Freitag, 22. Februar
1
Es war, wie Rosanna vermutet hatte: Wiltonfield lag nicht weit hinter Binfield Heath und kurz vor Reading, ein verträumtes, kleines Dorf, eingebettet in Wälder und Wiesen, direkt am Ufer der hier recht breiten, sehr friedlich dahinfließenden Themse. Der Anblick der verwinkelten Straßen und Gassen und der kleinen rot geklinkerten Häuser mit den bunt bemalten Türen war sehr idyllisch, denn inzwischen hatte sich das Wetter gebessert, der Himmel war zwar noch voller Wolken, aber der Nebel hatte sich verzogen. Und überall hier draußen lag der Frühling auf der Lauer, schien das Gras darauf zu warten, in die Höhe zu schießen, und schien die schwarze, nass glänzende Erde bereit, all das Leben zu entlassen, das in ihr keimte. Die sonnigen Tage hatten die Vegetation vorangetrieben, der Kälteeinbruch hatte nur für eine Verzögerung gesorgt. Mit der nächsten Schönwetterperiode würde das Land in Farben ausbrechen.
Rosanna fand die Stelle mit den Containern sofort, von der Pamela gesprochen hatte. Wiltonfield war so klein, dass man es im Handumdrehen umrundet hatte, und tatsächlich befand sich an der Westausfahrt des Ortes ein Parkplatz, von dem aus man zu diversen Wanderungen aufbrechen konnte, deren Wegeverlauf von verschiedenfarbigen Schildern gekennzeichnet wurde. Eine große Tafel informierte ausführlich über Flora und Fauna der Gegend, wies auf einen etwas außerhalb gelegenen Gasthof hin, in dem man offenbar recht gut essen konnte, und auf den Yachtclub, der sich anscheinend in der Nähe jenes Gasthofs befand.
Am Rande des Parkplatzes standen drei große Container für Altkleider. Ein Schild bat darum, nur solche Kleidungsstücke abzugeben, die noch tragbar waren, und diese möglichst sauber zu verpacken. Schuhe möge man paarweise zusammenbinden.
An diesem kalten Morgen hielt sich kein Mensch an der einsamen Stelle auf. Rosanna parkte ihren Wagen und trat dicht an die Container heran. Sie hielt beide Arme um ihre Mitte geschlungen, weil sie so fror. Sie hatte sich vor ihrem Aufbruch in einer Londoner Apotheke Halstabletten und ein fiebersenkendes Medikament gekauft, und es ging ihr ein wenig besser, aber sie konnte sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie krank war und dass sie wahrscheinlich spätestens morgen oder übermorgen das Bett würde hüten müssen. Eigentlich hatte sie das Marc schon für heute versprochen. Beim Frühstück hatte er sie immer wieder besorgt angesehen und sie schließlich gebeten, im Bett zu bleiben, bis er wiederkäme.
»Heute ist Freitag. Wird nicht so spät«, hatte er beim Abschied gesagt.
Sie hatte aus dem Fenster geschaut und zu ihrer Erleichterung gesehen, dass er den Weg Richtung U-Bahn einschlug. Damit hatte sie das Auto zu ihrer Verfügung.
Sie fröstelte. Nicht nur wegen der kalten Luft, auch wegen der Einsamkeit dieses Ortes. So mochte es auch im Januar gewesen sein, fünf Jahre zuvor. An einem Wintermorgen konnte man hier problemlos Kleider entsorgen, ohne gesehen zu werden. Im Sommer und an den Wochenenden mochte es wimmeln von Wanderern, aber dazwischen ließ sich keine Seele blicken.
Was konnte man noch entsorgen?
Denn die Frage war doch: Wenn jemand – Jacqueline? – hier Elaines Kleider abgelegt hatte, was war mit Elaine selbst geschehen? Es hatte nie einen Leichenfund gegeben, den man ihrem Fall hätte zuordnen können.
Sie musste niesen, zog hastig ein Taschentuch hervor und putzte sich kräftig die Nase.
Ich bin krank, und ich verrenne mich in etwas, dachte sie.
Sie sah die schwere, grobknochige Elaine vor sich – und die zierliche, kleine Jacqueline. Was stellte diese zarte Frau mit einer Leiche an? Wie sollte sie das rein kräftemäßig schaffen?
Nachdenklich blickte sie über die Wiesen zum Fluss hinunter. Man konnte das andere Ufer gut sehen, aber er war wirklich sehr breit an dieser Stelle. Große Weidenbäume tauchten ihre Arme in die Wellen. Wenn man jemanden in einem Fluss versenkte, musste man kein Grab schaufeln.
Der Yachtclub war ganz in der Nähe. Jacquelines Schiff somit auch.
Einem spontanen Entschluss folgend, wandte sie sich wieder dem Auto zu, warf dabei einen Blick auf die Tafel. Der Beschreibung nach musste sie bloß der Landstraße folgen, um den Club zu erreichen. Es war nur eine einfache Frage, die sie stellen wollte. Verrückt vielleicht, aber nun war sie schon einmal hier.
Sie erreichte den Club zehn Minuten später. Ein großes hölzernes Clubhaus, eine breite hölzerne Plattform über dem Wasser, auf der Tische und Bänke standen, die mit Plastikplanen abgedeckt waren. Lange Stege ragten in den Fluss, an ihnen waren zahlreiche größere und kleinere Motorboote vertäut. Gleich neben dem Clubhaus befand sich ein Wohnhaus, dessen Fensterläden jedoch fest verschlossen waren. Im Sommer war hier sicher viel los. Im Augenblick war der Ort von erschlagender, trostloser Einsamkeit.
Rosanna stellte ihr Auto an einem Parkplatz oberhalb des Gebäudes ab und lief über einen schmalen, sandigen Weg zum Fluss hinunter. Die kalte Luft roch nach dem Wasser.
Der verhangene Himmel vermochte den Wellen kein Licht und keine Farbe zu geben, sie waren von einem etwas gelblichen Grau, sahen abweisend, fast etwas bedrohlich aus.
Clubhaus und Bootssteg wurden von einem hohen Zaun umschlossen, und Rosanna fürchtete schon, dass ihr Ausflug an dieser Stelle zu Ende sein würde, aber dann bemerkte sie, dass das Tor offen stand und dass direkt daneben ein Fahrrad lehnte. Irgendjemand musste da sein.
Sie betrat das Gelände, stieg zwei Stufen zu der Plattform hinauf, umrundete das Clubhaus. Sie stellte fest, dass das Gebäude zu einer Seite hin offen war. Man gelangte dort in eine Art Schuppen, der mit Gerätschaften aller Art sowie großen Schränken vollgestellt war. Eine breite Treppe führte in ein höheres Stockwerk. Vermutlich wurde auch dort oben etliches Segelzubehör aufbewahrt. Eine Tür führte in einen angrenzenden Raum. In der Hoffnung, dass sich die Person, der das Fahrrad draußen gehörte, dort aufhielt, klopfte Rosanna an.
Als sie keine Antwort erhielt, öffnete sie sie einfach und trat ein. Als Erstes schlug ihr der Geruch scharfer Putzmittel entgegen. Sie sah Tische und Stühle, ein paar Bilder von Schiffen an den Wänden und eine große Theke, die voller Gläser und Flaschen war. Dahinter stand eine ältere Frau und schien gerade damit beschäftigt, das Spülbecken zu putzen. Vor der Theke waren ein Putzeimer, ein Staubsauger und mehrere Flaschen verschiedener Reinigungsmittel.
»Guten Morgen«, rief Rosanna. Ihre Stimme klang etwas krächzend.
Die Frau hinter der Theke zuckte zusammen. »Gott, haben Sie mich erschreckt«, sagte sie vorwurfsvoll, »um die Zeit erwartet man hier niemanden!«
»Tut mir leid. Ich hatte angeklopft.«
»Ich war in Gedanken. Was gibt's denn?« Die Frau sah sie argwöhnisch an.
Rosanna trat näher, wobei sie bemerkte, dass der Fußboden frisch gewischt war und dass sie ihn soeben mit erdigen Fußabdrücken versah. Eine zweifellos gute Voraussetzung, die ohnehin mürrische Frau am Ausschank freundlich zu stimmen.
»Mein Name ist Rosanna Hamilton. Ich bin eine alte Freundin von Jacqueline Reeve.«
»Aha. Und was wollen Sie dann hier?«
Rosanna versuchte möglichst unbefangen zu lächeln. »Jacqueline und ich sind gemeinsam zur Schule gegangen, aber dann habe ich jahrelang im Ausland gelebt. Nun würde ich sie gern ausfindig machen. Sie ist ja geschieden inzwischen…«
»Wer ist heute nicht geschieden?«, erwiderte die Frau brummig. »Meiner ist schon vor neun Jahren abgehauen. Hat sich einfach abgeseilt. Meinen Sie, ich müsste sonst hier putzen? Aber das Geld reicht vorn und hinten nicht. Ist ja auch alles teurer geworden.«
»Das stimmt. Man hat es nicht leicht heutzutage.«
»Die haben hier gestern Abend groß gefeiert. War ein ganz schönes Chaos, als ich heute früh kam. Einer hatte Geburtstag. Ich war auch da. Ich gehöre natürlich nicht zu dem feinen Club, aber ich mach den Ausschank bei solchen Gelegenheiten. Bringt ein paar Pfund extra.«
»Sie müssen wirklich viel arbeiten«, meinte Rosanna mitfühlend und zerbrach sich dabei den Kopf, wie sie auf Jacquelines Boot und einen Januartag fünf Jahre zuvor zu sprechen kommen sollte. War allerdings wahrscheinlich sowieso zwecklos. Wer erinnerte sich an irgendetwas, das so lange zurücklag und dabei nicht spektakulär gewesen war?
»Um diese Jahreszeit kann ich mich eigentlich nicht beklagen. Ist nicht viel los. Mal ein Geburtstag oder Stammtisch am Sonntag. Im Sommer ist hier jeden Abend volles Haus. Und an den Wochenenden grillen die draußen über dem Wasser. Wenn man Geld hat, kann man sich eben ein schönes Leben machen.«
Rosanna pflichtete ihr bei. Sie fügte hinzu: »Wissen Sie, wegen Jacqueline …«
»Also, die werden Sie hier nicht mehr antreffen. Die ist schon seit Jahren nicht mehr im Club.«
»Nein?« Rosanna war völlig überrascht. Nicht einmal Marc schien das gewusst zu haben. »Das war doch ihr zweites Zuhause hier!«
»Tja, verstanden hat das niemand hier so richtig. Vielleicht hing es mit ihrem Sohn zusammen. Jungs in der Pubertät kosten viel Kraft. War wohl alles am Ende 'ne Zeitfrage, könnte ich mir denken.«
»Und das Schiff?«, fragte Rosanna.
Die andere machte eine unbestimmte Handbewegung in Richtung Fenster. »Die Heaven's Gate. Liegt noch da draußen. Sie hat den Kahn an einen hier aus dem Club verkauft. Der war ganz scharf auf das Schiff.«
»Wann genau war das?«
»O Gott, wie genau wollen Sie das denn wissen? Ist schon 'ne ganze Zeit her.«
»Ungefähr. Das Jahr. Der Monat?«
Die Frau schien zumindest wirklich bemüht, sich zu erinnern. »Warten Sie … ich meine, das war nicht lange, nachdem meine Tochter das Baby bekommen hat …«
» Und das war …?«
»Im November 2002. Am 30. November, um genau zu sein. Mein erstes Enkelkind.«
»Wie schön! Könnte der Verkauf des Schiffs im Januar gewesen sein? 2003?« Rosanna vibrierte vor Aufregung.
»Also, ich meine schon, das wäre im neuen Jahr gewesen. Januar oder Februar. Später bestimmt nicht, es war nämlich noch richtiger Winter. Ja, so um die Zeit, das müsste stimmen.«
»Und von da an hat sich Jacqueline nie mehr im Club blicken lassen?«
»Nicht, dass ich wüsste. Ich glaube, sie trifft sich privat noch mit ein paar Leuten von hier, die erzählen manchmal von ihr. Sie muss ja ganz erfolgreich sein als Malerin. Macht Ausstellungen und solche Sachen. Aber ich interessiere mich nicht für Bilder. Hab auch kein Geld dafür.«
»Wissen Sie noch, ob Jacqueline irgendwann Mitte Januar noch einmal mit dem Boot hinausgefahren ist?«, fragte Rosanna. »So um den zehnten oder elften herum?«
Das Gesicht der anderen verschloss sich wieder in Misstrauen. »Wieso spielt das eine Rolle?«
»Es würde mich einfach interessieren. Kann es sein, dass sie draußen war? Oder dass irgendjemand mit der Heaven's Gate draußen war?«
»Keine Ahnung. Ich bin ja nicht ständig hier.«
»Hm«, machte Rosanna. Sie wollte nicht, dass die Putzfrau merkte, wie aufgeregt sie war. Weshalb hatte Jacqueline ihr Schiff unmittelbar nach Elaines Verschwinden verkauft? Wieder ein Zufall?
»Weiter unten der Schleusenwärter«, sagte ihr Gegenüber, »der von der Mapledurham-Schleuse, der wird's wissen. Falls die Heaven's Gate eine längere Strecke gefahren ist, musste sie da durch. Dort wird die Nummer des Schiffs, Datum, Uhrzeit und so weiter notiert. Da ist alles festgehalten.«
Rosanna krallte ihre Finger um ihre Handtasche. »Wo genau finde ich den Schleusenwärter?«
»Einfach der Straße nach. Sie sehen die Schleuse schon von weitem, Sie können sie gar nicht verfehlen.«
»Danke. Vielen Dank!« Rosanna lief zur Tür. Sie war so erregt, dass sie kaum noch merkte, wie krank sie sich eigentlich fühlte.
»He«, rief die andere hinter ihr her, »wozu brauchen Sie das denn? Ich denke, Sie wollen Ihre Freundin finden?«
Rosanna gab keine Antwort. Sie hörte noch das Schimpfen: »Also nee, wirklich, Sie haben hier alles dreckig gemacht, und überhaupt, wieso …«
Sie rannte den Steg entlang. Die kalte Luft ließ ihre Lungen schmerzen. Heaven's Gate! Wo war die Heaven's Gate?
Sie fand sie ganz hinten. Eines der letzten Schiffe am Steg. Ein zauberhaftes, blau gestrichenes Holzboot, an dessen Seite in dicker, weißer Ölfarbe der Name prangte. Auf der anderen Seite befand sich die Schiffsnummer.
Rosanna wühlte in ihrer Handtasche, förderte einen Papierfetzen und einen Bleistift zu Tage und notierte sich die Nummer. Ein Blick zurück verriet ihr, dass die Putzfrau sie durch das Fenster des Clubhauses argwöhnisch beobachtete. Egal. Vorerst hatte sie, was sie brauchte.
Ihr nächster Weg würde sie zur Mapledurham-Schleuse führen.
2
»Wieso wolltest du mich eigentlich nicht haben?«, fragte Rob. Er fragte es völlig unvermittelt und in einem harmlosen Ton, so als wolle er wissen, weshalb sie graue Fliesen für ihren Küchenfußboden gewählt hatte. Er ahnte, dass seine Mutter genau diese Frage seit Tagen fürchtete, und er genoss die Macht, die ihm ihre Angst verlieh. Er ganz allein konnte den Moment bestimmen, an dem er sie mit dem Thema konfrontierte, das mit zu den unangenehmsten Erinnerungen ihres Lebens gehören dürfte. Jedenfalls hoffte er, dass es so war. Ein Baby gab man nicht einfach weg wie einen alten Mantel.
Sie saßen in der Küche beim Mittagessen. Nach einem quälend zäh verrinnenden Vormittag, an dem Rob im Wohnzimmer herumgehangen und Marina demonstriert hatte, wie unsäglich er sich mit ihr langweilte, hatte sie – o Wunder, welch eine Abwechslung zu McDonald's! – einen Besuch im Pizza Hut vorgeschlagen, aber er hatte gestreikt.
»Das ist doch letztlich auch nur Fast Food! Seit ich hier bin, kriege ich nichts als diesen Fertigfraß! Hast du schon mal was davon gehört, dass junge Menschen im Wachstum gelegentlich auch mal so etwas wie Gemüse brauchen?«
Sie war zusammengezuckt, hatte sich dann ihren Mantel und ihre Schuhe angezogen und ihre Geldbörse gegriffen. »Okay, ich kaufe Gemüse«, hatte sie in kühlem Ton gesagt, »möchtest du mitkommen?«
Er aalte sich gerade im Sessel vor dem Fernseher. Es lief eine Uraltfolge der Sesamstraße, die ihn nicht interessierte, aber er hatte schon herausgefunden, dass Marina es hasste, wenn tagsüber der Fernseher lief.
»Nee. Keinen Bock. Geh mal allein!«
Sie war mit Brokkoli und Kartoffeln zurückgekommen und hatte sich dann in der Küche mit der Zubereitung abgemüht. Sie hatte ihm während einem ihrer langen Abende, in denen sie versuchte, eine Beziehung zu ihm aufzubauen, erzählt, dass sie nicht kochen konnte und es auch höchst ungern tat, und deshalb hatte es ihm Freude bereitet, sie an den Herd zu scheuchen, aber als sie dann beide vor ihren Tellern saßen, begriff er, dass er sich ins eigene Fleisch geschnitten hatte: Ein faderes, geschmackloseres Essen hatte man ihm selten vorgesetzt. Er fragte sich, ob Marina schon einmal etwas von Salz und Pfeffer und deren Verwendungszweck gehört hatte. Insgeheim sehnte er sich nun nach einer saftigen Pizza mit allem Drum und Dran und viel Käse im Rand eingerollt und ärgerte sich heftig über sich selbst.
Deshalb die Frage nach der Trennung. Er musste sich irgendwie ein Ventil schaffen.
Marina hielt mitten in der Bewegung, mit der sie eine Gabel zum Mund führen wollte, inne. Er beobachtete sie genau und sah, dass sich ihre Pupillen ein wenig vergrößerten. Langsam führte sie die Gabel zum Teller zurück, legte sie dort ab.
»Vielleicht ist es gut, wenn wir darüber sprechen«, sagte sie schließlich.
Er sah sie abwartend an. Er hatte gehofft, dass sie zittern oder vielleicht sogar heulen würde, aber sie hatte sich recht gut im Griff.
»Es war nicht so, dass ich dich nicht haben wollte, Robbi. Ich …«
Sie hatte ihn noch nie zuvor Robbi genannt, und auf Anhieb konnte er diesen Namen nicht leiden. »Ich heiße Robert. Oder Rob!«
»Okay. Rob. Damals nannte ich dich eben so. Robbi.«
»Die Phase kann kaum so lange gedauert haben, dass du dich jetzt nicht umgewöhnen könntest! Soviel ich weiß, hattest du nach vier Wochen genug von mir und bist abgehauen.«
»Ich habe dich deinem Vater übergeben.«
»Du bist abgehauen. Ob du mich meinem Vater übergibst oder im Korb vor ein Waisenhaus stellst, bleibt sich doch gleich.«
»Nicht ganz. Ein Waisenhaus ist ein Waisenhaus. Ein Vater ist ein Vater. Glaub mir, deine Kindheit im Waisenhaus hätte anders ausgesehen als die, die du nun tatsächlich hattest. «
Sie blieb ruhig. Er spürte so heftige Aggressionen gegen sie, dass er ihr am liebsten den Teller mit dem ungenießbaren Essen ins Gesicht gekippt hätte. In das Gesicht, in dessen Augen er seine eigenen erkannte.
»Die allermeisten Kinder sind aber bei ihren Müttern!«
Sie konnte ihm nur recht geben. »Ja. Ich weiß. Aber … ich war so jung. Ich war mitten im Studium. Ich wusste einfach nicht …« Sie hob hilflos die Schultern.
»Wenn mich nicht alles täuscht, gab's vor siebzehn Jahren schon die Pille. Wenn du auf keinen Fall ein Kind wolltest, warum hast du dann nicht verhütet?«
»Ich habe die Pille nicht vertragen. Dein Vater und ich … wir versuchten aufzupassen, aber …«
»Aber dann passierte die Panne. Das Unglück. Die Riesenscheiße. Wie würdest du mich nennen, Mummy? Panne? Unglück? Riesenscheiße? Welches Wort gefällt dir am besten?« Er merkte, dass er leise zitterte. Zu blöd. Sie hätte zittern sollen!
»Keines dieser Worte gefällt mir«, sagte Marina. »Du warst nichts von all dem. Du warst – und bist –, was alle Kinder sind: ein Geschenk.«
Wollte sie ihn verarschen?
»Geschenke behält man aber.«
»Es gibt wunderschöne Geschenke, die den Empfänger trotzdem zu einem bestimmten Zeitpunkt überfordern.« Sie schob ihren Teller zurück, stand auf. »Ich war überfordert, Rob. Ich war zu unreif für ein Kind. Wenn du einmal selbst ein Kind hast, wirst du begreifen, was ich meine. Kinder sind ungemein fordernd. Babys schreien. Tag und Nacht. Dauernd brauchen sie etwas zu essen und zu trinken. Dauernd müssen sie frisch gewickelt werden. Du wanderst nächtelang mit ihnen auf dem Arm herum und schaukelst sie hin und her und fragst dich, weshalb sie nicht einschlafen. Deine Augen brennen, und du könntest heulen vor Müdigkeit. Du weißt, dass du am nächsten Tag eine wichtige Klausur schreibst. Du weißt, dass du nach dieser durchwachten Nacht im Morgengrauen wirst aufstehen und das Kind zur Tagesmutter bringen müssen, um selbst rechtzeitig in der Uni zu sein. Du weißt, dass du über der Klausur fast einschlafen und dass du sie vergeigen wirst. Du malst dir aus, wie viele Klausuren du vergeigen kannst, ehe sie auf der Uni von dir nichts mehr wissen wollen. Du bekommst Angst um deine Zukunft, und … ach«, sie wischte sich mit einer müden, resignierten Geste über die Augen. »Jede Lebenssituation sieht anders aus«, sagte sie, »meine war eben so.«
Er erhob sich ebenfalls. Er hatte das Gespräch so kaltblütig begonnen, und nun hatte er schon nach wenigen Minuten weiche Knie, und ihm war schwindelig. Es regte ihn auf, was sie sagte, es regte ihn so maßlos auf.
»Jetzt bin ich schuld? Weil ich so ein anstrengendes Baby war?«
»Natürlich nicht. So meinte ich das überhaupt nicht. Es ging mir nur um … eine Erklärung.« Sie hob hilflos beide Hände. »Wahrscheinlich kann jedes Wort, das ich jetzt sage, nur falsch sein. Wollen wir uns nicht setzen, ich mach uns einen Kaffee, und wir versuchen, ohne Stress miteinander …«
Er unterbrach sie: »Dad hat es doch auch geschafft. Dad war auch mitten im Studium. Er musste auch Klausuren schreiben und Prüfungen bestehen und all das. Er hat trotzdem für mich gesorgt.«
»Ich weiß. Er war älter, er war verantwortungsbewusster. Er …«
»… hat mich geliebt. Im Unterschied zu dir.«
»Ich habe dich auch geliebt. Rob, keine Mutter gibt ihr Kind leichten Herzens her. Das musst du mir glauben. Aber nach so einer Schwangerschaft …«
Er unterbrach sie erneut. »Jetzt fang nicht mit den Hormonen an, die an allem schuld waren! Meines Wissens sorgen die bei den normalen Frauen nämlich genau dafür, dass sie ihre Kinder lieben und unbedingt beschützen wollen. Das funktioniert bei jeder Katze. Nur nicht bei dir!«
»Jetzt machst du es dir ziemlich leicht«, sagte Marina, »und ich frage mich, ob du überhaupt ein Gespräch mit mir suchst oder nur deine Wut, die zu empfinden du jedes Recht hast, irgendwie loswerden willst. Dann sollte ich nämlich besser meinen Mund halten. Ich werbe um Verständnis, aber ich habe nicht die geringste Chance, es zu erlangen.«
Er sah sie höhnisch an. »Hat es sich denn wenigstens gelohnt? Deinen Weg so zielstrebig zu gehen und alles beiseite zu räumen, was hinderlich sein könnte? Bist du heute glücklich? Mit deinem Beruf, mit diesem Haus? Allein? Ohne Mann, ohne Kinder? Das ist es, was du wolltest, oder? Bloß nicht für jemanden sorgen, dich bloß nicht einschränken müssen. Du hast nur übersehen, dass es dann am Ende womöglich auch niemanden gibt, der für dich sorgt. Aber vielleicht verzichtest du ganz locker darauf!«
Endlich zuckte ihr Mund. Er hatte den wunden Punkt getroffen. Sie war allein, sie war jämmerlich einsam, das war ihm aufgefallen in den letzten Tagen. Kein Hahn krähte nach ihr. Kaum je läutete das Telefon, niemand klingelte, holte sie zu irgendeiner Unternehmung ab. Ihre Abende waren lang und trostlos. Sie zahlte ihren Preis, und das zu sehen, genoss er, genoss er zutiefst.
»Ich möchte nicht weiter darüber sprechen«, brachte sie hervor. Sie war dicht am Heulen.
Er stieß seinen Stuhl zurück, griff nach seiner Jacke, die er, um Marina zu ärgern, auf dem Kühlschrank abgelegt hatte.
»Ich muss hier raus«, sagte er, »ich brauche frische Luft.«
»Wohin gehst du?«
»Spazieren.«
»Rob!« Sie kam um den Tisch herum, wollte nach seinem Arm greifen, aber er wich zurück, als habe sie nach ihm geschlagen.
»Ich habe eine Mutter«, erklärte er, »und deshalb brauche ich dich zum Glück nicht. Rosanna ist meine Mutter. Sie ist eine tolle Frau. Sie hat alles, was du nicht hast.«
»Ich bin überzeugt, dass sie ein fantastischer Mensch ist, Rob. Und ich bin sehr froh, dass sie für dich sein kann, was ich nicht konnte. Aber …«
»Ja?«
»Ach, nichts.« Warum sollte sie es thematisieren? Dennis hatte ihr erzählt, dass seine Ehe in einer Krise steckte, dass es fraglich war, ob Rosanna zu ihm und Rob zurückkehren werde. An Robs Augen, in denen plötzlich ein Ausdruck fast kindlicher Hilflosigkeit stand, konnte sie sehen, dass auch er gerade wieder daran dachte. Dass er schreckliche Angst hatte.
Er tat ihr so leid. Dieser große, aggressive, verletzliche Junge dauerte sie so sehr, dass sie am liebsten getan hätte, wozu sie sich nicht hatte durchringen können, als er ein Baby gewesen war: ihn in die Arme nehmen, sacht hin und her schaukeln, ihr Gesicht an seines pressen und ihm zuflüstern, dass alles gut werde. Ihn wiegen, bis er einschlief.
Was völlig ausgeschlossen war.
»Wann kommst du wieder?«, fragte sie.
»Weiß nicht«, sagte er, dann war er aus der Küche, und sie hörte die Haustür knallen. Die eigentümliche, beklemmende Stille, die einer lautstarken Auseinandersetzung folgt, senkte sich über das Haus.
Tagelang waren sie wie die Katzen umeinander herumgeschlichen. Jetzt war es endlich passiert. Die Bombe war hochgegangen. Vielleicht war das gut so. Es hatte irgendwann passieren müssen.
Aber es tat so weh.
Marina setzte sich auf ihren Stuhl. Sie stützte das Gesicht in die Hände und begann zu weinen.
Marc war irritiert, als Rosanna am frühen Nachmittag in sein Büro gestürzt kam. Er hatte arglos den Türöffner betätigt und war dann in die Diele getreten, um den Besucher in Empfang zu nehmen, und sah sich plötzlich der Frau gegenüber, von der er geglaubt hatte, sie liege daheim im Bett und kuriere ihre beginnende Grippe.
»Hallo«, sagte er, »du sollst doch nicht draußen herumlaufen!« Dann bemerkte er ihre geröteten Wangen und ihre seltsam glühenden Augen, ihre Atemlosigkeit und Aufgeregtheit.
»Was ist denn passiert?«, fragte er.
Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Ich muss dir etwas erzählen«, stieß sie hervor.
Er zog einen zweiten Stuhl heran, setzte sich ihr gegenüber, nahm ihre Hände in seine. »Ich glaube, du hast Fieber«, stellte er fest.
»Keine Ahnung. Kann sein. Marc, ich habe etwas Unglaubliches herausgefunden.«
»Beruhige dich doch erst einmal. Warum rennst du überhaupt in der Gegend herum?«
Sie entzog ihm ihre Hände, kramte hektisch in ihrer Handtasche, zog einen Zettel hervor, auf den sie irgendetwas Unlesbares in ihrer krakeligen Handschrift notiert hatte.
»Die Heaven's Gate hat am n. Januar 2003 morgens um acht Uhr die Mapledurham-Schleuse von Purley-on-Thames passiert. Am 11. Januar! Morgens! In der ersten Dämmerung!«
Er starrte sie völlig verständnislos an. Sie war so aufgeregt, dass es ihr schwerfiel, eine logische Reihenfolge in ihre Schilderung zu bringen.
»Ich habe mit dem Schleusenwärter gesprochen. Und er hat in seinen Aufzeichnungen nachgesehen. Einen Tag, nachdem Elaine verschwunden war, ist das Schiff deiner Exfrau an einem frühen Wintermorgen die Themse entlanggetuckert. Durch den Nebel. Weißt du, was das bedeutet?«
Er war noch immer perplex. »Nein. Was denn? Und wieso … ?«
»Der Pass. Elaines Pass! Er wurde doch in Wiltonfield gefunden. Ganz nah am Yachtclub. Dann dieser seltsame Ausflug zu einer völlig unwirtlichen Zeit. Oder fuhr Jacqueline öfter im Winter frühmorgens im ersten Dämmerlicht auf den Fluss hinaus?«
»Nein. Ich glaube, kein Mensch würde das tun. Aber …«
»Und weißt du, was ich noch herausgefunden habe? Unmittelbar danach hat sie das Schiff verkauft. An jemanden aus dem Club. Sie besitzt die Heaven's Gate nicht mehr!«
»Das wusste ich gar nicht«, sagte Marc überrascht. Ganz allmählich dämmerte ihm, was Rosanna da sagte und worauf sie hinauswollte.
Er wurde blass. »Du willst doch nicht behaupten …?«
Sie merkte, wie sehr sie ihn überfahren hatte und wie entsetzt er reagierte, und begriff, dass sie ihm eine solche Ungeheuerlichkeit schonender hätte beibringen müssen. Für einen Moment legte sie ihre eiskalten Hände an ihre heißen Wangen, als könne sie damit ihre innere Aufregung kühlen.
»Ich weiß es nicht, Marc. Ich weiß nicht, was geschehen ist, und ich will nicht mit Behauptungen um mich werfen, die andere Menschen in größte Schwierigkeiten bringen können, aber wie ich es auch drehe und wende, ich kann mir das alles nicht als reinen Zufall erklären. Ich könnte mir denken, dass Jacqueline etwas mit Elaines Verschwinden zu tun hat, wobei mir natürlich jede Menge Teile in der Geschichte fehlen und auch Ungereimtheiten zurückbleiben, aber …«
Er unterbrach sie. »Das Motiv, Rosanna. Ich sehe nicht das Motiv. Welchen Grund sollte Jacqueline denn gehabt haben, Elaine verschwinden zu lassen, um es vorsichtig zu umschreiben? Woher hätte sie sie überhaupt kennen sollen?«
Sie blickte an ihm vorbei zum Fenster, wollte ihm nicht in die Augen sehen, während sie ihm gestand, wie tief sie ohne sein Wissen in seinem Leben herumgestochert hatte. »Ich habe sie aufgesucht, Marc. Gestern. Ich war in Binfield Heath, in ihrem Atelier. Ich habe eineinhalb Stunden mit ihr geredet.«
»Das darf doch nicht wahr sein!«
»Doch. Und die ganze Zeit über hatte sie eigentlich nur ein einziges Thema: deine Untreue. Dein Fremdgehen. Die Tatsache, dass du sie – ihrer Ansicht nach – während eurer Ehe praktisch ununterbrochen betrogen hast. Sie ist bis heute davon überzeugt, dass es wirklich so gewesen ist.«
Er stand auf. Sie konnte spüren, wie er sich mühte, seinen aufkeimenden Ärger zu kontrollieren.
»Mein Gott«, murmelte er.
Sie erhob sich ebenfalls. »Das Motiv, Marc, das Motiv könnte darin begründet liegen. In ihrer Eifersucht. Du hast mir erzählt, dass sie krank ist. Dass sie sich Dinge eingebildet hat, die nicht stimmten. Dass ihr deswegen ständig Ärger und Streit hattet. Dass sie mit Gegenständen um sich warf, Sachen zerstörte, wenn sie wieder einmal überzeugt war, du habest eine Affäre. Schließlich ist sie gegangen, aber bist du sicher, dass ihr Wahn deshalb endete? Vielleicht kochten Wut, Verzweiflung und das Gefühl, betrogen und damit zurückgewiesen worden zu sein, noch Monate danach in ihr. Jahre vielleicht.«
»Aber wie …«
»Es läuft auf eine einzige Frage hinaus, Marc. Kann sie euch gesehen haben? Dich und Elaine, an jenem Januarabend, als du sie mit in dein Haus nahmst? Kann sie euch gesehen und die falschen Schlüsse daraus gezogen haben?«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist doch absurd«, erklärte er.
Aber er klang nicht vollkommen überzeugt.
»Deine ganze … Theorie hängt doch davon ab, ob Pamela Luke die Wahrheit sagt, was den Fundort von Elaines Reisepass betrifft«, sagte Marc. »Und obwohl sie uns und der Polizei zunächst eine völlig andere Version angeboten hat, bist du offenbar bereit, ihr nun unbesehen zu glauben. Das halte ich für etwas gewagt.«
Er sprach mit gedämpfter Stimme, obwohl ringsum ein äußerst hoher Lärmpegel herrschte. Sie hatten das Büro verlassen, nachdem Marc plötzlich gesagt hatte, er müsse raus.
»Ich werde verrückt hier drin. Lass uns gehen.«
Sie waren in einem Cafe zwei Straßen weiter gelandet, das sich nun, je weiter der Freitagnachmittag fortschritt, immer mehr füllte. Hausfrauen, Geschäftsleute, Studenten saßen an den kleinen Bistrotischen, tranken Cappuccino oder Milchshakes und erfüllten den Raum mit lautem Gelächter, heftigen Diskussionen und fröhlichem Geplauder. Marc und Rosanna hatten sich einen Tisch in der Ecke ergattert, Mineralwasser und Espresso bestellt und sich dann vorsichtig umgesehen, um herauszufinden, ob ihnen irgendjemand allzu interessiert zuhörte. Ein derart belebter Ort war nicht die ideale Kulisse für das Gespräch, das sie führten, aber Rosanna verstand, dass Marc die Stille seines Büros nicht ausgehalten hatte, und in der Stille seiner Wohnung wäre es nicht besser gewesen. Rosanna stellte jedoch rasch fest, dass sie sich keine Sorgen machen mussten: Niemand achtete auf sie.
»Wenn wir annehmen, dass Pamela diesmal ebenfalls nicht die Wahrheit sagt«, griff sie Marcs Einwand auf, »dann müssen wir davon ausgehen, dass sie zufällig genau den Ort für ihre Geschichte gewählt hat, in dem der Yachtclub, zu dem Jacqueline gehörte, ansässig ist. Denn davon kann sie nichts wissen.«
»Ein solcher Zufall wäre aber möglich. Die Gegend dort ist allseits beliebt für Ausflüge. Sicher war sie wirklich schon einmal an diesem Parkplatz – sie wusste ja auch, dass sich dort diese Altkleidercontainer befinden. Nachdem ihre erste Behauptung, das Papier bei diesem Zuhälter Malikowski gefunden zu haben, offenbar nicht länger zu halten war, hat sie sich etwas anderes überlegt. Dabei fiel ihr Wiltonfield ein – weil sie die Gegend kennt und nicht noch einmal den Fehler begehen wollte, sich durch falsche Beschreibungen der Örtlichkeiten zu verraten.«
»Okay. Lassen wir diesen Zufall noch gelten, aber findest du es nicht seltsam, dass Jacqueline in den frühen Morgenstunden des 11. Januar auf die Themse hinausschippert? An einem nebligen, kalten Wintermorgen? Der Schleusenwärter hat mir bestimmt nichts Falsches erzählt. Kannst du dir dafür eine Erklärung vorstellen?«
Er rührte in seinem Espresso. Seine Stirn war zerfurcht. »Nein«, sagte er nach einer Weile, »auf Anhieb fällt mir dafür keine Erklärung ein. Aber mir erscheint es nicht fair, ihr deswegen Gott-weiß-was zu unterstellen. Vielleicht könnte sie selbst das alles ganz schnell und harmlos aufdecken.«
»Bleibt noch der Umstand, dass sie unmittelbar nach jenem 11. Januar das Schiff verkauft hat. Plötzlich. Nach all den Jahren.«
»Weißt du das sicher? Dass sie das Schiff nach dem 11. Januar verkauft hat? Könnte es auch kurz davor gewesen sein?«
Rosanna wurde unsicher. Die Putzfrau im Club hatte sich in dieser Frage nicht genau festlegen können. Sie war nur sicher gewesen, dass es nach dem Jahreswechsel und noch im Winter, also spätestens im Februar gewesen war.
»Nein«, sagte sie zögernd, »sicher weiß ich das nicht. Aber das ließe sich bestimmt nachprüfen.«
»Wenn Jacqueline die Heaven's Gate vor dem 11. Januar verkauft hat, wäre es ein anderer gewesen, der an jenem Morgen auf dem Fluss herumtuckerte.«
»Was in jedem Fall seltsam erscheint.«
»Stimmt. Aber nichts mit Elaine zu tun haben muss.«
Rosanna ließ die Schultern sinken. Sie war so berauscht gewesen von all ihren Entdeckungen, aber nun schien nichts mehr gesichert. Vielleicht hatte Pamela wirklich erneut gelogen. Vielleicht überinterpretierte sie Geschehnisse, die Zufälle und darüber hinaus völlig harmlos waren.
»Überleg doch mal«, sagte Marc, »wann und wie sollte Jacqueline denn etwas davon mitbekommen haben, dass Elaine bei mir übernachtete? Sie müsste ja direkt vor meiner Haustür herumgelungert haben.«
»Krankhaft eifersüchtige Menschen tun so etwas. Da wäre sie nicht die Erste gewesen.«
»Wir waren damals seit einem Dreivierteljahr getrennt.«
»Sie kann dir trotzdem nachspioniert haben. Es gibt Menschen, die seit ewigen Zeiten geschieden sind und noch immer durchdrehen, wenn sich der Expartner neu orientiert.«
»Gut. Aber dann? Wie stellst du es dir weiter vor? Sie hat im Auto vor meinem Haus gewartet, hat mich und Elaine am nächsten Morgen hinauskommen sehen. Ist uns – notgedrungen zu Fuß – zur U-Bahn gefolgt. Ist sie ebenfalls eingestiegen? Hat sie Elaine angesprochen? Hat sie sie bequatscht, mit ihr zu kommen? Hat sie sich ihr Auto wiedergeholt – das ich in unmittelbarer Nähe meines Hauses im Übrigen die ganze Zeit über nicht bemerkt habe? Ist sie mit ihr nach Wiltonfield gefahren? Wobei sie sich enorm beeilt haben muss, sonst hätte sie nicht schon um acht Uhr die Schleuse passieren können. Hat sie Elaine an jenem Parkplatz umgebracht? Oder erst auf dem Schiff?«
So, wie er das sagte, hörte es sich absurd und völlig unrealistisch an. Rosanna erwiderte nichts.
Wahrscheinlich habe ich mich völlig vergaloppiert, dachte sie unglücklich.
Marc stützte beide Arme auf den Tisch, sah Rosanna eindringlich an. »Rosanna, ich kenne die Schwächen meiner Exfrau wirklich ganz genau, besser als jeder andere wahrscheinlich. Ich habe sie als hysterisch, überdreht, fanatisch, krankhaft eifersüchtig und oft genug als zerstörerisch erlebt – gegen sich und gegen andere. Trotzdem ist das alles natürlich etwas ganz anderes als Mord. Denn das ist es, was du ihr unterstellst: den Mord an Elaine Dawson.«
»Ich unterstelle nichts«, sagte Rosanna. »Ich habe nur ein paar Vorkommnisse aufgezählt, die mir in ihrer Zufälligkeit seltsam vorkommen. Aber sicher lassen diese Vorkommnisse viele Schlüsse zu, nicht nur einen.«
»Stell es dir doch auch bildlich vor. Du hast ja Jacqueline nun kennen gelernt. Sie ist klein und zierlich, alles andere als eine kräftige Person. Elaine war mindestens einen Kopf größer als sie und wog etliche Kilo zuviel. Letzten Endes willst du doch darauf hinaus, dass Jacqueline Elaine im Wasser versenkt hat. Wie soll sie das gemacht haben? Rein kräftemäßig – und überhaupt? Ich meine, man braucht eine Menge krimineller Energie für ein Tötungsdelikt. Ich habe dafür nie ein Anzeichen bei Jacqueline entdeckt.«
»Aber es hat Ausbrüche von Gewalt gegeben, wenn sie sich wieder einmal in ihre Eifersucht hineinsteigerte. So etwas kann unter Umständen ganz schlimm ausgehen. Obwohl es dann nur im Affekt passiert ist und es nicht die geringste Tötungsabsicht gab.«
»Bei der Geschichte, die du konstruierst, ist aber eine Menge Planung auf Jacquelines Seite nötig.«
»Vielleicht wollte sie nur mit ihr reden. Und dann ist die Situation eskaliert.« Rosanna fand selbst, dass ihre Argumentation dünn klang. Sie war so sicher gewesen. Und nun war alles innerhalb kurzer Zeit zerbröckelt. Sie stützte den Kopf in die Hände. Vielleicht war sie einfach zu krank, um irgendwelcher intelligenter Gedanken fähig zu sein.
Sie spürte, dass Marc sie ansah, und hob den Blick. Er wirkte sehr ernst.
»Rosanna«, sagte er, »warum willst du es unbedingt wissen? Nach all den Jahren – warum willst du unbedingt wissen, was mit Elaine damals geschehen ist? Warum kannst du nicht loslassen? Warum gehst du immer neuen Spuren nach, stürzt dich in immer waghalsigere Vermutungen? Warum?«
Sie zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht, es ist …«
»Warum bist du zu Jacqueline gefahren? Ich meine, ich verstehe das nicht! Weshalb musstest du meine Exfrau aufsuchen?«
Warum? Das hatte sie sich selber immer wieder gefragt. Vordergründig war da der Gedanke gewesen, über Jacqueline eine Versöhnung zwischen Marc und Josh herbeizuführen. Unbewusst mochte mehr dahintergesteckt haben. Marc näherzukommen, Dinge aus seiner Vergangenheit herauszufinden. Gab es noch eine Seite in ihr, die ihm misstraute? Sie hatte keine Antwort auf diese Frage.
»Es ist wegen mir«, unterbrach er, »stimmt's? Vielleicht ist es dir nicht einmal bewusst, aber dieser letzte Schatten eines Verdachts, der auf mir liegt, macht dir zu schaffen. Letztlich hast auch du nur mein Wort, dass ich Elaine nichts angetan habe und über ihren Verbleib so wenig Bescheid weiß wie alle anderen auch. Das kann stimmen oder auch nicht. Ich kann es nicht beweisen. Du erhofftest dir von Jacqueline Aufschlüsse über meinen Charakter. Aber davon abgesehen möchtest du endlich einen Tathergang haben und einen überführten Täter. Dann könntest du diesen Punkt abhaken. Diesen winzigen, nagenden Zweifel für immer ausschalten. Kann es sein, dass es das ist? Dass dich das treibt?«
Sie hätte seinen Verdacht am liebsten entrüstet von sich gewiesen, aber konnte sie das? Lag nicht ein kleines Stück Wahrheit in dem, was er sagte? Gab es einen Zweifel in ihr, oder gab es zumindest die Zweifel der Umwelt, die sie störten, die sie gern entkräftet und für immer zum Verschwinden gebracht hätte?
Es mochte so sein, aber es war zugleich mehr als das. Das Problem um Elaine war kompliziert und vielschichtig.
Müde rieb sie sich ihre brennenden Augen.
»Ich kann nur wiederholen, ich weiß es nicht«, sagte sie. »Bewusst hege ich keine Zweifel an dir, aber ich kann selbst nicht mehr auseinanderhalten, was alles in diese Geschichte hineinspielt. Was ich deutlich spüre, seitdem ich in England bin und Nicks Auftrag angenommen habe, ist, dass ich Schuldgefühle gegenüber Elaine habe. Ich glaube, ich hatte sie all die Jahre, aber ich habe sie ziemlich erfolgreich verdrängt. Jetzt sind sie präsent, und manchmal empfinde ich sie wie schwere Steine, die auf meiner Brust liegen.«
Er schien ein wenig erstaunt. »Schuldgefühle? Weil du …«
»Weil ich sie eingeladen habe damals. Wegen mir hat sie ihre kleine behütete Welt in Kingston St. Mary verlassen und sich in das Abenteuer einer Reise ins Ausland gestürzt. Es ging nur um mich und meine Hochzeit. Und dauernd bedrängt mich jetzt der Gedanke, dass ich es ihr schuldig bin, ihr Schicksal aufzuklären. Nicht, weil das ihr oder irgendjemandem sonst noch etwas nützen würde, aber weil … sie nicht so sang- und klanglos vergessen werden soll. Sonst ist es mit ihrem Verschwinden, mit ihrem Tod vielleicht, genauso wie mit ihrem Leben: Es schert sich niemand darum. Es schaut niemand hin. Sie bleibt dann für immer jemand, der übersehen wird.«
Er nickte, sie konnte sehen, dass er sie verstand. »Aber«, sagte er vorsichtig, »sie zu einer Hochzeit eingeladen zu haben, war nichts Böses. Es war etwas Schönes. Freundschaftliches. Es war der Versuch, sie genau aus dieser Eintönigkeit und Einsamkeit herauszuholen, in der sie offenbar verwurzelt war und aus eigener Kraft nicht herausfand.«
Sie lächelte traurig. Wie schön das klang! Wäre es nur so gewesen!
»Ich wünschte, du hättest recht. Ich wünschte, ich könnte es vor mir selbst so darstellen. Dass ich eine gutherzige und wohlmeinende Freundin war, die Elaine helfen wollte. Aber das war ich nicht. Meine Motive waren nicht so edel.«
Er griff über den Tisch, nahm ihre Hand in seine. Er betrachtete sie sehr ernst, sie konnte sein Bemühen, sie wirklich zu verstehen, erkennen. »Wie waren deine Motive denn?«
Sie merkte, dass ihre fiebrigen Wangen noch stärker zu glühen begannen.
»Meine Motive«, sagte sie unglücklich, »meine Motive waren, glaube ich, die gleichen, die die meisten Menschen aus Kingston St. Mary bewegten, wenn es um Elaine ging. Verstehst du – sie war einfach der geborene Verlierer. Ein Mensch, der durchs Leben ging und nicht beachtet wurde, und wenn sie überhaupt gelegentlich auffiel, dann durch ihre absolute Unscheinbarkeit und Schüchternheit. Sie war der Typ, der nie zum Tanzen aufgefordert wird und bei dem sich im Laden die Leute in der Schlange vordrängeln, weil er zu ängstlich ist, um zu protestieren. Es gab immer wieder Situationen, in denen Menschen sagten: Wir müssen etwas für die arme Elaine tun! Und dann wurde sie zu irgendetwas eingeladen, zu einem Geburtstag oder einer Feier in der Gemeinde, aber dabei war immer spürbar, dass es nicht um sie ging, sondern nur darum, dass sich jemand als barmherziger Samariter aufspielen konnte, oder, noch schlimmer, darum, jemanden dabeizuhaben, gegen den alle anderen so vorteilhaft abstachen. Neben Elaine fühlte man sich erfolgreich und attraktiv und vom Leben bevorzugt, ganz gleich, in welchen Problemen man gerade steckte. So arm dran wie sie war man jedenfalls nie – und wenn das nur deshalb war, weil man immer Hoffnung auf Veränderung und Verbesserung in sich tragen konnte. Bei ihr schien es diese Hoffnung nicht zu geben. Weder hegte sie sie, noch jemand anderes tat es für sie. Nach dem Unglück mit ihrem Bruder schon gar nicht. Sie schien dazu verurteilt, als alte Jungfer durchs Leben zu gehen und die Haushälterin für einen Rollstuhlfahrer zu spielen. Wir anderen konnten Prüfungen versieben, unsere Beziehungen konnten scheitern, wir konnten pleite sein oder von unserem Chef gefeuert werden, aber wir lebten doch zumindest. Und man konnte sich dann immer sagen: Schöner Mist, in den ich mich gerade hineingeritten habe, aber wenigstens bin ich nicht ein so armer Teufel wie Elaine. Und schon fühlte man sich besser.«
»Ich verstehe«, sagte Marc.
Sie sah ihn an. »Findest du nicht, dass das eine Form von Missbrauch ist? Einem anderen Menschen gegenüber?«
Er überlegte. »Das würde ich so nicht sagen. Es ist, glaube ich, einfach … ein sehr menschliches Verhalten. Darüber hinaus lässt es dem anderen jede Möglichkeit, sich aus seiner Rolle hinauszukatapultieren. Elaine musste nicht in ihrer Situation verharren.«
»Aber …«
»Das sagt sich leicht, ich weiß. Trotzdem ist es so. Sie musste nicht so unscheinbar herumlaufen. Sie musste sich nicht von jedem die Butter vom Brot nehmen lassen. Sie musste sich nicht derart von ihrem Bruder ausbeuten lassen. Dafür, dass sie es getan hat, konnte niemand etwas. Niemand war dafür verantwortlich. Auch du nicht.«
»Als ich die Einladung an sie abschickte, kam ich mir sehr großherzig vor. Die arme Elaine! Sie war absolut keine Bereicherung für eine Festlichkeit, aber in meiner Gutmütigkeit würde ich sie trotzdem dazubitten. Die Wahrheit war: Ich würde ihr vorführen, wie weit ich es gebracht hatte – ein attraktiver, erfolgreicher Mann, ein entzückender Stiefsohn, ein wunderschönes Haus in der Wärme und Sonne Gibraltars. Ein rauschendes Hochzeitsfest. Ich wusste genau, dass es sie quälen würde, dies mitzuerleben, und dass sie wieder völlig am Rand stehen würde, aber irgendwie machte ihre Armseligkeit mich noch glanzvoller, und das wollte ich mir nicht entgehen lassen.«
Er drückte ihre Hand. »Nicht schön, stimmt. Aber viele würden so empfinden. Wir sind nun mal alle keine Heiligen.«
»Kurz vor der Hochzeit telefonierte ich mit Cedric und erzählte ihm, dass Elaine zugesagt hatte. Wir machten Witze über sie – dass sie es nie schaffen würde, sich von Geoffrey loszueisen, und dass sie ihr Kleid bestimmt wieder im spießigsten Textilgeschäft von Taunton kaufen würde. Schließlich schlossen wir eine Wette ab: Cedric meinte, sie kommt nicht, weil sie es gleich gar nicht schafft, am richtigen Tag zur richtigen Zeit in das richtige Flugzeug zu steigen. Ich sagte, sie kommt, aber sie wird zunächst in der falschen Kirche landen und schweißüberströmt sein, bis sie endlich die richtige Hochzeitsgesellschaft gefunden hat. Wir fanden das echt komisch. Aber dann … kam sie wirklich nicht, und am Ende … war nichts daran mehr komisch.«
Marc nickte. »Ich verstehe, was dich dabei bewegt. Aber du weißt auch, dass nichts von all dem etwas damit zu tun hat, was geschehen ist – was immer es war. Irgendjemand ist schuldig an Elaines Verschwinden, aber nicht du. Und wenn deine Beweggründe, sie einzuladen, lauterster und reinster Natur gewesen wären, es hätte nichts geändert.«
»Es hätte etwas geändert, wenn ich sie gar nicht eingeladen hätte. Ich wusste, dass diese Reise sie total überfordert. «
»Aber das würde bedeuten, jemanden wirklich für immer in seiner Isolation sitzen zu lassen. Sieh es doch einmal so: Die Reise hätte auch eine echte Chance sein können. Wäre alles gutgegangen, so hätte es bestimmt einen Auftrieb für ihr Selbstbewusstsein bedeutet. Vielleicht hätte sie sich ein anderes Mal wiederum eine Reise zugetraut. Sie hatte nun auch die Möglichkeit, sich ein wenig von Geoffrey abzugrenzen, einen ersten Schritt in Richtung Emanzipation zu wagen. Das war wichtig für sie. Und in diesem Punkt übrigens war sie auch erfolgreich. Sie hatte ihm gegenüber die Reise durchgesetzt. Wie sie mir erzählte, hat er ein ziemliches Theater deswegen veranstaltet, aber sie ist trotzdem losgefahren. Für sie ein gewaltiger Schritt. Es hätte der Beginn einer ganz neuen Entwicklung sein können. Dass es dann anders kam – das konnte niemand voraussehen.«
Seine Worte taten ihr gut, aber innerlich vermochte sie noch nicht zur Ruhe zu kommen.
»Trotzdem, ich wüsste einfach gern, was geschehen ist. Ich meine immer, ich bin ihr das schuldig.«
»Und wenn es doch so ist, wie wir auch schon einmal vermuteten: dass sie sich aus freien Stücken, von allein abgesetzt hat? Dass sie einfach ausgebrochen ist und nur hofft, dass ihr nie jemand auf die Schliche kommt?«
»Warum hätte sie dann ihren Pass neben einen Altkleidercontainer in Wiltonfield legen sollen?«
Marc zuckte die Schultern. »Das weiß ich auch nicht.«
»Ich möchte morgen noch einmal dorthinfahren«, sagte Rosanna, »nach Wiltonfield. Ich möchte herausfinden, wann genau Jacqueline das Schiff verkauft hat. Und an wen.«
Marc sah sie mit einer Mischung aus Belustigung und Resignation an. »Du hast dich wirklich verbissen.«
»Kommst du mit?«
Er zog sein Portemonnaie hervor, legte zwei Geldscheine auf den Tisch und erhob sich. »Ich komme mit, ja«, sagte er ergeben. »Aber jetzt bringe ich dich erst mal ins Bett. Du siehst wirklich krank aus, und ich glaube, dein Fieber ist wieder gestiegen. Und eines versichere ich dir: Wenn es dir morgen nicht besser geht, binde ich dich eher in der Wohnung fest, als dass ich dich in Wiltonfield herumstapfen lasse!«
Sie nickte. Sie ahnte, dass er sie nicht würde festbinden müssen, wenn es ihr morgen nicht besser ginge.
Sie würde dann sowieso keinen Schritt allein tun können.