10

 

»Wiltonfield!«, rief Rob, der das Schild zuerst entdeckt hatte. »Noch drei Meilen!«

»Du lässt dich nicht davon abbringen, dort aufzukreuzen, oder?«, fragte Marina. »Wenn Rosanna eine Bootsfahrt unternimmt, treffen wir sie sowieso nicht an.«

»Dann warten wir eben. Ich möchte wissen, mit wem sie zusammen ist.«

»Rob! Das steht dir doch nicht zu!«

Er starrte geradeaus, antwortete nicht. Marina kannte ihn inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er gnadenlos stur sein konnte.

Sie erreichten den Ort Wiltonfield, fuhren langsam die Hauptstraße entlang. Zu ihrer linken Seite floss die Themse, die Sicht auf den Fluss war jedoch meist von Häusern und einem schmalen Waldgürtel verstellt. Aufmerksam suchten sie nach einem Schild, das auf einen Hafen oder eine Anlegesteile hinwies oder Ausflugsfahrten anbot. Es war nichts zu entdecken.

»Hier gibt es so etwas nicht«, sagte Marina, als sie sich schon wieder dicht vor der Ortsausfahrt befanden. »Ich habe dir ja gesagt, die Verbindung war miserabel. Ich weiß nicht einmal, ob ich den Namen des Ortes richtig verstanden habe.«

»Aber es ist unsere einzige Möglichkeit, hier zu suchen«, beharrte Rob. »Eine andere haben wir ja nicht!«

»Doch. Wir haben die Möglichkeit, nach Hause zu fahren und zu warten, dass Rosanna anruft. Dann kannst du ihr alle Fragen stellen, die dich bedrängen.«

Er sah seine Mutter mit einem fast verächtlichen Blick an. »Und du denkst, sie sagt mir dann die Wahrheit? Dass sie irgendeinen anderen Kerl kennen gelernt hat und sich demnächst abseilen wird? Sie wird sich herausreden. Sie redet sich seit Tagen heraus.«

Sie passierten bereits das Ortsschild, als Rob plötzlich sagte: »Halt mal an! Ich frage die Frau da drüben!«

Eine ältere Dame kam die Straße mit ihrem Hund entlang. Marina bremste, Rob sprang hinaus. Als er zurückkam, wirkte er aufgeregt. »Ich glaube, du hast Rosanna doch richtig verstanden! Hier gibt es einen Yachtclub. Etwa zweieinhalb Meilen vom Ort entfernt. Einfach die Straße entlang.«

Marina, die gehofft hatte, das Unternehmen werde sich zerschlagen, verdrehte die Augen. Sie fand die Situation peinlich, und ihre eigene Rolle dabei behagte ihr überhaupt nicht. Dass der sechzehnjährige Rob, getrieben von Angst und Eifersucht, seiner Stiefmutter hinterherspionierte, war eine Sache; dass sie, eine erwachsene und vernünftige Frau, ihn dabei unterstützte, war eine andere. Sie selbst kannte ihre Motive: die Furcht, dass er wieder abhauen würde, die Sorge vor einem neuen Streit. Sie hatte wenig Lust, sich damit gegenüber der Ehefrau ihres einstigen Freundes zu blamieren. Letztlich gab sie damit zu, dass sie nicht im Mindesten mit dem Kind zurechtkam, das sie vor sechzehn Jahren in die Welt gesetzt und das andere für sie aufgezogen hatten.

Wiltonfield selbst lag auf einer Anhöhe. Die Straße führte in einem sanft geschwungenen Bogen nach unten und tauchte dann in einen dichten Wald ein. Obwohl die Bäume noch unbelaubt waren, standen sie so eng beieinander, dass kaum Sonnenlicht zwischen ihnen hindurchfallen konnte. Im Sommer musste es hier anheimelnd, schattig und ein wenig verwunschen sein. An diesem Februartag hatte die Atmosphäre etwas eher Düsteres und Bedrohliches.

»Jetzt müsste aber bald ein Schild kommen«, sagte Marina, und fast im selben Moment rief Rob: »Da ist sie! Halt an! Da ist sie!«

Marina trat auf die Bremse. Zu ihrer Verwunderung sah sie eine Frau die einsame, dunkle Straße entlangkommen. Sie lief nicht, sie schleppte sich eher. Sie hielt sich einen Schal vor das Gesicht. Ihre Gestalt war leicht vornübergebeugt.

»Da ist Rosanna!«, schrie Rob.

Der Wagen kam unmittelbar vor ihr auf dem Seitenstreifen zum Stehen. Rob sprang sofort hinaus. »Rosanna!«

Die Frau zuckte zusammen. Marina konnte weit aufgerissene Augen über dem Schal erkennen. Augen, in denen Angst stand.

»Was ist passiert, Rosanna?«, rief Rob.

Marina stieg ebenfalls aus.

»Ich bin Marina«, sagte sie und streckte Rosanna die Hand hin, »Robs Mutter. Wir haben telefoniert. Es tut mir leid, dass wir hier einfach aufkreuzen, aber Rob war so ungeduldig, und …«

»Wir müssen hier weg«, unterbrach Rosanna. Ihre Stimme klang krächzend. Marina erkannte jetzt, dass sie heftig erkältet war und offenkundig Fieber hatte.

Nicht gerade der Zustand, in dem man einen Bootsausflug im Februar unternehmen sollte, dachte sie konsterniert.

»Sind Sie ohne Auto hier?«, fragte sie und blickte sich um, als erwarte sie Rosannas Auto irgendwo stehen zu sehen.

Auch Rosanna blickte sich um, nervös, wie es den Anschein hatte.

»Wir sind mit Marcs Auto gekommen. Aber …«

Sie sprach nicht weiter. Marina hatte den Eindruck, dass sie nicht wusste, wie sie eine komplizierte Geschichte in wenigen Worten erzählen sollte.

»Wer ist Marc?«, fragte Rob sofort.

»Euch schickt jedenfalls der Himmel«, sagte Rosanna anstelle einer Antwort. Dann nieste sie. »Ich habe leider eine scheußliche Grippe«, setzte sie hinzu.

Marina nahm ihren Arm. »Sie gehören ins Bett. Nicht auf die Straße, und schon gar nicht in ein Boot. Kommen Sie. Wir fahren erst einmal zu mir nach Hause. Dann können wir über alles sprechen.«

Sie wollte zum Auto zurück. Aber plötzlich zögerte Rosanna.

»Marc ist noch im Yachtclub«, sagte sie, »zumindest glaube ich das.«

»Wer, zum Teufel, ist denn Marc?«, wiederholte Rob seine Frage.

Rosanna strich ihm abwesend über die Haare. »Das alles zu erklären, führt jetzt zu weit. Es ist nur … wir haben uns irgendwie verloren, und ich dachte … aber ich mache mir Sorgen um ihn …« Sie sah Marina an. »Würden Sie mir einen großen Gefallen tun? Und mit mir zum Yachtclub zurückfahren? Ich fühle mich sicherer, wenn Sie und Rob bei mir sind, und ich kann wenigstens noch einmal nach Marc sehen.«

Marina verstand nicht im Mindesten, was los war und worum es genau ging, aber sie hörte die Sorge im Drängen der anderen Frau.

Sie nickte. »In Ordnung.«

 

Das Auto stand an seiner alten Stelle oben auf dem Parkplatz. Halb und halb hatte Rosanna gehofft, Marc sei inzwischen damit fortgefahren oder sitze wenigstens hinter dem Steuer, aber es sah nicht so aus, als sei er in der Zwischenzeit überhaupt am Parkplatz gewesen. Alles schien leer und verlassen. Noch immer regte sich nichts im Haus des Bootsmanns, und auch unten am Clubhaus oder am Anlegesteg war niemand eingetroffen.

Ich hätte hier ewig sitzen und warten können, dachte Rosanna, aber wo sitzt und wartet Marc? Und worauf?

»Kannst du uns jetzt vielleicht endlich mal erklären, was los ist?«, fragte Rob vom Rücksitz. Gleichzeitig sagte Marina: »Das ist aber einsam hier. Ist das der Wagen Ihres … Bekannten?«

»Ja. Ich frage mich …« Rosanna öffnete die Beifahrertür. Die müssen mich für ziemlich konfus halten, dachte sie, und wahrscheinlich bin ich das auch. Ich hätte zusehen sollen, dass wir alle schleunigst wegkommen.

»Ich verspreche, ich erkläre später alles«, sagte sie hastig. »Aber jetzt gehe ich noch einmal hinunter zum Schiff und sehe nach Marc. Wenn ich in fünfzehn Minuten nicht zurück bin, ruft ihr bitte die Polizei.«

Rob bekam große Augen, und Marina keuchte: »Ach, du lieber Gott!«

Sie ging langsam den Weg hinunter. Zum wievielten Mal an diesem Tag? Sie wusste es nicht, sicher war nur, dass ihr Herz mit jedem Mal schwerer wurde. Es war so viel geschehen, was sie verarbeiten musste. Aber in einem Punkt war sie sich klar geworden, was ihr weiteres Vorgehen anging, sie hatte etwas beschlossen, während sie die endlose Straße entlang durch den Wald stolperte: Sie hatte beschlossen, Marc zu glauben. Zu glauben, dass ein Unfall passiert war mit Elaine, und kein Verbrechen. Und sie hatte begriffen, dass sie damit würde leben können, ihr Wissen für sich zu behalten. Wenn die Polizei nicht über Pamelas Aussage hinter die ganze Geschichte kam, würde sie von ihr jedenfalls nichts erfahren. Es war nicht ihre Aufgabe, Detektiv zu spielen. Es war nicht ihre Aufgabe, den Mann anzuzeigen, den sie liebte. Er musste das erfahren. So schnell wie möglich.

Das Problem war, dass sie vor dem Mann, den sie liebte, in diesem Moment Angst hatte. Womit sie ihm, dessen war sie sich ebenfalls bewusst, womöglich bitter Unrecht tat. Er war verschwunden, aber das musste nicht bedeuten, dass er auf eine Möglichkeit sann, ihr etwas anzutun. Hätte er nicht längst Gelegenheit dazu gehabt? Sie hatte ewig dort oben im Auto gesessen, wäre völlig wehrlos gewesen. Das hatte er nicht ausgenutzt. Vielleicht befand er sich auf der Flucht. Kopflos, gefangen in seiner eigenen Panik. So wie in jener Nacht.

Sie durchquerte das Bootshaus, lief den Steg entlang. Sie hegte kaum Hoffnung, ihn am Boot anzutreffen, und tatsächlich war das Schiff so leer und verlassen wie zuvor.

Sie sah sich um. Er konnte sich natürlich in jedem anderen Boot verborgen halten, aber was sollte ihm das bringen?

»Marc?«, rief sie.

Niemand außer einer Möwe antwortete.

Sie fühlte sich etwas sicherer, seit sie wusste, dass Rob und Marina in der Nähe warteten, und dennoch empfand sie die Situation als unheimlich und beängstigend. Noch einmal rief sie seinen Namen, aber alles blieb still.

Langsam ging sie zum Ufer zurück, trat in die Dunkelheit des Bootshauses. Wieder umfing sie der intensive Holzgeruch. Rechter Hand befanden sich die Fächer, in denen die Optis, die Boote für die Kinder, untergebracht waren. Sie erkannte einen Gang, an dessen Seite sich die abgeschlossenen Spinde der Clubmitglieder aufreihten. Sie lief den Gang entlang, konnte aber im Dunkeln fast nichts mehr sehen und stand bald vor einer Wand. Niemand versteckte sich hier.

Wieder zurück warf sie im Licht der zu beiden Türen einfallenden Sonne einen Blick auf ihre Uhr. Fast zehn Minuten waren vergangen. Sie musste sich beeilen, sonst alarmierten Rob und seine Mutter die Polizei. Sie blickte die Treppe hoch, die zu dem dunklen Dachboden führte.

»Marc?«, rief sie leise hinauf.

Sie hatte noch ein paar Minuten. Es würde reichen, um hinaufzuhuschen und dort oben nach ihm zu sehen.

Mit laut klopfendem Herzen stieg sie die Treppe hinauf. Sie hatte erwartet, oben von völliger Finsternis empfangen zu werden, und gefürchtet, den Lichtschalter in der Eile nicht zu finden, aber tatsächlich fiel durch ein kleines, ziemlich verdrecktes Dachfenster ein wenig Helligkeit ein. Der Raum war riesig, denn er nahm die gesamte Grundfläche des Gebäudes ein. Und er war völlig unüberschaubar: An den breiten Deckenbalken befanden sich Aufhängungen, an denen entlang sich Segel spannten. Riesige, weiße Segel. Sie mussten zu den Jollen gehören und waren vermutlich zum Lüften oder Trocknen aufgehängt. Sie unterteilten den Dachboden in eine Art Labyrinth, grenzten eine Menge kleiner Nischen, Gänge und Räume ein. Jedes Kind wäre bei diesem Anblick in helles Entzücken ausgebrochen.

Rosanna dachte nur: O Gott!

Ihr erster Impuls war umzukehren, wieder hinunterzulaufen und sich möglichst rasch auf den Weg zurück zum Auto zu machen. Ihr blieb ohnehin fast keine Zeit mehr. Es erschien ihr unwahrscheinlich, dass Marc hier oben kauerte. Er mochte in Panik sein, aber würde er sich ein derart absurdes Versteck suchen, in dem man ihn schnell entdecken würde und in dem er überdies nicht lange verweilen konnte? Es sei denn, er hatte nicht die Absicht, sich zu verstecken. Sondern er hatte darauf gewartet, dass sie hinaufkam, damit er …

Ich dachte, du hättest beschlossen, an ihn zu glauben?

Sie hatte auf einmal das unerklärliche Gefühl, nicht allein zu sein. Nicht unbedingt in diesem Raum, aber in diesem Gebäude. War es Einbildung oder ein echter Instinkt? Wahrscheinlich spielten ihre Nerven verrückt. Sie blieb völlig reglos stehen, lauschte in die Dämmerung, die sie von allen Seiten umschloss. Ihr Herz hämmerte. Sie konnte ihren eigenen Atem hören. Sie konnte Wände und Balken knacken hören, aber sie wusste, dass das normal war in einem Haus, das vollständig aus Holz gebaut war. Wahrscheinlich rührte daher auch ihr Gefühl, es sei noch irgendjemand anwesend. Die Lebendigkeit des Holzes. Die Tatsache, dass es unermüdlich arbeitete. Kein Grund, sich verrückt zu machen.

Sie wandte sich um, zurück zur Treppe. Sie musste zum Auto. Hier oben war niemand. Es hatte keinen Sinn, sich durch das Gewirr der Segel zu kämpfen.

Und in diesem Moment vernahm sie es. Ein Geräusch, das sie nicht identifizieren, nicht einordnen konnte. Sie hätte nicht zu sagen gewusst, ob es sich um fremden Atem handelte, um Schritte … Aber es war ein Geräusch, das sich abhob vom Knistern und Knacken des Holzes, es gehörte dort nicht hin, es war anders. Es kam von der Treppe.

Jemand kam die Treppe herauf.

Jemand, der sich Mühe gab, dabei nicht gehört zu werden.

Lautlos wich sie einen Schritt zurück. Im ersten Moment war sie versucht, seinen Namen zu rufen.

Marc? Bist du das? Ich bin hier oben!

Ihr Instinkt riet ihr, den Mund zu halten.

Wer auch immer es war – weshalb schlich er sich an?

Die Erkenntnis, dass ihr der Weg versperrt war, traf sie in ihrer ganzen Wucht wie ein Schlag in den Magen. Sie saß hier oben wie ein Kaninchen in der Falle. Rob und Marina würden die Polizei rufen. Wie lange würde es dauern, bis die Beamten hier waren? Würden Rob und seine Mutter auf eigene Faust nach ihr suchen?

Sie wollte schreien, aber sie brachte keinen Ton hervor. Sie hörte es jetzt deutlich und war ganz sicher: Es war jemand auf der Treppe.

Die Wände aus Segeln nahmen sie schützend auf. Grobes Leinen kratzte an ihren Wangen. Eine Menge Gerüche mischten sich in diesem Dunkel: Wasser, Holz, Maschinenöl, Reinigungsmittel, Moder. Sie zog sich tiefer zurück.

Der andere – Marc? – war oben angekommen. Sie konnte hören, dass er verharrte. Sich zu orientieren suchte. Seine Augen mussten sich erst an das fahle Dämmerlicht anpassen. Ihre Augen hatten das bereits hinter sich, was ihr einen Vorsprung gab. Der ihr am Ende womöglich nichts bringen würde. Denn irgendwann stand sie an der Wand. Oder schlug sich unaufhörlich durch das Labyrinth der Segel. Bis der andere vor ihr war. Sie konnten jeden Moment aufeinandertreffen.

Eine Bodendiele knarrte unter ihren Füßen. Sofort hielt sie inne, hörte auf zu atmen. Mit jeder Bewegung konnte sie ihren Standort verraten. Sie musste vorsichtiger sein.

Sie schlüpfte um die nächste Ecke, wäre beinahe über einen Haufen Seile gestolpert, die zusammengerollt auf dem Boden lagen. Im letzten Moment gelang es ihr, einen großen Schritt darüber hinweg zu machen.

Die Segel um sie herum bewegten sich. Jemand kam unmittelbar hinter ihr her.

Und dann, im nächsten Augenblick, geschah alles gleichzeitig.

Ohne noch darauf zu achten, möglichst kein Geräusch zu verursachen, lief Rosanna um die nächste Ecke. Jemand rief: »Rosanna!«

Sie blieb stehen und schrie, schrie voll Entsetzen, Fassungslosigkeit und Angst vor dem, was sie da sah, und dann waren da plötzlich Arme, die sie von hinten umfingen, starke, warme, tröstliche Arme, ein Gesicht presste sich gegen ihres, und sie hörte Robs heisere Stimme: »Schau nicht hin, Rosanna, schau bloß nicht hin!«

Sie aber konnte den Blick nicht abwenden. Von dem Körper, der vor ihr kaum merklich, ganz sacht hin und her schwang. Von den im Todeskampf verzerrten Gesichtszügen Marc Reeves.

»Rosanna, ich halte dich!«

Sie konnte nicht aufhören, zu schreien.