Samstag, 23. Februar

 

1

 

Es hatte eine hässliche Szene am Vorabend gegeben, und Marina hatte lang nicht einschlafen können, hatte ihr Herz bis in den Hals schlagen gespürt. Nach dem Streit vom Mittagessen hatte sich Rob eine Weile draußen herumgetrieben, war gegen vier Uhr wieder erschienen und hatte sich wortlos in das Gästezimmer zurückgezogen, das er für die Zeit bei seiner Mutter bewohnte. Als sie ihn zum Abendessen holen wollte, reagierte er nicht. Erst um halb zehn kam er die Treppe herunter. Marina, die im Wohnzimmer saß und fernsah, hörte, wie er seine Jacke von der Garderobe nahm. Sie trat in den Flur.

»Du willst noch eine Runde durchs Viertel drehen?«, fragte sie betont locker, obwohl sie sofort fürchtete, dass ihm mehr als das vorschwebte. Er hatte pfundweise Gel in seine Haare geschmiert und sich mit Aftershave geradezu übergössen.

Er zog seine Jacke an. »Ich geh weg«, erklärte er, »irgendwohin, wo was los ist.« »Was heißt, wo was los ist

»Das heißt, was es heißt. Es ist Freitagabend. Ich sitze doch an einem Freitagabend nicht hier am Stadtrand herum und schau mir bescheuerte Quizsendungen im Fernsehen an!«

»Wo genau möchtest du denn hingehen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich schau mich um.«

»Rob, du kennst dich doch hier gar nicht aus. Du hast keine Freunde und Bekannten hier. Und du bist erst sechzehn!«

Als habe er sie nicht gehört, nahm er den Haustürschlüssel, den sie ihm für die Dauer seines Aufenthalts überlassen hatte, vom Haken und schickte sich an, zu gehen.

»Rob!«, sagte Marina scharf.

Er drehte sich widerwillig um. »Ja?«

»Ich möchte das nicht. London ist kein Dorf. Ich kann dich hier nicht allein losziehen lassen. Es ist viel zu gefährlich!«

Er bemühte sich, sie cool und überlegen anzublicken, aber in seinen Augen standen vor allem Verletztheit und Wut.

»Wie willst du mich denn daran hindern?« »Ich verbiete es dir.«

Jetzt grinste er. »Was soll die Show, Mummy?«, fragte er. »Glaubst du ernsthaft, du kannst mir irgendetwas verbieten? Soll ich dir mal sagen, wie sehr mich interessiert, was du möchtest oder nicht? Genau so viel interessiert mich das!« Damit hatte er ihr den Mittelfinger gezeigt und war durch die Tür hinaus in die Dunkelheit entschwunden, noch ehe sich Marina von ihrem Schrecken über die obszöne Geste erholt hatte und reagieren konnte.

Sie hätte nicht mehr zu sagen gewusst, wie der Abend vergangen war. Sie hatte ihn vor dem Fernseher verbracht, aber sie hatte nichts von den Programmen mitbekommen, die dort liefen. Sie trank Wein, zu viel Wein, ihr liefen die Tränen über das Gesicht, und sie sah immer wieder zwei Szenen vor ihrem inneren Auge: den Tag, an dem Rob geboren wurde, den Moment, da ihr die Schwester das winzige, rosige Baby in den Arm legte und sie daraufhin zu weinen begann, so heftig und untröstlich, dass man ihr schließlich eine Spritze hatte geben müssen, um sie zu beruhigen. Und die Szene des heutigen Abends, den jungen Mann, der ihr den Mittelfinger zeigte und sodann, ihren Protest ignorierend, das Haus verließ und krachend die Tür hinter sich ins Schloss warf. Es war, als hätten ihre Tränen von damals in direkter und unvermeidlicher Konsequenz zu dem Hass geführt, den sie heute in seinen Augen gesehen und der sie tief erschreckt hatte.

Gegen Mitternacht war sie zu Bett gegangen, hatte bis vier Uhr entweder gar nicht oder nur oberflächlich geschlafen, auf Geräusche gelauscht, die die Heimkehr ihres Sohnes hätten ankündigen können, und versucht, trotz ihres Herzrasens zu einer ruhigen Atmung zu finden. Endlich war sie eingeschlafen, aber sie erwachte schon um halb sieben wieder, mit trockenem Mund und dröhnendem Kopf.

Stöhnend richtete sie sich auf. Sie hatte einen heftigen Kater. Wahrscheinlich hatte sie viel mehr Alkohol getrunken, als sie überhaupt bemerkt hatte.

Sie erhob sich, schlüpfte in ihren Bademantel und tappte auf bloßen Füßen hinüber zum Gästezimmer, spähte hinein. Es sah dort wüst aus, schon die ganze Zeit, weil Rob weder sein Bett machte noch Wäsche und Strümpfe in Schubladen und Schränke räumte, sondern alles dort fallen ließ, wo er es gerade auszog. Der Geruch seines Rasierwassers hing noch zwischen den Wänden. Er selbst war nicht da.

Sie lief hinunter. Die Fliesen im Flur waren eiskalt unter ihren nackten Füßen. Ein einziger Blick zeigte ihr, dass Robs Jacke nicht an der Garderobe hing und dass auch sein Schlüssel fehlte. Ohne Frage war er in der Nacht nicht mehr nach Hause gekommen.

In der Küche standen zwei leere Weinflaschen auf dem Tisch. Marina starrte sie an. Die eine, so entsann sie sich dunkel, war nur noch halb voll gewesen, die andere hatte sie neu geöffnet. Sie hatte eineinhalb Flaschen ganz allein getrunken. Kein Wunder, dass sie sich fühlte, als sei ihr Kopf in einen Schraubstock gespannt.

Sie nahm ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit Leitungswasser, trank es gierig leer, füllte es gleich ein zweites Mal. In einer Schublade fand sie ein letztes Aspirin in einem Röhrchen und warf es in das Glas.

Die Frage war, was sie nun tun sollte.

Draußen dämmerte der Tag herauf, ohne Nebel, es schien sonnig zu werden. Die Kälte kroch an ihren nackten Beinen hoch. Sie wartete, dass sich die Tablette auflöste, und überlegte dabei, ob sie Dennis anrufen sollte. Es hätte ihr etwas von dem belastenden Gefühl der alleinigen Verantwortung genommen, aber andererseits konnte Dennis im Augenblick gar nichts tun und sie hätte ihn nur schwer beunruhigt. Vielleicht war ja gar nichts passiert. Bloß – wo hatte Rob die Nacht verbracht?

Sie trank ihr Aspirin, dann lief sie hinauf ins Bad, duschte lang und heiß, zog sich warm an, lief wieder hinunter, aß ein Toastbrot und trank einen starken Kaffee. Sie fühlte sich schon ein wenig besser. Da es sie verrückt machen würde, hier im Haus herumzusitzen, würde sie sich jetzt ins Auto setzen und die Gegend abfahren. Es mochte völlig sinnlos sein, aber es war andererseits nicht ausgeschlossen, dass er sich irgendwo herumtrieb, und es hatte in jedem Fall mehr Sinn, als einfach nur zu warten. Sie würde sich einen Zeitpunkt setzen, zu dem sie Dennis verständigen und sich dann in Absprache mit ihm an die Polizei wenden würde. Drei Uhr am Nachmittag. Sollte sie Rob bis dahin nicht gefunden haben, sollte er sich nicht gemeldet haben oder wieder bei ihr aufgetaucht sein, würde sie offizielle Wege beschreiten.

Sie verließ das Haus. Der Morgen war kalt, klar und still. Ringsum schienen die meisten Leute noch zu schlafen. Marina machte sich auf die Suche nach ihrem Sohn.

»Ich bewundere dich«, sagte Cedric sanft, »du bist mutig und stark. Wirklich.«

»Ich wünschte, ich könnte mich so fühlen«, sagte Pam. »Mutig und stark. Im Augenblick habe ich nichts als Angst.«

Sie sah müde aus und versank fast in einem grauen Rollkragenpullover von Cedric, den er ihr überlassen hatte, damit sie ihre eigenen Sachen einmal waschen konnte. Sie war ungeschminkt, hatte die dunklen Haare aus der Stirn gestrichen. Sie wirkte jünger, als sie war. Wie ein Mädchen Anfang zwanzig. Oder sogar noch wie ein Teenager.

Sie saßen im Wohnzimmer von Cedrics Elternhaus, Pam kauerte mit angezogenen Beinen auf der Couch, Cedric saß in einem Sessel. Er hatte immer noch Schmerzen, aber sie waren besser geworden, und er hatte heute Morgen schon etwas weniger Medikamente gebraucht als noch am Vortag.

Draußen drängte mit Macht der Frühling herbei. Drinnen tickte leise eine Uhr. Von der Straße waren an diesem Samstagvormittag keine Geräusche zu hören.

Cedric und Pam warteten auf die Polizei.

Victor hatte sich taktvoll zurückgezogen und war auf den Markt gegangen, um für das Wochenende einzukaufen.

Eine Dreiviertelstunde zuvor hatte Pam eingewilligt, Inspector Fielder zu verständigen, und Cedric hatte gleich dort angerufen.

Fielder, den er persönlich erreichte, hatte ihn sofort angebellt: »Sie ist bei Ihnen? Wie lange schon?«

Cedric hatte keine Lust zu lügen. »Seit Mittwochabend.«

»Und da melden Sie sich erst jetzt

»Sie hat Zeit gebraucht. Und ich bin kein Denunziant.

Jetzt rufe ich Sie mit Pamelas Einverständnis an, und das war mir wichtig.«

Fielder war wütend, aber er schien selbst zu merken, dass dies nicht der Zeitpunkt war, Cedric die Leviten zu lesen. »Sind Sie jetzt bei Ihrem Vater daheim?«, vergewisserte er sich. »In Ordnung. Ich schicke jemanden von der Polizei in Taunton vorbei. Man wird Miss Luke unverzüglich nach London bringen.«

»Ja, damit haben wir gerechnet«, sagte Cedric förmlich, nannte Fielder die genaue Adresse und legte den Hörer auf.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte er nun, »du sagst die Wahrheit, und du wirst Fielder damit überzeugen. Da bin ich sicher.«

»Ich nicht. Ich habe ihn einmal angelogen. Er hat keinen Grund, mir diesmal zu glauben.« »Dir wird nichts passieren.«

Sie sah sehr traurig aus. »Schade, dass du nicht mitkommen kannst.«

Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich würde es sofort tun. Aber die Strecke ist zu weit, und ich bin leider noch immer sehr gehandicapt.«

»Klar. Du musst dich schonen. Es ist schlimm genug, was du wegen mir aushalten musst. Ich wünschte, ich hätte dich mit dieser Begegnung mit Pit verschonen können. Aber …«, sie hob in einer hilflosen, bedauernden Geste beide Arme, »am besten wäre, ich hätte mich nie mit ihm eingelassen. Von diesem Moment an war ein Drama vorprogrammiert.«

»Er war nicht gerade eine glückliche Wahl«, meinte Cedric. Nachdenklich fügte er hinzu: »Ich wüsste gern, was dich zu ihm hingezogen hat. Weshalb du glauben konntest, von ihm geliebt zu werden. Er war so brutal. So gestört. So unberechenbar. Und man hat ihm das sofort angesehen.«

Sie zuckte die Schultern. »Er gab mir das Gefühl, dass ich ihm wirklich wichtig war. Das hatte mir vorher nie jemand gegeben. Für mich fühlte sich das … ganz besonders an. Verrückt, nicht?«

»Nein. Verrückt wohl nicht. Aber absolut fatal.«

Sie nickte langsam, dann wischte sie sich mit beiden Händen über die Augen, als versuche sie, das Bild ihres einstigen Peinigers von ihrer Netzhaut zu löschen. Übergangslos fragte sie: »Wie lange bleibst du, ehe du nach New York zurückkehrst?«

»So lange, bis die Ärzte grünes Licht geben«, sagte Cedric. »Ich bin ganz froh, noch eine Weile hier zu sein. Meinem Vater tut es gut.«

»Er ist sehr einsam.«

»ja.«

»Und diesen Freund wirst du auch besuchen? Den, der im Rollstuhl sitzt? Der an dem Abend bei dir im Krankenhaus war, als ich zu dir kam?«

»Geoffrey. Geoffrey Dawson. Elaines Bruder. Ja, den werde ich besuchen. Er ist auch sehr einsam.«

»Woher kennt ihr euch?«

»Von … o Gott, wir kennen uns einfach ewig. Wir sind beide hier aufgewachsen. Wir haben schon im Sandkasten zusammen gespielt. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Zusammen zur Universität. Wir waren unzertrennlich. Bis … der Unfall passierte.«

»Was ist da passiert?«, fragte Pam.

Er zögerte. Er sprach nie darüber. Niemals. Und jeder in seiner Umgebung respektierte das. Aber das konnte Pam nicht wissen.

»Es war … ich glaube, ich möchte nicht darüber reden«, sagte er steif.

Sie sah ihn aufmerksam an, entgegnete jedoch nichts. Cedric wandte mühsam den Kopf zum Fenster. Draußen lag die Straße im hellen Sonnenlicht. Still und leer. Im Vorgarten schossen die Narzissen aus der Erde. Noch war niemand zu sehen oder zu hören.

Pam war seinem Blick gefolgt. »Falls ich nicht eingebuchtet werde«, sagte sie, »kann ich dich dann einmal in New York besuchen?«

Er war froh, dass sie das Thema Geoffrey verlassen hatte.

»Klar«, sagte er, »ich würde mich freuen.«

»Ich bin noch nie in New York gewesen. Noch nie in den Staaten überhaupt. Ich habe immer geglaubt, ich schaffe es nicht, dort einmal hinzukommen.«

»Du wirst New York mögen. Für mich ist es die beste Stadt überhaupt.« Cedric sah noch einmal hinaus, sein Blick umfasste die ruhige Straße, die kleinen Häuser auf der gegenüberliegenden Seite, die hinter Steinmäuerchen und Ginsterbüschen träumten, und die Narzissen, die seine Mutter gepflanzt, gehegt und gepflegt hatte. Nie war es ihm klarer geworden als in diesem Moment, diese dörfliche, friedliche Idylle vor Augen. Trotz des Gefühls, zu Hause zu sein, und trotz des Zaubers, den diese Empfindung auf ihn ausübte, wurde seine Sehnsucht nach New York so gewaltig, dass er in das nächste Flugzeug hätte springen mögen.

»Es ist der einzige Ort, an dem ich leben möchte«, sagte er.

Sie nickte, stand auf und trat an das Fenster.

»Es ist so schön hier«, meinte sie, »du musst dich hier sehr geborgen gefühlt haben als Kind.«

Da hatte sie recht. Geborgenheit hatte er im Überfluss erfahren und in einer Selbstverständlichkeit, dass er sie vielleicht oft nicht zu schätzen gewusst hatte. Kingston St. Mary und das Leben dort hatte er oft als eng empfunden und sich selten Gedanken darüber gemacht, wie viel Stabilität ihm die Fürsorge und gleichmäßige Liebe und Zuwendung seiner Eltern vermittelt hatte. Oft hatte er in den vergangenen Jahren geglaubt, ein Blatt im Wind zu sein, hatte sich gequält und angeklagt, weil er weder beruflich noch in seinem Privatleben in der Lage war, Beständigkeit in sein Dasein zu bringen. Wenn er nun jedoch das Gesicht Pamelas betrachtete, die tief verhaftete Angst in ihren Augen sah, wurde ihm klar, wie viel Kraft er tatsächlich aus seiner friedlichen, glücklichen Kindheit schöpfte. Er mochte viele falsche Wege beschritten haben und sich häufig unsicher fühlen, was seine Zukunft anging, aber er begriff, dass trotz allem ein gesundes Urvertrauen in das Leben Grundlage seines Wesens war, ihn getragen hatte und weiterhin tragen würde. Das Gefühl, letztlich dem Leben gewachsen zu sein, war in ihm so sicher verankert, wie es in Pamela das Gefühl war, mit dem Leben dem unbarmherzigsten Feind überhaupt gegenüberzustehen. Vom ersten Atemzug an hatte sie nur Bedrohung gekannt. Und er nur Liebe.

Einen flüchtigen Augenblick lang fragte er sich, was zwischen ihnen sein würde, wenn sie wirklich nach New York käme. Sie war anders als alle Frauen, die er je gekannt hatte, und er mochte sie. Sie interessierte ihn mehr, als es andere Frauen getan hatten, und es konnte sein, dass sich dieses Interesse in Faszination wandelte.

Er würde abwarten. Die Frage war, ob sie überhaupt käme. Es würde auch von den polizeilichen Ermittlungen abhängen, davon, ob ihre Geschichte den Befragungen Scotland Yards standhalten konnte.

Er merkte, wie sehr er das hoffte. Wie sehr er hoffte, dass sie ihn nicht belogen hatte.

Er hörte, dass sich ein Auto näherte, langsamer wurde, anhielt.

Pamela wandte sich vom Fenster ab. Sie war sehr blass. »Das sind sie«, sagte sie, »die Polizei.«

Sie wirkte auf einmal völlig verloren. Draußen schlug eine Autotür.

Cedric erhob sich mühsam aus seinem Sessel. Es tat noch immer höllisch weh, wenn er sich bewegte. Er verfluchte seine Langsamkeit. Er kam sich vor wie ein uralter Mann.

»Ich habe Angst«, sagte Pamela.

»Ich weiß«, sagte er. Sie standen einander gegenüber. Eine zweite Autotür schlug. Es mussten zwei Beamte sein, die eintrafen.

»Wäre es wirklich okay für dich, wenn ich nach New York käme?«, fragte Pam. Ihre Augen waren riesengroß. Irgendwie schien viel für sie von seiner Antwort abzuhängen.

»Ich würde mich freuen«, betonte er und merkte, dass es wirklich so war. Er freute sich schon jetzt, dass sie kommen wollte. »Ehrlich, Pam, ich warte darauf.«

Das Gartentor quietschte.

»Also dann«, sagte Pam.

Er hatte plötzlich das Bedürfnis, ihr etwas zu schenken. Irgendein … Pfand, etwas, das sie beide verband, wenn sie jetzt nach London musste, um sich von Inspector Fielder in die Mangel nehmen zu lassen. Wenn er wieder nach New York flog und sich der ganze Atlantik zwischen ihnen erstreckte, wenn die Nähe zwischen ihnen beiden in diesem kleinen Zimmer an einem sonnigen Februartag in immer weitere Ferne rückte.

»Es war im ersten Jahr in der Uni«, sagte er hastig. »Geoff und ich waren beide achtzehn Jahre alt. Ein Freund hatte Geburtstag. Wir waren eingeladen.«

Schwere Schritte draußen auf dem Gartenweg.

Pamela war völlig auf ihn konzentriert.

»Die Eltern dieses Freundes waren nicht daheim. Wir hatten das ganze Haus für uns. Der Typ hatte Gott und die Welt eingeladen. Wir waren bestimmt fünfzig oder sechzig Gäste.«

Die Türklingel schrillte.

Er sprach hastig weiter. »Es war zwei Tage vor Weihnachten. Es hatte nicht geschneit, aber die Nacht war sehr frostig. Eiskalt. Wir tranken Ströme von Alkohol. Die Musik dröhnte. Wir fanden … dass wir nie eine tollere Party erlebt hätten.«

»Ich verstehe«, sagte Pam.

»Ich, Geoff und ein paar andere standen irgendwann auf dem Balkon im ersten Stock des Hauses. Es war gegen vier Uhr morgens. Wir waren ziemlich zugedröhnt. Irgendjemand kam auf die Idee, wir könnten auf dem Balkongeländer balancieren.«

Es klingelte ein zweites Mal an der Tür.

»Das Schlimme ist, niemand wusste nachher genau, wer diesen total idiotischen Einfall eigentlich gehabt hatte. Wie gesagt, wir waren sternhagelvoll. Geoff hat später immer behauptet, dass ich es gewesen sei. Ich kann das weder bestätigen noch abstreiten, ich weiß es ganz einfach nicht.« Er hielt inne.

»Immer zwei von uns kletterten also hinauf und versuchten aneinander vorbeizubalancieren und die andere Seite zu erreichen. Das Geländer war sehr breit. Aber es war auch ziemlich glatt. Mit Raureif überzogen, wie man uns später sagte. Aber auch das merkten wir nicht.«

»Ich verstehe«, sagte Pam noch einmal.

Er merkte, wie sich etwas bewegte in ihm. Die ganze hilflose Verzweiflung, die er seit jener Nacht in sich trug, die er tief in sich vergraben hatte, irgendwo so weit unten, dass er sie nicht sehen und nicht fühlen konnte. Etwas davon schwappte nach oben, verursachte ein würgendes Gefühl im Hals.

»Alles war gut gegangen. Geoff und ich kamen zuletzt an die Reihe. Wir balancierten aufeinander zu …«

Er sah die Szene vor sich. Den dunklen, hohen Himmel voller Sterne. Das Haus mit den vielen hell erleuchteten Fenstern. Die Gesichter derer, die zusahen. Geoffrey, der sich auf ihn zubewegte, schwankend, betrunken. Er selbst, mit den Armen rudernd, um das Gleichgewicht zu halten. Sie trafen ziemlich genau in der Mitte des Balkons aufeinander.

»Wir versuchten uns umeinander herumzuquetschen. Irgendwie … gerieten wir beide dabei ins Straucheln. Wir fanden das Gleichgewicht nicht mehr, aber ich glaube, wir erschraken deshalb nicht einmal, wir sahen die Gefahr überhaupt nicht.«

Seine Augen brannten. Er hörte Geoffrey rufen: Ich fliege gleich!

Es klingelte ein drittes Mal an der Tür, gleichzeitig wurde geklopft.

»Wir rutschten beide im selben Moment ab. Es ging so schnell, viel zu schnell, als dass wir noch etwas hätten steuern können. Was dann passierte, war Schicksal, es lag nicht daran, dass einer von uns sportlicher oder cleverer oder vorausschauender gewesen wäre. Es war einfach Schicksal.«

Sie wusste, was passiert war. »Du stürztest auf die Innenseite des Balkons«, sagte sie, »und dein Freund … auf die andere Seite.«

»Er stürzte nicht nur ein Stockwerk tief«, sagte Ced-ric. Seine Stimme klang, für ihn selbst wahrnehmbar, seltsam monoton. »Unterhalb des Balkons befand sich ein Schwimmbecken. Zehn mal zehn Meter, Beton. Es war, im Dezember, natürlich leer.«

Der Satz, mit der ganzen Dimension, die sich in der Konsequenz seiner Aussage ergab, klang im Zimmer nach. Es war, im Dezember, natürlich leer.

Er war dankbar, dass Pam nichts sagte. Früher, als er noch Kontakt mit den Leuten gehabt hatte, die Zeugen des Unglücks gewesen waren, waren immer Sätze gefallen wie:

Du konntest nichts dafür. Niemand weiß, wer diese blöde Idee hatte. Alle, die bei dem Scheiß mitgemacht haben, waren gleichermaßen schuldig oder unschuldig. Oder: Geoffrey war kein kleines Kind. Er hat sich auf eine Gefahr eingelassen. Niemand hat ihn gezwungen. Er ist selbst verantwortlich für sein Schicksal.

Er mochte das nicht mehr hören. Unabhängig davon, ob es richtig war oder nicht, er mochte es einfach nicht mehr hören.

»Wir müssen die Tür öffnen«, sagte er, »die Polizei stürmt sonst noch das Haus.«

Sie nickte. Und dann umarmte sie ihn, vorsichtig, sehr zart, in einer Geste wortlosen Verstehens.

Ehe sie zur Haustür ging und den beiden Beamten öffnete, die sie nach London zu Scotland Yard bringen würden.

 

3

 

Marina fand Rob, als sie schon aufgeben und nach Hause fahren wollte. Sie hatte die ganze Siedlung in sich erweiternden Kreisen abgesucht, in Gärten gespäht, Bushaltestellen angefahren, war sogar ein paar Mal ausgestiegen und ein Stück weit in kleine Parkanlagen hineingelaufen, aber nirgends war eine Spur von ihm zu entdecken. Schließlich sagte sie sich, dass sie naiv gewesen war. Wieso sollte er hier irgendwo herumlungern? Der Tag versprach sonnig zu werden, aber noch war die Luft kalt, und niemand hätte sich nach einer durchwachten Nacht auf der Straße aufgehalten.

Aber wo war er dann? Wo hatte er Unterschlupf gefunden?

Ich hätte ihn nicht gehen lassen dürfen, dachte sie, aber sie wusste, dass sie kaum eine Chance gehabt hatte, ihn zurückzuhalten. Er war so entschlossen gewesen, entschlossen auch, es notfalls zu einem Eklat kommen zu lassen.

»Verdammt!«, sagte sie laut und schlug mit der Faust auf das Lenkrad. Sie hatte die Schuldgefühle so satt, die sie von allen Seiten bedrängten. Schuldgefühle, weil sie Rob nicht gehindert hatte, in den Abend hinauszulaufen. Schuldgefühle, weil sie sich offenbar die ganze Zeit über falsch ihm gegenüber verhielt. Schuldgefühle, weil sie damals nicht wie eine Mutter gefühlt und gehandelt hatte.

Zum ersten Mal, seit Rob so unerwartet bei ihr aufgekreuzt war, war sie richtig wütend.

Sie fuhr einen letzten Bogen am Siedlungsrand entlang, dort, wo die jüngsten Häuser standen, deren Gärten noch nicht angelegt waren, und wo neues Bauland begann, eine von Brombeerranken und Kiefernschösslingen überwucherte Wildnis, und dort sah sie ihn. Er kam einen der vielen schmalen Trampelpfade entlang, die von Generationen von Hasen geschaffen worden waren, und nichts erinnerte mehr an den aufsässigen, zornigen jungen Mann vom Vorabend, der seine eigenen Wege zu gehen beschlossen hatte. Er sah jetzt eher wie eine Elendsgestalt aus, frierend, hungrig, zerknittert, die Schultern nach vorn gezogen. Zweifellos hatte er eine wirklich scheußliche Nacht verbracht.

Sie bremste direkt neben ihm, neigte sich hinüber und stieß die Beifahrertür auf. »Los«, sagte sie, »steig ein!«

Er hatte ihr Auto nicht kommen gehört und schrak zusammen. Als er sie erkannte, verfinsterte sich der Blick seiner völlig erschöpften Augen, er presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.

»Du bist völlig durchgefroren, und ich wette, du hast noch nicht gefrühstückt«, sagte sie. »Ich an deiner Stelle würde mir eine heiße Dusche, frische Klamotten, einen Kaffee und ein paar Toastbrote nicht entgehen lassen.«

Er kam herangeschlurft, stieg mit mürrischem Gesichtsausdruck zu ihr ein.

Sie ahnte, wo er die Nacht verbracht hatte. Jenseits des Brachlands, über das er gekommen war, befanden sich etliche Schrebergartensiedlungen.

»Du bist in eine Hütte eingestiegen«, sagte sie. »Ich hoffe, du hast nichts kaputt gemacht?«

Er zuckte mit den Schultern.

Sie merkte, dass die Wut noch immer in ihr brodelte.

Sie schaltete den Motor aus. »Okay, hör zu«, sagte sie. »Ich habe keine Lust, dieses Spiel weiterzuspielen. Ich habe keine Lust, jeden Tag in dein finsteres Gesicht zu blicken, mir deine Fragen anzuhören und mich ständig zu rechtfertigen. Ich habe dir alles gesagt, was zu sagen ist. Ich habe dir erklärt, weshalb ich damals auf eine bestimmte Weise gehandelt habe, ich habe dir meine Gründe genannt. Du kannst versuchen, mich zu verstehen, aber dazu kann ich dich natürlich nicht zwingen. Ich möchte mich nicht ständig wiederholen und mich wie eine Angeklagte fühlen müssen. Eine Szene wie gestern Abend möchte ich nicht mehr erleben und keine Nacht wach liegen, ohne zu wissen, wo du steckst. Ich möchte nicht noch einmal einen frühen Morgen lang alle Straßen der Umgebung nach dir absuchen und mich dabei fragen, ob dir vielleicht etwas Schlimmes zugestoßen ist. Hast du das verstanden?«

Er brummte etwas Unverständliches, schaute sie nicht an. Sie sah, dass seine Lippen blau waren vor Kälte.

»Wenn du dein Verhalten mir gegenüber nicht ändern willst«, fuhr sie fort, »dann, so leid es mir tut, kannst du keinen Tag länger bei mir bleiben. Dann solltest du mit dem nächstmöglichen Flug nach Gibraltar zu deinem Vater zurückfliegen.«

Er starrte immer noch auf die Ablage vor sich. »Ich hab ein Fenster eingeschlagen«, nuschelte er. Marina nickte. »Wusste ich es doch. Um in einer Gartenhütte zu übernachten.« »Ja.«

»Wir werden den Eigentümer ausfindig machen. Und du wirst die Scheibe bezahlen. Von deinem Taschengeld.« Er nickte.

Sie ließ den Motor wieder an. »Also, wir fahren jetzt zu mir. Und dann kannst du mir mitteilen, wie es weitergehen soll. Ob du noch ein paar Tage unter veränderten Voraussetzungen bei mir bleiben möchtest, oder ob wir gleich einen Flug buchen sollen.«

Jetzt endlich wandte er ihr sein Gesicht zu. Er war sehr blass. »Ich möchte zu Rosanna«, sagte er.