Mittwoch, 13. Februar
1
In der Nacht hatte sie von Pit geträumt. Das war schon so lange nicht mehr geschehen, dass sie am Morgen völlig verstört und benommen aufwachte und sich für einen Moment in die ersten Monate nach ihrer Flucht zurückversetzt sah, als die Albträume häufiger und regelmäßiger Bestandteil ihres Lebens gewesen waren. Sie hatte es als einen allerersten Sieg über ihre Vergangenheit verbucht, dass sie sich so völlig verzogen hatten. Nun aber …
Ein Ausrutscher, dachte sie und kletterte aus dem Bett. Wie immer war es in dem kleinen Zimmer sehr kalt, und es zog heftig durch die klapprigen Fenster. Der Blick hinaus offenbarte trübes, regnerisches Wetter. Im gegenüberliegenden Haus hatte jemand seine Bettdecke hinausgehängt, die am Ende mehr feucht als frisch gelüftet sein dürfte.
Sie hatte die Szene auf dem Parkplatz des Supermarkts geträumt. Teilweise ins Unrealistische verkehrt, wie das in Träumen häufig so ist. Der Supermarkt hatte aus einem riesigen Hochhaus bestanden, einer Art Wolkenkratzer, was in Wahrheit überhaupt nicht stimmte, denn es hatte sich um ein ausgesprochen flaches, langgestrecktes Gebäude gehandelt. Im Traum hatte der Bau seine ganze Umgebung weithin in einen eiskalten, düsteren Schatten getaucht. Man war sich wie eine frierende, kleine Ameise vorgekommen, die ewig nach dem Licht sucht, es aber nie mehr wiederfinden wird.
Das lag sicher daran, dass es hier im Zimmer so kalt war, dachte sie und zog fröstelnd die Schultern zusammen, denn in Wahrheit … damals …
Sie meinte, es sei Anfang Oktober gewesen, ein fast noch spätsommerlich warmer Tag. Damals hatte sie Pit geliebt, zumindest hatte sie sich eingebildet, das zu tun. Natürlich hatte sie sich über ihre ständige Nervosität gewundert, darüber, dass sie sich nicht so richtig glücklich fühlte. Wenn sie erst einmal wirklich verliebt wäre, so hatte sie immer geglaubt, dann würde sie vollkommen glücklich, strahlend, schwebend sein. Das Leben genießen und nur noch herrlich finden. Euphorisch sein.
Das war ganz klar an Pits Seite nicht der Fall. Was sie aber mehr und mehr auf die ständige Anwesenheit Rons schob. Ron war ein mieser Typ, aber Pit vergötterte ihn leider. Dauernd lud er ihn in ihrer beider Wohnung ein. Und sie musste dann kochen, tolle, aufwändige Gerichte, damit Ron bloß zufrieden war.
An jenem Tag hatte Ron sich Truthahn gewünscht, mit »allem Drum und Dran«, wie er es ausdrückte. Als sie sich auf den Weg zum Supermarkt machte, um dafür einzukaufen, fiel es Pit im letzten Moment ein, sie zu begleiten.
Heute dachte sie, wie blöd sie eigentlich gewesen sein musste, um nicht gleich zu wissen, dass ihre Beziehung zu Pit von vorne bis hinten nicht in Ordnung war. Sie hatte von einem gemeinsamen Leben mit ihm geträumt, aber wenn er sie nur zum Supermarkt begleiten wollte, erschrak sie schon und fühlte sich den Tränen nahe. Einkaufsfahrten waren für sie jedes Mal wie ein kurzer Ausflug in die Freiheit gewesen. Sie konnte allein durch die Regalreihen schlendern, Preise vergleichen, andere Menschen beobachten. Sie konnte sich wie eine der betulichen Hausfrauen fühlen, die langsam und umsichtig ihre Einkaufswagen füllten, mit Gegenständen, die Rückschlüsse auf ihre Lebensumstände zuließen. Sie liebte es, Vermutungen darüber anzustellen, wie andere Leute wohl lebten. Die Frau, die so viele Milchflaschen und Pakete mit den verschiedensten Müslis einpackte, hatte wahrscheinlich viele Kinder. Eine andere Frau kaufte nach sorgfältigem und – wie es den Anschein hatte – sehr liebevollem Auswählen mehrere Dosen Katzenfutter und ein Päckchen Brekkies. Der junge Mann, der es so eilig zu haben schien, war wahrscheinlich Student; er deckte sich reichlich mit Cola und Kaffee ein und dachte offenbar kaum daran, dass er auch etwas zum Essen brauchte. Vielleicht stand er kurz vor einer Prüfung und musste sich beim nächtelangen Lernen irgendwie wach halten.
Derartige Gedankenspiele konnte sie nicht treiben, wenn Pit bei ihr war. Sich mit ihm darüber austauschen zu wollen, war ohnehin sinnlos, sie hatte es daher auch nie versucht. Er konnte durchaus liebevoll mit ihr umgehen, wenn er in der richtigen Stimmung dafür war, aber er konnte ihr auch mit großer und verletzender Härte klarmachen, dass er sie für die dümmste Kuh aller Zeiten hielt. Irgendwie hatte sie die Ahnung, dass er ihre Geschichten um fremder Menschen Einkaufswagen unter Schwachsinn verbuchen würde.
An jenem Tag war ihr Pit von Anfang an latent aggressiv vorgekommen. Er hatte gesagt, sie solle fahren, aber dann hatte er die ganze Zeit über nur an ihr herumgemeckert. Sie fuhr zu schnell oder zu langsam, bremste zu früh oder zu spät, machte überhaupt falsch, was man nur falsch machen konnte. Das Ergebnis war natürlich, dass sie immer nervöser und dadurch tatsächlich unsicherer wurde.
»Ich fass es nicht«, stöhnte Pit theatralisch, als sie beim Einbiegen auf den Parkplatz des Tesco-Markts um ein Haar mit einem Radfahrer kollidiert wäre, der durch einen waghalsigen Schlenker gerade noch ausweichen konnte und wild schimpfend weiterfuhr. »Ich fass es nicht, wie jemand so schlecht Auto fahren kann!«
»Warum bist du nicht gefahren, wenn du findest, dass ich es so schlecht mache?«, fragte sie, den Tränen nahe.
»Wie sollst du es denn lernen, wenn ich dir immer alles abnehme? Wird Zeit, dass du selbstständig wirst! Meine Fresse!«
Immerhin gelang es ihr, den Wagen in eine Parklücke zu bugsieren, ohne dabei allzu sehr Pits Missfallen zu erregen. Er maulte zwar ein wenig, weil sie angeblich zu weit vom Eingang entfernt waren, aber natürlich hatte sie die Lücke mit Bedacht gewählt: Der Platz direkt daneben war frei, und so hatte sie einen weiteren Bogen fahren können. Zittrig, wie sie inzwischen war, hätte sie sonst bei einem normalen Parkmanöver am Ende noch eine Schramme verursacht.
Was danach geschah, konnte sie nie ganz genau rekonstruieren. Die entscheidenden Sekunden hatte sie selbst nicht mitbekommen, und ob es sich wirklich um einen Mordanschlag gehandelt hatte, wie Pit später behauptete, wusste sie nicht. Gerade als sie jeder an seiner Seite ausstiegen, bog ein roter Mini-Cooper in die Parklücke links von ihnen, und zwar angeblich mit solchem Schwung, dass er zunächst fast die geöffnete Autotür abrasiert und sodann um ein Haar Pit überfahren hätte, der neben dem Wagen stand und sich wie üblich nach Autofahrten – ganz gleich, wie kurz sie gewesen sein mochten – reckte und streckte und dabei seine beachtlichen Oberarmmuskeln spielen ließ.
Tatsächlich war aber überhaupt nichts passiert. Der Mini-Cooper war rechtzeitig zum Stehen gekommen, nichts und niemand war überhaupt berührt worden, und der Fahrer, ein junger Mann in Jeans und Pullover, lächelte entschuldigend. Wahrscheinlich hatte er die Kurve wirklich etwas schwungvoll genommen und bedauerte, dass er jemanden dadurch erschreckt hatte.
Pit rastete vollkommen aus.
»Ey, du Wichser!«, brüllte er. »Komm raus! Komm mal sofort raus!«
Das Lächeln des jungen Mannes gefror und wandelte sich in einen Ausdruck von Verwirrung.
»Raus, hab ich gesagt!«, schrie Pit.
Eine junge Frau, in deren Einkaufswagen ein kleines Kind saß, blickte erschrocken herüber und beschleunigte dann ihren Schritt. Auch ein älteres Ehepaar sah zu, dass es weiterkam.
Der junge Mann setzte seinen Wagen ein Stück zurück. Einen Moment schien es, als wolle er rasch davonfahren, und vermutlich war ihm dieser Gedanke auch tatsächlich gekommen, aber dann siegte sein Stolz. Vorsichtig, aber unnachgiebig parkte er sein Auto neben dem tobenden Pit.
Hilflos dachte sie: Fahr weg! Fahr doch weg!
Stattdessen stieg der junge Mann aus. Größere Gegensätze als zwischen ihm und Pit ließen sich kaum denken. Der Fremde war groß gewachsen, teuer und zurückhaltend gekleidet, wirkte gebildet und intelligent. Pit war mehr als einen Kopf kleiner, dafür ein einziges Muskelpaket. Seine kurzen, krummen Beine steckten in zu engen, verwaschenen und ausgefransten Jeans. Er trug ein ärmelloses weißes Unterhemd, das seine zahlreichen Tätowierungen an den Oberarmen offenbarte.
»Ey, komm her«, brüllte er, »was gibt's? Was gibt's?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte der junge Mann. »Wenn ich Sie beim Einbiegen in diese Parklücke erschreckt habe, dann tut es mir leid. Sie sind jedoch nicht verletzt worden, und soweit ich sehen kann, ist auch Ihrem Wagen nichts passiert.«
»Frech werden, was? Mich angreifen und dann frech werden, ja?« Die gepflegte Ausdrucksweise des anderen ließ Pits Aggressionen noch wachsen. Wie auch der Mini-Cooper, der Pullover von Lands' End, die Schuhe von Tod's. Der Typ repräsentierte alles, was Pit hasste.
»Ich schlag dir die Fresse ein!«, schrie er.
Der junge Mann wirkte unsicher, bemühte sich jedoch, dies zu verbergen. Er war wesentlich größer als Pit und wäre trotzdem aller Wahrscheinlichkeit nach bei einer Schlägerei unterlegen. Handgreifliche Auseinandersetzungen war er nicht gewohnt, auch verfügte er nicht über einen Bruchteil der Brutalität, für die Pit berüchtigt war.
»Es ist nichts passiert«, wiederholte er ruhig, aber seine Wangen waren um eine Schattierung blasser geworden.
»Nichts passiert, was? Nichts passiert? Du fährst mich fast platt, du Wichser, du Scheißer mit deinem feinen Auto, und dann dröhnst du hier rum, dass nichts passiert ist?« Zur Untermalung seiner Worte trat Pit kräftig gegen die Stoßstange des Mini. Es gelang ihm tatsächlich, sie mit einer Delle zu verzieren.
»Hören Sie auf damit!«, protestierte der junge Mann.
»Was gesagt, wie? Na komm, ich hab dich nicht verstanden, Wichser. Was hast du gesagt? Schön laut, damit ich's auch höre!« Pit kam um das Auto herum, stand in bedrohlicher Nähe des Fremden.
Diesem schlug sichtlich das Herz bis zum Hals. Hilfesuchend blickte er sich um, aber die wenigen Menschen, die sich in diesem hinteren Bereich des riesigen Parkplatzes aufhielten, hasteten gesenkten Blickes davon. Pit war der Typ Mensch, um den jeder instinktiv einen Bogen machte. Niemand wollte sich in eine Auseinandersetzung mit diesem Inbegriff an Brutalität und Hass einlassen.
»Ich sagte, Sie sollen aufhören, gegen meinen Wagen zu treten«, wiederholte der junge Mann, weil ihm nichts anderes übrig blieb, »sonst werde ich die Polizei rufen.«
»Die Bullen? Die Bullen willst du rufen, Wichser? Mich platt fahren und dann die Bullen rufen? Findest du nicht, dass das 'n bisschen frech ist, wie? Bisschen sehr frech? Was? Lauter, Wichser. Ich höre nichts.«
»Ich sagte auch nichts«, erwiderte der junge Mann.
Warum bist du bloß nicht weggefahren?, dachte sie verzweifelt.
Pits Faust schnellte nach vorne und traf den jungen Mann an der Nase. Er brach sofort in die Knie und ging zu Boden. Aus seiner Nase schoss ein Schwall Blut. Er presste seine Hand ins Gesicht und starrte fassungslos zu Pit hinauf.
»Willst du immer noch die Bullen rufen? Ja? Ich hör nichts! Ich hör immer noch nichts!« Er trat seinem Opfer mit aller Kraft in die Rippen. Mit einem Schrei kippte der Mann zur Seite, lag zusammengekrümmt auf dem sonnenwarmen Asphalt.
»Bitte«, stöhnte er leise, »nicht …«
»Was? Was gesagt? Hast du echt was gesagt?« Der nächste Tritt folgte. Er war geeignet, dem anderen etliche Rippen zu brechen. Der junge Mann stöhnte lauter.
Sie merkte, dass sein Blick hilfesuchend zu ihr glitt. Sie sah zur Seite. Sie konnte nichts für ihn tun. Sie wusste, was ihr blühte, wenn sie sich jetzt einmischte. Es war schrecklich für ihn, wegen nichts und wieder nichts auf diesem Parkplatz zusammengeschlagen zu werden, nur weil er das Pech gehabt hatte, im falschen Moment am falschen Ort gewesen und dabei einem Versager wie Pit begegnet zu sein, der einen Blitzableiter für seine Aggressionen und für seinen Hass auf die Gesellschaft suchte. Aber er würde daran nicht sterben, und er würde in sein normales Leben zurückkehren, in dem Männer wie Pit nicht vorkamen und in dem man höflich und auf kultivierte Art miteinander umging. Sie selbst konnte das nicht. Sie war an Pit gebunden und an Ron, und sie konnte es sich nicht leisten, ihre Lage zu verschlechtern. Pit hatte sie noch nicht geschlagen, aber er war mehr als einmal dicht davor gewesen, und sie wusste genau, dass er es irgendwann tun würde. Im Grunde kannte sie die Hölle, die sie erwartete, zu diesem Zeitpunkt bereits.
An jenem Oktobertag auf dem Tesco-Parkplatz, den sich krümmenden, blutenden Mann zu ihren Füßen, stellte sie sich zum ersten Mal die Frage, ob das alte Leben nicht trotz allem besser gewesen war.
Bis zum heutigen Tag erinnerte sie sich an die Antwort, die sie sich damals gegeben hatte: Aber ich kann nicht ohne Pit sein! Ich kann nicht mehr ohne einen Mann sein, der zu mir gehört.
Sie hatte sich abgewandt und den wimmernden Mann auf dem Asphalt nicht angesehen, und schließlich hatte Pit genug gehabt, hatte ihr den Autoschlüssel aus der Hand gerissen und gesagt: »Los. Wir fahren.«
»Aber … unsere Einkäufe?«, hatte sie gefragt, als komme es nur darauf im Moment an.
»Kriegen wir woanders auch. Steig ein.«
Sie waren eingestiegen und losgefahren, ziemlich hektisch und mit quietschenden Reifen, aber das tat Pit sonst auch, wenn er am Steuer saß, er ließ bei jeder Gelegenheit die Reifen quietschen. Im Rückspiegel hatte sie die zusammengekrümmte Gestalt gesehen, und ihr war kalt geworden am ganzen Körper. Während Pit vor sich hin pfiff. Er war jetzt glänzender Laune, und später war er sogar noch mit ihr in ein Schuhgeschäft gegangen und hatte ihr ein Paar Pumps spendiert, schwarzer Lack, zwölf Zentimeter hohe Absätze, zwei große strassbesetzte Schnallen vorn auf den Spitzen. Er mochte es, wenn sie solche Schuhe trug. Sie nicht, aber sie hätte ihm nie widersprochen.
Wie ging das aus damals?, fragte sie sich. Sie stand wieder in ihrem kleinen, verschlagähnlichen Bad in der Wohnung über Mr. Cadwick, dem Spanner, betrachtete ihr verhärmtes Gesicht im Spiegel, das so viel älter aussah, als es tatsächlich war, und zog noch immer ihre Schultern frierend zusammen.
Der Mann hatte Pit angezeigt. Passanten, die zwar zu feige gewesen waren, ihm zu helfen, hatten sich zumindest das Autokennzeichen gemerkt. Allzu viel war nicht passiert. Pit hatte eine Geldstrafe bekommen sowie eine Freiheitsstrafe, die jedoch zur Bewährung ausgesetzt wurde. Dass er nun vorbestraft war, hatte ihn nicht gestört. Er schien diesen Umstand sogar eher als eine Art Ritterschlag zu empfinden.
Sie spritzte etwas Wasser in ihr Gesicht, bürstete ihre Haare. Auf die Dusche verzichtete sie an diesem Morgen, der Boiler war so klein, dass das warme Wasser immer viel zu schnell aus war, und sie meinte, den plötzlich eiskalten Strahl heute nicht zu ertragen. Sie huschte in ihr Schlafzimmer zurück, schlüpfte rasch in Wäsche, Jeans, Pullover und dicke Socken. Sie brauchte dringend einen heißen Kaffee, um irgendwie warm zu werden. Es war eine Schande, dass Mr. Cadwick es wagte, eine derart zugige Wohnung zu vermieten. Er hätte längst die Fenster erneuern lassen müssen. Wenn er dabei wenigstens ein netter Kerl gewesen wäre. Aber am Ende schlich er schon wieder im Treppenhaus herum oder presste sich gegen ihre Wohnungstür, drückte sich das Ohr platt und wurde dabei von Frühlingsgefühlen durchrieselt. Sie schüttelte sich.
In der Küche nebenan lag eine Zeitung auf dem Tisch. Sie hatte sie gestern gekauft und sorgfältig den Immobilienteil studiert. Zwei Dörfer weiter wurden zwei Wohnungen angeboten, die nicht mehr kosteten als das Loch, in dem sie jetzt lebte, die aber sicherlich nicht schlechter sein konnten. Das Problem war, dass sie dann nicht mehr zu Fuß zum Elephant gehen konnte. Zwar gab es einen Bus, aber der fuhr natürlich nicht spätnachts, wenn sie endlich mit der Arbeit fertig war. Sie würde sich ein Fahrrad kaufen müssen, aber was wäre im Winter? Vielleicht fand sie aber auch einen Job in dem anderen Dorf, zumindest konnte sie sich umhören. Ideal war es sicher so, wie sie jetzt lebte, aber sie hatte inzwischen eine fast krankhafte Abneigung gegen Mr. Cadwick entwickelt, sie konnte an nichts anderes mehr denken als an einen Umzug.
Vielleicht war es auch nicht schlecht, sich wieder einmal zu verändern. Sie erinnerte sich, wie sie sich am Anfang, kurz nach ihrer Flucht, geschworen hatte, nie zu lange an einem Ort zu bleiben. Vielleicht war sie schon dabei, leichtsinnig zu werden, und der grässliche Mr. Cadwick war ein Wink des Himmels, dass sie ihre Zelte abbrechen sollte. Manchmal hatte sie ja schon gedacht, dass sie sich alles nur einbildete, dass sie, traumatisiert wie sie war, eine ganz unnötige Dauerflucht inszenierte. Aber nachdem ihr gerade wieder die Geschichte auf dem Tesco-Parkplatz eingefallen war, wusste sie, dass sie nicht vorsichtig genug sein konnte. Mit dem Parkplatz hatte es angefangen. Danach waren noch andere Dinge passiert. Sie hatte es bei Pit mit einem Psychopathen zu tun. Im tiefsten Innern wusste sie, dass er mit einer offenen Rechnung unmöglich leben konnte. Manchmal wachte sie mitten in der Nacht auf und spürte, dass Pit noch immer nach ihr suchte.
Sie verstaute die Zeitung in ihrer Tasche. Von Mr. Cadwicks Telefon konnte sie bei den Vermietern nicht anrufen, das war klar. Sie würde es vom Elephant aus tun.
Vielleicht würde sie nie wieder an dunklen, kalten Wintermorgen so frieren müssen wie in ihrer derzeitigen Herberge.
Allein diese Vorstellung hob ihre Laune bereits gewaltig.
2
Inspector Fielder von Scotland Yard saß in der Küche der Familie Biggs in Islington und mochte seinen Job an diesem Morgen nicht besonders gern. Als Junge hatte er die gängige Kriminalliteratur verschlungen, sich mit berühmten Detektiven und Polizisten identifiziert und zu keinem Zeitpunkt einen anderen Berufswunsch gehabt als den, zur Polizei zu gehen. Er wollte Morde aufklären. Er wollte den Toten zu einem posthumen Recht verhelfen. Er wollte die zur Rechenschaft ziehen, die vor dem schlimmsten Verbrechen nicht zurückgeschreckt waren: anderen das Leben zu nehmen.
Dass sich die Realität anders darstellte als in den Romanen, war ihm natürlich rasch klar geworden. Ewig blieb man ja auch nicht ein kleiner Junge mit einem glühenden Sinn für Gerechtigkeit. Es ging ihm natürlich immer noch genau darum: um Gerechtigkeit. Aber viel von seinem Enthusiasmus war inzwischen verloren gegangen. Nicht nur, weil sich viele Fälle am Ende doch nicht aufklären ließen. Auch nicht nur deshalb, weil es einen Polizisten manchmal mit Verbitterung erfüllte, erleben zu müssen, mit welch geringem Strafmaß Leute davonkamen, die anderen unermessliches Leid zugefügt hatten. Was vor allem zermürbte, war der ständige Umgang mit Gewalt. Mit den niederen, scheußlichen, verdorbenen und perversen Seiten der Menschen. Immer wieder stand er an Leichenfundorten. Starrte auf tote Körper. Sah ausgelöschtes Leben. Wurde mit den Spuren nicht nachvollziehbarer Brutalität konfrontiert. Und mit der Trauer, dem Schmerz der Hinterbliebenen. Über diesen Aspekt hatte er als Teenager am wenigsten nachgedacht. Dass er immer und immer wieder mit den Angehörigen der Opfer würde zusammensitzen und das Entsetzen ansehen müssen, in das deren Leben so unvermittelt getaucht worden war. Dass er ihnen Fragen steilen musste, obwohl sie unter Schock standen und Ruhe, allenfalls noch psychologischen Beistand, gebraucht hätten. Er musste ihnen auf die Nerven gehen, solange die Spur noch einigermaßen warm war. Manchmal kam er sich dabei vor wie jemand, der ein Messer in eine Wunde stieß und es ständig umdrehte.
Der Fall Biggs hatte eine Dimension angenommen, die ihn in den Zuständigkeitsbereich von Scotland Yard katapultiert hatte, daher blieb Fielder nichts anderes übrig, als die fassungslose Familie an diesem Morgen zu belästigen. Sally und Gordon hatten am Vortag die Tote aus dem Epping Forest einwandfrei und ohne zu zögern als ihre Tochter Linda identifiziert. Damit hatte die Leiche einen Namen, ein Gesicht, eine Geschichte bekommen.
Linda Biggs, sechzehn Jahre alt, geboren am 8. Dezember 1991, wohnhaft im Londoner Stadtteil Islington. Abgebrochene Schullaufbahn. Keine Lehrstelle. Keine Arbeit.
Es schien in Linda Biggs' Leben nicht allzu viele Perspektiven gegeben zu haben. Die enge Wohnung in einem sozial schwachen Viertel. Sieben Personen auf knapp achtzig Quadratmetern. Der Vater immer wieder arbeitslos. Die Mutter Alkoholikerin. Der älteste Bruder bereits mit dem Gesetz im Konflikt. Fielder wusste, dass es Jugendliche gab, die sich aus derartigen Konstellationen befreiten, aber es war die Minderzahl. Die meisten wurden in das soziale Elend hineingeboren, lebten darin und starben darin.
Eine kleine Chance mochte es für Linda gegeben haben: Sie war ungewöhnlich attraktiv gewesen. Die Gene ihrer ausgesprochen unansehnlichen Eltern hatten sich in ihr aufs Günstigste vermischt und ein bildschönes Geschöpf ergeben. Woraus sie leider nichts zu machen verstanden hatte. Ihre Art, sich zu kleiden und zu schminken, hätte ihr nie den Aufstieg in eine andere gesellschaftliche Schicht ermöglicht. Es stimmte leider, was ihr Vater gesagt hatte: Sie war wie eine Prostituierte herumgelaufen.
Hatte das ihren Mörder angezogen?
Alle Biggs waren versammelt. Die Jungs waren still und verstört und offensichtlich nicht in der Lage, an einem solchen Tag zur Schule zu gehen. Auch Angela hatte in ihrer Arbeitsstelle angerufen und sich entschuldigt. Sie hatte verquollene, rote Augen. Sie musste die ganze Nacht geweint haben und wirkte völlig entkräftet.
Gordon starrte die Wände an. Sally hatte eine Schnapsflasche vor sich stehen, hatte sich jedoch zumindest in Inspector Fielders Anwesenheit noch nicht daraus bedient. Sie legte nur hin und wieder die Hände fest um das Glas, als wolle sie sich vergewissern, dass es diesen Halt noch gäbe, wenn sie das Entsetzen nicht länger ertrug.
Fielder hatte sein Beileid ausgesprochen, ohne darauf eine Reaktion zu bekommen, aber was sollten sie auch sagen. Nun räusperte er sich. Für sein Kommen an diesem Morgen hatte er sich bereits entschuldigt, und Sally hatte mit leiser, wie zerbrochen klingender Stimme gesagt: »Sie müssen Ihre Arbeit machen. Ist doch klar.«
»Wir brauchen eine Aufstellung aller Freunde und Bekannten, mit denen Ihre Tochter Umgang hatte«, sagte er, »vor allem natürlich solche, mit denen sie in den letzten Monaten verstärkt zusammen war. Aber auch aus der Zeit davor, versteht sich. Glauben Sie, dass Sie mir eine Liste anlegen können?«
Wie auf ein geheimes Kommando hin schauten alle Angela an. Diese fuhr sich mit der Hand über die geschwollenen Augen.
»Ich kann das machen, ja. Ich glaube, ich… ich weiß am besten Bescheid.«
»Sie hatten ein enges Verhältnis zu Ihrer Schwester?«, fragte Fielder.
Angela zuckte mit den Schultern. »Eigentlich ja. Im letzten halben Jahr … nicht mehr so.« »Woran war das feststellbar?«
»Sie hat mir früher immer ganz viel erzählt. Nächtelang. Wir … hatten ein Zimmer zusammen. Manchmal hab ich gesagt, sei doch endlich still, ich muss schlafen. Aber sie fing immer wieder an. Sie… freute sich so sehr an allem. Sie brauchte jemanden, der sich mit ihr freute.«
»Ich verstehe«, sagte Fielder. Er überlegte und wandte sich dann an Gordon. »Mr. Biggs, wie ich dem Bericht von Constable Burns entnommen habe, sprachen Sie bei dessen Besuch davon, dass Ihre Tochter… nun, dass es recht zahlreiche Männerbekanntschaften in ihrem Leben gab. Sie waren sogar ziemlich sicher, dass sie sich bei einem Mann aufhielt. Haben Sie da Namen und Adressen?«
Gordon hob schwerfällig den Kopf. »Da war doch dieser… wie hieß er denn? Ben. Ben Brooks. Der wohnt einen Block weiter.«
»Er war ihr Freund?«
Gordon nickte. »Der war ihr Freund, ja. Ganz netter Kerl. Aber unbrauchbar.« »Unbrauchbar?«
»Keine Lehrstelle. Zu viel Alkohol. Keine Zukunft. Verstehen Sie?«
Fielder nickte. Er verstand. Ben Brooks war einfach wie die meisten in der Gegend.
»Mit Ben war sie zwei Jahre zusammen. Vor einem halben Jahr hat sie sich von ihm getrennt.«
»Vor einem halben Jahr …«, wiederholte Fielder nachdenklich. »Und vor einem halben Jahr etwa hörte sie auch auf, sich Ihnen so rückhaltlos wie gewohnt anzuvertrauen, Miss Biggs. Wissen Sie, warum sie sich getrennt hat?«
Angela schüttelte den Kopf. »Sie hatte mir zuerst gar nichts davon erzählt. Ich habe Ben getroffen, und der fragte mich ganz verzweifelt, was los sei. Linda hatte ihm Knall auf Fall die Beziehung aufgekündigt und ihm nicht einmal Gründe genannt. Sie hätte einfach keine Lust mehr, so hat sie gesagt. Ben dachte, ich wüsste Näheres, aber ich hatte keine Ahnung.«
»Sie haben Ihre Schwester aber sicher gefragt?«
»Klar. Sie meinte nur, Ben sei ein Milchbubi, so drückte sie es aus. Kein richtiger Mann. Mit Milchbubis wollte sie sich nicht länger abgeben.«
»Wie alt ist Brooks?«
»Achtzehn. Er ist wirklich nett. Mit ihm hatte sie keinen schlechten Griff getan.«
»Er is 'n Versager«, brummte Gordon, »'n netter Versager. «
»Die anderen Männer…?«, hakte Fielder vorsichtig nach.
Angela warf ihrem Vater einen zornigen Blick zu. »Dad hat das einfach immer unterstellt. Dass sie in ganz London herumschläft, wie er sagte. Das stimmte überhaupt nicht. Sie war Ben in den zwei Jahren nicht immer treu. Auf irgendeiner Party hat sie es mal mit einem Typen auf der Toilette getrieben. Und einmal hat sie einer bei Boots angequatscht, und mit dem hatte sie zwei Wochen lang was nebenher laufen. Das war's aber auch schon.«
»Zumindest soweit Sie das wissen?«
»Sie hat mir alles erzählt«, beharrte Angela.
»Mr. Biggs, Sie haben auch keine konkreten Anhaltspunkte für die angeblich so zahlreichen Männerbekanntschaften Ihrer Tochter?«, fragte Fielder.
Gordon knurrte etwas Unverständliches.
»Dad fand ihre Aufmachung unmöglich«, sagte Angela, »er sagte, sie sieht aus wie eine …«
Sally, die bislang geschwiegen hatte, fuhr mit unerwarteter Schärfe dazwischen. »Nein! Sag es nicht! Sag nie wieder dieses Wort über deine Schwester!«
»Er hat es immer gesagt«, verteidigte sich Angela. Sie hatte rote Wangen bekommen. »Er hat gesagt, sie sieht aus wie … so eine, und deshalb benimmt sie sich auch wie so eine.«
»Also, ihre Aufmachung«, begann Gordon, aber Fielder unterbrach rasch das heikle Thema. »Es gibt jedenfalls keine weiteren Namen von Männern, mit denen sie Affären hatte?«
»Nein«, sagte Angela.
»Nein«, räumte Gordon ein.
»Wir werden natürlich mit Ben Brooks sprechen«, sagte Fielder, »ebenso mit Freunden, Bekannten, Nachbarn. Jedes noch so kleine Mosaikteilchen kann wichtig sein, aber das ist Ihnen sicher klar. Für mich ergibt sich vorläufig die Vermutung, dass sich vor etwa einem halben Jahr, also ungefähr im August des vergangenen Jahres, etwas Entscheidendes in Lindas Leben verändert hat. Aus folgenden Gründen: Sie trennt sich um diese Zeit offensichtlich ohne Vorwarnung von ihrem langjährigen Freund. Sie hört plötzlich auf, ihre Schwester und bis dahin wohl engste Vertraute über die Vorkommnisse in ihrem Leben auf dem Laufenden zu halten. Zum dritten: Angela erwähnte in dem ersten Gespräch mit der Polizei, dass ihre Schwester auf einmal auffallend teure Kleidung getragen habe. Man konnte sich in der Familie nicht erklären, woher sie die finanziellen Mittel dafür hatte. Könnte auch diese Veränderung vor etwa einem halben Jahr ihren Anfang genommen haben?«
Angela überlegte. »Das könnte hinkommen«, meinte sie dann.
Fielder nickte. »Das klingt nach einem neuen Mann in ihrem Leben«, sagte er, »einem, der Geld hatte und mit dem es ihr womöglich sehr ernst war. So ernst, dass er nicht länger nächtliches Gesprächsthema mit ihrer Schwester war.«
»Glauben Sie, dass der sie umgebracht hat?«, fragte Gordon.
»Darauf gibt es vorläufig keinen Hinweis. Und solange wir den Mann nicht kennen, stochern wir ziemlich im Nebel. Er muss überhaupt nichts mit ihrem Tod zu tun haben.
Aber er ist vielleicht der einzige Anhaltspunkt, den wir haben. Bei ihm hat sie sich nach dem Streit mit ihrem Vater höchstwahrscheinlich aufgehalten. Zumindest könnte er uns etwas über ihre letzten Tage erzählen.« Fielder erhob sich. »Würden Sie mir erlauben, mich in Lindas Sachen umzusehen? Schränke, Schubladen, Taschen, alles. Vielleicht findet sich ein Hinweis auf den großen Unbekannten.«
Auch Gordon stand auf. »Klar«, sagte er, »kommen Sie, ich zeige Ihnen ihr Zimmer.«
»Ich komme mit«, sagte Angela hastig. Fielder nickte. Schließlich war es auch ihr Zimmer.
»Übrigens«, er blieb noch einmal stehen, »sagt Ihnen der Name Jane French etwas?«
Alle starrten ihn an.
»Jane French?«, wiederholte Sally.
»Is' das 'ne Freundin von unserer Linda?«, fragte Gordon.
Fielder schüttelte den Kopf. »Nein. Wohl nicht. Jane French ist eine junge Frau, die vor mehr als fünf Jahren ermordet wurde. Man fand sie im Epping Forest, allerdings in einer ganz anderen Ecke als Linda. Die beiden Fälle müssen überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Aber … als ich die Fotos von Linda dort draußen anschaute, als ich den Autopsiebericht las, fiel mir sofort die Geschichte von damals ein. Jane war vergewaltigt und böse misshandelt worden, anschließend hatte man sie gefesselt am Rand eines Tümpels abgelegt, in dem sie ertrank.«
»Wie … unsere …«, stammelte Sally leise.
»Es muss trotzdem nichts miteinander zu tun haben«, wiederholte Fielder.
»Hat man … weiß man, wer damals …?«, fragte Gordon.
Fielder schüttelte bedauernd den Kopf. Der Fall Jane French gehörte zu den größten Frustrationen, die er in seinег bisherigen Laufbahn erlebt hatte. Es hatte sich nicht die kleinste Spur ergeben, kein Hinweis aus der Bevölkerung, der nicht im Sande verlaufen wäre.
»Der Fall Jane French wurde nie aufgeklärt«, sagte er.
3
Rosanna musste eine Weile warten, ehe sie Geoffrey an den Telefonapparat bekam. Die Schwester, die im Pflegeheim den Hörer abgenommen und von Rosannas Anliegen gehört hatte, hatte gestöhnt. »Ich versuche es«, hatte sie gesagt, »aber es ist schwierig mit Mr. Dawson. Ich hoffe, er erklärt sich bereit, mit Ihnen zu sprechen.«
Offenbar war man von Geoffrey wenig Kooperationsbereitschaft gewohnt. Während sie wartete, dachte Rosanna an den lebhaften jungen Mann, der er einst gewesen war, und verglich dieses Bild mit dem Bündel verbitterten Elends, dem sie wenige Tage zuvor begegnet war. Ein schmerzhafter Gedanke. Sie verstand seine Wut, seinen Hass auf die Umwelt, auf alle Menschen, auf das Schicksal. Wahrscheinlich hätte sie selbst sich nicht anders verhalten.
Sie konnte hören, dass sich jemand dem Telefon näherte – ein leises Quietschen, vermutlich die Gummireifen des Rollstuhls auf dem magermilchweißen Linoleumboden –, und gleich darauf vernahm sie Geoffreys Stimme.
»Rosanna? Was gibt's?«
»Hallo, Geoffrey. Entschuldige, dass ich störe …« Kaum hatte sie die Worte gesagt, biss sie sich auf die Lippen. Eine Floskel, aber für jemanden wie Geoffrey musste sie wie Hohn wirken. Wenn er einmal im Monat einen Anruf bekam, war das für ihn wahrscheinlich eine kleine Abwechslung, keine Störung.
»Oh, schon gut, in meinem Alltag gibt es nicht allzu viel, wobei du mich stören könntest«, sagte er denn auch sofort und fügte im selben Atemzug hinzu: »Hast du mit Reeve, dem Schwein, gesprochen?«
»Ja, gestern Abend. Es war ein langes Gespräch.«
»Ach, tatsächlich? Hat er sich herabgelassen? Er scheint sich ja ausgesprochen sicher zu fühlen. Na ja, kein Wunder. Im Grunde kräht kein Hahn mehr nach Elaine. Haben sich ja alle mit ihrem Verschwinden abgefunden. Kann ja mal passieren, dass eine Frau so ganz einfach verschwindet. Sollte man nicht zu ernst nehmen!«
»Geoffrey«, sagte Rosanna, »wusstest du, dass Elaine einen Freund hatte?«
Kurzes konsterniertes Schweigen. Dann fragte Geoffrey: »Wie – einen Freund? Du meinst …?«
»Einen Mann. Einen … Liebhaber. Eine Beziehung. Sie hat Reeve davon erzählt. An jenem Abend.«
»Die alte Geschichte«, sagte Geoffrey, »mit der kam er doch schon damals an.«
»Damals?«
»Er hat damals schon der Polizei in seiner Befragung von diesem ominösen Freund erzählt. Die Beamten haben mich darauf angesprochen. Und meine Antwort lautete schon damals: Nein.«
»Das Nein bezog sich auf die Frage, ob du davon wusstest, oder …«
»Das Nein bezog sich auf die Frage, ob es einen Mann in ihrem Leben gab. Nein, es gab keinen. Reeve hat sich die Geschichte ausgedacht, um von sich abzulenken. Keine dumme Idee, aber nicht umsonst ist der Mann ein gerissener Anwalt. Er erfindet ein Phantom, und schon bekommt der Fall ein anderes Gesicht. Denn nun glaubt jeder, Elaine sei mit ihrer großen Liebe durchgebrannt. Und schon ist Reeve aus dem Schneider.«
Rosanna zögerte. Sehr vorsichtig fragte sie dann: »Der Gedanke, sie könnte die Existenz dieses … Freundes für sich behalten haben, ist für dich ausgeschlossen?«
»Du meinst, sie hatte einen Freund, von dem sie mir nichts erzählt hat? Aber dann trifft sie einen wildfremden Typen auf dem Flughafen, und dem schüttet sie sogleich ihr Herz aus? Entschuldige, aber das ist doch absurd.«
Rosanna schwieg. Nicht weil er sie überzeugt hätte, sondern weil sie begriff, dass ein sachliches Gespräch mit ihm kaum möglich sein würde. Geoffrey war nicht im Mindesten geneigt, auch unangenehmen Tatsachen möglicherweise ins Gesicht zu sehen. Wahrscheinlich war es ihm völlig unmöglich, sich selbst einzugestehen, wie sehr er Elaine unter Druck gesetzt, mit welch unnachgiebiger Härte er sie an sich gefesselt hatte. Dass sich Elaine womöglich jenseits des tristen Alltags einer Pflegerin ein anderes Leben aufgebaut und sorgfältig vor ihm verborgen haben könnte, war für ihn undenkbar, und sich mit dieser Möglichkeit auch nur ansatzweise zu konfrontieren, hätte ihn den letzten Rest an seelischer Stabilität gekostet, um die er wahrscheinlich mühsamer rang, als es irgendjemandem in seiner Umgebung bewusst war.
Sie dachte an ihr Gespräch mit Marc Reeve am Abend zuvor.
»Haben Sie der Polizei nicht von der Möglichkeit erzählt, dass Elaine mit ihrem Freund durchgebrannt ist?«, hatte sie gefragt. »Haben Sie überhaupt diesen unbekannten Freund bei der Polizei erwähnt?«
Reeve hatte genickt. »Natürlich. Aber da lag eben das Problem: der unbekannte Freund. Niemand hatte je von ihm gehört. Es gab keinen Namen, keine Beschreibung. So sehr ins Detail ist sie mir gegenüber ja auch nicht gegangen. Man hat dann mit ihrem Bruder gesprochen, der vehement abstritt, dass es da jemanden gegeben haben könnte. Unglücklicherweise wussten auch ihre Kollegen in der Praxis, in der sie arbeitete, nicht Bescheid. Der Freund blieb ein Phantom – eine Spur, die ins Nichts führte.«
»Rosanna!«, sagte Geoffrey nun eindringlich und riss Rosanna aus ihren Gedanken. »Hör mal zu, lass dich von Reeve nicht einwickeln! Es gab keinen Mann in Elaines Leben. Ich hätte das gewusst. Irgendjemand hätte es gewusst. Du kannst in ganz Kingston St. Mary und Taunton herumfragen, du wirst niemanden treffen, der sie je mit einem Mann gesehen hat. Ich meine, das ist doch seltsam, oder? So eine Beziehung verläuft doch nicht derart unsichtbar!«
Es sei denn, Elaine hat alles getan, sie vor dir geheim zu halten, dachte Rosanna, und dafür zu sorgen, dass dir auch von dritter Seite nichts darüber zugetragen wird. So etwas funktioniert wahrscheinlich nicht über einen allzu langen Zeitraum, aber eine Weile kann es gutgehen.
»Rosanna, Reeve ist ein Verbrecher! Er ist ein gut aussehender, interessanter Mann, und wahrscheinlich bist du schon völlig …«
»Unsinn. Geoffrey, bitte glaube mir, ich kann das alles wirklich einigermaßen rational betrachten. Ich hatte nicht den Eindruck, dass Reeve mich belog, als er von dem Mann in Elaines Leben berichtete. Es kann aber natürlich sein, dass Elaine vielleicht ein wenig aufgeschnitten hat. Vielleicht fand sie irgendjemanden in ihrem Umfeld interessant, hatte sich in ihn verguckt und bezeichnete ihn als Freund, obwohl derjenige gar nichts ahnte von seinem Glück. Das wäre doch auch denkbar.«
»Aha. Ehe du es für möglich hältst, dass Marc Reeve lügt, muss Elaine diejenige sein, die …«
»Geoffrey, mach dich doch mal von diesem Schwarz-Weiß-Denken frei. Ich sage ja gar nicht, dass Elaine gelogen hat. Aber vielleicht hat es in ihrem Alltag ein paar Tagträume gegeben. Mehr oder weniger haben wir die doch alle. Sie war eine junge Frau von dreiundzwanzig Jahren.
Meinst du nicht, dass sie manchmal darüber nachgedacht hat, wie es sein müsste, einen Freund zu haben? Von einem Mann geliebt zu werden? Das ist doch normal.«
»Sie hatte mich.«
»Du bist ihr Bruder.«
»Ich war ihr engster Vertrauter. Es gab nichts, was sie nicht mit mir besprochen hätte.«
Und ich wette, dass du dich in diesem Punkt irrst, dachte Rosanna.
Das Gespräch mit Geoffrey führte zu nichts. Reeve hatte ihr das am Vorabend prophezeit, als sie ankündigte, Geoffrey wegen des ominösen Freundes anrufen zu wollen.
»Er wird das Gleiche sagen wie damals. Dass es ausgeschlossen ist. Dass Elaine keinerlei Geheimnisse vor ihm hatte.«
Sie bat Geoffrey, sich ihre Handynummer wie auch die Telefonnummer ihres Hotels zu notieren und sie anzurufen, falls ihm doch etwas zum möglichen Liebesleben seiner Schwester einfiel. Geoffrey schrieb sich die Zahlen zwar auf, versicherte ihr dabei jedoch erneut, dass sie sich in einer völlig falschen Richtung verrenne.
»Geoffrey, ich melde mich wieder«, sagte sie schließlich erschöpft, »ich halte dich auf dem Laufenden.«
»Pass nur auf, dass Reeve dich nicht …«
»Ich bin nicht blöd«, sagte sie kurz und legte dann sehr nachdrücklich den Hörer auf. Sie hatte Mitleid mit Geoff, aber er ging ihr auch auf die Nerven. Mit ihm zu sprechen hieß, gegen eine Felswand zu laufen.
Nichts an diesem Mann bewegt sich, dachte sie, als ob er mit der Beweglichkeit seines Körpers auch die seines Geistes eingebüßt hätte. Seine Sicht der Dinge ist wie zementiert. So war es und nicht anders. Andere Möglichkeiten dürfen nicht einmal angedacht werden.
Auf einmal fühlte sie sich müde und frustriert. Es tat weh, den Jugendfreund, den sie als einen so ganz anderen Menschen gekannt hatte, heute so verändert erleben zu müssen. Aber nicht nur das Telefonat machte ihr zu schaffen. Auch das Gespräch mit Robert vom Vorabend geisterte ihr im Kopf herum. Und die Tatsache, dass Dennis noch immer nicht versucht hatte, mit ihr Kontakt aufzunehmen.
Sie fragte sich, ob die ganze Sache ein Fehler gewesen war. Elaines Geschichte wühlte sie mehr auf, als sie gedacht hatte. Mit den anderen Geschichten kam sie nicht voran, weil sie von ihrer persönlichen Betroffenheit im Fall Elaine regelrecht blockiert wurde. Ihre Ehe war in einer Krise, und ihr Stiefsohn litt unter ihrer Abwesenheit und schlug sich mit quälenden Ängsten herum. Sie selbst lebte in einem Hotelzimmer, und obwohl es ihr am ersten Tag noch als so komfortabel und luxuriös erschienen war, empfand sie es zunehmend als unpersönlich, kühl und beengend. Sie sehnte sich auf einmal nach den Gewohnheiten ihres Alltags, danach, sich in ihrer eigenen Küche einen Tee zu machen, die Waschmaschine zu füllen, das Wohnzimmer zu saugen oder im Garten herumzuwerkeln. Einkaufen zu gehen und sich zu überlegen, was sie für Dennis und Robert zum Abendessen kochen könnte.
Sie starrte sich in dem Spiegel an, der über dem Schreibtisch hing.
»Du bist ja nicht ganz gescheit«, sagte sie laut, »genau unter diesen Dingen und vor allem unter der Gleichförmigkeit, mit der sie abliefen, hast du doch so gelitten.«
Sie sah den sorgenvollen Ausdruck in ihren Augen.
Eine gute Journalistin muss eine innere Distanz halten zu den Themen, über die sie schreibt, dachte sie.
Sie beschloss, hinauszugehen und ein Stück zu laufen. Es herrschte graues Schmuddelwetter, aber der Regen vom Vortag hatte aufgehört. Vielleicht brauchte sie einfach ein bisschen Bewegung. Aus Erfahrung wusste sie, dass es ihr guttat zu joggen, wenn sie sich gedanklich festgefahren hatte.
Sie zog ihre Jogginghose, Laufschuhe und ein dickes Sweatshirt an, setzte ihre Baseballkappe auf den Kopf und verließ das Zimmer. Von Cedric hatte sie nichts mehr gehört oder gesehen; entweder war er spät in der Nacht zurückgekommen und schlief jetzt noch, oder er war noch gar nicht wieder da. Ein bisschen machte sie sich Sorgen um ihn. Das Hotel war teuer, und sie wusste, dass er nicht viel Geld hatte. Hoffentlich übernahm er sich nicht mit seinem langen Aufenthalt in London. Außerdem warteten doch sicher Verpflichtungen in New York auf ihn, irgendein Job, und dann hatte er ja davon gesprochen, sich als Fotograf selbstständig machen zu wollen. Es war typisch Cedric, anstatt endlich sein Leben anzugehen, in London herumzuhängen, halbe Tage zu verschlafen und alte Freunde abzuklappern. Vor der drängenden Notwendigkeit, Struktur und Sinn in seinen Alltag zu bringen, lief er wieder einmal davon. Er war ein erwachsener Mann, aber er war auch ihr Bruder, und vielleicht sollte sie bei nächster Gelegenheit einmal ernsthaft mit ihm sprechen.
Die feuchtkalte Luft tat ihr gut. Rosanna musste praktisch nur die Straße überqueren, dann hatte sie schon den Hyde Park erreicht. Es waren wenig Leute unterwegs, ein paar Spaziergänger, die eilig und mit hochgeschlagenen Mantelkragen ihre Hunde ausführten, ein paar Jugendliche, die herumlungerten und mit klammen Fingern Zigaretten drehten, ein paar Leute, die offenbar etwas verspätet auf dem Weg zur Arbeit waren. Nur hier und da ein Jogger. Rosanna fing an zu laufen, merkte, dass sie viel zu schnell rannte und zudem nicht gut in Form war. Das Tempo würde sie nicht lange durchhalten. Sie wurde langsamer, fand schließlich ihren Rhythmus und ihre Atmung. Gleichmäßig trabte sie über die sandigen Wege. Es war eine Nässe in der Luft, die sich wie ein feiner Film über ihr Gesicht und ihre Kleidung legte und ihr Kühlung spendete, als ihr heiß wurde und sie sich schließlich, abgekämpft und keuchend, auf einer Parkbank niederließ, um einen Moment auszuruhen.
Als sie eine Stunde später in ihr Hotel zurückkehrte, war sie nass und verschwitzt, aber sie fühlte sich besser. Und wieder ein wenig motivierter, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen.
Ihr Handy, das sie auf ihrem Nachttisch liegen gelassen hatte, hörte sie schon auf dem Flur klingeln. Sie hastete los, stürzte ins Zimmer und meldete sich atemlos. »Ja? Hallo?«
»Wo steckst du denn?«, fragte Nick vorwurfsvoll. »Ich versuche dich seit mindestens einer halben Stunde zu erreichen!«
»Ich war Joggen. Ich brauchte einfach mal ein bisschen Bewegung.«
»Das Ding, auf dem ich dich gerade anrufe, wurde erfunden, um es bei derlei Gelegenheiten mit sich zu führen«, sagte Nick etwas verstimmt. Dann änderte sich sein Tonfall, und er fuhr aufgeregt fort: »Tolle Neuigkeit, Rosanna! Wir haben eine Einladung in eine Talkshow!«
»In eine Talkshow?«
»Ich weiß nicht, ob du sie kennst. Private Talk. Jeden Freitagabend um zehn Uhr. Es werden immer drei oder vier Gäste eingeladen, die allerdings überhaupt nichts miteinander zu tun haben, aber wegen irgendetwas in ihrem Leben brandaktuell und von öffentlichem Interesse sind – zumindest für den Moment. Schauspieler, die einen neuen Film vorstellen, Skandalreporter, die irgendetwas aufgedeckt haben, Schriftsteller mit einem brisanten Roman, die neue Miss Liverpool, die auf unredliche Weise zu ihrem Titel gekommen sein soll… in der Art. Du kannst es dir vorstellen. «
»Und jetzt haben sie dich eingeladen?«
Nick lachte. »Wer will denn einen alternden Chefredakteur sehen? Nein, die junge, attraktive Journalistin ist von Interesse. Du bist übermorgen der Stargast!«
Sie erschrak so, dass ihre Knie weich wurden und sie sich rasch auf ihr Bett setzen musste. »Ich? Ach Gott, Nick, so etwas habe ich ja noch nie gemacht!«
»Du wirst perfekt sein, Rosanna. Du bist intelligent, sehr eloquent und siehst auch noch gut aus. Und ich muss dir ja nicht extra sagen, dass es eine fantastische Werbung für unsere Serie ist.«
»Ich bin wegen der Serie eingeladen«, sagte Rosanna und fand gleichzeitig, dass diese Bemerkung nicht besonders geistreich war. Weswegen denn sonst?
»Ja, klar. Wegen der Serie im Allgemeinen und wegen Elaine und deiner speziellen Beziehung zu ihr im Besonderen. Dass die Journalistin, die über diesen Fall schreibt, ein ganz persönliches Interesse an einer Antwort auf die Frage nach Elaines Verschwinden hat, macht die Sache pikant. Allerdings hat die verantwortliche Redakteurin zudem gefragt, ob …« Er schwieg.
»Ja?«, fragte Rosanna.
»Also, die hätten auch noch gern Geoffrey Dawson in der Sendung. Der Bruder, der im Pflegeheim dahinvegetiert. Du verstehst schon. Allerdings habe ich schon gesagt, dass …«
»Nick, das ist ausgeschlossen!«, sagte Rosanna sofort. Sie konnte sich einen Auftritt Geoffreys, gespickt mit Anschuldigungen und Hasstiraden gegen Marc Reeve, nur allzu gut vorstellen. Sein Erscheinen in der Sendung käme einem einzigen Rachefeldzug gleich. Für Marc Reeve wäre es eine Wiederholung seines persönlichen Albtraums.
»Ich weiß. Das schafft der Mann überhaupt nicht«, sagte Nick, »das habe ich der Redakteurin bereits klargemacht.«
Rosanna wusste, dass Geoffrey dies sehr wohl schaffen, dass er geradezu nach dieser Bühne lechzen würde und notfalls von Taunton bis London im Rollstuhl angefahren käme, wenn er irgendwo die Möglichkeit witterte, dem verhassten Reeve eins auszuwischen. Aber es erschien ihr besser, dieses Wissen für sich zu behalten. Mochten Nick und die Leute vom Fernsehen ruhig glauben, Geoff sei mit dem Auftritt in einer Live-Sendung einfach überfordert.
»Na ja, auf jeden Fall bedeutet das einen schönen Zugewinn für die Auflage von Cover«, fuhr Nick fort, »und das ist die Hauptsache. Ich werde dich zum Sender begleiten, Rosanna. Wir müssen etwa zwei Stunden vor Beginn da sein. Vorbesprechung, Maske und so weiter. Du bist doch nicht nervös?«
»Nein«, sagte Rosanna. Sie war auch nicht wirklich nervös. Es war mehr eine Art seltsames Unbehagen, das sich in ihr ausbreitete. Als ob die ganze Geschichte mit dieser Fernsehsendung unübersehbare Ausmaße annahm. Am Ende nicht mehr kontrollierbar sein würde.
Sie kannte Nick gut genug, um zu wissen, dass es überhaupt keinen Sinn hatte, ihm das Zusammenspiel mit Private Talk ausreden zu wollen. Nick hatte immer und in erster Linie die Auflage seines Blattes vor Augen. Die gigantische, kostenlose Werbung, die einem Fernsehauftritt entsprang, würde er sich nicht entgehen lassen, weil eine Mitarbeiterin ein unbehagliches Gefühl dabei hatte. Im Grunde musste sie das Gute bei all dem sehen und dankbar sein, dass er sich nicht mit Geoffrey Dawson direkt in Verbindung gesetzt und ihn fürs Mitmachen gewonnen hatte. Ihren eigenen Auftritt konnte sie zumindest steuern.
»Also dann, Freitagabend«, sagte Nick und legte auf.
Sie starrte ihr Handy an und dachte: Wie bringe ich das jetzt Marc Reeve bei?
Auf der M11 hatte es einen Unfall gegeben, und offenbar hatte die Polizei die gesamte Fahrbahn gesperrt, denn seit über einer Stunde bewegte sich nicht ein einziges Auto. Mehrere Polizei- und Krankenwagen sowie zwei Feuerwehrautos waren über die Standspur gerast, so dass man sich ausrechnen konnte, dass es heftig gekracht haben musste. Schließlich tauchte auch noch ein Hubschrauber am Himmel auf.
Na, dann gute Nacht, dachte Cedric ergeben.
Etliche Leute waren aus ihren Autos gestiegen, standen frierend auf der Fahrbahn herum, unterhielten sich, gingen auf und ab, versuchten ihre Nervosität wegen der aufgezwungenen Wartezeit irgendwie in den Griff zu bekommen. Bei den meisten handelte es sich um Pendler, die auf dem Weg zur Arbeit nach London waren, bei denen nun wichtige Termine platzten und der ganze Tagesplan durcheinandergeriet. Etliche hielten ihre Handys am Ohr und redeten hektisch auf eine Person am anderen Ende der Verbindung ein. Cedric, der keine Lust hatte, in der klammen Kälte des Februarmorgens herumzustehen und sich lieber in seinem warmen Autositz zurücklehnte, dachte, dass er sich wirklich nicht beklagen musste. Der Stau war ärgerlich, aber es gab absolut nichts, was er deswegen verpasste. Auf ihn wartete ein Hotelzimmer, ein Mittagessen irgendwo um die Ecke, vielleicht mit Rosanna zusammen, wenn sie Zeit hatte. Der Nachmittag war noch nicht verplant. Letztlich war es egal, ob er ihn auf der M11 verbrachte oder anderswo.
Aber seltsamerweise fühlte er sich mit diesem Gedanken kein bisschen besser oder entspannter. Ganz im Gegenteil.
Er betrachtete die entnervten Menschen um sich herum und stellte zu seiner Verwunderung plötzlich fest, dass er sie beneidete.
Um die Struktur in ihrem Leben, um die Wichtigkeit und den Sinn dessen, was sie taten, um die Ziele, die sie alle zu haben schienen.
Eigentlich hatte er sich schon die ganze Nacht mit ähnlichen Gedanken herumgeschlagen. Er hatte eine Kommilitonin von früher besucht, die in Royston bei Cambridge wohnte. Ein beschauliches kleines Dorf, gepflegte Häuschen, gewellte grüne Wiesen drumherum. Die Kommilitonin war verheiratet und hatte drei Töchter, entzückende kleine Mädchen mit langen Zöpfen und weißen Strumpfhosen. Auf der Fensterbank im Wohnzimmer lagen zwei Katzen. Abends kam ihr Mann nach Hause und wurde von den Mädchen stürmisch begrüßt. Noch vor etlichen Jahren hätte Cedric gedacht: Spießig! Aber die Zeiten waren vorbei. Er dachte an seine New Yorker Wohnung, der stets etwas Kaltes und Düsteres anhaftete, an seine Abende in den Kneipen von Manhattan, an seine rasch wechselnden Bettgefährtinnen und an manchen einsamen Sonntagmorgen, den er nur mit einer Zeitung und dem schmerzhaften Kater vom Vorabend verbrachte.
Sie hatten reichlich getrunken, und man hatte ihm angeboten, die Nacht im Gästezimmer zu verbringen. Als er am Morgen aufwachte, hatte eine der Katzen auf seinen Füßen gelegen, warm und schnurrend, und vor seinem Fenster hatte er die Mädchen plappern und lachen hören. Er war aufgestanden und hatte ihnen nachgeschaut, wie sie in ihren Schuluniformen den Weg hinunter zur Bushaltestelle gingen. Ein jähes Gefühl von Einsamkeit hatte ihn ergriffen. Er war in sein Bett zurückgekrochen, hatte die Katze zu sich heraufgezogen und auf seine Brust gelegt. Er hatte das verrückte Gefühl gehabt, dass ihr weiches Fell sein inneres Frieren linderte.
Im Grunde waren diese Gefühle und Gedanken – dass er etwas versäumt hatte im Leben, dass es ihm nicht gelingen wollte, eine bestimmte Kurve zu bekommen, für die es längst an der Zeit war – nicht neu. Wie ein kleiner, nagender Schmerz saßen sie seit drei oder vier Jahren irgendwo in seinem Kopf oder in seiner Seele. Unauffällig genug, so dass er sie immer wieder verdrängen konnte durch Ereignisse, Menschen, neue Frauen, rauschende Partys, Alkohol. New York bot zahlreiche Möglichkeiten, das, was nicht in Ordnung war, zu überspielen. Aber immer wieder kam es auch zu den Momenten, in denen der Schmerz spürbar wurde und ihm signalisierte: Ich bin immer noch da. Ich werde immer da sein. Wenn du innehältst, wirst du mich bemerken.
Manchmal war das ein Abend inmitten einer glücklichen, intakten Familie. Manchmal ein Stau auf der Autobahn.
In New York war Cedric ein paar Mal zu einem Psychotherapeuten gegangen. Die meisten seiner Bekannten gingen in eine Therapie oder machten eine Analyse, und in einer Phase, in der er sich besonders einsam und nichtsnutzig gefühlt hatte, war Cedric dieser Weg als eine Chance erschienen. Er wusste nicht, ob der grauhaarige Mann, dem er in einem hellen, großen Zimmer in einem bequemen Ledersessel gegenübersaß, als Arzt etwas taugte oder nicht, aber es war ihm zumindest gelungen, recht rasch ein paar Knackpunkten im Leben seines Patienten auf die Spur zu kommen. Regelrecht festgebissen hatte er sich dann bei Geoffrey. Genauer gesagt, bei der Nacht, als der Unfall passiert war. Cedric hatte den fatalen Ablauf der Ereignisse wieder und wieder schildern und seine Gefühle dabei analysieren müssen, bis es ihm zu bunt geworden war. Er hatte den Therapeuten nicht wieder aufgesucht. Es tat ihm nicht gut, über Geoffrey zu sprechen. Natürlich war er nicht blöd, ihm war schon klar, dass es genau dieses Unbehagen, fast könnte man sagen: dieser Horror war, der ihn bei jedem Gedanken an Geoff befiel, was die Geschichte für den Therapeuten interessant machte. Aber dann hätte er ihm eben schneller helfen müssen. Man konnte doch einen Patienten nicht bloß einfach wieder und wieder aufwühlen und dann nach Hause schicken. Bis zum nächsten Mal. Einmal hatte er auf dem Nachhauseweg zu weinen begonnen. Das wollte er nie wieder erleben. Heulend durch die Straßen von Manhattan zu wanken… was bildete sich der Typ ein?
Geoffrey. Geoffrey und Cedric. Geoffreyundcedric. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte man die beiden Namen in einem einzigen Wort sprechen und schreiben können. So unzertrennlich waren sie gewesen. Es hatte nichts gegeben, was sie nicht gemeinsam taten. Fast nichts. Aufs Klo gingen sie allein, und Dates mit Mädchen nahm jeder für sich wahr. Aber ansonsten … unzertrennlich wie Brüder.
Bis zu jener Nacht.
Er versuchte den Gedanken wegzuschieben. Wenn er hier in diesem verdammten Stau, der ihn zu völliger Bewegungslosigkeit verurteilte, anfing, über Geoffrey nachzudenken, würde er durchdrehen und entweder schreien oder hupen oder beides tun. Wahrscheinlich war es ein Fehler gewesen, nach England zu kommen. Aber sein einsamer Vater hatte ihm leidgetan, und wenn er ehrlich war, so hatte auch in ihm selbst ein Einsamkeitsgefühl genagt. Schließlich konnte er nicht Geoffreys wegen für alle Zeiten seiner Heimat fernbleiben. Vielleicht hätte er ihn nicht in diesem furchtbaren Heim besuchen sollen. Aber dann wäre er sich wie ein Schuft vorgekommen.
Und ausgerechnet jetzt arbeitete Rosanna auch noch an dieser Geschichte über Elaine. Es ging wirklich mit dem Teufel zu.
Ich sollte jetzt wenigstens schnell abreisen, dachte er, Zimmer an Zimmer mit Rosanna im Hotel, das muss mich ja aufwühlen. Dauernd spricht sie über Elaine.
Eigentlich hatte er Geoffs kleine Schwester nie allzu gut gekannt. Ein eher weinerliches Mädchen, das jedem auf die Nerven ging. Sie hatte sich zudem zu einem ziemlich unansehnlichen Teenager entwickelt, so dass Cedrics Interesse auch in dieser Hinsicht nie erwacht war. Eigentlich hatte er sie immer übersehen. Nicht einmal ihr Verschwinden fünf Jahre zuvor hatte ihn wirklich berührt.
Heute, zum ersten Mal, in diesem dicken Stau auf der M11, dachte er: die kleine Elaine. Was, verdammt, ist bloß mit ihr passiert?
Es gab Mädchen, von denen hätte er sofort geglaubt, dass sie mit einem Kerl durchgebrannt waren. Oder solche, von denen man sich vorstellen konnte, dass sie sich per Anhalter auf einen ziellosen Weg machten, am Ende in irgendeiner WG landeten oder in einer Selbsterfahrungsgruppe auf dem Land. Solche, die sich nach Paris aufmachten oder in die Provence, wo sie schließlich Oliven oder selbstgemalte Bilder verkauften. Mädchen, um die man sich eigentlich keine Sorgen machen musste, weil sie abenteuerlustig waren, neugierig, wild und lebenshungrig.
Aber nicht Elaine.
Wenn er sie hätte beschreiben sollen, wären ihm Begriffe eingefallen wie: verklemmt. Langweilig. Prüde. Spießig.
Er wusste, dass sie, aufgewachsen ohne den früh verstorbenen Vater, nach dem Tod der Mutter hingebungsvoll für Geoffrey gesorgt hatte. War es vorstellbar, dass sie ihn verließ? Wissend, dass dies für ihn ein Leben im Heim bedeutete?
Er schüttelte den Kopf. Das passte nicht zu ihr. Und doch war es vielleicht anmaßend, dass jeder, der sie gekannt hatte, meinte sagen zu können, was zu ihr gepasst hätte und was nicht. Denn zu Elaines seltsam zurückgenommenem Wesen hatte es gerade gehört, dass eigentlich niemand wirklich von kennen hatte sprechen können. Es gab keine Freundin, mit der sie sich ausgetauscht hätte. Niemanden, den sie in ihr Inneres hätte blicken lassen. Jedenfalls nicht, dass einer davon gewusst hätte.
Eben, dachte er, ärgerlich auf sich selbst, auch das weiß ich eigentlich nicht. Ich weiß nichts. Rosanna weiß nichts. Vielleicht weiß nicht einmal Geoffrey so viel, wie er glaubt.
Es war ein ganz neuer Gedanke, der sich plötzlich in Cedric ausbreitete, aber er fand ihn keinesfalls abwegig: Wenn nun Elaine eine ganz andere gewesen war, als sie alle geglaubt hatten? Wenn sich hinter ihrer unscheinbaren Fassade, hinter ihrer schüchternen Zurückhaltung in all den Jahren ein ganz anderer Mensch aufgebaut und entwickelt hatte, jenseits der treusorgenden Schwester, der pflichtbewussten Arzthelferin, dem farblosen Mauerblümchen? Möglich, dass Elaine ein Doppelleben geführt hatte. Und dass sie die Reise nach Gibraltar genutzt hatte, sich in dieses andere Leben zu verabschieden.
Cedric lehnte sich in seinem Autositz zurück. Ein zweiter Hubschrauber war am Horizont aufgetaucht. Es musste wirklich ein furchtbarer Unfall sein, der sich ereignet hatte.
Das konnte dauern.
Ergeben schloss er die Augen. Wie es aussah, konnte er in aller Ruhe noch ein kleines Schläfchen einschieben, ehe es weiterging.
5
Das Apartment war kleiner als ihre bisherige Wohnung, aber viel heller und freundlicher. Ein Wohnzimmer mit einer Kochnische und mit Kiefernholzmöbeln eingerichtet, ein winziges Schlafzimmer mit geblümten Vorhängen am Fenster und einem bunten Flickenteppich auf dem Boden, ein hellblau gefliestes Bad, das zwar keine Wanne, aber zumindest eine Dusche hatte. Wenn man aus den weiß lackierten Sprossenfenstern blickte, sah man über die flachen Wiesen, die sich hinter dem Haus in die Endlosigkeit erstreckten. Winterfahles, niedriges Gras auf sandigem Boden. Wenn man sich zum Badezimmerfenster weit hinauslehnte und nach rechts schaute, konnte man einen Zipfel vom Meer sehen.
Sie wusste, dass sie sich hier wohl fühlen würde. Viel wohler als in dem dunklen Loch über dem schrecklichen Mr. Cadwick.
Mrs. Smith-Hyde, die Besitzerin des Hauses, musste an die sechzig Jahre alt sein und war alles andere als freundlich, aber wenigstens würde sie ihr nicht nachstellen und sich vermutlich auch nicht allzu sehr in ihre Belange einmischen. Sie war seit zwei Jahren Witwe und hatte ihr relativ geräumiges Haus so umbauen lassen, dass das kleine Apartment dabei entstanden war.
»Das Haus war für mich einfach zu groß«, sagte sie, »ich habe mich sehr verloren gefühlt. Außerdem fand ich es unheimlich, immer so allein zu sein. Es ist beruhigend, wenn eine zweite Person im Hause ist.«
»Ich arbeite als Bedienung im Elephant in Langbury. Ich komme sehr spät nachts nach Hause …«
»Das macht nichts. Hauptsache, irgendjemand kriegt es irgendwann mit, wenn mir etwas passiert. Man liest ganz schön oft davon, finden Sie nicht? Von älteren Menschen, die in ihren Wohnungen stürzen, und keiner bemerkt es, und schließlich ist es dann für jede Hilfe zu spät. So etwas möchte ich vermeiden.«
»Das kann ich gut verstehen.«
Mrs. Smith-Hyde sah sie misstrauisch an. »Bedienung, sagten Sie? Sie bringen aber keine Männer mit hierher?«
Warum denken so viele Leute bei Bedienung gleich an leichte Mädchen?, fragte sie sich.
»Nein«, sagte sie, »bestimmt nicht. Ich bringe keine Männer mit.«
»Ich bin kein Stundenhotel«, stellte Mrs. Smith-Hyde die Dinge noch einmal ganz klar. »Ich vermiete an Sie, nicht an diverse Herren, die sich dann hier bei Ihnen einnisten.«
»Da müssen Sie sich keinerlei Gedanken machen, Mrs. Smith-Hyde.«
Die ältere Dame knurrte etwas, das wie hoffentlich klang, und meinte dann übergangslos: »Die Miete für den ersten Monat will ich aber gleich im Voraus. Also die für den restlichen Februar und für März. Und zwei Mieten als Kaution.«
Sie schluckte. Das würde teuer werden.
»Wann kann ich denn einziehen?«, fragte sie.
»Sofort, wenn Sie mögen.«
»Hm.« Sie überlegte. Sie hatte bei Mr. Cadwick den Februar bereits bezahlt, und wenn sie nun Hals über Kopf und ohne die geringste Frist zu wahren bei ihm auszog, stand nicht zu erwarten, dass sie auch nur einen Penny davon wiedersehen würde. Andererseits hielt sie es einfach keinen Tag länger bei ihm aus, also blieb ihr nichts übrig, als den Februar doppelt zu bezahlen, eine ungeheure Verschwendung, aber sie hatte keine Wahl. Immerhin musste Mr. Cadwick ihr ebenfalls eine Kaution zurückzahlen, so dass sie in dieser Hinsicht kein größeres Loch in ihrer Kasse zu erwarten hatte. Ein Fahrrad musste sie schließlich auch noch kaufen. Anders konnte sie in der Nacht nicht von Langbury bis zu ihrem neuen Domizil gelangen.
»Dann miete ich es sofort«, sagte sie entschlossen, »und innerhalb der nächsten Tage werde ich einziehen. Ich habe auch bisher möbliert gewohnt. Ich bringe eigentlich nur meine Kleider mit.«
»In Ordnung«, stimmte Mrs. Smith-Hyde zu. »Sie haben einen guten Griff getan, das kann ich Ihnen sagen. Wenn Sie hinten aus dem Garten hinausgehen und über die Wiesen laufen, kommen Sie zum Strand. Im Sommer kann man da baden. Und es sind kaum Leute da. Hierher verirrt sich nie jemand.«
Genau das, was ich suche, dachte sie, und doch wurde ihr gerade bei dieser Formulierung ein wenig schwer ums Herz. Ja, hierher verirrte sich vermutlich noch weniger jemand als nach Langbury. Ihr Leben geriet immer tiefer in die Einsamkeit, in die Abgeschiedenheit. Sie war keine dreißig Jahre alt und vergrub sich im Haus einer ältlichen Witwe irgendwo in der Mitte von Nirgendwo. Mit der Aussicht, dass sich daran nie etwas ändern würde.
»Also dann«, sagte sie, »ich muss mich beeilen, damit ich den Bus zurück nach Langbury noch bekomme. Auf Wiedersehen, Mrs. Smith-Hyde. Ich freue mich auf die Wohnung. «
»So schön kriegen Sie es nirgends«, sagte Mrs. Smith-Hyde mit einiger Selbstzufriedenheit. Sie schloss sehr sorgfältig die Tür zum Apartment ab. Die beiden Frauen standen auf einer kleinen, zugigen Terrasse seitlich des Hauses. Von dort gab es den direkten Zugang zu der kleinen Wohnung. Auch das war ein Vorteil: ein eigener Eingang.
Als sie zum Bus lief, recht eilig, damit ihr warm wurde und sie zudem nicht die Abfahrt verpasste, dachte sie: Es ist hell. Immerhin. Vielleicht ist es doch ein erster Schritt. Vielleicht wird sich mein Leben irgendwann öffnen.
Sie verharrte an einem kleinen Gemischtwarenladen, stieß dann entschlossen die Tür auf und trat ein. Sie kaufte einen Daily Minor, denn sie hatte an diesem Tag noch keine Zeitung gelesen. Es war ihr wichtig, jeden Tag in ein Blatt zu schauen. Nicht wegen der Politik, die im Land betrieben wurde, auch nicht, weil sie irgendetwas interessierte, was im Ausland geschah. Seit fünf Jahren hegte sie eine einzige Hoffnung: einmal eine kleine Meldung in einer Zeitung zu finden, die ihr berichtete, dass Pit verhaftet worden war. Dass er für viele Jahre im Knast verschwinden würde. Oder, noch besser: Bei seiner Festnahme hätte er sich einen Schusswechsel mit der Polizei geliefert und wäre dabei ums Leben gekommen. Tot. Ausgelöscht. Ungefährlich. Knochen in der Erde, nicht mehr.
Sie wusste, wie unwahrscheinlich es war, dass überhaupt eine Zeitung davon berichten würde, selbst wenn das Ersehnte passieren sollte. Pit, wie auch sein Freund Ron, waren kleine Fische. Oder auch nicht. Fand erst jemand heraus, was alles auf ihr Konto ging – vielleicht waren sie dann doch eine Meldung wert. Sie musste jedenfalls am Ball bleiben.
Die Zeitung in der Hand, trabte sie weiter. Im Laufen warf sie einen Blick auf die Titelseite.
Grausamer Mord im Epping Forest lautete die Schlagzeile. Darunter abgebildet war das Foto eines noch sehr jungen, hübschen blonden Mädchens. Wer ist Linda Biggs' Mörder? wurde gefragt, und weiter, besonders fett gedruckt: Wer tut so etwas?
Dann folgten die Details. Sie las. Sie blieb stehen. Sie dachte nicht mehr an den Bus, den sie erreichen musste. Sie dachte nur noch: Wie Jane French.
Mein Gott, wie Jane French!
Es war, als habe sie gerade eine Nachricht von Pit bekommen.
Nur nicht die, auf die sie gehofft hatte.
Erst am späten Mittwochnachmittag war Angela allein in der Wohnung und wagte sich an den Computer ihres Bruders Patrick. Genau genommen war sie nicht ganz allein, denn Sally war da, lag aber im Wohnzimmer auf dem Sofa und hatte ein starkes Beruhigungsmittel genommen, das zusammen mit ihrem wie üblich reichlich konsumierten Alkohol eine geradezu umwerfende Wirkung entfaltete: Sie hatte es gerade noch bis zu ihrer Liegestatt geschafft, dann waren ihr buchstäblich die Beine weggeknickt, sie war umgekippt und lag nun im Tiefschlaf. Ihr Mund stand leicht offen, ihre gequälten Gesichtszüge entspannten sich. Angela gönnte es ihr. Auf die Katastrophe, die unvermittelt in ihr Leben hereingebrochen war, reagierte Sally so, wie sie schon immer auf alle Probleme reagiert hatte: Sie suchte die Betäubung im Schnaps. Diesmal jedoch gelang es ihr nicht, im Rausch Entspannung zu finden, selbst die Trunkenheit nahm ihr nicht die Gedanken und die Bilder, die sie folterten. Mit Hilfe des Medikaments fand sie nun etwas Ruhe.
Gordon, der seit dem Abschied von Inspector Fielder nur in der Küche gesessen und vor sich hin gestarrt hatte, war plötzlich aufgestanden und hatte erklärt, hier in der Wohnung verrückt zu werden, er müsse hinaus an die frische Luft, laufen, atmen, irgendetwas tun. Er war kreidebleich gewesen, als er seine Stiefel anzog, seinen Anorak griff und mit lautem Türenschlagen hinausging. Angela wusste, er versuchte vor den Bildern davonzulaufen, die ihn peinigten, die sie alle peinigten: die Bilder von Lindas letzten Lebensstunden, letzten Lebensminuten. Es ging nicht nur darum, dass sie eine Tochter, eine Schwester verloren hatten, sie mussten von nun an mit der Tatsache leben, dass einem Mitglied ihrer Familie auf schlimmste Art Gewalt angetan worden war, Gewalt, die einen tödlichen Ausgang genommen hatte. Linda war nicht friedlich gestorben. Sie war durch die Hölle gegangen, war missbraucht und gequält worden, hatte vermutlich um ihr Leben gekämpft und gebettelt, sich mit aller Kraft gewehrt und doch nie den Hauch einer Chance gehabt.
»Lindas Mörder war ein Psychopath«, hatte Fielder erklärt. »Linda wurde sadistisch gequält. Wer das getan hat, ist krank. Und hochgradig gefährlich.«
Es ist entsetzlich, dachte Angela, das werden wir alle für den Rest unseres Lebens mit uns herumtragen. Das wird uns nie mehr verlassen.
Nichts würde je wieder normal sein.
Die Jungs, von denen keiner heute in der Schule gewesen war, waren nacheinander verschwunden, wohin, wusste niemand. Wahrscheinlich hingen sie irgendwo mit ihren Cliquen herum, rauchten Zigaretten, kickten Bierdosen umher, taten sich vielleicht mit markigen Sprüchen hervor. Lindas Bild war am Morgen in mehreren Zeitungen gewesen. In Islington wusste man, welcher Schicksalsschlag die Biggs' getroffen hatte. Angela konnte sich vorstellen, dass sich ihre Brüder nun betont cool gaben. Ihre Art, mit der Verarbeitung zu beginnen. Eine Verarbeitung, die Angelas Ansicht nach keiner von ihnen je zufriedenstellend abschließen würde.
Sie hatte Patricks Computer schon manchmal benutzt. Eigentlich musste sie vorher fragen, aber sie hatte ungestört sein wollen. Zum Glück kannte sie sich aus. Sie gab das für Patrick typische Passwort – Fuck – ein, um ins Internet zu kommen, rief Google auf und trug den Namen ein, um den es ihr ging: Jane French.
Eine Sekunde später hatte sie seitenweise Einträge vorliegen.
Jane French war am 17. November 2002 im Epping Forest gefunden worden. Sie hatte mit dem Kopf in einem kleinen Tümpel gelegen, der sich direkt neben einem Unterstand befand, der zu einem sehr abgelegenen Grillplatz gehörte. Zwei Wanderer, ein älteres Ehepaar, hatten in der Hütte Schutz vor einem plötzlichen Regenguss gesucht, zufällig durch eines der hinteren Fenster geblickt und die tote Frau entdeckt. Bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung stellte sich heraus, dass Jane French tagelang dort gelegen haben musste. Im November grillte niemand mehr, und offensichtlich hatte auch sonst niemand seit längerem den Unterstand aufgesucht.
Der Fundort war nicht identisch mit dem Tatort.
Jane French wies heftige Verletzungen im Vaginalbereich auf, sie musste mit einem scharfen Gegenstand, möglicherweise mit einer Glasflasche, vergewaltigt worden sein. Sie hatte Schnittwunden am ganzen Körper und Spuren von Faustschlägen im Gesicht. Mehrere Rippenbrüche und schwere Verletzungen im Unterbauch deuteten darauf hin, dass sie mit Fußtritten traktiert worden war. An all dem war sie jedoch nicht gestorben. Als Todesursache war Tod durch Ertrinken angegeben. Gefesselt und bewusstlos hatte man sie am Rande des Teichs abgelegt, und zwar so, dass sich ihr Gesicht unter Wasser befand.
Angela lehnte sich zurück. Sie merkte, dass sie Kopfschmerzen bekam und dass ihr übel war. Wer tat so etwas mit einer jungen Frau? Folterte und quälte sie auf jede nur denkbare schreckliche Weise und tötete sie schließlich besonders brutal und grausam. War sie von der Bewusstlosigkeit in den Tod geglitten? Oder war sie noch einmal aufgewacht, hatte versucht, sich zur Seite zu rollen, hatte es nicht geschafft und war schließlich zu entkräftet gewesen, den Kopf über der Wasseroberfläche zu halten?
Sie klickte sich weiter durch die Berichte. Jane French war nicht als vermisst gemeldet gewesen, und die Polizei hatte fast zwei Wochen lang im Dunkeln getappt, um wen es sich bei der Toten handelte. Dann hatte sich endlich eine Freundin von ihr gemeldet, die sie auf dem Zeitungsfoto zu erkennen geglaubt hatte. Die Freundin, eine drogensüchtige Prostituierte, hatte lange mit sich gerungen, ob sie die Polizei anrufen sollte, da sie wohl selbst jede Menge Dreck am Stecken hatte und den Kontakt mit den Gesetzeshütern scheute wie der Teufel das Weihwasser. Zum Glück hatte sie sich schließlich doch überwunden und die Tote zweifelsfrei identifiziert. Sie hatte angegeben, dass Jane French zum Zeitpunkt ihres Todes zwanzig Jahre alt gewesen war. Sie stammte aus Manchester, war mit siebzehn Jahren nach London gekommen. Ihr Vater lebte schon lange nicht mehr, zu ihrer Mutter hatte sie jeden Kontakt abgebrochen, so dass dieser das Verschwinden der Tochter nicht hatte auffallen können. In London hatte sie sich zunächst mit den verschiedensten Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten versucht, war aber letztlich auf dem Straßenstrich gelandet. Mit der Freundin hatte sie sich ein Zimmer geteilt. Jane nahm keine Drogen, trank nicht einmal Alkohol und wollte weg von der Prostitution. Sie hatte davon geträumt, jemanden zu finden, der sie heiratete und ihr ein besseres Leben ermöglichte.
»Aber die Kerle, die sie kennen gelernt hat«, wurde die Freundin zitiert, »die waren alle miteinander nichts wert.«
Im März des Jahres 2002 war sie plötzlich nicht mehr in dem gemeinsamen Zimmer aufgetaucht. Sie verschwand ohne jede Vorankündigung. Augenscheinlich hatte sie nur ihre Handtasche dabei – die allerdings später nicht mehr auftauchte – und die Kleider, die sie am Leib trug.
Die Freundin hatte sich darüber nicht allzu sehr gewundert, zumindest nicht aufgeregt.
»Jane erzählte nie viel. Ich dachte, sie hat endlich jemanden kennen gelernt und ist vielleicht bei dem eingezogen. Warum sie nichts mitgenommen hat? Keine Ahnung. Vielleicht wollte sie einfach mit ihrem ganzen alten Leben nichts mehr zu tun haben. Ich wusste ja, dass sie weg wollte von all dem.«
Laut der verschiedenen Berichte hatte die Polizei nach weiteren Spuren in Janes Umfeld gesucht, war aber kaum fündig geworden. Von den diversen Freiern war niemand mehr aufzutreiben gewesen, erwartungsgemäß hatte sich auch niemand gemeldet. Man hatte sich mit Janes Mutter in Verbindung gesetzt, aber die hatte ihre Tochter seit drei Jahren nicht mehr gesehen und nichts von ihr gehört und konnte nicht die geringste Auskunft geben. Letztlich verfestigte sich der Verdacht, dass Jane French in Ausübung ihres Jobs an einen Psychopathen geraten und arglos in dessen Wagen gestiegen war, das »klassische Berufsrisiko der Prostituierten«, wie eine Zeitung etwas zynisch schrieb. Die Polizei hatte sich auf weitere Morde gefasst gemacht, da man davon ausging, dass ein derart gestörter Täter seinen Durst erneut würde stillen müssen, aber tatsächlich war dann nichts mehr geschehen, das die Handschrift des Falles Jane French getragen hätte. Sie blieb der einzige derartige Fall.
Bis zum 12. Februar 2008. Dem Tag, an dem eine Spaziergängerin die furchtbar zugerichtete Leiche der jungen Linda Biggs im Epping Forest gefunden hatte.
Angela hob den Kopf. Ihre Augen brannten. So intensiv und angestrengt hatte sie auf den Bildschirm gestarrt, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie sich ihr ganzer Körper verspannt hatte. Nun stieß sie unwillkürlich einen leisen Schmerzenslaut aus: Ihre Schultern und ihr Nacken taten bei jeder Bewegung weh.
Sie wusste, dass sie keine Polizeiarbeit leisten konnte, aber sie hatte doch gehofft, etwas zu finden, das als entscheidender Hinweis gelten würde. Irgendeine Gemeinsamkeit zwischen jener unbekannten Jane French und ihrer kleinen Schwester Linda. Etwas, das der Polizei vielleicht nicht auffallen konnte, das sie, die Linda gekannt hatte wie niemand sonst, jedoch auf die richtige Spur führen würde. Bislang hatte sie keine Information gefunden, bei der es sie wie ein Blitz durchzuckt hätte.
Sie starrte wieder auf den Bildschirm.
Worin bestanden Übereinstimmungen?
Beide Frauen waren im Epping Forest gefunden worden, allerdings in völlig verschiedenen Ecken.
Beide Frauen waren auf die gleiche Art – mit einem scharfzackigen Gegenstand – vergewaltigt worden, man hatte sie geschlagen und getreten. Körperflüssigkeit des Täters war nicht zurückgeblieben, was eine Aufklärung erschwerte.
Beide waren am Ende ertrunken.
Ihre Todesumstände wiesen auffallend viele Übereinstimmungen auf.
Was war mit ihren Lebensumständen?
Jane French hatte als Prostituierte gearbeitet. Linda hatte sich – Angela musste es widerwillig vor sich selbst zugeben – wie eine Prostituierte gekleidet. Lag da ein Anhaltspunkt? Fuhr der durchgeknallte Typ auf eine bestimmte Art der Aufmachung ab?
Aber Hunderte liefen so herum. Er hätte nicht über fünf Jahre warten müssen, um sein nächstes Opfer zu finden. Es gab harmlose Schulmädchen, die an den Wochenenden auf eine Weise gekleidet in die Diskotheken strömten, als seien sie in Wahrheit auf den nächstbesten Freier aus.
Oder hatte Gordon, ohne das wirklich zu wissen, recht gehabt, wenn er Linda so oft als Nutte betitelte? War da ein Zusammenhang mit Lindas im letzten halben Jahr offensichtlich veränderten finanziellen Verhältnissen? Hatte sie heimlich ihre Kasse auf diese ganz spezielle Weise aufgebessert? Und war zufällig an denselben abartigen Verbrecher geraten, der auch Jane auf dem Gewissen hatte?
Blieb die Frage nach der langen Zeit dazwischen. Warum hatte sich der Typ nicht alle paar Monate ein Mädchen vom Straßenstrich geschnappt?
Sie vertiefte sich wieder in die Berichte.
Und wenn es bis zum nächsten Morgen dauerte. Sie würde etwas finden.