8
Es war kurz nach zweiundzwanzig Uhr, als Cedric und Pamela aufbrachen, um in ihr Apartment zurückzukehren. Sie hatten sich lange in einem Pub in Burnham aufgehalten, denn beide verspürten sie wenig Lust auf die eiskalten, lieblos eingerichteten Räume, die sie erwarteten. Es waren wenig Leute da gewesen, aber trotzdem hatte im Pub eine gemütliche Atmosphäre geherrscht. In einem großen, gemauerten Kamin brannte ein Feuer, und das Essen, das serviert wurde, schmeckte ausgezeichnet. Cedric hatte mit gutem Appetit gegessen, aber Pamela hatte nur auf ihrem Teller herumgestochert und schließlich seufzend die Gabel zur Seite gelegt.
»Es hat keinen Sinn. Ich bringe einfach nichts herunter.«
Er hatte mit Rosanna telefoniert und Pamela dann gleich von dem Gespräch erzählt: Malikowski verhaftet, die Fahndung nach Wavers lief. Die Tatsache, dass der die Ermittlungen leitende Beamte dringend mit Pamela sprechen wollte und dass sie am nächsten Tag in irgendeiner Weise mit Scotland Yard in Verbindung würden treten müssen, unterschlug er vorläufig. Es hatte Zeit, dies am nächsten Morgen anzusprechen. Er fürchtete, dass Pamela sofort wieder in Panik geraten und hysterisch werden würde, und er mochte sich den Abend nicht noch mehr verderben. Er fand es nicht schlecht, in Somerset zu sein, er freute sich, am nächsten Tag an den Strand zu gehen. Diese Reise, so seltsam die Umstände auch waren, unter denen sie verlief, stellte doch eine hübsche Abwechslung zu dem Londoner Hotel dar, in dem er die Tage verschlafen und die Nächte durchgesoffen und jeden Gedanken an seine Zukunft zu verdrängen versucht hatte, aber diese Frau ihm gegenüber verdarb ihm ein wenig die Laune. Spitz und bleich im Gesicht, dazu diese riesigen, angsterfüllten Augen, aus denen sie sich ständig furchtsam umblickte, als erwarte sie jeden Moment, das leibhaftige Verhängnis zur Tür hereinkommen zu sehen. Um nicht ungerecht zu sein, rief er sich immer wieder ins Gedächtnis, dass sie Schlimmes erlebt und daher jedes Recht hatte, die Welt als bloßes Grauen zu empfinden. Aber warum sie hier in diesem harmlosen Städtchen, weit weg von London, derartig herumzitterte, mochte ihm nicht ganz einleuchten.
Sie ist traumatisiert, und traumatisierte Menschen agieren nicht logisch, sagte er sich.
Er trank ein wenig zu viel Bier, eigentlich nur, um den Zeitpunkt des Aufbruchs hinauszuzögern. Da er Alkohol in recht ordentlichen Mengen gewohnt war, spürte er es nicht, aber zweifellos hätte er nicht mehr fahren sollen. Egal. Irgendwie mussten sie schließlich in ihre Nobelherberge kommen.
Im Auto sagte Pamela plötzlich: »Ich verstehe nicht, weshalb sie nach Pit fahnden müssen. Warum verhaften sie ihn nicht einfach in seiner Wohnung?«
»Weil er wahrscheinlich nicht zu Hause war, als sie aufkreuzten«, sagte Cedric, »und möglicherweise bislang auch nicht erschienen ist. Bestimmt observieren sie seine Wohnung. Irgendwann tappt er in die Falle. Vielleicht hat er es sogar schon getan.«
»Es sei denn, er weiß, dass Ron verhaftet wurde.«
»Woher sollte er das wissen?«
Sie zuckte mit den mageren Schultern. »In diesen Kreisen sprechen sich solche Dinge rasch herum. Wenn Pit bis jetzt nicht gefasst wurde, ist ihm mit Sicherheit von irgendeiner Seite zugetragen worden, dass sie Ron geschnappt haben. Und dann geht er im Leben nicht in seine Wohnung zurück.«
»Muss er denn aus Malikowskis Verhaftung zwangsläufig schließen, dass ihm das Gleiche droht?«
»Er wird es zumindest befürchten. Pit ist nicht dumm. Er ist gefährlich und krank, aber er ist absolut clever. Und er kennt Ron. Die beiden sind dicke Freunde, aber jeder würde den anderen sofort verpfeifen, wenn er einen Vorteil davon hätte.«
»Sehr ehrenhaft«, murmelte Cedric.
»Ehre ist ein Wort, das die nicht kennen«, sagte Pamela, »und wenn sie es kennen würden, würden sie darüber lachen. «
Cedric fluchte leise, weil er merkte, dass er an der Abzweigung zu Mrs. Blums Haus vorbeigefahren war. Den schmalen, dunklen Waldweg konnte man bei Nacht leicht übersehen. Er legte den Rückwärtsgang ein, fuhr ein Stück zurück und bog dann ab. Als sie vor dem einsamen Haus hielten, wandte er sich an Pamela.
»Pamela, wo ist denn das Problem? Okay, nehmen wir an, Wavers rechnet mit seiner Verhaftung und hält sich versteckt, und meinetwegen tut er das mit großer Geschicklichkeit und Umsicht. Aber gerade darum wird er nicht losziehen und versuchen, seine abartigen Rachegelüste an Ihnen auszuleben. Er ist vollauf damit beschäftigt, seine Haut zu retten. Und wie sollte er uns finden? Schauen Sie sich doch um! Hier findet uns niemand!«
Er konnte mehr spüren als sehen, dass sie zitterte. »Sie kennen ihn nicht«, flüsterte sie.
»Nein, ich kenne ihn nicht, aber es gibt ein paar Dinge, die sagt mir einfach mein gesunder Menschenverstand«, erklärte Cedric und stieg aus. »Pamela, hören Sie auf, sich zu fürchten. Ich verstehe, was in Ihnen vorgeht, aber Sie haben keinen Grund, sich so verrückt zu machen.«
Und mich auch, fügte er in Gedanken hinzu.
In tiefster Dunkelheit suchten sie sich den Weg zur Haustür. Cedric sperrte auf. Sie machten Licht und traten in ihre Wohnung. Der Gasofen ächzte und stank, verbreitete jedoch wenig Wärme. Es war noch immer sehr kalt in den Räumen.
»Sind die Betten bezogen?«, fragte Cedric.
Pamela spähte in eines der Schlafzimmer. »Nein.«
Das hatte er befürchtet. »Dann müssen wir erst einmal nach Bettwäsche suchen. Hoffentlich gibt es hier so etwas!«
Sie fanden die Bezüge in einem kleinen Schrank im Wohnzimmer. Sie wirkten sauber, fühlten sich jedoch klamm an und rochen etwas muffig. Pamela schien sich daran nicht allzu sehr zu stören, aber Cedric fing allmählich an, dieses Abenteuer zu verfluchen.
Im ersten Tageslicht, schwor er sich, brechen wir hier auf. Und suchen uns irgendwo ein hübsches und gepflegtes Hotel.
»In welchem Zimmer möchten Sie schlafen?«, fragte er. »Sie können es sich aussuchen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte überhaupt nicht schlafen. Ich bleibe hier im Wohnzimmer sitzen.«
»Warum das denn?«
»Ich bin dann weniger angreifbar.«
»Das kann doch nicht wahr sein! Pamela, Sie brauchen Ihren Schlaf! Sie sehen todmüde aus. Und Wavers ist nicht hier. Mit Sicherheit nicht!«
Sie schüttelte erneut den Kopf. Ihre Augen waren riesig und voller Furcht. »Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl«, flüsterte sie.
Er merkte, dass er wütend wurde. Zum Teufel, natürlich konnte es ihm egal sein, sollte sie doch die Nacht über in diesem kalten Zimmer hocken, frieren und dabei die Wände anstarren. Aber dann wären am nächsten Tag ihre Nerven noch schlechter, und das würde auch er selbst auszubaden haben. Er fand sie anstrengend und hysterisch und fragte sich, weshalb er so blöd gewesen war, sich um diese Aufgabe hier förmlich zu reißen. Das Ganze war Rosannas Geschichte, nicht seine.
»Vielleicht sollten Sie mal versuchen, mit Ihrem schlechten Gefühl irgendwie fertigzuwerden«, sagte er gereizt, »anstatt es immer mehr zu kultivieren. Sie essen nichts, Sie wollen nicht schlafen, und dann wundern Sie sich, wenn Sie immer mehr durchdrehen!«
»Ich spüre, dass Pit …«, begann sie mit Tränen in den Augen, aber er unterbrach sie grob: »Ach, hören Sie doch auf mit Ihrem Gespür! Sie reden sich da etwas ein, und, ehrlich gesagt, langsam gehen Sie mir ungeheuer auf die Nerven!«
Er war laut geworden. Als er an ihr vorbei aus dem Zimmer gehen wollte, schrie sie auf und wich entsetzt vor ihm zurück.
Er blieb abrupt stehen.
»Pamela«, sagte er leise.
Sie gab einen Klagelaut von sich, der ihn an einen getretenen Hund oder ein misshandeltes Kind erinnerte.
»Pamela«, wiederholte er. Er streckte vorsichtig die Hand aus, zog sie aber wieder zurück. »Pamela, es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Was hat er denn nur mit Ihnen gemacht? Was hat er gemacht?«
Sie erwiderte nichts. In ihren Augen stand nackte Panik.
»Bitte, beruhigen Sie sich«, bat er.
Sie nickte. »Ich dachte …«, begann sie, sprach den Satz aber nicht zu Ende.
»Ich weiß, was Sie dachten«, sagte Cedric, »aber bitte, denken Sie das nie wieder.« Er strich ihr das wirre, kurze Haar aus der Stirn. »Es sind nicht alle Männer wie Pit Wavers«, sagte er.
Sie war ein Bündel aus Angst und Elend, und er begriff, dass sie jetzt keinesfalls würde einschlafen können.
»Wissen Sie, wir setzen uns beide jetzt noch ein wenig hier ins Wohnzimmer«, sagte er, »und ich durchstöbere die Küche, ob Mrs. Blum nicht irgendwo einen Schluck Alkohol versteckt hat. Ein Schnaps würde uns bestimmt guttun.«
Sie erwiderte nichts, aber er erkannte einen Ausdruck der Dankbarkeit in ihren Augen. Dankbar, weil er nicht darauf beharrte, dass sie schlafen ging. Dankbar, weil er sie nicht allein ließ.
Hoffnungsvoll begann er, einen Schrank nach dem anderen zu öffnen. Ein guter Schluck würde Pamela wieder ein wenig Farbe ins Gesicht zaubern.
Und sie ruhiger werden lassen.
Er wusste nicht, was ihn geweckt hatte. Ohnehin brauchte er einen Moment, um die Situation zu begreifen, in der er sich befand: Er lag in einem unbequemen Sessel in völliger Dunkelheit und eisiger Kälte, er fror bis auf die Knochen, und wegen seiner unbequemen Haltung taten ihm alle Glieder weh. Er wollte sich aufsetzen und unterdrückte gleich darauf einen Jammerlaut. Sein Nacken schmerzte.
Die ungewohnte Stellung und die Kälte hatten ihn in einen ziemlich desolaten Zustand gebracht.
Wieso brannte das Licht nicht mehr? Er und Pamela hatten hier zusammengesessen, jeder mit einem Glas in der Hand, in das er den Schnaps eingeschenkt hatte, den irgendein Feriengast in der Kochnische vergessen hatte. Sie hatten getrunken und sich ein wenig unterhalten, aber er erinnerte sich, dass er müder und müder geworden war, dass es ihn immer mehr Anstrengung gekostet hatte, die Augen offen zu halten. Irgendwann musste er eingeschlafen sein.
Sie ist ins Bett gegangen und hat das Licht ausgemacht, dachte er.
Er erhob sich, tastete nach der Stehlampe, die sich, wie er sich entsann, unmittelbar neben ihm befand. Er stieß dagegen, konnte sie gerade noch festhalten, ehe sie umfiel. Licht flammte auf. Er warf einen Blick auf die Gasheizung, die inzwischen nicht einmal mehr ächzte, geschweige denn heizte.
Morgen verlange ich einen Teil der Miete von der Alten zurück, dachte er wütend.
Er sah auf seine Uhr. Es war viel weniger Zeit vergangen, als er gedacht hatte, es war erst halb zwölf. Er hatte vielleicht eine halbe Stunde geschlafen.
Und in diesem Moment hörte er das Geräusch.
Er fragte sich später, ob es das gewesen war, was ihn geweckt hatte, aber die Antwort auf diese Frage blieb für immer ungeklärt, und vielleicht war es auch unerheblich. Voller Grauen mutmaßte er in diesem Zusammenhang nur immer, was geschehen wäre, hätte ihn nicht irgendetwas aufgeweckt. Hätte er weiter tief schlafend in diesem Sessel gekauert … es war nicht auszudenken.
Das Geräusch kam von der Wohnungstür. Jemand machte sich an dem Schloss zu schaffen. Jemand, der die Außentür bereits hinter sich gelassen hatte und sich nun schon im Innern des Gebäudes befand.
Das Geräusch war im Grunde unzweideutig, trotzdem sagte er sich, dass er entweder unter einer Halluzination litt oder dass es zumindest eine sowohl logische als auch harmlose Erklärung für dieses Vorkommnis gab. Oder hatte er sich von Pamelas Hysterie bereits so weit anstecken lassen, dass er Dinge hörte und sah, die überhaupt nicht existierten?
Der Gedanke an Pamela brachte ihn auf eine andere Idee. Vielleicht war sie hinausgegangen, und die Tür war hinter ihr zugefallen? Sie bemühte sich nun, wieder hereinzukommen, ohne ihn zu stören. Absurd, dass sie dabei versuchen sollte, die Wohnungstür aufzubrechen, ebenso absurd die Vorstellung, dass sie überhaupt in dieser kalten, finsteren Nacht draußen herumlaufen sollte, aber sie erschien ihm ziemlich durchgedreht, und vielleicht folgte sie mit allem, was sie tat, einer eigenen, für andere nicht nachvollziehbaren Logik.
Er beschloss, nicht in der Mitte dieses Zimmers stehen zu bleiben und zu warten, was geschehen würde, sondern hinzugehen und die Wohnungstür zu öffnen. Verdammt, er lebte normalerweise mitten in Manhattan, ganz bestimmt nicht das sicherste Pflaster auf der Welt. Er würde sich in der abgeschiedenen Idylle Somersets von nichts und niemandem ins Bockshorn jagen lassen.
Er trat in den kleinen Vorraum und wollte mit zwei Schritten zur Tür, als ihn ein leises Zischen zurückhielt. Es kam aus dem Badezimmer, das gleich neben dem Wohnzimmer lag.
»Er ist da«, flüsterte eine Stimme.
Er spähte in den fensterlosen Raum. Es herrschte völlige Dunkelheit.
»Pamela?«, fragte er leise.
»Er ist an der Tür«, wisperte sie. Sie musste dort irgendwo in der Finsternis kauern, und er konnte sich vorstellen, dass sie wie Espenlaub zitterte. Offensichtlich hatte sie ebenfalls die Geräusche von der Tür gehört, in ihrer Panik alle Lichter gelöscht und sich im Bad verkrochen – der ungünstigste Raum, da es aus ihm keinerlei Entkommen gab.
Die Tatsache, dass sie sich dort befand, bedeutete aber noch etwas anderes, und bei dieser Erkenntnis wurde ihm nun doch mulmig zumute: Sie war es jedenfalls nicht, die sich an der Tür zu schaffen machte.
Aber wer, um Gottes willen, war es dann?
Für einen Moment wusste Cedric tatsächlich nicht, was er tun sollte. Er stand wie paralysiert, und es schoss ihm nur ein Gedanke durch seinen Kopf: Wie konnte ich so dumm sein! Ein derart abgeschiedenes Haus. Kein Handy-Netz, kein Telefonanschluss! Wie, um alles in der Welt, konnte ich nur …
Weiter kam er nicht. Die Tür ging auf, und Cedric wusste sofort, dass der Gnom mit dem irren Blick, der da auf der Schwelle stand, Pit Wavers sein musste.
Klein, brutal und geisteskrank. Und er hatte eine Waffe.
»Wo ist sie?«, fragte er.
»Ich weiß nicht, wen Sie meinen«, antwortete Cedric.
Pit Wavers hatte lang mit Pamela zusammengelebt. Und in den vergangenen fünf Jahren hatte er diese Frau ununterbrochen in seinem Kopf mit sich herumgetragen, sich mit ihr beschäftigt, war mit ihr schlafen gegangen und mit ihr aufgestanden. Er kannte sie in- und auswendig. Er kannte sie besser als sich selbst, denn sich selbst sah er sich vorsichtshalber nie so genau an.
Die Pistole auf Cedric gerichtet, schob er sich, halb rückwärts gewandt, in das Badezimmer und schaltete das Licht ein.
Cedric hörte Pamela aufschreien.
»Ich wusste es«, sagte Pit, »eine Ratte verkriecht sich immer dort, wo es am dunkelsten ist. Du hast dich nicht verändert, Pammy. Steh auf und komm her.«
Er lehnte im Türrahmen, die Waffe zielte unverwandt auf Cedrics Brust.
»Hören Sie …«, begann Cedric, ohne genau zu wissen, was er eigentlich sagen wollte. Ein kerniges Verlassen Sie sofort diese Wohnung? Lächerlich. Wavers saß am längeren Hebel. Warum sollte er irgendeiner Aufforderung Cedrics nachkommen? Sein Zeigefinger lag am Abzug. Er brauchte ihn nur ein wenig zu krümmen.
Cedric merkte, dass ihm der Schweiß ausbrach.
»Halt's Maul«, sagte Pit, »du bist später dran, du Wichser. «
Pamela tauchte aus dem Bad auf, geblendet vom Licht. Sie folgte tatsächlich Pits Befehl und trat dicht an ihn heran. Er griff in ihre Haare, riss brutal daran, so dass er ihren Kopf bis hinunter auf die Höhe seiner Armbeuge zog. Er zwang sie, in dieser gekrümmten Haltung zu verharren.
»Hatte ich dir nicht verboten, dir die Haare abschneiden zu lassen?«, fragte er. »Und hatten wir uns nicht geeinigt, dass du immer tust, was ich sage?« Er zerrte erneut an den Haaren. Pamela schrie auf, vor Schmerz schossen ihr die Tränen in die Augen.
Cedric zögerte jetzt nicht mehr. Ihm war von einer Sekunde zur anderen klar geworden, dass sie nichts zu verlieren hatten. Wavers würde sie töten. Alle beide. Ihn, Cedric, wahrscheinlich schneller, Pamela langsamer. Aber am Ende dieser Nacht wären sie beide tot, und sie hatten hier draußen keinerlei Hilfe zu erwarten.
Er machte einen völlig unerwarteten Satz nach vorn und schlug Wavers mit einer einzigen heftigen Bewegung die Waffe aus der Hand. Die Pistole schlitterte ins Bad hinein. Vor Überraschung ließ Wavers Pamela los.
»He!«, schrie er perplex. Cedric stand direkt vor ihm.
»Entweder Sie verschwinden jetzt auf der Stelle«, sagte er, »oder Sie legen sich mit mir an. Aber lassen Sie die Finger von Pamela!«
Anstelle einer Antwort krachte Wavers' Faust in Cedrics Gesicht. Der spürte, wie ihm das Blut als warmer Schwall aus der Nase schoss, ehe er rückwärts zu Boden ging. Der Schmerz war unmenschlich.
Meine Nase ist gebrochen, dachte er, und als Nächstes: Steh auf! Steh sofort auf, ehe er sich die Waffe wieder schnappt!
Irgendwie kam er auf die Beine. Er war wenigstens anderthalb Köpfe größer als Wavers, war muskulös und gut trainiert, aber er gab sich keinen Moment lang der Illusion hin, er wäre dem durchgeknallten Zwerg vor sich überlegen. Wavers war an Schlägereien gewöhnt, er hatte stahlharte Muskeln, verfügte wahrscheinlich über eine ungeheure Wendigkeit und zog eine beinahe übermenschliche Kraft aus seiner auf völlige Rücksichtslosigkeit gegründeten Brutalität. Wavers war es im Zweifelsfall egal, ob er einen Menschen umbrachte oder ihn zum Krüppel schlug. Es gab kein Tabu für ihn.
Pamela hatte ihn als Psychopathen bezeichnet. Cedric begriff, dass sie recht gehabt hatte.
Er holte aus und versetzte Wavers einen Kinnhaken, der diesen rückwärts gegen den Türrahmen taumeln ließ. Ehe Wavers sich besinnen konnte, landete Cedrics Faust erneut in seinem Gesicht. Im nächsten Moment hatte sich Wavers jedoch zur Seite weggeduckt und schoss plötzlich aus einem anderen Winkel nach vorn. Er boxte Cedric so heftig in den Magen, dass diesem die Luft wegblieb. Sekundenlang wurde ihm schwarz vor Augen. Er krümmte sich, fühlte gleich darauf einen stechenden Schmerz in seiner rechten Seite. Wavers' Stiefelspitze hatte ihn in die Rippen getroffen. Entsetzt erkannte Cedric, dass er diesen Kampf verlieren würde. Er hatte nicht den Fehler begangen, Wavers zu unterschätzen, aber es hatte dennoch jenseits seines Vorstellungsvermögens gelegen, dass jemand so stark sein konnte. Er versuchte eine Gegenwehr, traf den anderen in den Unterleib – eine Tabuzone, aber Cedric hatte bereits kapiert, dass die Ehrenregeln, die er einmal irgendwann in der Schule gelernt hatte, hier nicht angebracht waren –, und tatsächlich jaulte Wavers auf, war für Sekunden außer Gefecht. Cedric richtete sich keuchend auf, wischte sich mit dem Unterarm übers Gesicht, sah, dass der Ärmel seines Pullovers troff von Blut. Wavers lag zu seinen Füßen, zusammengerollt wie ein Embryo, und winselte leise. Eine innere Stimme sagte Cedric, dass dies der Moment war, den anderen mit einem gezielten Fußtritt gegen den Kopf in vorübergehende Bewusstlosigkeit zu versetzen, aber er brauchte zu lange, die Hemmschwelle zu überwinden, die es ihm trotz allem noch verbot, einen wehrlos am Boden liegenden Gegner zu attackieren. Es waren nur Sekunden, in denen er mit sich rang, aber die reichten für Wavers. Sein Arm schoss urplötzlich nach vorn, seine Hände umklammerten Cedrics rechtes Bein, zogen mit einem einzigen, scharfen Ruck daran. Cedric verlor sofort sein ohnehin mühsam gewahrtes Gleichgewicht und stürzte nach hinten. Er spürte, dass sein Kopf gegen etwas Hartes schlug, und während ihm die Sinne schwanden, dachte er: Scheiße. Das war's.
Er wusste nicht, wie lange er so gelegen hatte, aber als er die Augen wieder aufschlug, sah er Wavers, der vor der Haustür stand. Reglos. Leicht nach vorn geneigt. Der Blick lauernd.
Cedric bestand nur aus Schmerzen. Von seiner Nase aus jagten glühende Pfeile durch alle Gesichtsnerven, zudem war die Nase nach innen so geschwollen, dass er kaum mehr Luft bekam. Sein Kopf schien zerspringen zu wollen. Als er sich ein Stück aufrichtete, hätte er schreien mögen: Seine rechte Seite tat so grausam weh, dass er mutmaßte, Wavers' Stiefelspitze hätte ihm wenigstens eine Rippe gebrochen, wenn nicht sogar mehrere. Mit zusammengebissenen Zähnen schaffte er es dennoch, sich auf die Ellbogen zu stützen und den Kopf oben zu halten. Ein überraschendes Bild bot sich ihm. Pamela stand mit dem Rücken zu ihm in der Wohnzimmertür. Ihre Hand hielt Wavers' Pistole. Sie richtete sie auf ihren Feind, aber sie bot keine wirklich überzeugende Vorstellung dabei: Sie zitterte so sehr, dass sie im Zweifelsfall wahrscheinlich eher Wände, Decke oder Fußboden getroffen hätte als Wavers.
»Verschwinde«, sagte sie mit rauer Stimme, und Cedric nahm an, dass sie das wohl schon öfter gesagt hatte. Wavers schien sich nicht darum zu scheren. Obwohl er noch benommen war, erkannte Cedric, dass sich die Situation jeden Moment ändern konnte. Wavers wurde für den Augenblick von seiner eigenen Verblüffung in Schach gehalten, die Pamelas Gegenwehr – vermutlich die erste in ihrem Leben – in ihm ausgelöst hatte. Noch ein paar Sekunden, und ihm wäre klar, dass von dieser völlig entnervten Frau keine echte Gefahr ausging.
Cedric schaffte es in eine aufrecht sitzende Position. Teufel, er hatte noch nie im Leben derartige Schmerzen gehabt. Aber er konnte nicht lange bewusstlos gewesen sein. Die Szene vor ihm musste sich in den letzten ein oder zwei Minuten eingestellt haben. Und trotz allem war er jetzt wieder klar im Kopf.
»Gib mir die Waffe, Pamela«, sagte er, das Risiko, sie könnte die Pistole vor Schreck fallen lassen, in Kauf nehmend. Pamela fuhr herum.
»Cedric!«, rief sie.
»Die Waffe!«, fauchte er.
Sie machte einen blitzschnellen Schritt zu ihm hin.
Jetzt hielt er die Pistole. Er hätte es nicht garantieren können, aber zu seiner Erleichterung zitterte seine Hand immerhin nicht.
Aus seiner angeschlagenen Position heraus hielt er sie ruhig auf Wavers gerichtet und sagte mit kalter Stimme: »Ich knall Sie ab, Wavers. Unterschätzen Sie mich nicht. Wenn Sie einen Schritt machen, sind Sie tot!«
Er konnte sehen, dass Wavers den Ernst der Lage abwog. Cedric wusste, dass er einen jämmerlichen Anblick bot, blutüberströmt und verletzt, aber er hatte die Waffe und zugleich nichts mehr zu verlieren.
Wavers schien seine Schlüsse daraus zu ziehen. Ehe noch irgendjemand etwas sagen oder tun konnte, hatte er sich mit einer fast schlangenartigen Bewegung zur Wohnungstür hinausgewunden. Er war so plötzlich verschwunden, dass es fast den Anschein hatte, er wäre nie da gewesen. Kein Laut war zu hören.
Pamela kniete neben Cedric nieder. »Cedric! Sie brauchen sofort einen Arzt!«
Er richtete sich noch weiter auf, stöhnte dabei. »Pamela, hören Sie, ich fürchte, der kommt wieder. Wir müssen hier weg.«
»Wenn wir uns verbarrikadieren …«
»Er hat die Haustür und die Wohnungstür aufgebrochen. Die lassen sich nicht mehr abschließen. Die Türen hier drin sind ein Witz. Außerdem …«
»Was?«
»Niemand weiß, wo wir sind, nicht einmal Rosanna kennt den genauen Ort. Die Einzige, die irgendwann morgen früh hier aufkreuzen wird, ist Mrs. Blum. Nicht, dass ich große Sympathien für sie hegte, aber wir können nicht zulassen, dass sie diesem Psychopathen in die Arme läuft. Der macht sie ohne Skrupel kalt, um sie daran zu hindern, die Polizei zu verständigen.«
Sie nickte. »Das tut er.«
»Helfen Sie mir auf die Füße«, bat Cedric.
Sie stützte ihn, bis er auf den Beinen stand. Seinen Oberkörper hielt er gekrümmt nach vorne geneigt. Die Schmerzen in der Seite machten ihn fast wahnsinnig. Er bekam immer schlechter Luft.
»Haben Sie irgendetwas gehört?«, fragte er. »In den letzten fünf Minuten? Ein Motorengeräusch?«
Sie sah ihn verwirrt an.
»Wavers kann uns nur gefunden haben, indem er uns von London aus gefolgt ist. Das bedeutet, er ist mit dem Auto hier.«
»Ich habe nicht darauf geachtet«, sagte sie verzweifelt, »keine Ahnung, Cedric. Ich kann nicht sagen, ob ich etwas gehört habe oder nicht. Ich weiß nicht einmal, ob man hier hinten im Wohnzimmer etwas hätte hören müssen!.«
Er wusste es auch nicht, und er hatte auch nicht auf irgendetwas von draußen geachtet. Fehler über Fehler, dachte er. Wavers konnte noch um das Haus herumlungern, er konnte aber auch das Weite gesucht haben. Sie wussten es nicht. Am besten, sie rechneten mit dem Schlimmsten.
Seine Hand umfasste den Griff der Pistole fester.
»Wir versuchen jetzt, unser Auto zu erreichen«, sagte er. »Wir sind bewaffnet. Er nicht. Das ist unsere Chance.«
Eine Frau, die dicht vor einem Nervenzusammenbruch stand. Ein schwer verletzter Mann, der nicht aus eigener Kraft stehen konnte. Und eine Pistole.
Er wusste, dass ihre Chance sehr klein war.