Dienstag, 12. Februar
1
Sie verließ ihre Wohnung um halb elf, um hinüber zum Elephant zu gehen. Der gestrige Ruhetag hatte ihr geholfen, ihre Nerven zu beruhigen und sich von einem zitternden Wrack wieder in ein einigermaßen normales menschliches Wesen zurückzuverwandeln. Am Abend war es ihr sogar gelungen, zu einem kurzen Spaziergang durch das Dorf aufzubrechen. Sosehr sie die Gefahr, die draußen auf sie lauern mochte, fürchtete, so tief deprimierte sie nach drei Tagen auch die Enge und Hässlichkeit der Räume, in denen sie lebte. Man konnte nicht rund um die Uhr lesen oder fernsehen, nicht, wenn man eigentlich jung war, beweglich und erlebnishungrig. Manchmal fragte sie sich, wie lange sie dieses Leben, das eigentlich keines war, noch aushalten konnte. Oft kam ihr dann auch der Gedanke, dass sie das ganze Versteckspiel ohnehin umsonst betrieb, dass kein Mensch mehr auf der Suche nach ihr war. Die Vorstellung war verlockend, zugleich verstärkte sie ihre Depressionen, weil sie die Phobie, die ihr Handeln und Leiden bestimmte, auch noch unter das Vorzeichen völliger Sinnlosigkeit stellte. Und ihr klar machte, dass sie, ganz gleich, welche Entscheidung sie traf – weitermachen oder aus dem Untergrund auftauchen –, nicht wissen konnte, ob sie einen fatalen Fehler beging. Dass sie deshalb weder der Depressionen noch der Ängste jemals würde Herr werden können. Als sie am Vorabend durch das Dorf gegangen war und die Luft geatmet hatte, die zum ersten Mal so etwas wie eine Ahnung von Frühling in sich trug, hatte sie plötzlich mit den Tränen kämpfen müssen. Ihre Sehnsüchte, die sie zumeist recht gut kontrollierte, brachen sich Bahn und überschwemmten sie förmlich mit Traurigkeit und Verzweiflung. Liebe, Wärme, Leben. Ein Mann, Kinder, Freunde. Frieden und Sicherheit. Sie fragte sich, wie es sich anfühlen musste, dem Frühling mit Freude und Erwartung entgegenzublicken, anstatt ihn zu fürchten, weil seine Buntheit und Fröhlichkeit die Dunkelheit des eigenen Daseins noch schärfer betonte.
Sie war nach Hause geflüchtet, ehe sie noch jemandem begegnete, der sich über die weinende Frau wundern konnte. Der Grundsatz, um keinen Preis jemals aufzufallen, war ihr so tief in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie ihn automatisch selbst dann befolgte, wenn ihre eigentlichen Gedanken in völlig andere Richtungen gingen.
Heute wenigstens konnte sie sich wieder ein wenig am Alltag festhalten. The Elephant öffnete bereits mittags, sie musste rechtzeitig da sein, und wenn sie sich auch und gerade dort ihrer Nervosität besonders heftig ausgesetzt sah, erschien der Pub ihr im Moment als rettender Hafen im Meer ihres Schmerzes.
Als sie die Wohnungstür öffnete, prallte sie fast gegen Mr. Cadwick, der lautlos davorgestanden und offensichtlich nach drinnen gelauscht hatte.
Sie stieß einen leisen Schreckenslaut aus, aber auch Mr. Cadwick machte einen erschrockenen Schritt zurück.
»Oh!«, sagte er.
Wahrscheinlich, dachte sie, steht er wirklich öfter davor, als ich denke.
Für gewöhnlich warnte ihn das Wegschieben der Kommode, aber heute hatte sie sich in aller Frühe etwas Brot und Butter kaufen müssen, da sie absolut nichts Essbares mehr im Haus hatte, und sie hatte sich nach ihrer Rückkehr nicht erneut verbarrikadiert. Ein winzig kleiner Übungsschritt in Richtung Normalität.
»Mr. Cadwick«, sagte sie und registrierte, dass ihr Herz bereits wieder raste, »was tun Sie denn hier?«
»Ich stehe hier«, sagte er, »es ist mein Haus, und deshalb stehe ich hier!«
Die Tatsache, dass er ertappt worden war, schien ihn aggressiv zu machen. Er wusste, dass er lächerlich wirkte, wie er sich da in der Dunkelheit des alten Treppenhauses herumtrieb. Sie starrte auf seine Füße. Er war in Strümpfen, in grauen, ziemlich dreckigen Wollsocken. Genau wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Er zog seine Schuhe aus und schlich im Haus herum.
Sie erwiderte nichts. Ekelhafter Typ, dachte sie.
»Heute Nacht«, sagte er, »konnte ich nicht schlafen. Und da habe ich ziemlich viel nachgedacht. Über Sie.«
Sie erwiderte noch immer nichts.
Komm, du Wichser, dachte sie, sprich dich aus.
»Eigentlich kommen Sie mir ganz schön komisch vor«, fuhr Mr. Cadwick fort. Er wurde langsam selbstsicherer, nachdem er nun ganz zum Gegenangriff übergegangen war. »Von Anfang an war das so! Wie Sie leben, wie Sie sich benehmen … Ich meine, Sie sind doch eine hübsche, noch ziemlich junge Frau! Wieso leben Sie so komisch?«
Am liebsten hätte sie ihn einfach zur Seite geschoben und wortlos das Haus verlassen, aber sie wusste, dass das Thema damit nicht ausgestanden wäre. Irgendetwas wollte er loswerden. Er würde bei ihrer Rückkehr hier stehen und am nächsten Morgen wieder.
»Was meinen Sie denn mit komisch?«, fragte sie zurück.
»Na ja … Sie kommen mir vor wie so ein Maulwurf. Immer im Dunkeln. Immer in der Wohnung. Keine Freunde. Kein … Mann. Gibt's denn gar keinen Mann in Ihrem Leben? Das ist doch nicht gesund!«
»Geht Sie das irgendetwas an?«
»Sie leben in meinem Haus!«
»Ich zahle Ihnen regelmäßig die Miete, ich mache nichts kaputt, belästige Sie nicht und halte mich an die Hausordnung. Darüber hinaus hat Sie nichts an mir zu interessieren!«
Er schlug einen anderen Ton an. »Nicht gleich so patzig! Nur weil ich's gut mit Ihnen meine? Ich mache mir Sorgen um Sie. Sie sehen gar nicht glücklich aus!«
Sie trat ganz aus ihrer Wohnung und zog die Tür hinter sich zu, schloss sie sehr nachdrücklich zweimal ab – obwohl das, wie sie wusste, sinnlos war, falls Mr. Cadwick in ihrer Abwesenheit hineinwollte.
»Im Gegensatz zu Ihrer Meinung, dass ich mich ausschließlich im Haus vergrabe, habe ich einen Job«, sagte sie, »und dorthin möchte ich nicht zu spät kommen. Sie müssen sich Ihre Gedanken um mich leider allein weitermachen.«
»Sie sind sehr unfreundlich«, stellte er betrübt fest und stierte sie sehnsüchtig an, trat aber zur Seite und ließ sie vorbei. Als sie schon fast unten war, lehnte er sich über die Brüstung.
»Wissen Sie, was ich glaube?«, rief er.
Gegen ihren Willen blieb sie stehen.
Er kann nichts wissen, dachte sie, er kann keine Ahnung haben.
»Sie verstecken sich vor irgendjemandem! Ja, genauso kommen Sie mir vor. Vor irgendetwas oder irgendjemand haben Sie schreckliche Angst! Sie sind auf der Flucht, und ausgerechnet mein Haus haben Sie sich als Versteck ausgesucht! Und das soll mich nichts angehen?«
Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Mit schnellen Schritten ging sie zur Haustür.
»Aber ich will Ihnen doch nur helfen!«, rief er.
Sie trat auf die Gasse, schlug die Tür hinter sich zu, lehnte sich aufatmend dagegen. Sie wusste, dass sie hektische rote Flecken im Gesicht hatte und dass ihre Stirn von Schweiß glänzte.
Ich darf nicht in Panik geraten, dachte sie, ich muss gut überlegen.
Sie glaubte tatsächlich nicht, dass Cadwick irgendetwas wusste. Er hatte lediglich einen Verdacht geäußert und war zufällig in die richtige Richtung geraten. Wozu allerdings nicht viel Scharfsinn gehörte. Sie verhielt sich ängstlich, neurotisch, kapselte sich von ihrer Umwelt ab, hatte keinerlei Privatleben. Keine Freunde, keine Familie. Einem Mann wie Mr. Cadwick musste sie vorkommen wie eine Frau, die aus dem Nichts gekommen war, im Nichts lebte und ins Nichts gehen würde. Und dazwischen offenbar von Panikattacken heimgesucht wurde. Kein Wunder, dass ihm dies seltsam vorkam und seine Fantasie beschäftigte.
Die Frage war: Konnte er ihr gefährlich werden?
Sie lief die Gasse entlang, wie immer mit gesenktem Kopf, den Schal hochgezogen, so dass er halb ihr Gesicht verdeckte. Das Wetter war nicht mehr so kalt wie während der letzten Wochen, aber noch immer wehte ein recht frischer Wind, so dass ihre Vermummung nicht merkwürdig wirkte. Noch nicht. Mit dem fortschreitenden Frühling würde sie mehr und mehr von der Tarnung, die ihr die Kleidung bot, ablegen müssen. In jedem Jahr empfand sie den Frühling deshalb als problematisch. Wenn es dann Sommer geworden war, hatte sie sich an den Zustand verstärkter Schutzlosigkeit einigermaßen gewöhnt, aber der Weg dorthin war hart.
Eigentlich konnte er nicht gefährlich werden. Es war nahezu ausgeschlossen, dass er etwas von ihrer Vorgeschichte wusste oder gar dass er jemanden kannte, der ein Teil davon gewesen war. Ansonsten hätte er das mit Sicherheit angedeutet. Blieb nur, dass er zur Polizei ging. Aber womit? Wollte er den Beamten erzählen, dass seine Mieterin seltsam war, keine Männerbekanntschaften pflegte und ihm als äußerst schreckhaft auffiel? Mehr konnte er schließlich nicht gegen sie vorbringen. Deswegen rückte die Polizei nicht aus.
Sie hielt den Kopf nun höher, merkte, wie etwas von dem Gewicht, das Mr. Cadwick ihr aufgeladen hatte, von ihren Schultern fiel.
Dennoch beschlich sie das Gefühl, dass sich ihre Zeit in Langbury dem Ende zuneigte. Mr. Cadwick war ihr von Anfang an zutiefst unangenehm gewesen, aber er hatte sie wenigstens in Ruhe gelassen. Damit konnte sie von nun an nicht mehr rechnen. Der Mann war nicht dumm. Er hatte sicherlich gespürt, wie sehr er sie am Morgen in die Enge hatte treiben können, und er würde es wieder versuchen. Vielleicht sollte sie sich eine andere Unterkunft suchen. Aber Langbury war klein. Am Ende würde auch ein Umzug Mr. Cadwick nicht daran hindern, sie weiterhin zu verfolgen. Außerdem hatte sie es sich von Anfang an zum Prinzip gemacht, nicht zu lange an einem Ort zu bleiben. Es war besser, das Weite gesucht zu haben, ehe nach und nach alle damit anfingen, dumme Fragen zu stellen und sich über das eigenartige Verhalten der Fremden zu wundern.
Die Vorstellung, nicht mehr allzu lange in dem dunklen Loch über Mr. Cadwick wohnen zu müssen, belebte sie ein wenig; sie ging schnellen Schrittes die Straße entlang und hielt den Kopf höher als sonst.
2
Marc Reeves Weigerung, mit ihr zu kooperieren, hatte Rosanna aus dem Konzept gebracht, aber sie versuchte, vernünftig zu sein und sich zu sagen, dass dies ihre Arbeit nicht behindern musste. Nick hatte ihr genügend Material aus dem Archiv mitgebracht, dass sie die Geschehnisse von damals rekonstruieren konnte. Was Reeves heutiges Leben anging, blieb sie allerdings auf Vermutungen angewiesen. Immerhin wusste sie, dass sein Einstieg in die große Kanzlei nicht geklappt und er sich stattdessen selbstständig gemacht hatte. Das mochte nicht ganz leicht gewesen sein. Wo stand er heute? Hatte er sowohl sein berufliches wie sein privates Leben wieder geordnet, die Scharten ausgewetzt, die ihm damals zugefügt worden waren? Aber wenn alles gut lief, wäre er dann so bitter? Er hatte erschöpft und frustriert geklungen, als sie auf das Thema Elaine zu sprechen gekommen war.
Hatte er noch immer mit Auswirkungen zu kämpfen?
Vorsicht mit Spekulationen, ermahnte sie sich, bleib bei den Fakten!
Sie hatte an diesem Morgen im Hotel auch das Material zu den anderen Fällen gesichtet, über die sie schreiben sollte. Ein alter Mann, der acht Jahre zuvor aus einem Heim davongelaufen war und von dem man nie wieder etwas gehört, dessen Leiche man jedoch auch nicht gefunden hatte. Ein junger Mann, der sich abends von seiner Familie verabschiedet hatte, um sich noch rasch irgendwo ein paar Flaschen Bier zu kaufen, und der seitdem ebenfalls als vermisst galt. Ein junges Mädchen, das sich mit seinem Freund an einer Bushaltestelle hatte treffen wollen. Sie war von daheim weggegangen, an der Haltestelle jedoch nie angekommen. Der Weg dorthin hatte nur ein paar Meter betragen, der Freund, der bereits länger gewartet hatte, hätte sie von der Haustür auf sich zukommen sehen müssen. Und zwei weitere Fälle. Sechs Stück insgesamt.
Sie hatte viel zu tun. Eine Menge Menschen zu kontaktieren, zu treffen, ihre Aussagen zu notieren. Und schließlich noch die Serie zu schreiben. Sie hatte nicht die Zeit, sich zu sehr in Elaines Geschichte zu verbeißen und sich von Reeves Absage tagelang blockieren zu lassen. Nick hatte sie gewarnt, dem Fall Elaine auf Grund ihrer persönlichen Betroffenheit zu viel Gewicht zu geben.
Es klopfte an der Tür, und Cedric kam herein. Frisch geduscht, in seiner üblichen Lederjacke und den abgetragenen Jeans.
»Morgen«, sagte er.
Sie musste lachen. »Es ist elf Uhr. Bist du eben erst aufgestanden?«
Er gähnte. »Ja. Und du? Arbeitest du schon?«
»Ich bin die ganzen Fälle durchgegangen. Ziemlich viel Arbeit, das alles.«
»Ein Grund mehr, Reeve Reeve sein zu lassen und einfach anzufangen«, meinte Cedric. Am Vorabend im Restaurant hatte sie ihm deprimiert von ihrem Telefonat mit dem Anwalt erzählt, und Cedric hatte gesagt, sie solle sich dadurch nicht behindern lassen. Sie hatte versucht, ihm zu erklären, was in ihr vorging: dass sie über Reeve Elaine näherkommen wollte, nicht für die Serie, sondern für sich selbst.
»Ich kann nicht direkt sagen, dass ich ein Schuldgefühl wegen all dem habe«, hatte sie gesagt, »aber es ist nicht abzustreiten, dass es meine Hochzeit war, zu der sie wollte. Wegen meiner Einladung hat sie Kingston St. Mary verlassen und ist nach London gereist. Für die Elaine, die wir kannten, war das ein ungeheures Unternehmen. Sie kommt bis Heathrow, und dann verschwindet sie.«
»Nicht deine Schuld.«
»Nein. Aber trotzdem war ich die Ursache. Ich bin irgendwie … ein Teil der Geschichte. Ohne mich – ohne meine Hochzeit – wäre vielleicht alles ganz anders gekommen.«
»Aber«, hatte Cedric entgegnet, »darüber darfst du dich jetzt nicht aufreiben. Das bringt niemandem etwas. Wir sind alle immer Teil von irgendwelchen Geschichten und dennoch nicht jedes Mal für deren Verlauf verantwortlich. Du hast geheiratet, und es war eine nette Geste von dir, die gute, alte Elaine einzuladen. Irgendetwas ist schiefgelaufen, aber du kannst noch nicht einmal mit Sicherheit sagen, dass es etwas mit der Reise zu tun hatte. Vielleicht hat Elaine deine Hochzeit als Gelegenheit benutzt. Um mit einem verheirateten Liebhaber durchzubrennen, zum Beispiel. Was sie eine Woche später von Kingston St. Mary aus auch getan hätte!«
»Also, Cedric, wirklich! Elaine und ein verheirateter Liebhaber! Elaine und überhaupt ein Liebhaber ist schon schwer vorstellbar!« Sie hatten beide gelacht, aber es war kein fröhliches, entspanntes Lachen gewesen. Dafür lag zu viel grausames Schicksal über der Familie Dawson, mehr, wie Rosanna manchmal gedacht hatte, als eine einzige Familie verdiente. Zwei Geschwister, der Bruder querschnittsgelähmt, die Schwester spurlos verschwunden. Beide Eltern schon lange tot, was den jungen Mann zu einem Leben im Schwerbehindertenheim verurteilte.
»Es ist schon seltsam«, meinte Rosanna nun, »dass ich all die Jahre kaum über Elaine und ihr Schicksal nachgedacht habe, und nun auf einmal fällt es mir so schwer, souverän damit umzugehen. Ich bin viel zu beteiligt, Cedric. Aber deswegen alles absagen …«
»Dann glaubt Dennis noch, er habe gewonnen«, sagte Cedric. »Apropos: Hat sich dein Gatte heute schon gemeldet?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Und ich mich auch nicht. Er hat mir gestern mit den Worten, es sei alles gesagt, das Gespräch abgeschnitten und einfach aufgelegt. Ich finde, es ist an ihm, wieder anzurufen.«
»Wenn du diese Einstellung durchhältst, bin ich stolz auf dich«, sagte Cedric etwas skeptisch. Er sah auf seine Uhr.
»Ich muss los. Ich fahre nach Cambridge und treffe eine Kommilitonin von früher. Kann ich das Auto haben?«
Sie hatten sich von Kingston St. Mary nach London gemeinsam einen Leihwagen genommen. Rosanna nickte. »Ich brauche ihn nicht. Cedric …« Sie zögerte.
»Ja ?«
»Ach nichts.« Es war nicht der Moment, ihm einen Vortrag darüber zu halten, dass er seine Zeit vergammelte. Dass er schon wieder in den Tag hineinlebte, anstatt etwas anzustreben, das ihn voranbrachte.
Sie hatte keine Lust, mit ihm zu streiten.
»Es ist wirklich nichts«, wiederholte sie.
Er wirkte erleichtert. Vermutlich ahnte er, welche Gedanken ihr im Kopf herumgegangen waren.
»Ich muss los«, sagte er, »leb wohl! Bis heute Abend!« Er öffnete die Tür, blieb aber dann stehen. »Ich hatte da noch einen Gedanken«, sagte er, »weil doch Reeve nicht mit dir sprechen will. Du erwähntest gestern Abend einen Nachbarn, der ihn und Elaine gesehen und Reeve daraufhin bei der Polizei gemeldet hatte. Vielleicht gibt's den noch. Du könntest versuchen, mit ihm zu reden. Es ist nicht das Gleiche, aber er hat Elaine noch einmal gesehen. Und er könnte ein bisschen erzählen, was Reeve für ein Typ ist.«
Sie sah ihren Bruder an. »Manchmal bist du einfach genial, Cedric!«
Er grinste. »Mir liegt an deinem Seelenheil. Mach's gut!« Er verschwand.
Sie griff sofort nach dem Ordner Dawson.
Wo konnte sie Angaben zu dem Mann finden, der Reeve damals der Polizei gemeldet hatte?
Zwei Stunden später saß sie Marc Reeves einstigem Nachbarn gegenüber und konnte es kaum fassen, so viel Glück gehabt zu haben: den Mann zu finden und ihn auch noch daheim anzutreffen. Und Zeit nahm er sich auch für sie. Wobei das kein Wunder war: Sie hatte ihn während der ersten beiden Minuten schon als einen Schwätzer und Wichtigtuer erkannt. Die Sache mit Reeve und Elaine damals und seine eigene Rolle in der Presse waren vermutlich das Highlight in seinem Leben gewesen. Wahrscheinlich konnte er es seinerseits kaum fassen, dass er sich nach all den Jahren noch einmal äußern durfte.
Es war nicht allzu schwer gewesen, ihn ausfindig zu machen. In einer der Zeitungen aus dem Jahr 2003 hatte Rosanna einen Hinweis auf Reeves damalige Adresse gefunden: Belgravia, natürlich. Die Straße wurde nicht genannt, es hieß aber, es handele sich um eine »kleine Nebenstraße der King's Road, sehr nahe dem Sloane Square gelegen«. Das schränkte den Radius bereits erheblich ein. Eine andere Zeitung hatte ein Foto des Hauses abgedruckt. Es war Teil einer Kette von fünf Reihenhäusern, alte Klinkersteinbauten mit schönen Erkern und giebelverzierten Dächern. Gepflegte, winzige Vorgärten, Kopfsteinpflaster auf der schmalen Straße davor. Ein paar Bäume, deren kahle Zweige an dem Tag, an dem das Bild entstanden war, von dickem Schnee bedeckt waren. Überhaupt sah die Gegend wie ein weißes Zuckerbäckermärchen aus. Ruhig. Gediegen. Sehr teuer.
Der Nachbar war nirgendwo mit vollem Namen genannt, er geisterte lediglich als Richard H. (45) durch die Presse. Sollte er noch unter seiner einstigen Adresse leben, würde sie ihn finden.
Er hieß Richard Hall, war inzwischen fünfzig Jahre alt und lebte in dem Haus rechts von Reeves einstigem Domizil. Er hatte eine Frau und zwei Kinder und arbeitete im Büro einer Finanzagentur. Zum Mittagessen kam er stets nach Hause, daher konnte Rosanna mitten am Tag mit ihm sprechen. Sie bot ihm natürlich an, zu einem anderen Zeitpunkt wiederzukommen, um ihn nicht während der Mahlzeit zu stören, aber unter der Aussicht, die ganze Geschichte noch einmal erzählen zu dürfen und erneut in der Zeitung zu landen, vergaß Hall seinen Hunger und wies seine Frau, eine unscheinbare Blondine mit schüchternen Augen, an, das Essen wieder abzutragen.
»Du wärmst es mir dann heute Abend auf«, sagte er, und Mrs. Hall machte sich ohne irgendeinen Kommentar daran, den sorgfältig gedeckten Tisch im Esszimmer wieder abzudecken.
Da sie zudem den Kamin im Esszimmer bereits entfacht hatte, schlug Hall vor, das Gespräch dort zu führen, rückte zwei Stühle dicht ans Feuer und setzte sich seinem Gast gegenüber. Rosanna musterte ihn unauffällig, aber gründlich. Er war groß, hatte keine schlechte Figur und trug einen gut geschnittenen Anzug, aber sein Aussehen litt unter seinem vollkommen runden, farblosen Gesicht, in dem die Augen sehr klein waren und zu eng beieinander standen. Er wirkte wie ein unattraktiver Mann, der sich bemühte, das Beste aus seinem Typ zu machen, dabei jedoch nicht wirklich einen Erfolg zu erzielen vermochte. Rosanna meinte zu spüren, dass er unter Minderwertigkeitsgefühlen litt, aber sie versuchte, nicht zu viel in ihn hineinzuinterpretieren. Sein Wesen war für sie ohnehin nur insoweit interessant, als es ihr eine bessere Einschätzung, was den Wahrheitsgehalt seiner Angaben betraf, erlaubte. Sie ahnte, dass er zu Ausschmückungen neigte und dazu, Dinge, die er lediglich vermutete, als Tatsachen hinzustellen, aber wahrscheinlich war er kein Lügner.
»Ja«, sagte er, »ich habe die beiden an jenem Abend gesehen. Reeve und Miss Dawson. Sie kamen in Reeves Auto und gingen gemeinsam in sein Haus. Er trug ihren Koffer. Er selbst hatte nur eine Reisetasche dabei.«
»Woher wussten Sie, dass der Koffer Miss Dawson gehörte?«
»Er war rot, soweit ich das im Schein der Laternen erkennen konnte«, sagte Hall, der sich offenbar noch an jedes Detail erinnerte, »und er wirkte … billig. Aus Plastik. Nicht Reeves Stil.«
»Ich verstehe. Um wie viel Uhr kamen die beiden?«
»Gegen sieben Uhr. Ich stand vorn am Wohnzimmerfenster und hielt nach unserem Sohn Ausschau. Er war bei einem Freund gewesen und sollte um sieben daheim sein. Er war damals neun Jahre alt.«
»Welchen Eindruck hatten Sie von Elaine Dawson? Wenn Sie überhaupt einen hatten auf die Entfernung und bei der Dunkelheit?«
»Wir haben hier sehr helle Straßenlaternen«, sagte Hall, »ich konnte alles gut sehen. Ich schaute auch ganz genau hin, weil ich irgendwie … irritiert war.«
»Irritiert?«
»Miss Dawson passte nicht in Reeves Beuteschema.«
»Sie meinen«, sagte Rosanna, »dass er für gewöhnlich einen anderen Typ Frau bevorzugte?«
»Nun«, sagte Hall genießerisch, und Rosanna stellte fest, dass er für einen Mann eine ungewöhnliche Vorliebe für Tratsch und Klatsch hatte, »es war ja so … also, etwa ein Dreivierteljahr vor jenem Januarabend war Mrs. Reeve nebenan ausgezogen. Den gemeinsamen Sohn hatte sie mitgenommen. Seitdem lebte Marc Reeve allein, und nach allem, was ich so mitbekam … gab es ein paar Damenbekanntschaften in der Zeit. Verschiedene Damen. Die zumeist über Nacht blieben.«
Du hast aber ganz genau aufgepasst, dachte Rosanna. Sie empfand Mitleid mit Reeve. Ein Albtraum für einen Mann, der mitten im Sprung in die ganz große Karriere war, wenn ein solcher Nachbar mit derlei intimen Details an die Öffentlichkeit ging.
»Und in diese Reihe passte Elaine Dawson nicht?«
»Absolut nicht. Reeves … Begleiterinnen waren allesamt überdurchschnittlich attraktive Frauen. Gut und teuer gekleidet. Zumeist Anwältinnen, nehme ich an, oder Frauen, die sonst irgendwie mit seinem Beruf zu tun hatten. Frauen mit Stil und Klasse… wenn man davon absieht, dass sie sich offenbar nicht zu schade für einen One-Night-Stand waren. Aber was das betrifft, haben sich die Zeiten ja geändert.«
Und du warst verdammt neidisch, Abend für Abend hinter deinem Wohnzimmerfenster, dachte Rosanna, und du hast es richtig genossen, ihm dann eins auszuwischen. Du genießt es ja heute noch!
»Na ja, und diese Miss Dawson gab ein völlig anderes Bild ab«, fuhr Hall fort, »einmal war sie wirklich sehr jung – und Reeve hatte bis dahin nie ausgesprochen junge Frauen mit nach Hause gebracht. Und dann war sie so … unscheinbar. Ja, das ist das richtige Wort. Nicht direkt hässlich, aber einfach eine graue Maus. Sie trug einen wirklich scheußlichen Mantel, billig und schlecht geschnitten. Dann dieser Plastikkoffer. Ihre Haare – unmöglich! Sie sah aus wie eine vom Dorf, die absolut keine Ahnung hat, wie man sich als Frau ein bisschen ansehnlich zurechtmachen kann.«
Das war eine ziemlich gute Beschreibung von der Elaine, die auch Rosanna gekannt hatte.
»Wie wirkte sie? Ängstlich? Freudig?«
»Sie war verweint. Sie weinte nicht mehr, aber sie hatte sichtlich geweint. Freudig wirkte sie ganz bestimmt nicht. Ängstlich allerdings auch nicht. Eher … ein bisschen apathisch vielleicht. Erschöpft.«
»Die beiden verschwanden im Haus?«
»Ja, aber nach zehn Minuten etwa kamen sie wieder raus.«
»Ja?«
»Ich stand immer noch am Fenster. Ich machte mir Sorgen. Unser Sohn war normalerweise immer pünktlich. Mary – meine Frau – telefonierte inzwischen mit den Eltern des Freundes …«
»Was taten Reeve und Elaine?«
»Sie gingen die Straße entlang. Richtung King's Road.«
»Hatten Sie den Eindruck, dass die beiden …?«
»… ein Liebespaar waren? Absolut nicht. Weder hatten sie die Arme umeinander gelegt, noch hielten sie sich an den Händen oder irgendetwas in der Art. Sie gingen einfach nebeneinander her. Wie zwei Bekannte, die keine nähere Verbindung haben.«
»Wissen Sie, wohin sie gingen?«
»Reeve soll bei der Polizei behauptet haben, dass sie ein italienisches Restaurant aufsuchten. Offenbar ist das von dem Besitzer dort auch bestätigt worden. Er konnte sich an die beiden erinnern. Aber was danach war …« Hall hob beide Schultern.
»Sie haben sie jedenfalls nicht zurückkommen sehen?«
»Nein. Mein Sohn kam, wir haben zu Abend gegessen, ich habe die Schulaufgaben der Kinder kontrolliert und später mit meiner Frau ferngesehen. Ich habe nicht mehr rausgeschaut.«
»Dass Reeve Miss Dawson am nächsten Morgen zur U-Bahn begleitet hat, haben Sie auch nicht gesehen?«
»Nein. Ich stehe ja nicht ständig am Fenster!«, sagte Hall fast empört. »Im Grunde interessiert es mich ja nicht, was die Nachbarn so treiben.«
»Verstehe«, sagte Rosanna. Sie war überzeugt, dass er ziemlich genau wusste, was seine Nachbarn trieben. Sie kam sich ein wenig voyeuristisch vor und hatte ein leises Schuldgefühl gegenüber dem unbekannten Marc Reeve, dennoch stellte sie die nächste Frage: »Wissen Sie, weshalb Mrs. Reeve ausgezogen war?«
Hall wandte sich zu seiner Frau um, die gerade das Tischtuch akkurat zusammenfaltete. Sie bewegte sich so leise, dass Rosanna ihre Anwesenheit völlig vergessen hatte. »Mary, du hast doch öfter mit der Reeve geredet!«
»Ich habe nur selten mit ihr geredet«, widersprach Mrs. Hall, »sie erzählte nicht viel von sich. Sie hatte eine kranke Mutter, die in einem Altenheim bei Cambridge untergebracht war. Sie fuhr oft dorthin. Sie wirkte dann immer … irgendwie verstört. Das Leiden ihrer Mutter ging ihr wohl sehr nahe. Mrs. Reeve war eine sehr sensible Frau. Sie hat immer gemalt. Sehr schöne Aquarelle. Ich habe gehört, dass sie in Kunstkreisen recht bekannt war.«
»Du hast mir damals erzählt, dass du sie ein paar Mal angetroffen hast, als sie aus dem Haus kam und völlig verweint war«, erinnerte ihr Mann ungeduldig.
»Das stimmt. Ich habe sie aber nicht angesprochen, sondern so getan, als bemerkte ich sie nicht. Ich dachte mir … nun, dass sie so nicht gesehen werden möchte. Daher weiß ich auch nicht, weshalb sie so… aufgelöst war.«
»Man kam manchmal nicht umhin, ziemlich lautstarke Auseinandersetzungen von nebenan mitanzuhören«, sagte Richard Hall, und es war ihm anzumerken, dass er diesen Umstand durchaus genossen hatte. »Und wenn Sie mich fragen …« Er machte eine bedeutungsvolle Pause.
Das geht mich eigentlich nichts an, dachte Rosanna unbehaglich, und es hat auch nichts mit der Geschichte zu tun.
Obwohl gerade die eheliche Situation Marc Reeves damals in der Presse durchaus eine Rolle gespielt hatte. Sie entsann sich der verschiedenen Artikel und Berichte, die sie gelesen hatte, vorwiegend aus dem Bereich des Klatschjournalismus. Nirgends war unerwähnt geblieben, dass Mrs. Reeve mitsamt ihrem Sohn ausgezogen war, und zwischen den Zeilen waren die verschiedensten Vermutungen über den Grund hierfür durchgeschimmert: Sie reichten vom ununterbrochenen Fremdgehen Mr. Reeves über einen Hang zu extrem jungen Mädchen bis hin zu Gewalttätigkeiten, zu denen es in seiner Ehe immer wieder gekommen sein sollte. Soweit es der juristische Rahmen zuließ, hatte man nichts unversucht gelassen, ihn in die Nähe eines triebgesteuerten Gewalttäters zu rücken, um dann den Lesern die alles entscheidende Frage zu stellen: Hatte Marc Reeve Elaine Dawson umgebracht?
Obwohl Rosanna stumm geblieben war, konnte es sich Mr. Hall natürlich nicht verkneifen, seine Meinung kundzutun. »Wenn Sie mich fragen«, wiederholte er, »dann hatte sie seine Seitensprünge satt. Und ich würde mich auch nicht wundern, wenn …«
»Ja?«
»Ich glaube, dass er ganz schön ausrasten konnte, wenn die Dinge anders liefen, als er wollte. Und das dürfte die arme Mrs. Reeve manchmal auch zu spüren bekommen haben.«
Rosanna nickte langsam. »Dafür haben Sie aber keine konkreten Anhaltspunkte?«
»Dafür, dass er sie misshandelt hat? Dass er ständig fremdging? Natürlich nicht. Er war ein sehr ehrgeiziger und kluger Mann. Solche Typen tarnen sich perfekt. Aber… es war einfach … es lag so in der Luft, verstehen Sie? Es gibt Menschen, da ahnt man förmlich, dass sich hinter ihrem feinen Äußeren etwas Unangenehmes verbirgt. Das ist wie ein schlechter Geruch, den man wahrnimmt, aber sich nicht erklären kann. Reeve war mir von Anfang an zutiefst unsympathisch und suspekt. Ich bin heilfroh, dass er nach der Scheidung dann ziemlich bald von hier fortzog.«
Rosanna hatte sich ein paar Notizen gemacht. Nun klappte sie ihr kleines schwarzes Buch zu und verstaute es in ihrer Handtasche. Sie stand auf.
»Ich will Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen«, sagte sie. »Ich danke Ihnen für das Gespräch, Mr. Hall.«
Auch Hall erhob sich. »Gern geschehen. Hier«, er reichte ihr ein weißes Kärtchen, »finden Sie alle Informationen, wie Sie mich kontaktieren können. Telefon zu Hause und im Büro, E-Mail-Anschrift, Fax … Ich stehe Ihnen jederzeit wieder zur Verfügung.«
Er schien es kaum erwarten zu können.
»In Ordnung«, sagte Rosanna, »ich komme darauf zurück, wenn ich noch eine Information brauche.«
Als sie zur Tür gingen, sagte sie provozierend: »Sie meinen also, Marc Reeve hat etwas mit Elaine Dawsons Verschwinden zu tun?«
Er blieb stehen. »Das habe ich nicht gesagt.«
»Aber …«
»Lassen Sie es mich so formulieren: Wenn sich herausstellte, dass er etwas damit zu tun hat, ich würde mich nicht wundern.« Er öffnete ihr die Tür. Feuchtkalte Luft schlug ihnen entgegen. Es hatte zu regnen begonnen.
»Nein«, bekräftigte er, »wirklich, ich würde mich überhaupt nicht wundern.«
4
Georgina Ennis liebte ihren Hund Bluebird, einen schwarzen Labrador-Irgendetwas-Mischling, dessen Fell als Welpe einen Blaustich gehabt hatte, dem er seinen Namen verdankte. Inzwischen ging der Farbton eher ins Grau, denn Bluebird war schon stolze zwölf Jahre alt. Georgina, die immer nur Pech mit den Männern gehabt hatte und nun mit fast fünfzig Jahren beschlossen hatte, den Gedanken an die große Liebe aufzugeben und sich mit dem Alleinsein anzufreunden, sah in Bluebird ihre einzige Bezugsperson und wünschte nichts mehr, als dass er noch viele Jahre mit ihr lebte, aber an Tagen wie diesem dachte sie auch ein klein wenig neidisch, und deswegen zugleich sehr schuldbewusst, an Menschen, die keinen Hund besaßen. Und deswegen nicht bei jedem noch so scheußlichen Wetter vor die Tür mussten.
Der Februar hatte in der letzten Woche schon einen frühlingshaften Anstrich gehabt, dann war über das Wochenende noch einmal leichter Schneefall gekommen, und nun war alles in kalten Regen und graue Trostlosigkeit übergegangen. Man hätte meinen können, in den November zurückgekehrt zu sein. Georgina, die in einem Friseursalon arbeitete, hätte sich gern wie ihre Kolleginnen eine Pizza bestellt und es sich in dem kleinen Hinterraum für eine Dreiviertelstunde gemütlich gemacht, aber wie jeden Mittag musste sie nach Hause hasten, um eine Runde mit Bluebird zu gehen. Der Hund freute sich schrecklich, wenn er sie sah, und wenn sie nach der Leine griff, flippte er völlig aus. Seine Leidenschaft, nach draußen zu gehen, wurde mit dem Alter nicht geringer.
Georgina lebte in Epping, einer Gemeinde im Norden Londons, und sie hatte es von ihrer Hochhauswohnung nur ein paar Schritte weit hinüber zum Epping Forest, einem riesigen Waldgebiet, das an den Wochenenden von erholungssuchenden Londonern nur so überschwemmt wurde. Man konnte stundenlang wandern, wunderbar Fahrrad fahren, Picknicks veranstalten oder auf einer der vielen Bänke sitzen und einfach nur träumen. Selbst unter der Woche traf man immer wieder auf Menschen, so dass sich Georgina selten wirklich allein in den tiefen Wäldern gefühlt hatte. Ängstlich war sie ohnehin nicht. Sie hatte schließlich Bluebird. Er war eine imposante Erscheinung und noch immer ganz schön fit, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass jemand sie überfiel, solange der Hund in ihrer Nähe war.
An diesem scheußlichen, kalten, nassen Tag war natürlich niemand unterwegs. Georgina schritt kräftig aus. Einmal hoffte sie, dass ihr dadurch warm würde, zum anderen aber war auch ihre Mittagspause begrenzt, und sie konnte sich nie allzu viel Zeit lassen, wenn sie die gewohnte Runde schaffen wollte. Auf einem breiten, sandigen Weg ging es ein gutes Stück in den Wald hinein, dann bog sie in einen dunklen, schmalen Trampelpfad ein, den jeder übersehen hätte, der ihn nicht kannte. Hier konnte man durch die Wipfel der Bäume hindurch kaum mehr den Himmel sehen, zudem war der Boden jetzt im Winter völlig verschlammt. Georgina benutzte ihn nur deshalb, weil er nach einer Weile wiederum auf einen breiten Weg stieß, der in einem Bogen zu ihrem Ausgangspunkt zurückführte.
An diesem Tag bereute sie es, an ihrer Gewohnheit festgehalten zu haben und nicht einfach umgekehrt zu sein. Tiefhängende, nasse Zweige schlugen ihr ins Gesicht, und mehr als einmal wäre sie im Schlamm fast ausgerutscht und hingefallen. Sie trug hohe, gefütterte Gummistiefel, die sie unter der Dusche würde abbrausen können, aber Bluebird wieder einigermaßen sauber zu bekommen, dürfte zum Kraftakt werden. Aus unerfindlichen Gründen wurde er panisch, wenn sie sich ihm mit einem Handtuch näherte. Sie würde zu spät in den Salon zurückkommen, und Mrs. Wentworth, die Chefin, würde missbilligend die Augenbrauen hochziehen.
Wo war Bluebird überhaupt?
Georgina blieb stehen. Mit gesenktem Kopf gegen Regen und Äste ankämpfend, hatte sie auf den Hund gar nicht mehr geachtet. Für gewöhnlich lief er ein Stück vorweg, drehte aber regelmäßig um und vergewisserte sich, dass sie folgte. Jetzt ging ihr auf, dass er dies schon seit einer Weile nicht getan hatte.
»Bluebird!«, rief sie. »He, Bluebird!«
Ein Vogel hob sich über ihr kreischend in die Luft, sonst blieb alles still.
Sie machte ein paar Schritte zurück. »Bluebird! Bei Fuß! Sofort! Bluebird!«
Er war kein Jäger. Sie hatte es noch nie erlebt, dass er Hasen oder Rehen nachsetzte, deshalb glaubte sie auch nicht, dass er das jetzt getan hatte.
Sie fühlte auf einmal etwas, was sie in all den Jahren auf ihren Spaziergängen im Epping Forest noch nie gefühlt hatte: eine unbestimmte, noch ganz leise Furcht, die sich durch ein sanftes Ziehen im Magen und ein Kribbeln in den Handflächen ankündigte und kaum merklich stärker wurde. Sie registrierte, wie allein sie war. Wie undurchdringlich und dunkel der Wald ringsum. Wie fern alle anderen Menschen.
Wieder kreischte irgendwo ein Vogel. Der Regen rauschte.
Du darfst dich in nichts hineinsteigern, ermahnte sie sich, es ist bloß so, dass dein Hund offenbar losgestreunt ist. Mehr ist nicht passiert.
»Birdie!«, rief sie ihn bei seinem Kosenamen. »Birdie! Birdie, wo bist du?«
Sie lauschte ihrer Stimme nach. Sie hatte den Eindruck, dass der Klang nicht weit reichte. Der Regen verschluckte das Geräusch.
»Birdie!«
Plötzlich meinte sie in der Ferne ein Bellen zu vernehmen. So leise, dass sie im ersten Moment dachte, sie habe sich getäuscht. Jeder einzelne Muskel in ihrem Körper spannte sich an, als sie erneut lauschte. Doch, da war es. Ziemlich weit weg, wie ihr schien. Ein Hund bellte. Es konnte Bluebird sein.
Sie eilte den Trampelpfad weiter entlang, nahm jetzt rücksichtslos in Kauf, dass ihr die schweren Äste ins Gesicht schlugen. Ihre Füße verursachten saugende Geräusche im Schlamm. Sie würde zu spät in den Salon kommen, und sie würde wahrscheinlich blutige Kratzer im Gesicht haben und aussehen, als sei sie unter den Räubern gelandet, aber das war ihr egal. Es ging um Bluebird. Ihren einzigen echten Freund.
Am Ende des Pfads blieb sie schwer atmend stehen. Sie hatte sich so beeilt, dass sie Seitenstechen bekam. Normalerweise wäre sie auf dem breiteren Weg nun nach rechts abgebogen, um zur Siedlung zurückzukehren, aber sie hatte vorhin den Eindruck gehabt, dass das Bellen jedenfalls nicht von dort kam.
Sie rief erneut. »Bluebird! Birdie!«
Wieder das Bellen. Es klang schon ein wenig näher. Gegenüber der Stelle, an der ihr Pfad in den befestigten Weg mündete, entdeckte sie eine Art Schneise zwischen den Bäumen. Eine Fortsetzung des Schlammlochs, aus dem sie gerade kam. Nur noch schmaler. Und wahrscheinlich noch schlammiger.
Sie stolperte vorwärts. Tauchte in ein fast undurchdringliches Dickicht ein. Wasser lief ihr in den Kragen und rann ihren Rücken hinunter. Es fühlte sich eiskalt und widerlich auf ihrer völlig verschwitzten Haut an. Das, was zu Beginn noch wie ein minimaler Durchgang zwischen den Bäumen gewirkt hatte, verengte sich ganz, und sie musste sich direkt durch die Büsche kämpfen. Nach wenigen Minuten schon wusste sie nicht mehr, wo vorne und hinten war, woher sie kam und wohin sie ging. Ihr einziger Anhaltspunkt war das Bellen des Hundes – Birdie? –, das zuverlässig antwortete, wann immer sie innehielt und rief. Ihr kam der Gedanke, dass man sich in dem unübersichtlichen, meilenweiten Waldgebiet durchaus verlaufen konnte. Sie hatte von Menschen gelesen, denen das passiert war, von Wanderern, denen es nicht mehr gelungen war, einen Ausweg zu finden. Es hatte Suchtrupps gegeben, die alles nach ihnen durchkämmt hatten.
Wann würde man nach ihr suchen? Wer würde sie überhaupt vermissen? Die Chefin, die Kolleginnen. Wie lange würde es dauern, bis sie sich ernsthaft Sorgen machten? Und wie lange konnte sie bei Kälte und Regen in den Wäldern überleben?
Sie blieb stehen, um Luft zu holen und sich zu beruhigen. So weit ist es noch nicht. Und sowie du auf Bluebird gestoßen bist, ist alles okay. Ein Hund findet seinen Weg zurück.
Sie rief seinen Namen. Das Bellen klang eindeutig näher.
Ein letztes, extrem zugewuchertes Stück, heimtückische lange Brombeerranken, die sie böse zerkratzten und sich in ihren Haaren verfingen, dann sah sie bereits, dass es heller wurde. Sie erreichte eine Lichtung, auf der sich ein Weiher befand, ein kleiner Waldsee. Grau wie der Himmel, an den Rändern von Schilf und Gras zugewachsen. Die Wasseroberfläche kräuselte sich unter dem einfallenden Regen.
Es gab ein paar kleine Seen im Waldgebiet, und etliche davon waren zum Baden geeignet. Die Forstverwaltung hielt das Ufer sauber, die Wiesen ringsum wurden regelmäßig gemäht, und es waren auch ein paar Bänke aufgestellt worden. Dieser Tümpel, vor dem Georgina nun stand, gehörte eindeutig nicht dazu. Er war ziemlich klein, offenkundig nur schwer zu erreichen und vom Wald sehr dicht umzingelt. Ein paar Moorhühner stoben aus dem Schilf. Es sah aus, als sei hier noch nie ein Mensch gewesen, was aber nicht stimmen musste. Sicher schien bloß, dass wohl um diese Jahreszeit niemand hierherkam.
Sie atmete für den Moment auf, erleichtert, dass sie den Himmel wieder sehen konnte, und froh, dass ihr nicht mehr ständig irgendetwas ins Gesicht schlug. Dann sah sie Bluebird, der in großen Sprüngen auf sie zujagte. Er schien sehr aufgeregt und bellte laut und fordernd, wie er es für gewöhnlich nur tat, wenn er einen Ball geworfen haben wollte.
Sie kniete nieder und umarmte ihn. Der Hund war eine einzige tropfnasse Schlammkugel, aber das war ihr egal.
»Birdie, du Schaf, was machst du denn? Du kannst doch nicht einfach weglaufen! Ich habe solche Angst gehabt! Nun komme ich viel zu spät zur Arbeit und habe jede Menge Ärger!«
Bluebird, der normalerweise nichts lieber tat, als zu kuscheln, entwand sich ihren Armen, machte ein paar Sprünge zurück und bellte wieder. Sie erhob sich.
»Was ist denn? Willst du mir etwas zeigen?«
Er rannte vor ihr her. Sie folgte ihm. Der Regen rauschte. Die Moorhühner waren verstummt. Trotz der Hitze in ihrem Körper begann Georgina wieder zu frösteln. So wie vorhin, als sie sich ihres Alleinseins plötzlich bewusst geworden war. Da war wieder das Ziehen im Magen. Dieses ungute Gefühl.
Was hatte Bluebird gefunden?
Sie sah die Frau im Schilf liegen. Der Bewuchs war hier so dicht, dass sie sie nie entdeckt hätte, wäre sie nicht hinter dem Hund hergekrochen. Die Frau lag sehr seltsam da, mit einem verkrampften, verdrehten Körper. Ihr Gesicht verschwand im brackigen Wasser. Um ihren Kopf herum schwammen lange blonde Haare auf der braunen Brühe. Bluebird, der sich offenbar schon seit einiger Zeit an dem Körper zu schaffen machte, hatte den Schlamm des Sees an dieser Stelle gründlich aufgewühlt.
»O Gott«, flüsterte Georgina, »o Gott!«
Sie wollte umdrehen und so schnell sie konnte davonlaufen, aber sie vermochte sich nicht zu bewegen. Sie stand ein paar Sekunden völlig still da und starrte fassungslos auf das Bild, das sich ihr bot. Erst als Bluebird laut aufjaulte, erwachte sie aus ihrer Reglosigkeit. Aber anstatt zu tun, was sie eigentlich tun wollte und was ihr auch eine leise Stimme in ihrem Kopf wieder und wieder zuraunte – Mach, dass du wegkommst! Mach, dass du wegkommst! –, trat sie näher an die Frau heran, gefangen in einem seltsamen Bann des Grauens.
Es war ein eigentlich noch mädchenhafter Körper, schmal, glatt und fest. Lange, schlanke Beine, um deren Knöchel sich eine schwarze, zerrissene Strumpfhose wand. Das Mädchen trug keine Schuhe, aber Georgina erblickte unweit der Szenerie einen dunklen Stöckelschuh, der im Uferschlamm dümpelte. Der Slip des Mädchens hing in den Kniekehlen, ein winziges, nasses, schwarzes Stück Wäsche; ob er, wie die Strumpfhose, zerrissen war, vermochte Georgina nicht zu erkennen. Die langen dunklen Blutkrusten entlang der Oberschenkel, der bis in die Taille hochgeschobene Rock verrieten ohnehin, was geschehen war: Auf brutalste Art war dieses Mädchen oder diese junge Frau vergewaltigt worden, irgendwo in diesen einsamen Wäldern, und dann… hatte sie sich in ihrer Verzweiflung mit dem Gesicht voran in diesen Tümpel gestürzt …
Das konnte nicht stimmen.
Georgina registrierte die mit Stricken auf den Rücken gefesselten Arme des Mädchens, und ihr kam der Gedanke, dass wohl niemand sich selber fesselte, bevor er sich ertränkte, und das führte sie zu der entsetzlichen Folgerung, dass jemand anders, der Vergewaltiger wahrscheinlich, sein wehrloses Opfer hierhergeschleift und wie einen Müllsack in die Uferböschung gekippt hatte. Das Bild vor ihren Augen zeigte nicht nur eine ungewöhnliche Brutalität, sondern auch eine grausame Verächtlichkeit, eine Demütigung, die über den Akt der Vergewaltigung hinausreichte und dem Opfer noch im Tod die Würde nahm.
Ein Moorhuhn schrie und störte die Stille, die über der Lichtung lag, und auf einmal schoss Georgina die Vorstellung durch den Kopf, dass das alles, was sie hier sah, nicht ein tage- oder stundenaltes Stillleben war, sondern am Ende gerade eben passiert war. Bluebird hatte den Täter überrascht und vertrieben, aber irgendwo lungerte er noch herum, und es erschien auf einmal fraglich, ob er sich von einem alten Hund und einer Frau wirklich daran hindern ließe, zu vollenden, was immer er vorgehabt haben mochte.
»Birdie«, zischte sie, »Birdie, schnell, komm! Wir verschwinden hier!« Bluebird bellte.
Was, wenn die Frau noch lebte? Wenn sie gerade erst… Wie lange überlebte ein Mensch, der mit dem Gesicht nach unten im Wasser lag? Georgina hatte keine Ahnung, aber es war ihr klar, dass die Frau keinesfalls noch leben würde, bis sie selbst den Rückweg gefunden und von ihrer Wohnung aus die Polizei alarmiert hatte. Sie war fast krank vor Angst, aber mit aller Energie ignorierte sie das Grauen, das sie zu überwältigen drohte, und balancierte durch das flache, sanft ans Ufer schwappende Wasser näher zu dem Körper hin.
»Hallo?«, flüsterte sie und kam sich gleich darauf schrecklich albern vor.
Natürlich kam keinerlei Reaktion. Sie stand jetzt direkt neben dem misshandelten Körper und musste einen heftigen Brechreiz unterdrücken. Es gab keinen Gestank, nichts dergleichen, aber das Bild war zu schlimm, und irgendwie ein Teil davon zu sein in dieser erschreckenden Einsamkeit, das trübe Wasser über den lehmverschmierten Stiefeln, dem kalten Regen ausgeliefert, überstieg Georginas Nervenkraft. Sie würgte, dann beugte sie sich langsam, mit den steifen Bewegungen einer alten Frau, hinunter, griff mit beiden Händen um den Kopf des Mädchens und hob ihn an, drehte ihn zu sich um.
Ein pilzförmiger, weißer Schaum quoll aus der Nase und aus den leicht geöffneten Lippen. Ein verschwollenes, blutverkrustetes Gesicht. Blicklose Augen.
Das Mädchen war tot.
Georgina ließ sie ins Wasser zurücksinken, drehte sich um und erbrach sich ins Schilf, wieder und wieder, bis nur noch bittere Galle kam, dann stolperte sie vom Ufer weg auf die Lichtung, und als Bluebird ihren inzwischen nur noch schwach und heiser hervorgebrachten Rufen noch immer nicht Folge leistete, entsann sie sich der Leine, die sie um den Hals gelegt trug. Sie schwankte zurück, befestigte den Karabiner am Halsband des Hundes und zerrte so heftig, dass Bluebird, der eine solch grobe Behandlung nicht gewohnt war, ohne weiteren Widerstand verwirrt folgte.
»Wir müssen weg«, flüsterte sie, »wir müssen so schnell wie möglich weg hier!«
Sie hasteten zum Wald. Zu Georginas Erleichterung übernahm Bluebird die Führung und schien keine Sekunde zu zögern, welchen Weg er einschlagen sollte.
Der Regen wurde heftiger und vermischte sich mit den Tränen, die Georgina über das Gesicht strömten, ohne dass sie es merkte.
Auf dem Weg zum U-Bahnhof Sloane Square, der nicht weit von Mr. Halls Haus lag, holte Rosanna ihr Handy aus der Tasche und stellte fest, dass sie einen Anruf erhalten hatte. Die angezeigte Nummer kam ihr vage bekannt vor, und ihr Verdacht, um wen es sich bei dem Anrufer handeln könnte, bestätigte sich bei einem Blick in ihre Unterlagen.
Sie fluchte. Marc Reeve. Ausgerechnet seinen Rückruf hatte sie überhört, hatte ihn offensichtlich während Mr. Halls lautstark vorgetragenen Ausführungen verpasst. Sie war schon zu lange nicht mehr im Job, sonst hätte sie daran gedacht, das Handy aus der Tasche zu nehmen und vor sich auf den Tisch zu legen.
Angesichts des Regens überlegte sie kurz, ob sie in die U-Bahnstation flüchten sollte, ehe sie Reeve anrief, entschied sich aber dagegen. Zwar war es dort trocken, aber zugleich voller Menschen, und sie würde jede Menge Mithörer haben. Hier, am Ende der kleinen Seitenstraße, stand sie zwar im strömenden Regen, aber dafür ließ sich weit und breit keine Seele blicken. Nass war sie ohnehin schon, es kam also fast nicht mehr darauf an.
Wieder meldete sich Reeve beim zweiten Klingeln.
»Mrs. Hamilton«, sagte er. Offenbar konnte er ihre Kennung inzwischen auch auf Anhieb identifizieren.
»Sie hatten mich angerufen, Mr. Reeve. Ich bin gerade in der Stadt unterwegs und habe das Telefon nicht gehört.« Sie verschwieg, dass sie vor seiner früheren Adresse stand und soeben von seinem ehemaligen Nachbarn etliche intime Details über sein Privatleben erfahren hatte. Als vertrauensbildende Maßnahme wäre ein Hinweis darauf sicher völlig ungeeignet.
»Wir hatten vereinbart, dass ich mich noch einmal wegen Ihrer gestrigen Anfrage melde«, sagte Reeve, »und ich möchte Ihnen sagen, dass es mir leidtut, dass sich an meiner Einstellung jedoch nichts geändert hat. Ich habe kein Interesse daran, noch einmal mit dieser ganzen Geschichte in Verbindung gebracht zu werden. Vielleicht können Sie das verstehen.«
Das Problem war, dass sie ihn nur zu gut verstand, dass es aber nicht in ihrem Interesse lag, ihn in Ruhe zu lassen. Blitzartig entschied sie sich für eine andere Strategie, und zwar für die der ganz und gar offenen Karten.
»Mr. Reeve, das kann ich sehr gut verstehen«, sagte sie hastig, »wirklich, und bitte glauben Sie mir, die Rolle der nervtötenden Reporterin, die Sie so heftig bedrängt, behagt mir überhaupt nicht. Es ist nur so … ich habe Ihnen gestern nicht alles über meine … meine Motive gesagt.«
»Über Ihre Motive?«
»Ich … es stimmt alles, mit der Serie und so weiter … aber es gibt einen Grund, weshalb man gerade mich ausgewählt hat, sie zu schreiben, obwohl ich seit fünf Jahren nicht mehr im Berufsleben bin …« Sie holte tief Luft. »Ich bin … war mit Elaine Dawson befreundet.«
»Oh«, sagte er überrascht.
Sie korrigierte sich sofort. Ein Instinkt sagte ihr, dass sie bei Reeve etwas erreichen konnte, wenn sie vollkommen aufrichtig war. »Ehrlicherweise – befreundet ist übertrieben. Aber wir kannten einander seit unserer Kindheit. Wir sind in demselben Dorf aufgewachsen. Elaine war sieben Jahre jünger als ich. Aber in dem Ort gehörten irgendwie alle zusammen.«
»Ich verstehe«, sagte Reeve, »über Ihren journalistischen Auftrag hinaus haben Sie ein persönliches Interesse an dem Fall?«
Sie nickte, obwohl er das nicht sehen konnte. »Ja. Ja, genau. Ich weiß nicht, ob Elaine Ihnen damals erzählt hatte, welchen Anlass ihre geplante Reise nach Gibraltar hatte …«
Er schien kurz zu überlegen. »Soweit ich mich erinnere – wollte sie nicht zu einer Hochzeit?«
»Sie wollte zu meiner Hochzeit, Mr. Reeve. Ich habe am 11. Januar 2003 in Gibraltar geheiratet. Ich habe Elaine dazu eingeladen, aber sie ist nie angekommen. Ich kann nicht sagen, dass ich mich schuldig fühle an ihrem Verschwinden. Aber … involviert.«
»Ich verstehe«, sagte Reeve noch einmal.
Rosanna hatte den Eindruck, dass er sie tatsächlich verstand. »Sie sind der letzte Mensch, der sie gesehen und mit ihr gesprochen hat«, fuhr sie fort, »zumindest der letzte, der mir bekannt ist. Ich würde einfach gern wissen, wie sie war, was sie erzählte, wie Sie sie erlebt haben. Ich habe mich fünf Jahre lang nicht um sie und ihr Schicksal gekümmert, aber nun merke ich, dass ich ein großes Bedürfnis danach habe, ihr noch einmal nahezukommen. Ich glaube, es gibt mir das Gefühl, sie nicht völlig dem Vergessen zu überlassen. Sie als den Menschen, der sie war, noch einmal wichtig zu nehmen.«
»Mrs. Hamilton …«
»Könnten Sie sich vorstellen, sich privat mit mir zu treffen? Ich verspreche Ihnen, ich erwähne nichts davon in meinem Artikel. Ich schreibe nichts mit, ich nehme nichts auf.«
»Ihr Chefredakteur wird davon nicht begeistert sein.«
»Mein Chefredakteur wird davon nichts erfahren.«
Er zögerte. Sie konnte ihm nicht verdenken, dass er ihr als Vertreterin der Presse misstraute – besonders mit seiner Vorgeschichte.
»Bitte«, sagte sie, »ich will Sie wirklich nicht hereinlegen. Es geht mir um Elaine. Ich werde Nick – meinem Auftraggeber – sagen, dass Sie nicht zu einem Gespräch bereit waren.«
»Ich schlage Folgendes vor«, sagte Reeve, »wir treffen uns, damit wir einander kennen lernen. Wie weit ich mich dann einlasse, werde ich sehen.«
Sie war erleichtert. »Ich danke Ihnen. Vielen Dank. Soll ich in Ihr Büro kommen?«
»Das passt heute tagsüber schlecht«, sagte er, »wie wäre es mit heute Abend? Irgendwo zum Essen?«
»Gern. In welcher Ecke Londons leben Sie?«
»In welcher leben Sie denn?«
»Hilton on Park Lane.« Sie begriff, dass er sie nicht auf sein Terrain lassen wollte. Nicht in sein Büro, nicht einmal in die Nähe seiner Wohnung. Er war ein gebranntes Kind. Er hielt Abstand. Ein Treffen nur auf neutralem Boden und möglichst weit fort von seinem Zuhause.
»Ich hole Sie dort um sieben Uhr ab«, sagte er, »auf Wiedersehen, Mrs. Hamilton.«
Sie verabschiedete sich, verstaute dann ihr nasses Handy wieder in ihrer nassen Tasche. Der Regen war noch heftiger geworden. Sie fragte sich, was Nick zu dem Deal sagen würde, den sie gerade abgeschlossen hatte, und zog bei dem Gedanken an Nicks wütenden Kommentar unwillkürlich den Kopf ein Stück ein.
Das Wasser quietschte in ihren Schuhen, als sie das letzte Stück zur U-Bahn lief. Sie würde jetzt ins Hotel zurückkehren und sich wieder einmal ein heißes Bad einlassen, ein Sandwich bestellen und vielleicht sogar ein Glas Wein dazu.
Sie fand, dass sie es sich verdient hatte.
6
Es waren wieder die Constables Burns und Carley, die am frühen Abend vor der Wohnungstür der Familie Biggs standen. Gordon, der ihnen öffnete, hatte immer ein unangenehmes Gefühl, wenn er die Polizei sah, aber diesmal wurde ihm besonders mulmig zumute. Ihm gefielen die Mienen der beiden ganz und gar nicht.
»Mr. Biggs …«, sagte Carley, verstummte dann aber und sah seinen Kollegen an.
»Dürfen wir hereinkommen?«, fragte Burns.
»Klar«, sagte Gordon, obwohl er die beiden am liebsten zum Teufel geschickt hätte. Von den Bullen kam nie etwas Gutes, und heute wirkten die Männer vor ihm besonders unheilverheißend.
Er geleitete sie, wie schon am Vortag, in die Küche, wo Sally und Angela am Tisch saßen und einer der Söhne, Patrick, mit einer Bierdose in der Hand in einer Ecke lehnte. Sally hatte zwar wie üblich getrunken, lag jedoch, da sie über Mittag einen Arzttermin gehabt hatte und für fast drei Stunden von daheim und damit von ihrem Schnaps ferngehalten worden war, ein gutes Stück hinter ihrem üblichen Konsum. Für ihre Verhältnisse war sie sogar fast nüchtern. Sie blätterte in einer Zeitschrift. Angela trank einen Tee.
»Die Polizei schon wieder«, sagte Gordon, als sie eintraten.
Irgendwie war auch den anderen sofort klar, dass eine Bedrohung in der Luft lag. Angela erhob sich unwillkürlich. Patrick ließ die Bierdose, die er gerade an den Mund gesetzt hatte, sinken. Sally blickte auf.
»Ja?«, fragte sie alarmiert.
Burns räusperte sich. »Ich muss vorwegschicken, dass wir keineswegs sicher sind, dass es sich um Ihre Tochter Linda handelt …«, begann er.
»Sie haben sie gefunden?«, fragte Angela.
»Das eben wissen wir nicht«, antwortete Burns. Er zögerte, dann gab er sich einen Ruck. »Heute Mittag hat eine Spaziergängerin im Epping Forest die … Leiche eines jungen Mädchens gefunden. Der Beschreibung nach könnte es Linda sein.«
»Eine Leiche?«, fragte Gordon schwerfällig.
Sally presste sich die Hand auf den Mund.
»Scheiße«, sagte Patrick.
»Wie gesagt«, mischte sich Carley ein, »wir können nicht sicher sein. Deshalb wäre es gut, wenn jemand von Ihnen uns begleiten würde, um die Tote zu identifizieren – oder eben um auszuschließen, dass wir es mit Linda zu tun haben.«
»Was soll sie denn im Epping Forest?«, fragte Gordon. »Da ist sie doch noch nie gewesen!«
»Vorläufig können wir nicht sagen, ob das Verbrechen überhaupt dort passiert ist oder ob das Mädchen erst später dorthin gebracht wurde. Der Gerichtsmediziner hat einiges zu tun in diesem Fall. Die Tatsache, dass sie im Regen da draußen gelegen hat, macht es nicht einfacher, die genauen Umstände zu rekonstruieren.«
»Wie ist sie … ich meine, wie hat man sie …«, begann Angela, vermochte jedoch nicht auszusprechen, was sie sagen wollte.
Burns wusste, was sie hatte fragen wollen. »Wir haben den Abschlussbericht natürlich noch nicht. Es scheint, als sei der Tod durch Ertrinken eingetreten.«
»Linda konnte aber schwimmen«, warf Patrick aus seiner Ecke ein, »und zwar ziemlich gut sogar.«
»Das stimmt«, sagte Sally, »als Kind war sie sogar in so 'ner Schwimmmannschaft. Die haben Wettkämpfe gemacht. Sie hat zwei Pokale heimgebracht, stimmt's, Gordon?«
»Stimmt«, bestätigte Gordon. Ein Anflug von Hoffnung legte sich über die Gesichter aller anwesenden Familienmitglieder, eine Hoffnung, die Constable Burns sogleich wieder zerstören musste.
»Sie ist nicht … einfach so ertrunken«, sagte er vorsichtig, »es hat den Anschein, als sei sie… man hat sie gefesselt an den Rand eines Weihers gelegt. Sie war wahrscheinlich bewusstlos. Ihr Kopf lag im Wasser. Sie musste ertrinken.«
Stille. Da die Biggs keine Küchenuhr besaßen, erklang nicht einmal das übliche Ticken. Nur der Kühlschrank brummte leise.
Nach ein paar Sekunden sagte Carley: »Vielleicht geht es überhaupt nicht um Linda, und Sie alle machen sich jetzt umsonst das Herz schwer. Mr. Biggs, würden Sie uns begleiten?«
Gordon fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Die Hand zitterte dabei leicht. »Hat man sie … vergewaltigt?«, fragte er leise.
»Vor einer möglichen Identifizierung möchte ich nicht in weitere Details gehen«, wich Burns aus.
Sally stand auf. »Ich komme auch mit«, verkündete sie. »Gordon, wir gehen da jetzt zusammen hin.«
»Mum, ich glaube, das schaffst du nicht«, wandte Angela ein. Sie war aschfahl im Gesicht.
»Ich will aber«, beharrte Sally, »vielleicht ist das meine Linda, die sie gefunden haben. Komm, Gordon. Das ist vielleicht unser Kind. Wir müssen da jetzt hingehen.«
»Ich muss Schuhe anziehen«, sagte Gordon. Er trug Filzpantoffeln. Sie machten ein trauriges Geräusch, als er aus der Küche schlurfte.
»Mum«, sagte Angela flehend.
»Du kümmerst dich um deine Brüder«, wies Sally sie an, »die Kleinen kommen jeden Moment nach Hause. Ihr sagt ihnen noch nichts. Mach ihnen Abendbrot, und bring sie ins Bett. Okay? Kann ich mich darauf verlassen?«
»Okay«, sagte Angela. Sie begann zu weinen.
»Patrick, du hilfst ihr«, sagte Sally.
Für gewöhnlich widersprach Patrick derartigen Ansinnen heftig, aber diesmal nickte er. »Klar. Mach ich.«
Gefolgt von den beiden Polizisten, verließ auch Sally die Küche. Angela starrte ihnen nach. Zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte sie das Bedürfnis, niederzuknien und laut zu beten, nicht nur leise und heimlich für sich. Sie tat es nicht. Es war nicht üblich in ihrer Familie, und sie hatte Angst, ihr Bruder könnte sie auslachen.
7
Es war kurz vor sieben, und Rosanna hatte sich gerade für die Verabredung mit Marc Reeve umgezogen, als ihr Handy klingelte. Einen Moment lang fürchtete sie, es könnte Reeve sein, der ihr absagen wollte, weil er es sich doch anders überlegt hatte, aber dann erkannte sie auf dem Display ihre eigene Telefonnummer in Gibraltar. Dennis. Endlich. Sein Schweigen hatte über vierundzwanzig Stunden gedauert, und sie war allmählich nervös geworden. Konnte er so böse auf sie sein?
»Hallo?«, meldete sie sich.
Nach einem kurzen Moment der Stille kam von der anderen Seite zögernd: »Rosanna?«
Robert. Es war Robert, nicht Dennis. Sie war enttäuscht, zugleich aber entschlossen, es nicht zu zeigen.
»Robert! Wie schön, dass du anrufst! Wie geht es dir?« Sie klang zu munter, das merkte sie selbst. Ob er wusste, dass sein Vater und seine Stiefmutter Krach miteinander hatten?
»Schon okay«, sagte er in dem coolen Ton, den sein Alter nun einmal verlangte. »Und wie ist es bei dir?«
»Auch alles okay. Das Wetter ist unmöglich, aber das erwartet man ja von England.«
»Dad sagt immer, in England kann man nicht leben, weil das Wetter so schlecht ist«, meinte Robert.
»Ich weiß.« Sie gab sich einen Ruck. Ihr Stiefsohn rief bestimmt nicht an, um mit ihr über das Wetter zu sprechen, offenbar wusste er aber auch nicht so recht, wie er zur Sache kommen sollte.
»Rob, dein Dad und ich haben Streit im Moment«, sagte sie, »ich hoffe, er ist nicht allzu schlechter Laune?«
Rob war sichtlich erleichtert, dass sie das heikle Thema angeschnitten hatte. »Er hat eine Scheißlaune.« Obwohl er sich bemühte, ungerührt zu wirken, klang er bedrückt. »Ich darf überhaupt nichts mehr. Am Wochenende ist eine Party von den Abschlussklassen in der Schule. Ein paar von uns sind dazu eingeladen. Jetzt hat er gesagt, ich darf nicht hingehen.«
»Oh – Rob! Das ist hart für dich, ich weiß. Aber seid ihr nicht tatsächlich noch ein bisschen jung dafür? Ich meine, die Abschlussklassen… die sind doch alle ein ganzes Stück älter!«
»Die sind achtzehn! Ich bin sechzehn! Wo ist da der Unterschied?«
»Zwei Jahre, Rob. Zwei Jahre sind der Unterschied!«
»Die anderen dürfen. Nur ich nicht. Dad ist einfach …« Er suchte nach Worten. Offenbar fiel es ihm schwer, einen Begriff zu finden, der auch nur annähernd wiedergab, wie unmöglich sich sein Vater verhielt. »Dad ist einfach gemein«, sagte er schließlich, aber man spürte, dass ihm dieser Begriff viel zu schwach erschien.
Es war das alte Lied. Rosanna konnte Dennis' Sorgen und Vorbehalte durchaus verstehen und nachvollziehen, aber sie wusste auch, in welchem Ton er sein Verbot vermutlich wieder einmal hervorgebracht hatte. Das Problem mit Dennis war nicht, dass er seinen Sohn vor Gefahren schützen wollte, sondern die Art, wie er das tat. Wenn Dennis an eine Party der Abschlussklasse dachte, kamen ihm nur negative Assoziationen in den Sinn, wie: Alkohol, Drogen, unkontrollierter und ungeschützter Sex. Aus Gründen, über die sich Rosanna noch nicht wirklich klar war, gelang es ihm nicht, mit seinem Sohn darüber ein ruhiges und sachliches Gespräch zu führen, in dessen Verlauf Robert vielleicht etwas von den Ängsten seines Vaters begriffen hätte. Er konnte ihm nur das Verbot hinknallen, schroff, in scharfem Ton, hinter jedem Satz ein unausgesprochenes und dennoch unmissverständliches Keine Widerrede! Die Eskalation zwischen den beiden war jedes Mal vorprogrammiert. Meist gelang es dann nicht einmal mehr Rosannas Diplomatie, all die Scherben auch nur halbwegs zu kitten.
»Dein Dad ist nicht gemein, Robert«, sagte sie, »das darfst du nicht denken. Es ist nur … er macht sich Sorgen. Kannst du das gar nicht verstehen? Er hat Angst, dass du zu viel trinkst. Dass die alle zu viel trinken. Dass sich die Älteren mit euch in ihre Autos setzen und betrunken losrasen. Er hat Bilder vor Augen, die ihn tief beunruhigen.«
»Aber …«
»Dein Dad liebt dich, Rob. Er hat manchmal eine schwierige Art, aber er liebt dich wirklich. Sehr.«
Rob schwieg einen Moment, und Rosanna dachte, dass selten ein Schweigen ungläubiger geklungen hatte. Dann fragte er in einem bemüht gleichmütigen Tonfall: »Wann kommst du denn wieder?«
»Sobald ich kann, Rob. Ich vermisse euch doch auch. Ich vermisse besonders dich.« Sie vermisste ihn wirklich, das stimmte. Das sommersprossige Gesicht. Der permanente Ausdruck von egal auf seiner Miene und in seiner Stimme, dem man so sehr anmerkte, wie aufgesetzt er war. Hinter der coolen Art war noch immer das Kind so spürbar, das er gewesen war und das er noch nicht ganz abgelegt hatte der verletzliche kleine Junge, der nie eine Mutter gehabt hatte, der ein solch großes Problem für seine viel zu jungen und überforderten Eltern dargestellt hatte, als er ungeplant und ungewollt und zum völlig falschen Zeitpunkt auf die Welt kam. Sein Vater hatte ihn schließlich übernommen, aber Rosanna wusste, dass er das keineswegs begeistert getan hatte. Das Baby Rob mochte davon viel mehr gespürt haben, als es irgendjemandem klar war. »Na ja«, sagte Rob.
Im selben Moment klingelte das Zimmertelefon.
»Bleib mal dran«, sagte Rosanna und nahm den Hörer ab. Es war die Rezeption des Hotels. »Mr. Reeve ist da, Mrs. Hamilton.«
»Ich komme gleich«, sagte Rosanna. Sie wandte sich wieder an Robert.
»Rob, hör mal, ich muss leider…«
»Wer ist Mr. Reeve?«, fragte Rob misstrauisch. Er hatte die Concierge offenbar gehört.
»Er hat etwas mit einem der Fälle zu tun, über die ich schreiben muss. Ein Zeuge sozusagen. Ich muss ihm ein paar Fragen stellen.«
»Aha. Okay. Na dann … mach's gut. Ciao!«, sagte Robert und legte auf.
Sie schaltete ihr Handy aus, dachte ein paar Sekunden lang nach. Als sich Robert nach Reeve erkundigt hatte, hatte sie echte Angst in seiner Stimme wahrgenommen. Der Junge hatte nicht einfach nur angerufen, um sich über seinen Vater zu beschweren. Er hatte angerufen, um den Kontakt zu ihr, Rosanna, herzustellen, um sich buchstäblich zu vergewissern, dass es sie noch gab, dass sie noch zu seinem Leben gehörte. Er wusste von dem Streit zwischen seinem Vater und ihr. Er wusste wahrscheinlich noch viel mehr: dass sie so ungern in Gibraltar lebte. Dass sie sich nach ihrem alten Beruf zurücksehnte. Dass ihr Zusammensein mit Dennis von vielen Auseinandersetzungen im Alltag geprägt war – und von einer steigenden Frustration auf ihrer Seite. Ihr war immer klar gewesen, wie sehr er sie als Frau im Leben seines Vaters und als Mutter für sich selbst willkommen geheißen hatte, aber zum ersten Mal ging ihr auf, dass ihn womöglich ständig die latente Furcht beherrschte, die Familie, die er endlich bekommen hatte, könnte wieder auseinanderbrechen. Dass er unter der Englandreise seiner Stiefmutter wirklich litt, weil er sich nicht sicher war, ob sie zurückkommen würde. Schließlich war sie nicht seine leibliche Mutter. Und selbst die hatte ihn verlassen. Er war vier Wochen alt gewesen, da hatte ihn die Frau, die ihn zur Welt gebracht hatte, hysterisch weinend dem jungen Mann in die Arme gelegt, der ihn gezeugt hatte, und geschrien: »Ich kann nicht! Ich kann nicht! Ich kann nicht!«
Nicht, dass er diesen Moment bewusst mitbekommen hatte. Und doch war er ein entscheidender Teil seiner Biografie und seines Wesens, in seinen Träumen und Ängsten fest verwurzelt.
Ach, Rob, dachte Rosanna, wenn du mir doch glauben könntest … Natürlich komme ich zu dir zurück. Natürlich!
Am liebsten hätte sie ihn sofort noch einmal angerufen und ihm gesagt, dass sie ihn lieb hatte und dass er zu ihrem Leben gehörte, aber es erschien ihr nicht der richtige Zeitpunkt. Der Satz, einfach nur so gesagt, hätte ihn peinlich berührt. Im Grunde brauchten sie ein längeres Gespräch über das Thema, aber das war nicht geeignet für das Telefon. Und unten in der Lobby wartete Marc Reeve.
Von Cedric hatte sie nichts mehr gehört, aber sie hatte ihm einen Zettel unter seiner Tür hindurchgeschoben. Bin essen mit Marc Reeve!
Sie nahm ihren Mantel und verließ ihr Zimmer.
Sie kannte Reeve von Zeitungsfotos und hatte gewusst, dass er ein gut aussehender Mann war. Mehr war nicht erkennbar gewesen. Sein Gesicht hatte verschlossen auf sie gewirkt, sein Ausdruck hatte nichts preisgegeben. Es war nicht erkennbar gewesen, ob er ein fröhlicher oder ein ernster Mensch war, freundlich oder hart, entgegenkommend oder abweisend, herzlich oder kalt. Die Telefongespräche mit ihm hatten ihr verraten, dass sie seine Stimme als angenehm empfand und dass er sehr höflich war. Mehr nicht. Sie hatte sich ein eigenes Bild gezimmert, gefüttert von dem, was sie den Zeitungen entnehmen konnte, untermalt auch von ihrem Gespräch mit Mr. Hall. Danach hatte er sich aus ein paar Schlagwörtern und Begriffen in ihrem Kopf zusammengesetzt: Attraktiv. Intelligent. Karrierist. Ehrgeizig. Glatt. Berechnend oder zumindest kalkulierend.
Sie hatte ihm die typischen Attribute zugewiesen, die man erfolgreichen Anwälten eben so zuschreibt. Hätte man sie nach der ersten Stunde des Zusammenseins mit ihm erneut gefragt, was sie von ihm hielte, so wäre ihr zunächst einmal nur ein einziger Begriff eingefallen: vorsichtig. Er war einer der vorsichtigsten Menschen, denen sie je begegnet war.
Sie saßen in einem indischen Restaurant in der Marshall Street. Er hatte gefragt, ob sie indisches oder italienisches Essen bevorzuge oder etwas ganz anderes haben wolle, und plötzlich hatte sie gemerkt, wie viel Hunger sie hatte und dass ihr beim Gedanken an ein Lammcurry das Wasser im Mund zusammenlief.
»Indisch«, hatte sie gesagt, und er hatte genickt und erwidert: »Ich kenne einen guten Inder in Soho. Wenn Sie mögen …«
»Gern.«
Er fuhr schnell und sicher durch den Londoner Abendverkehr. Er schien die Stadt wie seine Westentasche zu kennen, denn zweimal, als sich Staus andeuteten, nahm er Schleichwege durch kleine Nebenstraßen, deren verworrener Verlauf Rosanna völlig in die Irre geführt hätte, aber er kam offensichtlich genau dort wieder an, wo er hingewollt hatte. Er fand einen Parkplatz in gut erreichbarer Nähe des Restaurants, obwohl es nach menschlichem Ermessen dort keinen geben konnte; die Autos standen Stoßstange an Stoßstange. Beim Aussteigen fragte sich Rosanna, ob er den schwarzen Range Rover wohl schon fünf Jahre zuvor besessen hatte. War es das Auto, in das Elaine gestiegen war? Hatte sie auf denselben Polstern gesessen? Der Wagen sah zumindest nicht mehr neu aus, aber sie mochte nicht fragen. Marc Reeve hatte sich unter größten Vorbehalten überhaupt nur bereit erklärt, sich mit ihr zu treffen, sie wollte ihn nicht verschrecken, indem sie ihn sofort mit Fragen bombardierte und die eifrige Reporterin herauskehrte.
Das Restaurant war warm und gemütlich, es roch wunderbar nach indischen Gewürzen, und alle Ober trugen bestickte Jacketts und große Turbane. Es war noch früh am Abend und zudem mitten in der Woche, und so waren nicht allzu viele Tische besetzt. Marc Reeve fragte nach einem Tisch in der hintersten Ecke. Rosanna war klar, dass er keine Zuhörer wollte.
Sie bestellten ihr Essen. Während sie warteten und an dem Wein nippten, der ihnen sofort gebracht wurde, machten sie nur belanglosen Smalltalk. Rosanna erzählte ein wenig vom Leben in Gibraltar, dann sprachen sie über das Wetter in England und über die katastrophale Verkehrssituation in London. Das persönlichste Statement, das Reeve dabei von sich gab, war: »Manchmal träume ich davon, aufs Land zu ziehen. Wir haben so wunderschöne Orte in England. Ruhige Orte.«
Sie musterte ihn unauffällig. Aus irgendeinem Grund hatte sie ihn sich gebräunt vorgestellt, wenn nicht von der Sonne, dann doch vom Solarium, aber er war sehr blass. Die typische Winterblässe, die den Menschen Mittel- und Nordeuropas im Februar zu eigen ist. Dunkle Haare, hier und da von ein paar grauen Strähnen durchzogen. Hemd, Krawatte, dunkler Anzug. Er kam wahrscheinlich direkt aus seinem Büro. Er sah müde aus.
Schließlich tat er selbst den ersten Schritt. Sein Gesichtsausdruck wurde ernst, er neigte sich ein wenig vor und blickte Rosanna sehr direkt an.
»Wir haben uns nicht getroffen, um über das Wetter oder den baldigen Verkehrsinfarkt Londons zu sprechen«, sagte er, »sondern über Elaine Dawson. Ich möchte Ihnen sagen, dass ich mich zu dieser Begegnung mit Ihnen wirklich ausschließlich deshalb bereit erklärt habe, weil ich nachvollziehen kann, dass Sie aufgrund Ihrer Freundschaft zu Miss Dawson auf sehr persönliche Weise an ihrem Schicksal interessiert sind. Ich gehe aber davon aus – und bitte verzeihen Sie, wenn das wie eine Unterstellung klingt –, dass es sich bei dieser Darstellung nicht um einen journalistischen Trick handelt. Ebenso verlasse ich mich auf Ihre Versicherung, dass wir hier ein rein privates Gespräch führen und dass ohne meine ausdrückliche Autorisierung nichts davon in der Presse landet. Das ist meine Bedingung für diesen Abend.«
Rosanna nickte. »Ich stehe voll zu meinem Versprechen, Mr. Reeve. Ich sitze hier als eine Freundin – oder besser: gute Bekannte – von Elaine Dawson. Nicht als Journalistin.«
Obwohl er endlich einmal ein leichtes Lächeln zeigte, das geeignet war, der Situation etwas von ihrer Spannung zu nehmen, hatte Rosanna nicht den Eindruck, dass er auch nur die Spur gelöst war. Es war nicht so, dass er ihr kein Wort geglaubt hätte, aber er war auch weit davon entfernt, ihr wirklich zu vertrauen. Plötzlich fragte sie sich, weshalb er überhaupt zu dem Gespräch mit ihr erschienen war. Konnte er nicht nach seiner Vorstellung dabei nur verlieren?
Er schien ihre Gedanken zu erraten, denn er sagte auf einmal: »Ich will ganz ehrlich sein, Mrs. Hamilton. Ich habe mich wirklich schwergetan nach Ihrem Anruf. Es gibt kaum etwas auf der Welt, das ich so wenig möchte wie das Wiederaufwärmen dieser Geschichte von damals. Aber letztlich habe ich mir gedacht …« Er stockte.
»Ja?«, fragte Rosanna.
Er gab sich einen Ruck. »Ich sagte ja schon, ich habe Verständnis für Ihr persönliches Anliegen. Aber darüber hinaus hat mich auch der Gedanke bewogen, dass Sie ja in jedem Fall für Cover die Geschichte schreiben werden. Wenn ich meine Mitarbeit nicht gänzlich verweigere, habe ich eine gewisse Chance, etwas Einfluss zu nehmen. Vielleicht. Andernfalls habe ich jedenfalls gar keine.«
»Sie sind sehr aufrichtig«, sagte Rosanna. Nach einem Moment des Schweigens fügte sie hinzu: »Und Sie sind ein ganz schön gebranntes Kind, habe ich den Eindruck.«
Er lächelte wieder, bitter diesmal. »Im Januar vor fünf Jahren hatte ich das Pech, in der Tür einer der Herrentoiletten in Heathrow mit einer in Tränen aufgelösten jungen Frau buchstäblich zusammenzustoßen. Ich hätte sie stehen lassen und weitergehen können. Ich hatte nichts mit ihr zu tun, und sie ging mich nichts an. Aber sie weinte so heftig, so … hoffnungslos, dass ich sie fragte, ob ich irgendetwas für sie tun könne. Das Einzige, was ich dann tatsächlich tun konnte, war, ihr einen Schlafplatz für die Nacht anzubieten. Unglücklicherweise nahm sie mein Angebot an. Und danach… war nichts mehr wie vorher.«
Ein Ober brachte das Essen. Es duftete verlockend.
»Ich habe riesigen Hunger«, sagte Rosanna.
Er nickte. »Ich auch. Meine erste richtige Mahlzeit heute.«
»Meine auch«, sagte Rosanna. Statt ordentlich zu Mittag zu essen, habe ich mich mit deinem Exnachbarn über dich unterhalten, dachte sie beschämt. Sie hoffte, Reeve würde davon nie etwas erfahren.
Nachdem sie ein paar Minuten gegessen hatten, fragte Reeve übergangslos: »Wieso glauben eigentlich alle, dass Elaine damals etwas zugestoßen ist?«
»Glauben das alle?«, fragte Rosanna zurück.
Er nickte. »Einige jedenfalls. Miss Dawsons Bruder allen voran. Er ist ja felsenfest überzeugt davon. Die Polizei zog es zumindest in Erwägung, was natürlich zu ihrem Job gehört. Die Presse fuhr völlig auf dieser Schiene, aber … na ja, Mord verkauft sich natürlich auch besser als ein bloßes Verschwinden.«
»Wahrscheinlich konnte sich niemand so recht erklären, wohin Elaine so spurlos verschwunden sein sollte. Und warum. Ich meine … auch ich kann mir nicht vorstellen …«
Er unterbrach sie. »Aber Sie haben sie doch gekannt. Wer sie gekannt hat, muss doch gewusst haben, wie verzweifelt unglücklich sie war in ihrem Leben. Mir, einem Fremden, hat sie das jedenfalls sofort erzählt. Gefesselt an ihren Bruder. Gefesselt an dieses Dorf. Sie sah keine Perspektive in diesem Leben. Für mein Gefühl war sie eine Frau, die von nichts so sehr träumte wie von einem Ausbruch.«
»Aber …«
Er ließ seine Gabel sinken. »Warum hat sich niemand gesagt, dass sie doch höchstwahrscheinlich mit ihrem Freund davongelaufen ist? Und sich vor ihrem Bruder versteckt hält? Ganz einfach.«
Rosanna starrte ihn entgeistert an. »Freund? Elaine hatte einen Freund?«
Er schien überrascht. »Wussten Sie das nicht?«
»Nein. Nein, ich hatte keine Ahnung.«
Er zuckte mit den Schultern. »Mir hat sie jedenfalls erzählt, dass sie einen hatte. Und dass sie ihn ihrem Bruder gegenüber nicht erwähnen darf. Und dass sie im Grunde nur noch weg möchte. Wissen Sie, ehrlich gesagt, als ich hörte, dass sie verschwunden ist, habe ich mich eigentlich keinen Moment lang gewundert.«
Rosanna saß wie vor den Kopf geschlagen da. Es hatte einen Mann in Elaines Leben gegeben.
Sie fand, das veränderte alles.