hat er noch nicht genannt. Er behauptet, dass Elaine bei ihm als Untermieterin lebt. Er hat sie in der Sendung gestern erkannt. Er will jedoch nur mit mir darüber sprechen.«
»Das wäre eine Sensation!«, sagte Marc.
5
Der Anruf kam eine knappe Dreiviertelstunde, nachdem Nick sich gemeldet hatte. Beide, Rosanna und Marc, waren vor Aufregung nicht mehr in der Lage gewesen, auch nur einen einzigen Bissen zu essen, hatten rasch bezahlt und dann eiligst den Duke of Wellington verlassen, da Rosannas Handy dort so schlechten Empfang hatte. Sie waren eine Weile durch die Straßen des kleinen Dorfes gelaufen, bis Rosanna in ihrem Display die höchstmögliche Anzahl an Balken erkennen konnte.
»Hier«, sagte sie, »hier ist der Netzempfang am besten.«
Sie standen vor dem Pfarrgarten, über dessen steinerne Mauern Forsythienbüsche ragten, deren Blüten an diesem Tag förmlich explodierten und die ganze Gegend mit leuchtendem Gelb durchsetzten. Die Luft roch nach feuchter Erde und Frühling. Es wehte ein weicher, warmer Wind.
»Was für ein wunderschöner Tag«, sagte Rosanna.
Marc nickte. Sie konnte die Anspannung in seinem Gesicht erkennen. Und die widerstreitenden Gefühle. Die Hoffnung, die in ihm erwacht war, kämpfte mit seiner Skepsis und dem Bemühen, sich nicht zu früh an den Gedanken zu klammern, sein persönlicher Albtraum könne womöglich kurz vor seinem Ende stehen.
»Marc«, sagte sie sanft, »vielleicht …«
»Wir sollten uns nicht zu früh freuen«, unterbrach Marc.
»Das kann ein Scherzbold gewesen sein, der sich nie wieder meldet. Und selbst wenn er sich meldet, kann er weiterhin seinen Spaß mit uns treiben. Und auch wenn er ehrlich ist, kann er sich trotzdem irren.« »Ich weiß.«
»Nachdem Elaine Dawson verschwunden war, gab es etliche Meldungen. Man hatte sie an den seltsamsten Orten gesehen. Einige der Anrufer waren wahrscheinlich wirklich überzeugt von dem, was sie sagten. Trotzdem führte jede dieser Spuren ins Leere.«
Sie konnte verstehen, dass er auf sich und seine Gefühle achten musste. Die Enttäuschung wäre zu groß.
»Er will nur mit mir sprechen. Er wird sich bei Nick melden und sich meine Nummer geben lassen, und dann werde ich weitersehen. Ich verfüge über ein bisschen Menschenkenntnis, Marc. Ich denke, ich merke es, wenn er sich bloß wichtigmachen möchte.«
Marc entdeckte ein paar große, graue Feldsteine, die unweit vom Tor zum Pfarrgrundstück lagen. »Kommen Sie, wir setzen uns dorthin. Wir stehen ja hier wie bestellt und nicht abgeholt.« Er blickte die leere, stille Straße hinauf und hinunter. »Eine verrückte Situation«, meinte er.
Die Steine waren warm von der Sonne. Rosanna hielt ihr Gesicht den Strahlen entgegen. »Ich könnte jetzt meilenweit über Felder und Wiesen laufen«, sagte sie, »über steinerne Mauern und über hölzerne Gatterzäune klettern. An Bachufern entlang und dort die ersten Primeln im Wintergras entdecken. Diese klare Luft atmen. Wissen eigentlich die Menschen in England den Frühling noch zu schätzen?«
Er sah sie an. In seinem Blick mischten sich ein wenig Erstaunen und ein intuitives Verstehen. »Ich weiß jetzt noch etwas über Sie«, sagte er, »ich weiß, dass Sie Heimweh haben. Heimweh nach England. Sie sind nicht glücklich in Gibraltar.«
Sie verspürte plötzlich keine Lust, ihm zu widersprechen, irgendetwas Lapidares über das schöne Wetter und die Nähe zu Spanien zu sagen; Sätze, wie sie oft gefallen waren, wenn Dennis die Vorzüge seiner Wahlheimat pries: Wir leben dort, wo andere Urlaub machen.
Stattdessen nickte sie und sagte plötzlich, selbst überrascht von der Heftigkeit ihrer Gefühle: »Ja. Ja, Marc, ich sterbe fast vor Heimweh nach England. Seit Jahren schon. Ich glaube, das ist der Hauptgrund, weshalb ich Nicks Auftrag angenommen habe. Ich wollte nach England. Nicht bloß zum Geburtstag meines Vaters. Sondern für ein paar Wochen. Ich hatte eine so überwältigende Sehnsucht, dass ich…« Sie beendete den Satz nicht, schaute zur Seite. Sie kannte Marc Reeve kaum. Warum erzählte sie ihm das alles?
»Und, ist es so?«, fragte er. »Ist es so, wie es in Ihrer Erinnerung war? Erfüllen sich Ihre Sehnsüchte?«
Sie atmete tief durch. »Ja. Ich hätte selber gewünscht …«
»Was?«
»Ich hätte selber gewünscht, dass es nicht so wäre. Ich dachte, vielleicht habe ich alles idealisiert. Mich in Bilder und Erinnerungen hineingesteigert, die so überhaupt nicht stimmen. Ich dachte, vielleicht merke ich in den Wochen hier, dass es gar nicht so viel besser ist als Gibraltar, und dann fliege ich zurück und habe meinen Frieden. Das wäre schön gewesen.«
»Und jetzt finden Sie es doch besser als Gibraltar?«
Sie schaute sich um. Das alte Pfarrhaus. Der noch kahle Garten, dessen Bäume im Sommer schwer sein mochten unter der Last ihrer Früchte. Die kleinen Häuser entlang der Straße. Die milde Luft. Es war ein bisschen wie Kingston St. Mary. Aber das allein war nicht entscheidend. In den letzten Tagen war das Wetter kalt und grau und nass gewesen, typischer, trostloser Februar, und sie war mitten in London gewesen, nichts hatte geblüht, und kein Sonnenstrahl hatte sich zwischen den tief hängenden Wolken gezeigt. Und trotzdem war dieses Gefühl da gewesen. Das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein. Dort zu sein, wohin sie gehörte.
»Es geht gar nicht so um besser oder schlechter«, sagte sie, »ich glaube, es geht einfach darum, ob man an einen Ort passt oder nicht. Ich passe nicht nach Gibraltar. Das heißt nicht, dass ich nur nach England passe. Vielleicht könnte man mich nach Südafrika setzen. Oder nach Kanada oder nach Indien. Ich weiß nicht. Aber Gibraltar … das passt einfach nicht.«
»Eine schwierige Situation. Ihr Mann und Ihr Stiefsohn sind dort.«
»Ich weiß. Und ich gehöre zu ihnen. Aber am liebsten würde ich einfach hierbleiben. Hier, an diesem Ort, auf diesen Steinen in der Sonne sitzend. Mich überhaupt nicht mehr fortbewegen.«
»Darauf haben Sie eine echte Chance«, meinte Marc, »denn vermutlich sitzen wir hier noch Stunden herum und warten auf irgendeinen Wichtigtuer, der nicht im Traum daran denkt, sich je wieder zu melden. Bis heute Abend haben Sie es satt, das verspreche ich Ihnen. Auf die Dauer sind diese Steine ganz schön hart.«
Sie sahen einander an und mussten beide lachen, und mitten in dieses befreiende Lachen hinein klingelte das Telefon.
Marc verstummte, seine Lippen wurden schmal. »Vielleicht ist er das.«
Rosannas Stimme klang vor Aufregung etwas rau, als sie sich meldete. »Ja? Hier Rosanna Hamilton.«
Vom anderen Ende der Leitung kam ein längeres Schweigen. Dann ein nervöses Atmen. Und dann sagte die heisere Stimme eines alten Mannes: »Hier ist Brent Cadwick. Brent Cadwick aus Langbury, Northumberland.«
»Mr. Cadwick!«, sagte Rosanna.
Er schwieg erneut. Es war der Moment seines Lebens. Er zitterte vor Nervosität.
»Ich … habe Informationen«, brachte er schließlich heraus, »Informationen, Elaine Dawson betreffend.«
»Elaine Dawson ist am Leben?«, fragte Rosanna.
Wieder kurzes Schweigen. Mr. Cadwick war aufgeregt, und er war es zudem nicht gewöhnt, sich zu unterhalten. Schon gar nicht am Telefon mit einem wildfremden Menschen.
Dann ein Lachen. Ein kehliges, irgendwie unechtes Lachen, dessen Auslöser Rosanna nicht begriff. Was gab es zu lachen?
»Sie ist am Leben«, sagte Brem Cadwick, »und wie die am Leben ist!« Und er lachte erneut.
6
Bis zum Mittag war Dennis Hamilton völlig verzweifelt. So verzweifelt, dass er sogar bereit gewesen wäre, all die Sanktionen, die er sich bereits ausgedacht, zurechtgelegt und ausgeschmückt hatte, über Bord zu werfen und seinen Sohn einfach nur voller Erleichterung und Liebe in die Arme zu schließen.
Wenn sein Sohn da gewesen wäre.
Dennis hatte natürlich damit gerechnet, dass Rob versuchen würde, sich über das Verbot, am Freitagabend an der Abschlussparty teilzunehmen, hinwegzusetzen, und er hatte dem vorbauen wollen. Er war am Freitag erneut bereits am Nachmittag aus dem Büro gegangen, obwohl sich die Arbeit auf seinem Schreibtisch fast bis zur Decke stapelte, um Rob auf jeden Fall daheim abzufangen. Er hatte sich überlegt, noch einmal in aller Ruhe mit ihm zu reden, ihm seinen Standpunkt darzulegen und um sein Verständnis dafür zu werben. Er war allerdings auch entschlossen gewesen, Rob notfalls in seinem Zimmer einzuschließen, wenn er darauf beharren sollte, an dem Saufgelage – denn so titulierte Dennis insgeheim die Veranstaltung – teilzunehmen.
Doch dann hatte er vergeblich gewartet. Rob war ihm einen Schritt voraus: Er kam am Freitag einfach überhaupt nicht nach Hause.
Hielt sich vermutlich in der Schule oder bei einem Klassenkameraden auf und dachte nicht daran, das Risiko einzugehen, am Ende bei seinem Vater hängenzubleiben und den Abend daheim verbringen zu müssen.
Dennis hatte gewartet, obwohl ihm klar gewesen war, dass Rob nicht auftauchen würde, und mit jeder Minute war seine Wut gewachsen. So ging das nicht. So konnte sich ein Sechzehnjähriger nicht benehmen. Selbst Rosanna, die ja immer für ihn in die Bresche sprang, musste das einsehen. Diesmal würde es ernste Konsequenzen geben. Ausgangssperre für mindestens acht Wochen. Taschengeldentzug für die nächsten drei Monate. Ebenso wie Computerverbot, was noch zusätzlich den Vorteil hätte, dass er eine Pause von seinem ewigen World of Warcraft machen müsste. Und wann hatte er eigentlich zuletzt in Haus und Hof mitgeholfen? Den Frühling würde er jedenfalls mit Unkrautzupfen und Blumengießen verbringen. Das Verandageländer musste neu gestrichen werden. Und ja, hatte er sich nicht gewünscht, im Sommer einmal mit Rosanna nach England zu reisen? Diesen Plan konnte er selbstverständlich abhaken.
Dennis war durch alle Zimmer gelaufen. Zweimal hatte er versucht, seinen Sohn auf dessen Handy zu erreichen, aber erwartungsgemäß war es abgeschaltet. Er hatte zwei Whisky auf Eis getrunken, um sich zu beruhigen, aber er hatte nichts essen können. Wenn nur nichts passierte! Zwei Jahre zuvor war eine ähnliche Abschlussparty mit viel Wirbel durch die Presse gegangen, weil zwei Schüler nach Spanien hinübergefahren waren, sich übel betrunken hatten und nach einer wilden Fahrt an einem Brückenpfeiler gelandet waren. Der eine war sofort tot gewesen. Der andere würde für den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen. Dennis hatte damals alle Zeitungsberichte ausgeschnitten und auf Robs Schreibtisch gelegt. Er hatte versucht, mit ihm darüber zu sprechen, aber Rob hatte desinteressiert gewirkt. Er bezog die Geschichte nicht auf sich. Shit happens. Warum sollte er sich deshalb in seiner Lebensfreude bremsen lassen?
Irgendwann ging Dennis ins Bett, und da er kaum Alkohol gewohnt war, tat der Whisky rasch seine Wirkung: Er schlief sehr schnell ein, verbrachte die Nacht in tiefem, traumlosem Schlaf und wachte am Samstagmorgen um kurz nach sieben Uhr auf. Überzeugt, Rob in seinem Zimmer vorzufinden, stand er auf und ging hinüber, spähte durch die Tür. Das Bett war leer, und es war offensichtlich unberührt.
Okay. Das musste nicht heißen, dass etwas passiert war. Wahrscheinlich hatte sich Rob so mit Alkohol zugeschüttet, dass er nicht mehr nach Hause gekommen war. Die ganze Gesellschaft hing vermutlich in der Aula herum, eine Horde von Bierleichen, verkatert, von Kopfschmerzen und Übelkeit geplagt, zu sehr mit ihrem Brechreiz beschäftigt, um wenigstens daheim anrufen und Bescheid sagen zu können.
Mit sechzehn! Mit sechzehn hätte er, Dennis, sich das einmal trauen sollen!
Er hatte Angst. Angst um seinen Sohn. Er bemühte sich, die Angst unter Kontrolle zu halten, sich nicht wie eine hysterische Mutter aufzuführen. Nur Mütter drehten bei solchen Geschichten durch und malten den Teufel an die Wand. Väter fanden, dass ein richtiges Besäufnis dazugehörte, wenn ein Junge auf dem Weg war, ein Mann zu werden. So, wie es dazugehörte, eine Nacht lang wegzubleiben und vielleicht auch mit dem Auto ein wenig zu schnell herumzurasen. Wollte man denn ein Weichei daheimsitzen haben?
Warum kann ich nicht so empfinden?, fragte sich Dennis, während er in der Küche stand, einen Kaffee trank und hinaus in den leuchtenden Morgen blickte, warum kann ich nicht ein ganz normaler Vater sein, der sich nicht allzu viele Sorgen macht und die Dinge nicht so eng sieht?
Vielleicht war man kein normaler Vater, wenn man zu lange Vater und Mutter in einer Person hatte sein müssen. Wenn über Jahre alle Verantwortung nur bei einem selbst gelegen hatte. Kein zweites Paar Schultern, auf die man etwas hätte abladen können. Keine zweite Meinung, die man hätte einholen können, jedenfalls nicht die eines ebenfalls in allen Konsequenzen verantwortlichen Menschen. Und zugleich stets das hilflose Gefühl, bei allem Bemühen den Bedürfnissen des kleinen Menschen, den man in die Welt gesetzt hatte, doch nicht völlig gerecht zu werden. Er hatte gespürt, wie sehr Rob eine Mutter vermisste. Er hatte sie ihm nicht ersetzen können.
Und Rosanna war spät zu ihnen gestoßen. Engagiert und mit großer Wärme hatte sie sich auf Rob eingelassen. Und doch … Dennis meinte besonders während der letzten zwei oder drei Jahre zunehmend Signale von ihr aufgefangen zu haben, die darauf hindeuteten, dass sie begann, wieder auf Abstand zu der kleinen Patchworkfamilie, deren Teil sie war, zu gehen. Sich irgendwie innerlich zurückzuziehen. Ihre Gedanken schweiften in Richtungen, deren Ziele er nicht kannte. Sie schien Bilder zu sehen, die außer ihr niemand sah. Tagträumen nachzuhängen, die sie mit niemandem teilen mochte. Und hatte nicht auch Rob diese Veränderung gespürt? Hätte er sonst neulich seine Angst in so deutlichen Worten herausgeschrien? Sie kommt nicht wieder! Kapier es doch endlich!
Und er hatte noch etwas gesagt. Sie ist vor dir geflüchtet. Du hast sie davongejagt!
Er mochte nicht darüber nachdenken. Nicht jetzt. Diese Gedanken waren zu beängstigend und führten am Ende in eine Selbstbespiegelung und Eigenanalyse, zu der er sich im Augenblick nicht fähig fühlte.
Er beschloss zu duschen, sich anzuziehen, zum Einkaufen zu fahren und dann auf dem Rückweg an der Schule zu halten und Rob aufzusammeln. Und zu versuchen, mit ihm zu reden. Ihn auf gar keinen Fall anzuschreien.
Als er am späteren Mittag wieder daheim ankam, hatte er Kopfschmerzen und fühlte sich völlig erschöpft. Er stellte den Einkaufskorb in die Küche, war aber zu ausgelaugt, die Lebensmittel auszupacken und in den Kühlschrank zu räumen. Er hatte alles abgesucht. Er wusste nicht, wo er noch nachsehen sollte.
In der Schule war überhaupt niemand mehr gewesen. Jedenfalls keine Schüler. Ein Putzkommando war dabei, die ziemlich verwüstet wirkende Aula aufzuräumen.
»Hier war schon heute früh um sieben niemand mehr«, erklärte eine junge Spanierin, die einen großen blauen Müllsack hinter sich herschleifte, auf Dennis' irritierte Frage, »in den frühen Morgenstunden ziehen die doch immer noch irgendwo anders hin. Kneipen, Bars, Diskotheken drüben in Spanien… was weiß ich!«
Was weiß ich!
Er hatte sich sehr konzentrieren müssen, um sich wenigstens an die Adressen der beiden besten Freunde seines Sohnes zu erinnern, und war dann dort vorbeigefahren.
Der eine von ihnen lag noch im Bett und schlief, wurde aber von seinen Eltern geweckt. Er war überhaupt nicht bei der Party gewesen und konnte demzufolge auch keine Auskunft geben.
»Ich durfte ja nicht hin«, sagte er mit wütendem Blick auf seine Mutter.
»Rob auch nicht«, sagte Dennis müde. Offenbar gab es junge Leute, die sich nach den Wünschen ihrer Eltern richteten. Sein Sohn gehörte leider nicht dazu.
Der andere Junge, Harry, war zwar bei der Party gewesen, hatte sie aber noch vor Mitternacht verlassen und Rob dort nicht angetroffen.
»Er war gar nicht da?«, fragte Dennis fassungslos und wusste nicht, ob er das erfreulich oder besonders beängstigend finden sollte.
»Das weiß ich nicht«, erklärte Harry, »ich habe ihn nicht gesehen, aber das besagt gar nichts. Es war rappelvoll, und es waren tausend Leute da, die, glaube ich, gar nicht zur Schule gehörten. In dem Gewühl konnte man sich kaum bewegen und niemanden entdecken, der nicht zufällig direkt neben einem stand. Deshalb bin ich ja auch ziemlich früh wieder gegangen. Es war echt blöd da!«
»Und wohin Rob direkt nach Schulschluss ging, weißt du das? Er war nämlich scheinbar überhaupt nicht daheim.«
Harry zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, ehrlich. Er ging in dieselbe Richtung fort wie immer. Ich dachte, er will nach Hause.«
»Und habt ihr über die Party gesprochen? Hat er gesagt, dass er hingehen möchte?«
Harry überlegte. »Ich glaube, er hat gesagt, dass er es noch nicht weiß.«
»Und du hast wirklich keine Ahnung, wo er jetzt stecken könnte?«
»Nein. Ehrlich nicht.«
Dennis hatte sich niedergeschlagen und besorgt auf den Heimweg gemacht, hoffend, dass er Rob zu Hause antreffen würde. Aber Rob war nicht da. Keine Musik aus seinem Zimmer. Kein flimmernder Computerbildschirm. Keine Schultasche, die als Stolperfalle mitten im Flur lag, achtlos dort hingeschleudert trotz tausendfach geäußerter Bitte, sie wegzuräumen. Dennis hätte sich über ihren Anblick jetzt gefreut, nur gefreut. Er merkte, wie sein Ärger mehr und mehr schwand, sich in seinen wachsenden Sorgen auflöste, von ihnen geschluckt wurde.
Wo war Rob?
Hatte es Sinn, die Polizei zu verständigen? Wahrheitsgemäß würde er von dem Streit berichten müssen. Davon, dass Rob zu der Party gewollt hatte. Er konnte sich vorstellen, was ein Beamter daraufhin sagen würde: »Und da regen Sie sich auf? Der Junge hat die halbe Nacht gefeiert und sich restlos die Birne zugeknallt, und jetzt schläft er bei irgendeinem Kumpel seinen Rausch aus. Der taucht erst wieder bei Ihnen auf, wenn er sich ausgekotzt hat, jede Wette. Der gibt sich doch nicht die Blöße, jetzt auf dem Zahnfleisch angekrochen zu kommen.«
Und vielleicht war es auch so.
Vielleicht war es albern von ihm, sich derart sorgenvolle Gedanken zu machen.
Trotzdem, er wurde seine Unruhe nicht los. Im Gegenteil, sie schien mit jeder Minute stärker zu werden.
Und schließlich wusste er, dass ihm nur ein Ausweg blieb, wenn er nicht völlig den Verstand verlieren wollte. Gekränkt und wütend, hatte er es vor sich hergeschoben, war zu stolz – oder, wie er sich selbst jetzt eingestand: zu verbohrt – gewesen, den ersten Schritt zu tun, aber nun sprang er über seinen Schatten, weil er mit dem Rücken zur Wand stand.
Er ging zum Telefon und wählte Rosannas Handynummer.
»Eigentlich ist es verrückt«, sagte Rosanna, »wir haben nicht mal eine Zahnbürste dabei!«
»Gar nicht zu reden von einem Schlafanzug oder Wäsche zum Wechseln«, ergänzte Marc, »aber …« Er sprach nicht weiter, doch Rosanna nickte. »Nach London zurückzufahren hätte zu viel Zeit gekostet. Und ich platze sowieso fast vor Spannung.«
»Was glauben Sie, wie es mir geht«, sagte Marc. Seit dem Anruf von Brent Cadwick verriet sein Gesichtsausdruck heftigste Anspannung. Eine Spur. Nach fünf Jahren eine Spur. Die ins Nichts führen mochte, die ihm aber auch volle Rehabilitierung bringen konnte.
»Wenn die Frau in Northumberland wirklich Elaine ist«, hatte Rosanna gesagt, nachdem Cadwick aufgelegt hatte, »dann, das verspreche ich Ihnen, Marc, werde ich Nick zwingen, das alles als gigantisch aufgemachte Geschichte zu bringen. Cover wird Ihre Unschuld so lautstark propagieren, dass auch die anderen Zeitungen im Land nicht anders können, als nachzuziehen. Es wird dann in England niemanden mehr geben, der nicht weiß, dass Elaine Dawson lebt und dass Sie mit ihrem Verschwinden nichts zu tun gehabt haben.«
Und dann war sie, mitten auf dem Weg zurück von der Kirche, wo sie auf Cadwicks Anruf gewartet hatten, zum Auto stehen geblieben und hatte hinzugefügt: »Marc – und wenn wir gleich losfahren? Jetzt, von hier aus. Nach … Langbury, oder wie der Ort heißt? Und nachsehen, ob Cadwick die Wahrheit sagt?«
Auch Marc war stehen geblieben, hatte sie überrascht angesehen. »Jetzt sofort?« »Möchten Sie nicht wissen, ob diese geheimnisvolle Frau unsere Elaine ist? Also, ehrlich gesagt, ich weiß gar nicht, wie ich das aushalten soll: nach London zurück, dort übernachten, die nächsten Schritte besprechen …« »Und Sie meinen …«
»Wir steigen jetzt in Ihr Auto und fahren los. Es sei denn … Mögen Sie überhaupt mitkommen? Vielleicht haben Sie ja irgendetwas anderes vor?«
Er hatte den Kopf geschüttelt. »Nein. Ich habe nichts vor. Ich würde gern mitkommen. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie mich fragen würden!«
»Sie sind der am stärksten Betroffene in der Geschichte. Kommen Sie. Haben Sie einen Straßenatlas im Wagen?«
»Hab ich. Wir finden Langbury. Wir finden Elaine, wenn sie es ist. Aber müssten Sie nicht Nick Simon Bescheid sagen?«
»Der meldet sich schon«, prophezeite Rosanna.
Er meldete sich tatsächlich, kaum dass sie das Dorf verlassen und den Weg in Richtung Autobahn eingeschlagen hatten.
Er war so aufgeregt, dass er schrie. »Und? Ich habe Cadwick deine Nummer gegeben. Hat er dich angerufen?«
Rosanna hielt ihr Handy ein Stück vom Ohr weg. »Schrei nicht so. Ja. Er hat angerufen. Er hat mir seine Adresse genannt. Elaine Dawson ist offenbar seine Untermieterin. Nick – ich bin schon auf dem Weg dorthin.«
Nick schnappte hörbar nach Luft. »Was?«
»Ich war sowieso schon auf der Höhe von Cambridge. Da dachte ich …«
»Entschuldige, du bist auf der Höhe von Cambridge? Und da bist du praktisch schon in Northumberland? Und denkst dir, du fährst einfach mal los und schaust dir diese Dawson an?«
»Nun, ich …«
»Darf ich dich erinnern, worin dein Auftrag besteht? Mir scheint, das vergisst du immer wieder. Du schreibst eine Serie für mich. Es geht dabei um Elaine Dawson, aber auch um etliche andere verschwundene Personen. Und du hast dich ausschließlich mit dem zu beschäftigen, was damals passiert ist. Verstehst du? Du führst, verdammt noch mal, keinerlei Ermittlungen in der Frage, was aus Elaine Dawson geworden ist. Das ist nicht dein Job!« Er war erneut sehr laut geworden.
»Nick, Mr. Cadwick hat sich nun einmal an mich gewandt und …«
»Na und? Deshalb musst du gleich losziehen und Detektiv spielen? Wann willst du eigentlich, zum Beispiel, die Arbeit machen, für die ich dich bezahle, und dich endlich auf deinen Hintern setzen und die Artikel schreiben?«
»Du bekommst deine Artikel, Nick. Pünktlich. Aber jetzt ist Wochenende, und ich unternehme einen Ausflug nach Northumberland, und du kannst mir das nicht verbieten.«
»Das kann ja wohl alles nicht wahr sein!«
»Ja, willst du denn nicht wissen, ob die Frau, von der Cadwick spricht, wirklich unsere Elaine Dawson ist?«
»Klar will ich das wissen. Und wenn sie es ist, will ich die Story. Aber ich hätte einen meiner Reporter dorthin geschickt. Jemanden, der genau von dieser Art Recherche etwas versteht. Und nicht eine ehemalige Journalistin, die seit fünf Jahren nicht mehr im Geschäft ist!«
Jetzt wurde auch Rosanna wütend. »Wenn du meinst, dass ich nicht schreiben kann, hättest du mich nicht engagieren sollen«, blaffte sie.
»Du kannst schreiben, aber du bist nicht der Typ für diese Art von Journalismus!«
»Ich werde Cadwick aufsuchen, Nick, ob du es willst oder nicht!«
»Sag mir seine Adresse!«
»Nein.«
Nick fluchte lange und laut. Dann – weil er ein Mann war, der nicht gern verlor, der aber erkannte, wenn er verloren hatte – fügte er hinzu: »Du hältst mich über jeden deiner Schritte auf dem Laufenden, verstanden? Es passiert nichts, wovon ich nichts weiß. Ich drehe dir sonst den Hals um, wenn ich dich erwische, verlass dich drauf!«
Er knallte den Hörer auf die Gabel.
»Er ist ganz schön wütend«, sagte Rosanna.
Marc warf ihr einen kurzen Blick zu. »Möchten Sie lieber umkehren?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Auf keinen Fall.«
»Sie haben nicht erwähnt, dass ich bei Ihnen bin«, sagte Marc.
»Es hätte ihn noch aggressiver gemacht. Er hätte es als Verschwörung gesehen. Er ist ohnehin wütend genug, weil ich ihm zu Anfang über unsere Treffen nichts gesagt habe.«
»Ihm entgleitet die Kontrolle. Wer hat das schon gern?«
»Damit hätte er bei mir rechnen müssen«, sagte Rosanna, »ich lasse mich nicht kontrollieren, und er kennt mich schließlich schon länger.«
Ihr Handy läutete erneut. Sie blickte auf das Display, und ihr entfuhr ein Stöhnen.
»Wie aufs Stichwort«, sagte sie, »Kontrolle. Es ist mein Mann.«
Sie hatte seit dem Streit neulich von Dennis nichts mehr gehört, und sie war voller Unruhe deswegen gewesen, aber sie wünschte doch, er würde sich nicht gerade jetzt melden. Es war nicht der Moment, eine lange und emotionsgeladene Diskussion mit ihm zu führen.
Dennoch nahm sie den Anruf an.
Aber es war Dennis nicht, wie sie gefürchtet hatte, an einem Grundsatzgespräch gelegen.
Er war aufgeregt, fast aufgelöst, schien es ihr. Er teilte ihr mit, dass Robert verschwunden war.
Und fragte, wann sie unter diesen Umständen nach Hause zu kommen gedenke.
8
Im Pflegeheim roch es nach einem scharfen Putzmittel, dem in aufdringlicher Menge Zitronenaroma beigemischt war. Die Sonne fiel durch die blank geputzten Fenster und ließ die bunten, von Patienten gemalten und recht unbeholfen erscheinenden Bilder an den Wänden hell aufleuchten. Cedric hatte noch nie so saubere Fenster gesehen. Ohne einen einzigen Fleck, einen einzigen Streifen. Er dachte an seine staubigen Scheiben in New York, die praktisch blind wurden, wenn die Sonne tief stand. Seltsamerweise empfand er seine vergammelte Wohnung, vor deren Dreck und Unordnung er manchmal geflüchtet war, weil er keine Lust zum Putzen gehabt hatte, plötzlich nicht mehr als bedrückend. Weit weniger bedrückend jedenfalls als diese fast gewalttätig anmutende Sauberkeit hier.
Wie kann Geoff hier atmen?, fragte er sich, um sich im nächsten Moment die ebenso einfache wie grausame Antwort zu geben: Weil ihm nichts anderes übrig bleibt. Weil er keine Wahl hat.
Er hatte eigentlich nicht hierher nach Taunton kommen wollen, um keinen Preis. Am frühen Morgen hatte er sich in Rosannas Leihauto gesetzt, nachdem seine Schwester erklärt hatte, den Wagen nicht zu brauchen, und war nach Kingston St. Mary gefahren. Die Straßen waren leer an diesem Samstagvormittag, und er war rasch vorangekommen.
»Ich besuche Dad«, hatte er zu Rosanna gesagt und an ihrem Lächeln bemerkt, wie sehr sie sich darüber freute. Die Einsamkeit des verwitweten Vaters machte ihr zu schaffen. Sie rechnete es ihrem Bruder hoch an, dass er sich kümmerte.
Cedric hatte deswegen ein schlechtes Gewissen. Natürlich ging es auch ihm um den Vater, aber er wusste genau, weshalb er in Wahrheit bis in das Kaff am Ende der Welt fuhr: Er brauchte Geld. Und er hatte niemanden sonst, an den er sich wenden konnte.
Er hatte kein Geld mehr für das teure Hotel. Er hatte kein Geld für den Rückflug nach New York. Er hatte kein Geld, das er der Freundin zurückgeben konnte, die ihm den Hinflug ausgelegt hatte. Er hatte kein Geld, um seinen beruflichen Start als Fotograf zu finanzieren.
Er war pleite.
Er war achtunddreißig Jahre alt, hatte keinen Beruf, kein Geld, keine Frau, keine Kinder.
Im Grunde, dachte er, habe ich aus meinem Leben nicht mehr gemacht als der behinderte Geoffrey. Nur dass ich keinen Grund für mein Scheitern benennen kann. Ich habe gesunde Beine, gesunde Arme. Ich bin kräftig, und ich bin nicht blöd. Aber an irgendeiner Stelle habe ich irgendeine Abzweigung verpasst.
Victor hatte gestrahlt. Unverhoffter Besuch war selten für ihn geworden, und er hatte seinen Sohn sofort in den Swan at Kingston zum Mittagessen eingeladen. Sie hatten über Rosannas Auftritt am Vorabend im Fernsehen gesprochen und natürlich über den Fall Elaine Dawson, und Victor hatte von all den Pflanzungen erzählt, die er nun im Frühjahr im Garten vornehmen wollte.
»Aber du hast doch nie etwas im Garten getan«, meinte Cedric erstaunt. Sein Vater verkörperte geradezu das Klischee des intellektuellen Büchermenschen: belesen, intelligent, völlig unpraktisch im Alltag. Sich ihn mit einer Rosenschere in der Hand vorzustellen, erheiterte und beunruhigte Cedric.
»Deine Mutter hat den Garten so sehr geliebt«, sagte Victor, »ich … fühle mich ihr sehr nah, wenn ich mich darum kümmere.«
Dann hatten sie eine Weile über Hazel gesprochen, und endlich, beim Kaffee, war Cedric mit seinem Anliegen herausgerückt. Ob Victor ihm wohl ein wenig…?
»Aber selbstverständlich!«, hatte Victor sofort ausgerufen. »Wie viel brauchst du denn?«
Als Cedric die Summe nannte, schluckte sein Vater zwar, aber er stellte noch im Pub einen Scheck aus und schob ihn über den Tisch. »Hier. Damit kommst du erst einmal ein Stück weiter.«
Es war mehr Geld, als er erbeten hatte. Cedric dankte unbeholfen und wappnete sich für den Vortrag, der nun unweigerlich folgen würde und den er sich natürlich ohne Widerworte anhören musste: dass es so nicht weitergehen könne, was er denn nun mit seinem Leben anfangen wolle, ob er nicht denke, dass es an der Zeit sei, erwachsen zu werden und blablabla … Aber Victor sagte nichts in dieser Art, und als sie das Pub verließen, meinte er nur: »Ich würde mir wünschen, dass du Geoff kurz besuchst, Cedric, ehe du nach London zurückfährst. Es geht ihm gar nicht gut. Meiner Ansicht nach leidet er unter schweren Depressionen. Ich war letzte Woche bei ihm, und sein Anblick hat mich doch sehr bedrückt. Also, wenn du die Zeit hättest …?«
Er hatte die Zeit, aber natürlich keine Lust, doch er hätte sich als Schuft gefühlt, wäre er dem Wunsch seines Vaters nicht nachgekommen. Deshalb stand er nun hier in diesem bis zum Wahnsinn geputzten Gemeinschaftsraum zwischen lauter Menschen in Rollstühlen und wartete auf Geoffrey, in der Tasche zumindest einen großzügigen Scheck, der ihm Luft verschaffte und ein angenehm warmes Gefühl. Auf dem Weg nach Taunton hatte ihn Rosanna auf dem Handy erreicht, die Verbindung war sehr schlecht gewesen, aber er hatte irgendwie verstanden, dass sie auf dem Weg nach Northumberland hinauf war, in ein Dorf namens Langbury, weil dort ein Mensch aufgetaucht war, der behauptete, die verschwundene Elaine zu kennen und zu wissen, wo sie sich aufhielt. Cedric hätte gern mehr erfahren, aber ehe er fragen konnte, riss das Gespräch ganz ab, und er musste sich mit den Fragmenten begnügen, die er hatte auffangen können.
Sie steigert sich zu sehr hinein in diese Geschichte, dachte er, und im nächsten Moment fragte er sich, wie sie wohl unterwegs war. Das Auto hatte er. Saß sie im Zug? Hatte sie einen anderen Wagen gemietet? Fuhr sie vielleicht mit Nick Simon zusammen, ihrem mehr als halbseidenen Brötchengeber?
Als Geoff in den Gemeinschaftsraum gerollt kam, wirkte er überrascht, Cedric zu sehen. Ob er auch erfreut war, ließ sich nicht feststellen. Aber er sah wirklich schlecht aus, da hatte Victor recht. Umschattete Augen. Farblose Lippen.
»Ach, Cedric. Ich dachte, du bist schon wieder in New York?«
»Hi, Geoff. Nein, wie du siehst … Ich wollte noch ein bisschen in England bleiben und habe gerade meinen Vater besucht.«
»Dann hat er dich wahrscheinlich zu dem Auftritt hier vergattert, wie?«, bemerkte Geoff scharfsichtig. »Dein Vater ist echt nett, Cedric. Der Einzige, der hin und wieder nach mir sieht. Aber helfen kann er mir auch nicht.«
Cedric erwiderte nichts. Er hasste die Verunsicherung, die Geoffrey innerhalb weniger Sekunden in ihm auszulösen vermochte. Diese Mischung aus Schuldgefühlen, Mitleid, Hilflosigkeit. Schon wünschte er, er hätte sich über Victors Bitte hinweggesetzt und befände sich bereits auf dem Rückweg nach London – pfeifend, mit offenem Wagenfenster, eine Coladose in der Hand. Stattdessen …
»Möchtest du wieder in das Cafe, in dem wir mit Rosanna waren?«, fragte Geoff, »oder reicht dir die prickelnde Atmosphäre dieser blank geputzten Scheußlichkeit«, er machte eine Kopfbewegung, die den Raum umschrieb, »voller hilfloser Krüppel?«
»Ich finde es okay hier«, sagte Cedric, »aber ich kann dich auch spazieren schieben, wenn du magst. Das Wetter ist sehr schön.«
Geoff schüttelte den Kopf. »Danke. Lieb gemeint, aber nach so einem Ausflug geht's mir immer schlechter. Die gesunden Menschen, das Leben und Treiben, Gottes schöne Natur … die Rückkehr ist dann immer wie ein Schlag in den Magen.«
Mittels einer an seinem Stuhl angebrachten Tastatur bewegte er sich an einen Tisch. Cedric folgte ihm, setzte sich ihm gegenüber. Geoffrey starrte auf die blassgraue Tischplatte. Er sah aus wie jemand, der sterben möchte, diese Erkenntnis durchzuckte Cedric plötzlich. Er hätte nicht beschreiben können, woran genau man es sah. Vielleicht war es eher die Ausstrahlung. Aber hätte er in diesem Moment den Begriff lebensmüde zu definieren gehabt, er hätte ohne zu zögern Geoffreys Namen genannt.
Er neigte sich vor.
»Geoffrey«, sagte er, »es war so viel besser mit dir. Du hattest den Unfall vor zwanzig Jahren. Du hattest gelernt, mit deiner Behinderung zu leben. Ich weiß, dass du ständig in Kingston St. Mary herumgekurvt bist. Du hattest sogar diesen Job als Ausfahrer von Reklamesendungen. Ich meine … du warst so viel weiter als heute. Jetzt … scheinst du nur noch zu vegetieren.«
Geoffrey hob den Kopf. Cedric erschrak vor dem Ausdruck von Wut und Verbitterung in seinen Augen.
»Wundert dich das?«, stieß er hervor. »Wundert es dich, dass ich nur noch vegetiere, wie du es nennst? Schau dich doch um, und dann vergleiche mal mein Leben mit deinem! Wie fängt dein Tag an, zum Beispiel? Gehst du joggen? Gehst du ins Fitnessstudio? Irgendetwas in der Art machst du wohl, sonst hättest du kaum diesen schönen, muskulösen Körper!«
»Ich gehe joggen«, sagte Cedric und kam sich vor wie jemand, der ein peinliches Geständnis ablegt.
»Joggen!«, höhnte Geoffrey. »Dachte ich es mir doch. Weißt du, wie mein Tag anfängt? Ich werde gewaschen, ich werde gefüttert, und dann beginnt mein heiß geliebtes Darmprogramm! Weißt du, was das ist?«
»Nun, ich …«
»Alles, was ich oben in meinen Mund hineingeschoben bekomme, muss ja irgendwie aus meinem schrottreifen Körper wieder raus. Genau wie bei dir. Wie bei uns allen. Nur dass mein Darm das nicht von alleine kann. Der ist so komplett lahmgelegt wie fast alles andere bei mir. Also kommt ein Pfleger und zieht sich Gummihandschuhe an und …«
»Geoff, bitte!«, unterbrach Cedric. Er hatte das Gefühl, dass sich Schweißperlen auf seiner Stirn zu sammeln begannen, aber er wagte nicht, sie fortzuwischen.
Geoff lachte. »Siehst du? Du erträgst nicht mal, es zu hören! Aber ich – ich muss es aushalten. Jeden Tag. Seit zwanzig Jahren. Jeden verdammten Tag, bis der liebe Gott endlich befindet, dass ich genug gelitten habe, und mir das Licht auspustet. So lange wird diese Scheiße andauern!«
»Geoffrey, ich kann verstehen, dass du …«
»Nichts. Überhaupt nichts kannst du verstehen. Und noch viel weniger versteht deine Schwester. Du sagst, ich war schon weiter? Ja, verdammt, das war ich. Als Elaine bei mir war. Als wir zusammen in unserem Elternhaus lebten. Als ich nicht Tag für Tag diese Krüppel hier sehen und diese penetranten Schwestern ertragen musste. Als ich eine Heimat hatte und einen Menschen, der zu mir gehörte. Als ich geschützt war vor einer Einrichtung wie dieser hier. Und weißt du, warum ich will, dass dieser Scheißkerl Marc Reeve endlich ein Geständnis ablegt? Weil ich dann weiß, wirklich weiß, dass Elaine ermordet wurde. Es bringt sie mir nicht zurück. Aber ich habe dann die Gewissheit, dass sie mich nicht freiwillig verlassen hat. Kannst du das begreifen? Mich bringt der Gedanke um, sie könnte weggelaufen sein. Mich im Stich gelassen haben. Mir das hier alles angetan haben.«
In seinen Augen standen Tränen. Und Cedric begriff. Begriff zum ersten Mal in vollem Ausmaß, weshalb Geoffrey so dringend einen Schuldigen brauchte. Warum er Marc Reeve unter Anklage sehen wollte. Sein Seelenfrieden hing davon ab, und damit auch sein ganzes weiteres Leben.
»Aber Rosanna arbeitet munter in die andere Richtung«, fuhr Geoffrey fort. »Hast du sie bei diesem unseligen Fernsehauftritt gestern gesehen? Heiliger Himmel, inbrünstiger ist ein Verbrecher nie verteidigt worden. Ich dachte, ich kann meinen Ohren nicht trauen. Den Mund hat sie sich fusselig geredet bei dem Versuch, Reeve als einen Heiligen darzustellen, dem bitteres Unrecht zugefügt worden ist. Warum, verflucht, tut sie das? Was hat sie mit diesem Reeve? Weißt du da etwas? Lässt sie sich vögeln von ihm?«
»Ich … nein, ich glaube nicht«, sagte Cedric perplex.
Geoff lachte. »Würde mich nicht wundern. Ich bin ganz gut darin, Schwingungen aufzunehmen, weißt du? Wenn man so lahm ist wie ich, entwickeln sich andere Sinne dafür recht ordentlich.«
»Und wenn Reeve tatsächlich unschuldig ist?«, fragte Cedric.
Geoff setzte zu einer heftigen Entgegnung an, aber Cedric unterbrach ihn sofort. »Moment. Ich sage das nicht nur so dahin. Stell dir vor … stell dir nur einmal vor, Elaine würde plötzlich wieder auftauchen!«
»Nach fünf Jahren. Das ist ja wohl mehr als unwahrscheinlich. «
»In den fünf Jahren hat niemand nach ihr gesucht. Es konnte sich also auch nichts bewegen. Aber gestern war ja nun diese Fernsehsendung …« Er hielt inne. Er war nicht sicher, ob es Rosanna recht wäre, wenn er Northumberland und den ominösen Anrufer erwähnte. Ihr Telefongespräch vorhin im Auto war zu kurz und zu bruchstückhaft gewesen, als dass sie sich in dieser Frage hätten austauschen können. Cedric vermutete, dass Rosanna den noch ungeklärten Hinweis vorläufig eher unter Verschluss halten wollte. Andererseits, was konnte schon geschehen, wenn Geoffrey davon erfuhr? Unternehmen konnte er nichts. Und selbst wenn er die Information im Pflegeheim herumerzählte – wen würde es schon interessieren?
Geoff war nun aufmerksam geworden. »Ja? Was war mit der Fernsehsendung? Hat sich etwas ergeben?«
»Es ist noch völlig unklar«, sagte Cedric. Er kam sich vor wie ein altes Tratschweib. Warum erzählte er Geoff von dieser Sache? Rosanna würde nicht begeistert sein, und in Geoff entfachte er womöglich eine Hoffnung, die sich am Ende wieder zerschlug. Aber er tat es, um sich selbst einen kleinen Freiraum zu verschaffen. Um Geoffrey irgendetwas hinzuwerfen – wie einem Hund einen Knochen –, damit man ihn leichteren Herzens wieder allein lassen konnte. Das Heim, Geoffrey, dessen Zustand, dessen Depressionen schnürten Cedric die Luft ab. Er wusste nicht, wie er sich verabschieden und gehen sollte. Den einst besten und engsten Freund aus Jugendtagen dabei in dieser Hölle zurücklassend. Ihn verlangte es verzweifelt danach, ihm etwas zu schenken, das ihn beschäftigen, das ihn aus seiner Verzweiflung wenigstens ein kleines Stück weit herausholen würde.
Was bin ich nur für ein Feigling, dachte er resigniert.
»Ich weiß nicht viel darüber«, baute er vor, »aber offenbar hat Rosanna einen Anruf von einem Fernsehzuschauer bekommen. Aus irgendeinem Kaff in Northumberland – Langbury, glaube ich. Er behauptet, Elaine zu kennen. Sie lebt dort als seine Nachbarin oder so ähnlich.«
Geoff starrte ihn an.
»Was? Elaine? In Northumberland?«
»Kann natürlich ein Irrtum sein. Eine zufällige Namensgleichheit. Eine optische Ähnlichkeit. Oder der Anrufer ist ein Wichtigtuer. Dann wäre gar nichts dahinter. Trotzdem …«
»Es gab viele solcher Anrufe, nachdem Elaine verschwunden war«, sagte Geoffrey, »und nie haben sie zu einem Ergebnis geführt.«
Cedric nickte. »Daher sollte man auch jetzt natürlich sehr vorsichtig sein. Aber man darf einen solchen Hinweis nicht unbeachtet lassen.«
Geoffreys Blässe hatte sich, was zuvor fast unmöglich erschienen wäre, noch vertieft. »Ich glaube das nicht. Ich glaube nicht, dass Elaine in Northumberland lebt.«
»Rosanna ist auf dem Weg dorthin«, sagte Cedric, »und bald wissen wir mehr.«
»Sie legt sich wirklich ganz schön ins Zeug für diesen Typen!«
»Für Reeve? Geoffrey, ich glaube, es geht ihr wirklich um Elaine. Die Sache lässt sie nicht mehr los. Sie möchte wissen, was damals geschehen ist.«
»Sie möchte Reeve reinwaschen.«
»Hör doch endlich mal mit dieser fixen Idee auf!«, sagte Cedric ärgerlich.
Geoff verdrehte die Augen. »Klar, so einfach ist das. Geoff, der Krüppel, ist besessen von einer fixen Idee! Du machst es dir leicht, Cedric. Erzählst mir etwas von einer angeblich heißen Spur, der deine Schwester nachgeht, stehst auf und entschwindest wieder in dein Leben jenseits dieser verdammten Mauern. Und lässt mich mit einer Flut aufgewühlter Gefühle zurück. Wie soll ich denn jetzt mit dieser Information umgehen? Hoffnung schöpfen? Dass Elaine lebt und sich vielleicht erweichen lässt, zurückzukehren und mich hier aus dem Elend zu holen? Oder im Gegenteil hoffen, dass sich dieser Hinweis zerschlägt? Weil ich sonst unweigerlich mit der Tatsache konfrontiert wäre, dass sie sich damals tatsächlich abgeseilt hat? Und vielleicht nicht im Traum daran denkt, sich einen lebenslangen Pflegefall erneut ans Bein zu binden?«
Er war laut geworden. Einige andere Patienten blickten interessiert herüber.
Cedric versuchte ihn zu beruhigen. »Ich denke, du solltest einfach nach vorn schauen. Warten, was kommt, und dann irgendwie damit umgehen. Die Augen verschließen, dir eine eigene Wirklichkeit zurechtzimmern und die Realität ignorieren bringt nichts. Damit machst du dich nur kaputt am Ende. Es hilft doch nichts, Geoff. Wir müssen alle lernen, mit dem umzugehen, was uns das Leben vor die Füße kippt.«
»Ja, du besonders. Dir hat das Leben schließlich jede Menge Schwierigkeiten vor die Füße gekippt!«
»Vielleicht machst du dir auch etwas vor, was mich betrifft. Du siehst nur die Fassade. Und die ist, zugegeben, wesentlich intakter und gesünder als deine. Aber ob ich mein Leben im Griff habe, ob ich zufrieden bin oder gar glücklich – das herauszufinden interessiert dich gar nicht!«
»Wozu sollte ich …?«
»Ja, wozu solltest du dich auch ausnahmsweise einmal für andere interessieren! Das ist etwas, Geoffrey, was du in den vergangenen Jahren komplett verlernt hast. Selbst wenn du ein höfliches Wie geht's dir? über die Lippen bringst, merkt man genau, dass du es in Wahrheit gar nicht wissen willst. Weil du sowieso überzeugt bist, dass es jeder Kreatur auf dieser Welt besser geht als dir und dass es deshalb müßig ist, sich mit den Problemen und Sorgen der anderen auch nur für Sekunden zu beschäftigen!«
»Ich glaube, es ist besser, du gehst jetzt«, sagte Geoffrey. Sein Mund war schmal geworden.
Cedric erhob sich. »Denk mal darüber nach«, sagte er ruhiger. »Ich war mal dein bester Freund. Vielleicht hätte ich es verdient, dass ich dir auch mal meine Kümmernisse klagen dürfte. Ob du es glaubst oder nicht, ich habe nämlich welche!«
Er wandte sich zum Gehen. Ein Kichern hielt ihn zurück – ein böses, fast gehässiges Kichern. Es kam von Geoffrey, der aus seinem Rollstuhl heraus zu ihm hochblickte.
»Ich brauche dich nicht nach deinen Sorgen zu fragen, Cedric«, sagte er mit einem höhnischen Glimmen in den Augen, »weil ich sie kenne. Ich kenne dein Problem ganz genau.«
»So?«, fragte Cedric. Er wusste, es wäre besser, jetzt einfach zu gehen.
»Es verfolgt dich seit zwanzig Jahren. Der Gedanke, dass es genauso gut andersherum hätte laufen können. Du könntest hier sitzen, und ich könnte zur Tür hinausgehen. Es war eine Scheißidee damals. Für einen von uns ist sie übel ausgegangen. Du sagst, man muss nehmen, was einem das Leben vor die Füße kippt? Leider ist das Leben so verdammt ungerecht, und das macht es so schwer. Wäre es gerecht, würdest du hier sitzen. Das weißt du. Und ganz gleich, wie sehr du dieses Wissen zu verdrängen suchst, es arbeitet in dir. Und siehst du«, seine Stimme wurde leiser, noch eindringlicher, »da beginnt sie eben doch. Die Gerechtigkeit, die es trotz allem gibt und die nur immer ganz anders aussieht, als wir sie uns denken, so ganz anders, dass wir manchmal sehr lange brauchen, sie überhaupt zu erkennen. Dein Wissen, Cedric, dein Wissen lähmt dich. Bei all deiner Schönheit und Gesundheit bist du genauso gelähmt und verkrüppelt wie ich. Ein Krüppel, Cedric, ein Seelenkrüppel. Und soll ich dir etwas sagen? Diese Tatsache macht mich sehr, sehr glücklich!« Er lachte wieder.
Cedric wandte sich um und verließ mit großen Schritten den Raum.
Er konnte Geoffs Lachen noch im Flur hören.
9
Sie hatten den Ort Langbury zwar in Marcs Straßenatlas gefunden, aber es handelte sich um eine zwanzig Jahre alte Kartensammlung, und so war die neue Umgehungsstraße, auf der man das Dorf inzwischen erreichen konnte, noch nicht verzeichnet. Die alte Landstraße, der sie zunächst folgten, endete jäh an einer rot-weißen Sperre, hinter der sie nur noch ein kleines Stück weiter verlief und schließlich, von immer mehr Gras überwuchert, in Weideland überging. Es war inzwischen spät am Abend und dunkel. Der Nachthimmel war übersät von Sternen, die Temperaturen näherten sich dem Frostbereich. Marc hielt an, sie stiegen beide aus und betrachteten die Absperrung.
»Ich fürchte, hier kommen wir nicht weiter«, meinte Marc, »wir müssen zurück und sehen, wo wir eine Abzweigung finden. Es muss ja einen Weg zu diesem verflixten Dorf geben.«
Rosanna schlang fröstelnd die Arme um sich. Sie war für die Kälte dieser Nacht viel zu leicht angezogen. »Hoffentlich ist Mr. Cadwick überhaupt noch wach, bis wir ankommen. Ich platze fast vor Spannung, Marc. Ich würde so gern heute Abend noch herausfinden, ob wir es mit unserer Elaine zu tun haben.«
Marc blickte auf seine Uhr. »Halb zehn. Wenn Mr. Cadwick nicht ausgesprochen früh ins Bett geht, müssten wir ihn noch antreffen. Kommen Sie, wir wenden. Ich bin, ehrlich gesagt, todmüde und würde gern nun irgendwann ankommen. «
Sie fuhren eine halbe Ewigkeit lang die Landstraße zurück. Schließlich erreichten sie eine Tankstelle, in der sie sich den Weg nach Langbury erklären ließen. Mit frischem Mut machten sie sich an die letzte Etappe. Um zehn Uhr kamen sie in dem kleinen Dorf an, das bereits in schönstem Schlummer zu liegen schien. Nur hier und da brannte ein Licht hinter einem der Fenster.
»Hier gehen die Leute aber früh schlafen«, meinte Rosanna verwundert.
»Es ist das Ende der Welt«, sagte Marc, »hier ist überhaupt nichts los. Selbst das nächste Kino dürfte eine größere Reise weit entfernt sein. Ich frage mich …« Er brach den Satz ab.
»Was?«, fragte Rosanna.
»Wenn es wirklich Elaine Dawson ist, unsere Elaine Dawson, die wir antreffen werden, dann frage ich mich, weshalb sie sich ausgerechnet hierher zurückgezogen hat. Ich meine, es ist irgendwie unlogisch. Damals kam sie mir vor wie eine Frau, die die Enge und Weltentrücktheit ihres Heimatdorfs unbedingt hinter sich lassen wollte. Aber dieses Langbury hier dürfte ein noch weitaus verschlafeneres Nest sein als Kingston St. Mary, oder irre ich mich?«
»Gegen Langbury«, sagte Rosanna, »ist Kingston St. Mary fast eine Weltstadt. Ich kann es auch nicht verstehen. Aber die ganze Sache ist ohnehin mehr als rätselhaft, und ich kann nur hoffen, dass wir vielleicht noch heute Nacht die Lösung für alles präsentiert bekommen.«
Angestrengt starrte sie auf einen Zettel, den sie aus ihrer Handtasche geholt hatte. In Stichpunkten hatte sie darauf die höchst verworrene Beschreibung notiert, mit der Cadwick ihr den Weg zu seinem Haus erklärt hatte. »Halt, Marc! Ich glaube, hier in diese Gasse müssen wir jetzt einbiegen!«
Sie verfuhren sich völlig, irrten durch Gässchen, die so schmal waren, dass Marc mehr als einmal Angst um seine Seitenspiegel bekam. Rosanna war froh, dass die Sucherei sie vom Grübeln abhielt. Seit Dennis' Anruf am Mittag fühlte sie sich nicht mehr wohl in ihrer Haut.
Robert.
Es hatte sie nicht besonders verwundert zu hören, dass er verschwunden war, sie hatte, seitdem er ihr von der Party und der Einstellung seines Vaters dazu erzählt hatte, fast mit etwas Derartigem gerechnet. Es war ihr klar gewesen, dass Rob trotz des Verbots an der Feier teilnehmen würde, und auch, dass es anschließend zu irgendeinem Eklat kommen würde. Sie blieb relativ gelassen, da sie überzeugt war, dass Rob nichts zugestoßen war.
»Von einem Unfall hättest du längst gehört«, hatte sie gesagt. »Rob ist nichts passiert, Dennis. Er war bei der Party, er weiß, dass er deswegen Stress mit dir bekommen wird, und nun zieht er es vor, das Wochenende bei einem Freund zu verbringen.«
»Ich war bei seinen Freunden. Dort ist er nicht.«
»Du warst mit Sicherheit nicht bei allen seinen Freunden. Du kennst ja nur zwei oder drei von ihnen!«
Nach ein paar Sekunden des Schweigens, in denen Dennis nur schwer geatmet hatte, hatte sie hinzugefügt: »Das ist kein Vorwurf, Dennis. Ich kenne auch nicht alle seine Freunde. Rob ist ja auch nicht besonders mitteilsam.«
»Du hast also nicht vor, jetzt zurückzukommen?«, hatte Dennis gefragt.
Sie hatte einen Blick auf Marc geworfen, der starr geradeaus blickte und ihr das Gefühl vermittelte, dem Gespräch nicht zu lauschen – auch wenn ihm natürlich gar nichts übrig blieb, als genau das zu tun.
»Dennis, ich kann jetzt nicht zurückkommen. Ich habe hier einen Auftrag angenommen. Du weißt, dass das ein paar Wochen dauert.«
»Mein Sohn ist verschwunden und …«
»Ihr hattet einen Riesenkrach, und er hat keine Lust, nach Hause zu kommen. Ich glaube wirklich nicht, dass mehr passiert ist.«
»Du müsstest doch inzwischen genug Recherche betrieben haben. Diese verdammte Serie kannst du doch auch hier schreiben!«
»Nein, das kann ich nicht. Es haben sich gerade ganz neue Hinweise ergeben, und … ach, Dennis, bitte mach es mir doch nicht so schwer. Ich kann jetzt nicht zurückkommen. Ich kann nicht eine Sache, auf die ich mich nun einmal eingelassen habe, einfach abbrechen. Das würdest du auch nicht tun.«
»Es geht um meinen Sohn!«
»Mit dem du den Streit selbst herbeigeführt hast! Warum musstest du ihm verbieten, zu diesem Fest zu gehen?« »Weil es gefährlich ist.«
»Du kannst ihn nicht festbinden. Er ist sechzehn. Die Jungs in dem Alter drängen nach draußen. Das ist normal. Klar hat man Angst um sie. Aber Rob ist nicht leichtsinnig. Ich glaube, du machst dir immer viel zu viele Gedanken um ihn.«
»Du kommst also nicht«, stellte Dennis fest. Seine Stimme klang ausdruckslos, aber Rosanna wusste, dass sie das immer tat, wenn er besonders wütend war.
»Ich komme jetzt nicht. Halte mich auf dem Laufenden, okay? Sollte es wirklich Probleme geben, werde ich natürlich …«
Sie kam nicht weiter. Dennis hatte den Hörer aufgelegt.
Sie hatte mit Marc nicht über das Gespräch mit Dennis reden wollen und war dankbar gewesen, dass er dies offenbar spürte und keine Fragen stellte.
Jetzt, in Langbury, dachte sie: Ich kann im Moment nicht aus der ganzen Sache aussteigen! Wenn es bis Montag keine Spur von Rob gibt, muss ich mir etwas überlegen, aber nun will ich wissen, was mit Elaine ist. Und ich kann nur hoffen, dass …
»Das hier muss es sein«, sagte Marc in ihre Überlegungen hinein.
… ich kann nur hoffen, dass meine Ehe diese Krise übersteht, brachte sie ihren Gedanken zu Ende, und dann schob sie Dennis und Rob zur Seite, denn sie hatte weiche Knie vor Aufregung, und sie wollte sich ganz und gar auf die bevorstehende Begegnung mit Mr. Cadwick konzentrieren.
»Das ist die Nummer sieben«, bestätigte sie, »und die Straße stimmt auch. Ist das eng hier! Und die Häuser sehen aus, als fielen sie gleich um!«
»Bei Mr. Cadwick brennt jedenfalls noch Licht«, stellte Marc fest. »Was meinen Sie, lassen wir den Wagen erst mal hier stehen? Es kommt zwar keiner mehr an uns vorbei, aber wenn ich einen anderen Parkplatz suche, finde ich dieses Haus am Ende nie wieder.«
»Ich wette, jetzt will auch niemand mehr vorbei«, sagte Rosanna und öffnete vorsichtig die Beifahrertür, um nicht an der Hauswand anzustoßen. »Himmel, wie kann Elaine hier leben?«
Brent Cadwick musste förmlich auf der Lauer gelegen haben, denn seine Haustür wurde aufgerissen, noch ehe Rosanna oder Marc hatten anklopfen können. Im Schein des herausflutenden Lichts stand er vor ihnen, ein alter Mann in Strickweste und verbeulter Hose. Er trug dicke graue Socken, aber keine Hausschuhe. Er roch unangenehm – wie jemand, der sich zu selten wäscht, der immer dieselben Kleidungsstücke zu lange trägt.
Rosanna konnte ihn auf den ersten Blick nicht leiden, ohne dass sie sofort hätte definieren können, worauf sich ihre Abneigung gründete. Sie spürte förmlich, wie sich Marc neben ihr innerlich von der ganzen Situation zurückzog, und sie begriff auch, warum: Er wappnete sich gegen eine bevorstehende Enttäuschung. Dieser Brent Cadwick sah durch und durch aus wie jemand, der eine Geschichte erfindet, um ein wenig Abwechslung in sein eintöniges Dasein zu bringen. Und wie der klassische Wichtigtuer.
»Mr. Cadwick?«, sagte Marc und streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Marc Reeve. Das hier ist Rosanna Hamilton. Sie haben mit ihr telefoniert.«
Mr. Cadwick schüttelte erst Marcs, dann Rosannas Hand und kicherte. »Mr. Reeve! Um Sie ging es ja gestern auch im Fernsehen! Sie sind gleich mitgekommen zu mir? Den weiten Weg? Na ja, ich kann es verstehen. Sie stehen seit fünf Jahren unter Mordverdacht, nicht wahr?«
Rosanna holte tief Luft, um den alten Mann mit einer scharfen Erwiderung in die Schranken zu weisen, aber Marc war schneller. »Es gab ein paar sehr schnelle Vorverurteilungen durch die Presse, das ist richtig«, sagte er höflich. »Aber mit Ihrer Hilfe wird die Geschichte ja nun hoffentlich aufzuklären sein.«
»Wissen Sie, ob Miss Dawson noch wach ist?«, fragte Rosanna. »Wir würden gern gleich zu ihr gehen, wenn es recht ist.«
»Nun kommen Sie erst einmal herein«, sagte Cadwick und trat zurück. »Es ist kalt, meine Güte! Sie sind ja viel zu leicht angezogen, junge Frau! Aber so sind die Damen, nicht wahr? Immer zu wenig Stoff, aber hinterher gibt's eine Blasenentzündung!« Er kicherte wieder, dann eilte er vor seinen Besuchern her in seine Wohnung. Hinter seinem Rücken verdrehte Rosanna die Augen. Marc lächelte ihr aufmunternd zu.
Erwartungsgemäß war die mit wuchtigen Möbeln völlig zugestellte Wohnung extrem überheizt und schien seit Monaten nicht mehr gelüftet worden zu sein. Wahrscheinlich öffnete Cadwick den Winter über grundsätzlich kein Fenster, um bloß nicht den Hauch von Kälte zwischen die Wände gelangen zu lassen. Der Fernseher lief mit überlautem Ton. Cadwick schaltete ihn ab, wies dann auf zwei Gläser, die auf dem Couchtisch bereit standen. »Was darf ich Ihnen zu trinken anbieten? Ich brauche noch ein Glas, nicht wahr? Ich dachte, ich wäre mit der jungen Frau allein! Wusste nicht, dass Mr. Reeve dabei ist…« Er nahm ein weiteres Glas aus einer scheußlichen Anrichte.
»Ein Sherry vielleicht?«
»Das ist sehr nett, Mr. Cadwick, aber wir möchten jetzt nichts trinken«, sagte Rosanna, »Sie verstehen sicher, dass wir sehr gespannt sind, Miss Dawson zu sprechen. Sie sagten, Sie sei Ihre Untermieterin? Ist sie zu Hause?«
»Sie arbeitet bis tief in die Nacht im Elephant«, erklärte Cadwick. Trotz Rosannas Ablehnung schenkte er den Sherry in die Gläser. »Das ist das Pub hier im Dorf. Ja, man denkt gar nicht, dass wir hier so etwas haben, nicht? Aber ich sage Ihnen, im Sommer verirren sich eine Menge Touristen hierher. Ist nicht weit bis zum Meer, wissen Sie. Man kann da schön baden. Und Ruhe findet man hier mehr als genug.«
»Miss Dawson ist also noch nicht daheim?«, fragte Marc.
»Sie kommt meist erst gegen zwölf Uhr«, erklärte Cadwick. Er hob sein Glas. »Auf Ihr Wohl! Meine Güte, ich bin ganz aufgeregt! Ist lange her, dass ich mal Gäste hatte. Viele Jahre!«
»Vielleicht sollten wir einfach gleich zu dem Pub gehen«, meinte Rosanna. Sie ignorierte ihren Sherry. Die Gläser sahen zu schmutzig aus.
»Wenn sie dort arbeitet, ist es vielleicht nicht der richtige Ort, sie mit uns zu konfrontieren«, gab Marc zu bedenken. »Wir müssen davon ausgehen, dass sie ziemlich erschrickt, wenn sie uns sieht. Wenn es sich um unsere Elaine handelt, hat sie ja offenbar versucht, alle ihre Spuren zu verwischen und ganz im Verborgenen zu leben. Sie wird alles andere als glücklich sein, uns zu sehen.«
Rosanna wusste, dass er recht hatte. »Taktvoller ist es sicher, hier auf sie zu warten«, stimmte sie zu.
»Also, ihre Spuren hat diese Frau jedenfalls gründlich verwischt«, sagte Mr. Cadwick aufgeregt, »das kam mir ja vom ersten Tag an so merkwürdig an ihr vor. Mit der stimmt was nicht, Brent, habe ich mir gleich gesagt. Aber sie war sehr höflich und hatte gute Manieren. Ich achte sehr darauf, dass es angenehme Menschen sind, die bei mir im Apartment wohnen.«
Zudem dürftest du keinen allzu großen Andrang an Bewerbern verzeichnen, dachte Rosanna, wer will denn hier schon freiwillig wohnen?
»Inwiefern kam Ihnen Miss Dawson merkwürdig vor?«, fragte Marc.
»Nun«, sagte Cadwick, »sie wirkte so … so ängstlich. Ja, wie ein Mensch, der ständig in großer Angst lebt. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich regelrecht versteckt!«
»Vor wem?«, wollte Rosanna wissen.
»Das weiß ich leider nicht«, musste Cadwick bekennen, »sie war nicht sehr gesprächig. Ich habe oft versucht, mit ihr zu reden, verstehen Sie, ein bisschen für sie da zu sein! So ein junges, verängstigtes Ding! Und so einsam. Die hatte ja niemanden! Keine Freunde, keine Bekannten, niemanden! Als ob sie ganz allein auf der Welt wäre. In den zwei Jahren gab es nicht einen Mann, mit dem sie auch nur ausgegangen wäre. Das ist doch nicht gesund! Ich meine, eine Frau in diesem Alter möchte doch heiraten, eine Familie gründen, ein Nest bauen! Und sich nicht in einem kleinen Dorf verstecken und mit niemandem in Kontakt treten!«
»Eine Frau in diesem Alter«, sagte Rosanna. »Wie alt ist Miss Dawson denn?«
»Ich schätze, so Ende zwanzig.«
Marc und Rosanna sahen einander an. Das konnte hinkommen.
»In Ordnung«, sagte Rosanna ergeben, »dann warten wir also, bis sie nach Hause kommt. Vielleicht setzen wir uns draußen ins Auto, Marc? Wir sollten Mr. Cadwick nicht so lange zur Last fallen.« Sie empfand einen solchen Widerwillen gegen den alten Mann und dessen verstaubte Wohnung, dass sie meinte, es kaum noch in dem überhitzten Wohnzimmer auszuhalten.
»Sie fallen mir durchaus nicht zur Last«, versicherte Mr. Cadwick eilig, »wirklich nicht, bleiben Sie doch hier! Ich habe gern einmal Besuch. Sehen Sie, ich fühle mich oft recht einsam. Das war auch der Grund, weshalb ich das Apartment vermietet habe. Das Geld brauche ich eigentlich nicht, ich komme gut zurecht mit meiner Rente, aber das Alleinsein … das schmerzt doch oft sehr. Ist nicht leicht auszuhalten. Da dachte ich, ein Untermieter wäre eine gute Idee. Man könnte mal zusammen Tee trinken oder plaudern oder einen Spaziergang machen. Leider war Miss Dawson so menschenscheu, dass ich mich regelrecht auf die Lauer legen musste, um sie überhaupt mal zu Gesicht zu bekommen. Eine sehr, sehr seltsame Person. Muss irgendein Geheimnis in ihrer Vergangenheit geben …« Er kaute auf seiner Unterlippe herum. Er schien sich unbehaglich zu fühlen. Rosanna hatte den Eindruck, dass er noch irgendetwas loswerden wollte und nicht recht wusste, wie er es anstellen sollte.
»Mr. Cadwick …«, begann sie.
Er unterbrach sie. »Wie ich sagte, eine sehr, sehr seltsame Person. Fast denke ich, sie ist nicht mehr ganz normal im Kopf. Anders kann ich mir nicht erklären, weshalb sie…«
»Weshalb sie was?«, fragte Marc.
Mr. Cadwick gab sich spürbar einen Ruck. »Sie ist offenbar bei mir ausgezogen. Vor zwei Tagen. Am Donnerstag.«
»Was heißt offenbar?«, fragte Marc mit scharfer Stimme.
Cadwick wirkte nun recht kläglich. »Ich will damit sagen, dass sie nicht gekündigt hat oder so. Oder sich verabschiedet hat. Sie ist einfach verschwunden.«
»Aber so einfach verschwindet doch niemand«, sagte Rosanna, »ich meine, wenn jemand auszieht, dann kommt ein Möbelwagen, dann schleppt er eine Menge Gegenstände davon … Sie hätten das doch mitbekommen müssen!«
»Sie besitzt ja nichts«, sagte Cadwick, »nur einen Koffer mit ihren Kleidungsstücken. Damit, mit sonst nichts, ist sie ja auch hier eingezogen. Ich vermiete das Apartment möbliert. Bis hin zu den Eierbechern ist alles da. Ich vermute, sie hat am Donnerstag die halbe Stunde, in der ich einkaufen war, genutzt, um zu verschwinden. Denn danach habe ich sie nicht mehr gesehen.«
Marcs Gesicht war starr, als er sagte: »Dann sollten wir rasch das Pub aufsuchen, in dem sie arbeitet. Vielleicht …«
»Dort hat sie sich auch nicht mehr blicken lassen«, sagte Cadwick, ohne seine beiden Gäste anzusehen, »da habe ich am Donnerstagabend und noch mal gestern Abend, zwei Stunden vor dieser Fernsehsendung, nach ihr gefragt. Justin McDrummond, der Besitzer vom Elephant, war ganz schön sauer. Erst hat er gedacht, sie ist krank, als sie nicht erschienen ist, und sie hätte vergessen, anzurufen und sich zu entschuldigen, aber als ich dann mit der Nachricht kam, dass sie sich irgendwie in Luft aufgelöst hat … na ja, da musste er annehmen, sie hat es mit ihm genauso gemacht. Ist abgehauen und hat nichts gesagt.«
»Sie meinen also, sie ist überhaupt nicht mehr in Langbury?«, fragte Rosanna. »Und diesen Umstand erwähnen Sie mit keinem Wort in unserem Telefonat? Wir fahren diese ganze verdammte Strecke hier herauf wegen … wegen nichts?« Sie hätte nicht sagen können, wie enttäuscht sie war. Und wie wütend.
»Immerhin, bis vorgestern war sie noch hier«, meinte Marc beschwichtigend, »und vielleicht ist sie gar nicht weit weg. Sind Sie sicher, Mr. Cadwick, dass sie wirklich ausgezogen ist? Und nicht einfach nur ein langes Wochenende irgendwo verbringt?«
»Ich war im Apartment. Ihre Schränke sind leer. Ihr Koffer ist weg. Nichts von ihren Sachen ist noch da.«
»Können wir das Apartment auch ansehen?«, fragte Marc.
»Selbstverständlich«, versicherte Cadwick und eilte in seine Küche, um den Schlüssel zu holen. Er war wieder ganz in seinem Element. Er war endlich die unangenehme Wahrheit losgeworden und hatte trotzdem seine Gäste glücklicherweise nicht sofort verscheucht.
Vor ihnen stieg er die steile Treppe hinauf, schloss die Tür zum Apartment auf, knipste das Licht an.
»Hier«, sagte er, »hier hat sie gewohnt.«
Rosanna hatte selten einen Ort gesehen, der mehr dazu angetan gewesen wäre, einen Menschen in schwere Depressionen zu treiben. Die niedrige Decke. Die kleinen Fenster, durch deren Ritzen eisige Zugluft ins Innere drang. Die scheußlich gemusterten Tapeten. Der billige, dickflauschige Teppichboden, in dem es vermutlich von Ungeziefer wimmelte. Ein winziges Schlafzimmer mit einem alten Bett. Ein kaum größeres Wohnzimmer mit einer alten Couchgarnitur. Mr. Cadwick hatte all seine Möbelstücke, die kurz vor dem völligen Verfall standen, genutzt, um sein sogenanntes Apartment einzurichten. Jeder andere Mensch hätte das Zeug auf die Müllkippe gebracht.
Cadwick öffnete den Kleiderschrank im Schlafzimmer. Er war leer.
»Sehen Sie. Nichts. Ebenso in den Kommodenschubladen. Oben auf dem Schrank lag ihr Koffer. Der ist auch weg.«
»War er rot?«, fragte Rosanna, sich an das Gespräch mit Marcs einstigem Nachbarn erinnernd. »Ein roter, ziemlich billig wirkender Plastikkoffer?«
Cadwick schüttelte den Kopf. »Nein. Braun war er. Dunkelbraun. Aber auch ziemlich billig wirkend.«
Das sagte natürlich nichts. Warum sollte sich Elaine in den vergangenen fünf Jahren nicht einen anderen Koffer zugelegt haben?
Rosanna sah sich um. Hier hatte sie also gewohnt. Bis vor zwei Tagen. Sie stöhnte leise. Als hätte Elaine es geahnt! Kurz bevor sie hätte aufgestöbert werden können, war sie auf und davon gegangen.
In das Schweigen aller hinein sagte Marc: »Ich muss sagen, ich teile Mr. Cadwicks Ansicht. Diese Wohnung wirkt völlig unbewohnt. Es spricht alles dafür, dass Elaine Dawson tatsächlich ausgezogen ist.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Rosanna. Sie war plötzlich sehr müde. Sehr ausgelaugt. Die Auseinandersetzung mit Dennis kam ihr wieder in den Sinn. Sie hatte ihren Mann ziemlich kurz abgefertigt, gepackt von ihrem Jagdfieber. Vielleicht hatte sie sich falsch verhalten. Nun stand sie hier, war gegen eine Wand gelaufen, wusste nicht weiter und hatte Dennis enttäuscht und wahrscheinlich auch verletzt.
Alles umsonst, dachte sie.
»Heute machen wir gar nichts mehr«, sagte Marc. »Wir suchen uns irgendwo eine Übernachtungsmöglichkeit, und morgen früh fahren wir entweder zurück nach London oder überlegen uns weitere Schritte hier. Das werden wir sehen. Aber im Augenblick bin ich zu kaputt, um noch einen wirklich hilfreichen Gedanken zu fassen.«
»Sie können gern hier schlafen«, bot Cadwick an. »Das Apartment steht ja leider leer!«
»Vielen Dank, aber wir wollen Ihre Hilfsbereitschaft nicht ausnutzen«, sagte Rosanna hastig, »wir werden …«
»Sie werden hier nichts finden«, fiel ihr Cadwick ins Wort, »nicht in Langbury. Auch der Elephant vermietet keine Zimmer. Wollen Sie wirklich jetzt noch über die Dörfer irren und nach einem Zimmer suchen und sich dabei völlig verfahren?«
Marc und Rosanna sahen einander an. Die Vorstellung war tatsächlich nicht verlockend.
»Also, wenn es Ihnen ganz sicher nichts ausmacht …«, stimmte Rosanna resigniert zu. Ihr graute vor der Wohnung, aber zugleich war sie entsetzlich müde. Ihr kam zu Bewusstsein, dass sie seit dem Mittag nichts gegessen hatte, dass sie weder eine Zahnbürste noch ein Handtuch, noch Kleidung zum Wechseln dabeihatte – Umstände, die sie nicht gestört hatten, als sie noch von ihrem wilden Eifer vorangetrieben wurde. Jetzt sehnte sie sich nach nichts so sehr wie nach ihrem schönen Londoner Hotelzimmer, einer langen, heißen Dusche, einem flauschigen Bademantel, einem Glas Weißwein und einem riesigen Clubsandwich mit viel Salat und Mayonnaise.
Aber von all dem war sie Lichtjahre entfernt.
Cadwick kicherte anzüglich. »Wenn es Ihnen hier oben gemeinsam zu intim ist, kann natürlich auch einer von Ihnen unten bei mir schlafen. Mr. Reeve zum Beispiel. Obwohl mir Mrs. Hamilton lieber wäre!«
Der Mann ist einfach widerlich, dachte Rosanna.
Marc sah sie an. »Wäre es Ihnen lieber, wenn ich …«
Sie konnte es sich nicht vorstellen, in dieser Trostlosigkeit auch noch allein zu sein. »Nein. Bleiben Sie hier oben. Das ist schon okay.«
Marc wirkte erleichtert. Cadwick frustriert.
»Na dann«, meinte er zögernd, »wenn ich nichts mehr für Sie tun kann … Möchten Sie nicht doch Ihren Sherry unten noch mit mir trinken?«
»Wir sind sehr müde, Mr. Cadwick«, sagte Marc freundlich, aber bestimmt, »wir würden jetzt gern schlafen gehen. «
Cadwick schob sich im Zeitlupentempo zur Tür seines Apartments hinaus. Er kämpfte um jede Sekunde. Als er endlich draußen war, schloss Marc sehr nachdrücklich die Tür und lehnte sich von innen dagegen. Rosanna fiel auf, wie erschöpft er aussah.
»Schöne …«, begann er, verschluckte aber den Rest.
Rosanna waren ihre Manieren für den Moment egal.
»Scheiße«, vollendete sie seinen Satz.
Sie hatte das Wort noch nie inbrünstiger ausgesprochen.