KAPITEL 31
Es war schon dunkel, als ich die Außenbezirke von Augusta erreichte. Ich verließ den Highway, als die größeren Gebäude zahlreicher wurden. Fuhr die Straßen der Innenstadt entlang und hielt am ersten Motel, das ich sah. Schloß den Bentley ab und ging ins Büro. Zur Rezeption. Der Angestellte blickte auf.
»Kann ich ein Zimmer haben?« fragte ich.
»Sechsunddreißig Dollar«, sagte der Mann.
»Telefon auf dem Zimmer?« fragte ich.
»Na sicher. Klimaanlage und Kabelfernsehen.«
»Ein Branchenverzeichnis?« fragte ich.
Er nickte.
»Haben Sie eine Karte von Augusta?« fragte ich.
Er wies mit seinem Daumen zu einem Ständer neben dem Zigarettenautomaten. Der war vollgestopft mit Karten und Prospekten. Ich löste die sechsunddreißig Dollar von der Rolle in meiner Hosentasche. Ließ das Geld auf den Tisch fallen. Füllte das Melderegister aus. Trug mich als Roscoe Finlay ein.
»Zimmer zwölf«, sagte der Mann. Schob mir den Schlüssel zu.
Ich nahm mir auf dem Weg einen Stadtplan mit und ging eilig hinaus. Lief zum Zimmer zwölf. Ging hinein und verschloß die Tür. Ich sah mir das Zimmer nicht an. Suchte nur nach dem Telefon und dem Branchenverzeichnis. Ich legte mich aufs Bett und schlug den Stadtplan auf. Öffnete das Branchenverzeichnis bei H für Hotels.
Es war eine riesige Liste. In Augusta gab es Hunderte von Möglichkeiten, für eine Übernachtung zu bezahlen. Wirklich Hunderte. Sie füllten Seite um Seite. Also sah ich mir den Stadtplan an. Konzentrierte mich auf einen Abschnitt, der eine halbe Meile lang und vier Häuserblocks breit war, auf jeder Seite der Hauptstraße, die von Westen hereinkam. Das war mein Zielbereich. Ich ignorierte die Hotels direkt an der Hauptstraße. Konzentrierte mich auf die, die ein oder zwei Blöcke davon entfernt waren. Stellte die Hotels zwischen einer Viertelmeile und einer halben Meile zurück. Dann hatte ich ein grobgezeichnetes Viereck vor mir, das eine Viertelmeile lang und eine Viertelmeile breit war. Ich legte Stadtplan und Branchenverzeichnis nebeneinander und stellte eine Hitliste auf.
Achtzehn Hotels. Eins davon war das, in dem ich mich befand. Also nahm ich das Telefon und wählte die Null für die Rezeption. Der Angestellte meldete sich.
»Wohnt hier ein Mann namens Paul Lennon?« fragte ich ihn.
Es gab eine Pause. Er überprüfte sein Buch.
»Lennon?« fragte er. »Nein, Sir.«
»Okay«, sagte ich. Legte den Hörer auf.
Ich holte tief Luft und fing mit dem ersten Hotel auf meiner Liste an. Wählte die erste Nummer.
»Wohnt bei Ihnen ein Mann namens Paul Lennon?« fragte ich den Mann, der abnahm.
Es gab eine Pause.
»Nein, Sir«, sagte der Mann.
Ich ging die Liste durch. Wählte ein Hotel nach dem nächsten an.
»Wohnt bei Ihnen ein Mann namens Paul Lennon?« fragte ich jeden Angestellten.
Dann gab es immer eine Pause, während sie ihre Melderegister überprüften. Manchmal konnte ich hören, wie Seiten umgeschlagen wurden. Einige von ihnen hatten Computer. Dann hörte ich die Tastatur.
»Nein, Sir«, sagten alle. Einer nach dem anderen.
Ich lag auf dem Bett und balancierte das Telefon auf meiner Brust. Ich war mittlerweile bei Nummer dreizehn von den achtzehn auf meiner Liste.
»Wohnt bei Ihnen ein Mann namens Paul Lennon?« fragte ich.
Es gab eine Pause. Ich konnte hören, wie Seiten umgewendet wurden.
»Nein, Sir«, sagte der dreizehnte Angestellte.
»Okay.« Ich legte den Hörer auf.
Dann nahm ich ihn wieder und tippte die vierzehnte Nummer ein. Bekam ein Besetztzeichen. Also drückte ich die Gabel herunter und wählte die fünfzehnte Nummer.
»Wohnt bei Ihnen ein Mann namens Paul Lennon?« fragte ich.
Schweigen.
»Zimmer einhundertzwanzig«, sagte der fünfzehnte Angestellte schließlich.
»Danke«, sagte ich. Legte den Hörer auf.
Ich lag da. Schloß die Augen. Atmete tief aus. Ich stellte das Telefon zurück auf den Nachttisch und überprüfte den Stadtplan. Das fünfzehnte Hotel war drei Blocks entfernt. Nördlich der Hauptstraße. Ich ließ den Zimmerschlüssel auf dem Bett liegen und ging hinaus zum Wagen. Der Motor war noch warm. Ich war etwa fünfundzwanzig Minuten im Hotel gewesen.
Ich mußte drei Blocks nach Osten fahren, bevor ich nach links abbiegen durfte. Dann drei Blocks nach Norden bis zu einer weiteren Möglichkeit, links abzubiegen. Ich fuhr in einer Art gezackten Spirale herum. Ich fand das fünfzehnte Hotel und parkte vor dem Eingang. Ging in die Lobby. Es war ein Hotel von der schmuddeligen Sorte. Nicht sehr sauber und nicht sehr hell. Es sah aus wie eine Höhle.
»Kann ich Ihnen helfen«, fragte der Typ an der Rezeption.
»Nein«, sagte ich.
Ich folgte einem Pfeil in ein Labyrinth von Fluren. Fand Zimmer hundertzwanzig. Klopfte energisch an die Tür. Ich hörte, wie die Türkette rasselte. Ich wartete. Die Tür öffnete sich.
»Hallo, Reacher«, sagte er.
»Hallo, Hubble«, sagte ich.
Er sprudelte über vor Fragen, die er mir stellen wollte, aber ich trieb ihn hinaus zum Wagen. Wir hatten vier Stunden Fahrzeit für diesen Kram. Wir mußten los. Ich hatte über zwei Stunden Vorsprung in meinem Zeitplan. Und das sollte auch so bleiben. Ich wollte die zwei Stunden nicht verlieren. Vielleicht würde ich sie ja noch brauchen.
Er sah ganz okay aus. Nicht wie ein Wrack. Er war sechs Tage auf der Flucht gewesen, und das hatte ihm gutgetan. Dadurch war seine selbstgefällige Haltung verschwunden. Er sah jetzt ein bißchen straffer und langgliedriger aus. Ein bißchen härter. Mehr wie einer von meiner Sorte. Er hatte billige Sachen an und trug Socken. Er benutzte eine alte Metallbrille. Eine Digitaluhr für sieben Dollar überdeckte den Streifen weißer Haut, wo er vorher die Rolex getragen hatte. Er sah aus wie ein Installateur oder wie der Typ, der am Ort den Auspuffschnelldienst betreibt.
Er hatte keine Koffer. Reiste mit leichtem Gepäck. Er blickte sich nur einmal in seinem Zimmer um und ging dann mit mir hinaus. Als könne er nicht glauben, daß sein Leben auf der Straße vorbei war. Als würde er es möglicherweise auf eine gewisse Art vermissen. Wir gingen durch die dunkle Lobby und in die Nacht hinaus. Er blieb stehen, als er den Wagen am Eingang sah.
»Sie sind mit Charlies Wagen gekommen?«
»Sie hat sich Sorgen um Sie gemacht«, sagte ich zu ihm. »Sie bat mich, Sie zu finden.«
Er nickte. Sah verblüfft aus.
»Was soll das mit den getönten Scheiben?«
Ich grinste ihn an und zuckte die Schultern.
»Fragen Sie nicht«, sagte ich. »Das ist eine lange Geschichte.«
Ich ließ den Motor an und entfernte mich langsam vom Hotel. Eigentlich hätte er mich direkt nach Charlie fragen müssen, aber irgend etwas beschäftigte ihn. Ich hatte gesehen, daß ihn eine Welle der Erleichterung überkam, als er die Tür seines Hotelzimmers geöffnet hatte. Aber er hatte auch einen winzigen Vorbehalt. Es hatte mit Stolz zu tun. Er war geflohen und hatte sich versteckt. Er hatte gedacht, daß er es gut machte. Aber es war nicht gut gewesen, weil ich ihn gefunden hatte. Er dachte darüber nach. Er war gleichzeitig erleichtert und enttäuscht.
»Wie zum Teufel haben Sie mich gefunden?« fragte er.
Ich sah ihn wieder achselzuckend an.
»Das war leicht«, sagte ich. »Ich habe eine Menge Übung darin. Ich habe viele Männer gefunden. Habe Jahre damit verbracht, für die Army Deserteure zurückzuholen.«
Ich fuhr langsam durch das Straßennetz und bahnte mir meinen Weg zurück zum Highway. Ich konnte die Reihe der Lichter nach Westen strömen sehen, aber die Auffahrt war wie der Mittelpunkt eines Labyrinths. Ich spulte dieselbe gezackte Spirale ab, die ich auf dem Hinweg hatte fahren müssen.
»Aber wie haben Sie es geschafft?« fragte er. »Ich hätte doch überall sein können.«
»Nein, das konnten Sie nicht«, sagte ich. »Das genau ist der Punkt. Deshalb war es so leicht. Sie hatten keine Kreditkarten, keinen Führerschein und keinen Ausweis. Sie hatten nur Bargeld. Also konnten Sie weder das Flugzeug noch einen Mietwagen benutzen. Sie waren auf den Bus angewiesen.«
Ich fand die Auffahrt. Konzentrierte mich auf den Spurwechsel und schlug das Lenkrad ein. Beschleunigte auf der Rampe und fädelte mich in den Verkehrsstrom zurück nach Atlanta ein.
»Das gab mir einen ersten Anhaltspunkt«, sagte ich zu ihm. »Dann versetzte ich mich an Ihre Stelle. Sie hatten Angst um Ihre Familie. Also stellte ich mir vor, daß Sie Margrave in einer gewissen Entfernung umrunden würden. Sie wollten das Gefühl haben, immer noch mit ihnen verbunden zu sein, bewußt oder unbewußt. Sie nahmen ein Taxi zum Busdepot in Atlanta, richtig?«
»Richtig«, sagte er. »Der erste Bus ging nach Memphis, aber ich wartete auf den nächsten. Memphis war zu weit weg. Ich wollte nicht so weit weg.«
»Deshalb war es so einfach«, sagte ich. »Sie haben Margrave umkreist. Nicht zu weit und nicht zu nah. Und gegen den Uhrzeigersinn. Gibt man den Leuten die freie Wahl, so bewegen sie sich immer gegen den Uhrzeigersinn. Das ist eine universelle Wahrheit, Hubble. Also mußte ich nur noch die Tage zählen, die Karte studieren und die Etappen abschätzen, die Sie jedesmal zurücklegen würden. Ich denke, am Montag waren Sie in Birmingham, Alabama. Dienstag war es Montgomery, Mittwoch Columbus. Ich hatte ein Problem mit dem Donnerstag. Ich spekulierte auf Macon, dachte aber, daß das möglicherweise zu nah an Margrave dran sei.«
Er nickte.
»Donnerstag war ein Alptraum«, sagte er. »Ich war in Macon, in einer schrecklichen Spelunke, und machte kein Auge zu.«
»Also sind Sie am Freitag morgen hierher nach Augusta gekommen«, sagte ich. »Meine andere große Spekulation ging dahin, daß Sie hier für zwei Nächte bleiben würden. Ich stellte mir vor, daß Sie nach Macon ziemlich mit den Nerven runter wären und vielleicht keine Kraft mehr hätten. Ich war mir da wirklich nicht sicher. Ich wäre heute abend fast nach Greenville drüben in South Carolina gefahren. Aber ich habe richtig geraten.«
Hubble wurde still. Er hatte sich für unsichtbar gehalten, aber er hatte Margrave so deutlich umkreist, wie eine Leuchtrakete über den Nachthimmel fährt.
»Aber ich habe doch einen falschen Namen benutzt«, sagte er. Aufsässig.
»Sie haben fünf falsche Namen benutzt«, sagte ich. »Fünf Nächte, fünf Hotels, fünf Namen. Der fünfte Name war der gleiche wie der erste, richtig?«
Er war verblüfft. Er dachte zurück und nickte.
»Woher zum Teufel wissen Sie das?« fragte er wieder.
»Ich habe nach vielen Männern gefahndet«, sagte ich. »Und ich wußte einiges von Ihnen.«
»Was denn?«
»Sie sind ein Beatles-Fan«, sagte ich. »Sie haben mir erzählt, daß Sie das Dakota-Building besucht haben und nach Liverpool in England gefahren sind. Sie haben alle CDs der Beatles in Ihrem Wohnzimmer, die je gemacht worden sind. Also standen Sie in der ersten Nacht an irgendeiner Hotelrezeption und haben mit Paul Lennon unterschrieben, richtig?«
»Richtig«, erwiderte er.
»Nicht mit John Lennon«, sagte ich. »Die Leute bleiben normalerweise bei Ihrem Vornamen. Ich weiß auch nicht warum, aber so ist es normalerweise. Also waren Sie Paul Lennon.
Dienstag waren Sie Paul McCartney. Mittwoch waren Sie Paul Harrison. Donnerstag waren Sie Paul Starr. Freitag in Augusta fingen Sie wieder mit Paul Lennon an, richtig?«
»Richtig. Aber es gibt eine Million Hotels in Augusta. Wegen der Konferenzen und der Golfveranstaltungen. Wie zum Teufel wußten Sie, wo Sie suchen mußten?«
»Ich habe nachgedacht«, sagte ich. »Sie sind Freitag vormittag von Westen her gekommen. Männer wie Sie gehen immer den Weg zurück, den sie schon mal gegangen sind. Sie fühlen sich sicherer so. Sie waren vier Stunden in dem Bus eingezwängt, also wollten Sie frische Luft und sind ein Stück gelaufen, vielleicht eine Viertelmeile. Dann gerieten Sie in Panik und sind von der Hauptstraße abgebogen, vielleicht einen Block oder zwei. Ich hatte also einen ziemlich kleinen Zielbereich. Achtzehn Hotels. Sie waren in Nummer fünfzehn.«
Er schüttelte den Kopf. Hatte gemischte Gefühle. Wir rasten in der Dunkelheit über den Fahrstreifen. Der große, alte Bentley bewegte sich knapp über dem gesetzlichen Tempolimit vorwärts.
»Wie stehen die Dinge in Margrave?« fragte er endlich.
Das war die entscheidende Frage. Er stellte sie zaghaft, als hätte er Angst davor. Ich hatte Angst, sie zu beantworten. Ich ging ein bißchen vom Gas und fuhr langsamer. Nur für den Fall, daß er sich so aufregte, daß er mir in den Arm fiel. Ich wollte nicht den Wagen zu Schrott fahren. Dafür war keine Zeit.
»Wir stecken tief in der Scheiße. Und uns bleiben nur etwa sieben Stunden, um das in Ordnung zu bringen.«
Ich sparte mir das Schlimmste bis zum Schluß auf. Erzählte ihm, daß Charlie und die Kinder am Montag mit einem Agenten vom FBI weggefahren waren. Wegen der Gefahr. Und dann sagte ich ihm, daß der FBI-Agent Picard war.
Im Wagen herrschte Stille. Ich fuhr drei, vier Meilen in dieser Stille. Es war mehr als nur Stille. Es war ein erdrückendes Vakuum der Geräuschlosigkeit. Als wäre die Atmosphäre vom Planeten abgesaugt worden. Es war eine Stille, die in den Ohren schwirrte und dröhnte.
Er fing an, unaufhörlich die Hände ineinander zu verschränken. Fing an, sich auf dem großen Ledersitz neben mir vor und zurück zu wiegen. Aber dann wurde er ruhig. Seine Reaktion hatte nie richtig eingesetzt. Sich nie wirklich durchgesetzt. Sein Hirn hatte einfach dichtgemacht und jegliche Reaktion verweigert. Als wäre ein Überlastschutzschalter angesprungen. Das Ganze war zu groß und zu schrecklich, um darauf vernünftig reagieren zu können. Er sah mich nur an.
»Okay«, sagte er. »Dann holen Sie sie da raus, nicht wahr?«
Ich beschleunigte wieder. Raste Richtung Atlanta.
»Ich hole sie da raus«, sagte ich. »Aber ich brauche Ihre Hilfe. Deshalb habe ich zuerst Sie abgeholt.«
Er nickte wieder. Er hatte aufgehört, sich Sorgen zu machen, und entspannte sich langsam. Er war auf einer Gedankenebene, wo man nur das tut, was getan werden muß. Ich kannte das gut. Ich lebte dort.
Zwanzig Meilen hinter Augusta sahen wir Lichtsignale vor uns aufblitzen und Männer mit Warnflaggen winken. Es hatte einen Unfall auf der anderen Seite der Abgrenzung gegeben. Ein Lkw war in eine geparkte Limousine gerast. Ein Pulk weiterer Fahrzeuge war über den ganzen Unfallort verteilt. Überall lagen verwehte Haufen herum, die anscheinend aus Papierfetzen bestanden. Eine große Menge von Leuten lief durcheinander und sammelte die Fetzen auf. Wir krochen in einer Autoschlange daran vorbei. Hubble blickte aus dem Fenster.
»Es tut mir leid wegen Ihres Bruders«, sagte er. »Ich hatte keine Ahnung. Ich schätze, ich bin an seinem Tod schuld, oder?«
Er sank in seinem Sitz zusammen. Aber ich wollte, daß er weitersprach. Er durfte sich jetzt nicht hängenlassen. Also stellte ich ihm die Frage, auf die ich eine Woche hatte warten müssen.
»Wie zum Teufel sind Sie da hineingeraten?« fragte ich.
Er zuckte die Schultern. Blickte zur Windschutzscheibe hinaus und stieß einen tiefen Seufzer aus. Als sei es unmöglich, sich vorzustellen, wie man in so was hineingeriet. Als sei es unmöglich, sich vorzustellen, wie man sich aus so was heraushielt.
»Ich habe meinen Job verloren«, sagte er. Eine einfache Feststellung. »Ich war niedergeschmettert. Ich war wütend und enttäuscht. Und ich hatte Angst, Reacher. Wir hatten einen Traum gelebt, wissen Sie? Einen goldenen Traum. Es war das perfekte idyllische Leben. Ich verdiente ein Vermögen und gab ein Vermögen aus. Es war vollkommen fantastisch. Aber dann kamen mir ein paar Dinge zu Ohren. Die Privatkundenabteilung war gefährdet. Sie wurde überprüft. Mir wurde plötzlich klar, daß ich nur einen Gehaltsscheck von der Katastrophe entfernt war. Dann wurde die Abteilung geschlossen. Ich wurde gefeuert. Und die Gehaltsschecks kamen nicht mehr.«
»Und?«
»Ich war außer mir«, fuhr er fort. »Ich war so wütend. Ich hatte mir den Arsch für diese Bastarde aufgerissen. Ich war gut in meinem Job. Ich hatte ein Vermögen für sie gemacht. Und sie schmissen mich einfach raus, so als wäre ich plötzlich nur Scheiße an ihrem Schuh. Und ich hatte Angst. Ich würde alles verlieren. Und ich war müde. Ich konnte nicht noch mal ganz von vorn anfangen. Ich war zu alt und hatte nicht mehr genügend Energie dazu. Ich wußte einfach nicht, was ich tun sollte.«
»Und dann tauchte Kliner auf?« fragte ich.
Er nickte. Sah bleich aus.
»Er hatte davon gehört. Ich schätze, Teale hat es ihm erzählt. Teale weiß alles über jeden von uns. Kliner rief mich nach ein paar Tagen an. Ich hatte es Charlie zu diesem Zeitpunkt noch nicht erzählt. Ich konnte mich dem nicht stellen. Er rief mich an und bat mich, ihn am Flughafen zu treffen. Er wartete in seinem Privatjet, war gerade aus Venezuela gekommen. Er flog mit mir zum Lunch auf die Bahamas, und wir redeten. Um ehrlich zu sein, ich war geschmeichelt.«
»Und?«
»Er redete eine Menge Unsinn«, sagte Hubble. »Erzählte mir, ich solle das Ganze als Gelegenheit sehen, auszusteigen. Er sagte, ich solle die Sache mit dem Berufsverband doch sausenlassen. Ich solle zu ihm kommen und einen richtigen Job bei ihm machen, richtig Geld verdienen. Ich wußte nicht viel über ihn. Ich wußte Bescheid über das Vermögen seiner Familie und über die Stiftung, natürlich, aber ich hatte ihn noch nie persönlich getroffen. Doch er war eindeutig ein sehr wohlhabender und erfolgreicher Mann. Und sehr, sehr clever. Und da saß er nun in seinem Privatjet und bat mich, mit ihm zusammenzuarbeiten. Nicht für ihn, mit ihm. Ich war geschmeichelt, und ich war verzweifelt, und ich war besorgt, und ich sagte ja.«
»Und dann?« bohrte ich weiter.
»Er rief mich am nächsten Tag wieder an. Er schickte mir die Maschine. Ich mußte zu Kliners Betrieb in Venezuela fliegen, um mich dort mit ihm zu treffen. Das tat ich auch. Ich war nur einen Tag da. Bekam überhaupt nichts zu sehen. Dann flog er mit mir nach Jacksonville. Ich war dort eine Woche lang in seinem Anwaltsbüro. Danach war es zu spät. Ich konnte nicht mehr aussteigen.«
»Warum nicht?«
»Es war eine höllische Woche. Eine Woche hört sich kurz an, nicht? Nur ein paar Tage. Aber er hat mir richtig zugesetzt. Am ersten Tag war alles noch Schmeichelei. Verführung. Er verpflichtete sich vertraglich zu einem Riesengehalt, mit Gratifikationen und allem, was ich wollte. Wir gingen in Clubs und Hotels, und er gab das Geld aus, als hätte er einen Goldesel. Dienstag fing ich an zu arbeiten. Die eigentliche Arbeit war eine echte Herausforderung. Sehr schwierig nach dem, was ich in der Bank gemacht hatte. Es war so spezialisiert. Er wollte Bargeld, natürlich, aber er wollte nur Dollars. Und nur Eindollarnoten. Ich hatte keine Ahnung, warum. Und er wollte Belege. Sehr genau geführte Bücher. Aber ich konnte es schaffen. Und er war ein entspannter Boss. Kein Druck, keine Probleme. Die Probleme fingen erst Mittwoch an.«
»Und was passierte da?«
»Am Mittwoch fragte ich ihn, was er eigentlich mache. Und er erzählte es mir. Er erzählte alles in allen Einzelheiten. Und er sagte, daß ich jetzt dazugehörte. Ich steckte mit drin. Ich mußte den Mund halten. Donnerstag ging es mir richtig schlecht. Ich konnte es nicht fassen. Ich sagte ihm, daß ich aussteigen wollte. Da fuhr er mich zu einem fürchterlichen Ort. Sein Sohn war da. Er hatte zwei lateinamerikanische Männer bei sich. Und da war noch ein weiterer Mann, der in einem Hinterzimmer angekettet war. Kliner sagte, dieser Mann sei aus der Reihe getanzt. Er forderte mich auf, genau aufzupassen. Sein Sohn trat den Mann einfach zu Brei. Durch den ganzen Raum, direkt vor meinen Augen. Dann packten die Latinos ihre Messer aus und hackten den armen Teufel in Stücke. Überall war Blut. Einfach schrecklich. Ich konnte es nicht fassen. Ich kotzte das ganze Zimmer voll.«
»Weiter«, sagte ich.
»Es war ein Alptraum. Ich konnte in dieser Nacht nicht schlafen. Ich dachte, daß ich nie wieder würde schlafen können. Freitag morgen flogen wir nach Hause. Wir saßen zusammen in dem kleinen Jet, und er erzählte mir, was passieren würde. Er sagte, nicht nur ich würde aufgeschlitzt werden. Sondern auch Charlie. Er besprach es ganz genau mit mir. Welche ihrer Brustwarzen sollte er zuerst abschneiden? Rechts oder links? Und wenn wir erst mal tot waren, mit welchem der Kinder sollte er anfangen? Mit Lucy oder mit Ben? Es war ein Alptraum. Er sagte, er würde mich an die Wand nageln. Ich machte mir fast in die Hose. Dann landeten wir, und er rief Charlie an und bestand darauf, zusammen zu Abend zu essen. Er erzählte ihr, daß wir zusammen Geschäfte machten. Charlie war hocherfreut, weil Kliner so ein großes Tier in der Gegend ist. Es war ein völliger Alptraum, weil ich so tun mußte, als sei alles in Ordnung. Ich hatte Charlie ja noch nicht mal erzählt, daß ich meinen Job verloren hatte. Ich mußte so tun, als wäre ich immer noch bei der Bank. Und den ganzen Abend richtete dieser Bastard höfliche Fragen an Charlie und lächelte zu mir herüber.«
Wir schwiegen. Ich fuhr wieder um die Südostecke von Atlanta und suchte nach dem Highway Richtung Süden. Rechts von uns strahlte und funkelte die Stadt. Links von uns befand sich die dunkle, leere Masse des ländlichen Südostens. Ich fand den Highway und fuhr noch schneller südwärts. Hinunter zu einem kleinen Punkt in dieser dunklen, leeren Masse.
»Was passierte dann?«
»Ich fing an, im Lagerhaus zu arbeiten. Er wollte mich dorthaben.«
»Und was haben Sie gemacht?«
»Vorratsmanagement. Ich hatte ein kleines Büro dort und mußte dafür sorgen, daß ausreichend neue Dollars kamen, und dann hatte ich noch die Verladung und den Versand zu beaufsichtigen.«
»Der Fahrer war Sherman Stoller?«
»Genau. Er war mit der Florida-Route betraut. Ich schickte ihn mit einer Million Dollarnoten pro Woche runter. Manchmal machte es auch der Wachmann, wenn Sherman frei hatte. Aber normalerweise fuhr er. Er half mir bei den Kartons und dem Aufladen. Wir mußten schuften wie verrückt. Eine Million Dollar in Einern ist ein höllischer Anblick. Sie können sich das nicht vorstellen. Es war, als versuchte man, einen Swimmingpool mit einer Schaufel auszuleeren.«
»Aber Sherman hat geklaut, richtig?« fragte ich.
Er nickte. Ich sah, wie seine Metallbrille im Lichtschein der Armaturen aufblitzte.
»Das Geld wurde in Venezuela genau gezählt. Ich bekam regelmäßig nach etwa einem Monat die genauen Beträge. Die verglich ich dann mit den Zahlen, die sich bei mir beim Wiegen ergeben hatten. Sehr oft fehlten etwa hundert Riesen. Ich konnte unmöglich einen solchen Fehler gemacht haben. Es war eine belanglose Summe, weil wir am Ende des ganzen Vorgangs vier Milliarden Dollar in ausgezeichneten Fälschungen produzierten - was machte es also! Aber es war jedes Mal ungefähr ein Karton. Das war eine hohe Fehlerzahl, also glaubte ich, daß Sherman den einen oder anderen Karton verschwinden ließ.«
»Und?«
»Ich warnte ihn. Ich meine, ich habe niemandem etwas davon erzählt. Ich bat ihn nur, vorsichtig zu sein, weil Kliner ihn umbringen würde, wenn er es herausfände. Möglicherweise hätte auch ich dadurch Ärger bekommen. Ich machte mir schon genug Sorgen bei dem, was ich tat. Die ganze Sache war Irrsinn. Kliner importierte einen großen Teil der Fälschungen. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen. Meiner Meinung nach wurde das Ganze dadurch zu gefährlich. Um die Stadt aufzupolieren, warf Teale mit den Fälschungen um sich, als sei es Konfetti.«
»Und was geschah in den letzten zwölf Monaten?«
Er zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf.
»Wir mußten den Versand stoppen. Die Sache mit der Küstenwache machte ihn unmöglich. Kliner entschied sich, statt dessen einen Vorrat anzulegen. Er glaubte, die Intervention könne nicht von Dauer sein. Er wußte, daß das Budget der Küstenwache das nicht lange tragen konnte. Aber es dauerte und dauerte. Es war ein höllisches Jahr. Die Anspannung war schrecklich. Und jetzt, da sich die Küstenwache endlich zurückzieht, kommt es für uns zu überraschend. Kliner dachte, wenn es schon so lange gedauert hatte, würde es auch noch bis zur Wahl im November so weitergehen. Wir waren noch nicht auf den Versand vorbereitet. Nicht im geringsten. Es ist alles da drinnen angehäuft. Unverpackt.«
»Wann haben Sie sich mit Joe in Kontakt gesetzt?« fragte ich ihn.
»Joe?« fragte er. »War das der Name Ihres Bruders? Ich kannte ihn als Polo.«
Ich nickte.
»Palo«, sagte ich. »Dort wurde er geboren. Es ist eine Stadt auf Leyte, einer Insel der Philippinen. Das Krankenhaus war eine umgebaute Kathedrale. Ich wurde dort gegen Malaria geimpft, als ich sieben war.«
Er schwieg etwa für eine Meile, als würde er Joe die letzte Ehre erweisen.
»Ich rief vor einem Jahr im Finanzministerium an. Ich wußte nicht, an wen ich mich sonst hätte wenden können. Die Polizei war unmöglich wegen Morrison, das FBI war unmöglich wegen Picard. Also rief ich Washington an und gab diesem Mann, der sich Polo nannte, einen Hinweis. Er war ein schlauer Bursche. Ich dachte, er würde es schaffen. Ich wußte, daß er die besten Chancen hatte, wenn er zuschlug, solange wir den Vorrat anlegten. Wenn der Beweis noch dort drinnen war.«
Ich sah ein Tankstellenschild und entschied mich in letzter Minute abzubiegen. Hubble füllte den Tank. Ich fand eine Plastikflasche in einem Mülleimer und bat ihn, auch die zu füllen.
»Wozu?« fragte er mich.
Ich sah ihn achselzuckend an.
»Vielleicht für Notfälle.«
Er fragte nicht nach. Wir zahlten einfach am Nachtschalter und fuhren wieder auf den Highway. Weiter in Richtung Süden. Wir waren noch eine halbe Stunde von Margrave entfernt. Es ging auf Mitternacht zu.
»Und warum sind Sie am Montag abgehauen?« fragte ich ihn.
»Kliner rief mich an. Er befahl mir, zu Hause zu bleiben. Er sagte, zwei Männer würden vorbeikommen. Ich fragte ihn nach dem Grund, und er sagte, es gebe ein Problem in Florida, und ich müßte das klären.«
»Aber?« fragte ich.
»Ich glaubte ihm nicht. Als er die zwei Männer erwähnte, fuhr mir durch den Kopf, was in der ersten Woche in Jacksonville passiert war. Ich geriet in Panik. Ich rief mir ein Taxi und verschwand.«
»Das war klug, Hubble«, sagte ich. »Das hat Ihnen das Leben gerettet.«
»Wissen Sie was?« fragte er.
Ich blickte ihn ebenso fragend an.
»Wenn er gesagt hätte, ein Mann kommt vorbei, dann wäre mir nichts aufgefallen. Sie wissen schon, hätte er gesagt, bleiben Sie zu Hause, es kommt jemand vorbei, dann wäre ich darauf reingefallen. Aber er sagte: zwei Männer.«
»Er hat einen Fehler gemacht«, sagte ich.
»Ich weiß«, erwiderte Hubble. »Ich kann es nicht fassen. Er macht nie Fehler.«
Ich schüttelte den Kopf. Lächelte in der Dunkelheit.
»Er hat letzten Donnerstag einen Fehler gemacht.«
Die große Chromuhr auf dem Armaturenbrett des Bentleys zeigte Mitternacht an. Die ganze Angelegenheit mußte bis fünf Uhr morgens aus und vorbei sein. Also hatte ich noch fünf Stunden. Wenn alles gutging, war das mehr, als ich brauchte. Wenn ich es vermasselte, dann war es egal, ob ich fünf Stunden hatte oder fünf Tage. Dies war eine Sache, bei der man nur einen einzigen Versuch hatte. Rein, zuschlagen und wieder raus. Beim Militär pflegten wir zu sagen: Mach es einmal und mach es richtig. In dieser Nacht mußte ich hinzufügen: Und mach es schnell.
»Hubble? Ich brauche Ihre Hilfe.«
Er schreckte auf und blickte zu mir herüber.
»Ja?«
Ich verbrachte die letzten zehn Minuten auf dem Highway damit, die Sache mit ihm durchzugehen. Immer und immer wieder, bis er vollkommen firm war. Ich bog vom Highway auf die Landstraße ab. Raste an den Lagerhäusern vorbei und die vierzehn Meilen runter zur Stadt. Wurde langsamer, als ich am Polizeirevier vorbeisteuerte. Es war ruhig und dunkel. Keine Wagen auf dem Parkplatz. Die Feuerwache daneben sah okay aus. Die Stadt lag still und menschenleer da. Das einzige Licht, das im gesamten Ort zu sehen war, kam aus dem Friseurladen.
Ich bog nach rechts in den Beckman Drive ein und fuhr den Hügel zu Hubbles Haus hinauf. Bog an dem vertrauten weißen Briefkasten ein und bahnte meinen Weg durch die Windungen der Auffahrt. Hielt an der Tür.
»Meine Autoschlüssel sind im Haus«, sagte Hubble.
»Es ist offen«, erwiderte ich.
Er ging, um das zu überprüfen. Stieß behutsam gegen die zersplitterte Tür, mit einem Finger, als könne sich dort eine versteckte Sprengladung befinden. Ich sah, wie er hineinging. Eine Minute später kam er zurück. Er hatte seine Schlüssel, ging aber nicht zur Garage. Er kam zu mir herüber und lehnte sich an den Wagen.
»Es ist ein höllisches Durcheinander da drin«, sagte er. »Was war da los?«
»Ich habe Ihr Haus für einen Hinterhalt benutzt. Vier Männer sind auf der Suche nach mir durch das ganze Haus getrampelt. Es hat zu der Zeit geregnet.«
Er beugte sich weiter herunter und sah zu mir herein.
»Waren es diejenigen?« sagte er. »Sie wissen schon, die, die Kliner geschickt hätte, wenn ich den Mund aufgemacht hätte?«
Ich nickte.
»Sie hatten ihre gesamte Ausrüstung dabei.«
Ich konnte sein Gesicht im trüben Licht der alten Anzeigen auf dem Armaturenbrett sehen. Er hatte die Augen weit aufgerissen, doch er sah mich nicht. Er sah, was er in seinen Alpträumen gesehen hatte. Er nickte langsam. Dann langte er herein und legte mir die Hand auf den Arm. Drückte ihn. Sagte kein Wort. Zog die Hand wieder hinaus und war verschwunden. Ich blieb sitzen und fragte mich, wie zum Teufel ich diesen Mann vor einer Woche noch hatte hassen können.
Ich nutzte die Zeit, um die Desert Eagle nachzuladen. Ich ersetzte die vier Geschosse, die ich drüben auf dem Highway bei Augusta verbraucht hatte. Dann sah ich Hubble seinen alten, grünen Bentley aus der Garage fahren. Der Motor war noch kalt, und eine weiße Rauchwolke zog hinter ihm her. Er gab mir ein Okay-Zeichen, als er vorbeifuhr, und ich folgte der weißen Wolke die Auffahrt und den Beckman Drive hinunter. Wir fuhren an der Kirche vorbei und bogen in majestätischer Prozession nach links in die Main Street. Zwei feine, alte Wagen, Stoßstange an Stoßstange durch die schlafende Stadt, bereit zum Kampf.
Hubble fuhr knapp vierzig Meter vor dem Polizeirevier rechts ran. Fuhr genau nach meinen Anweisungen an den Bordstein. Schaltete die Scheinwerfer aus und wartete mit laufendem Motor. Ich zog an ihm vorbei und fuhr auf den Vorplatz des Police Departments. Stoppte auf dem hintersten Parkplatz und stieg aus. Ließ alle vier Türen unverschlossen. Zog die große Automatik aus meiner Tasche. Die Nachtluft war kalt und die Stille erdrückend. Ich konnte Hubbles Motor aus vierzig Meter Entfernung im Leerlauf hören. Ich legte den Sicherungshebel der Desert Eagle um, und das Klicken klang in der Stille ohrenbetäubend.
Ich lief zur Wand des Reviers und ließ mich zu Boden gleiten. Kroch vorwärts, bis ich durch den unteren Rand der schweren Glastür sehen konnte. Blickte angestrengt hindurch und lauschte. Hielt den Atem an. Ich beobachtete und lauschte lange genug, um sicher zu sein.
Dann stand ich auf und legte den Sicherungshebel wieder vor. Steckte die Waffe zurück in meine Tasche. Wartete und stellte eine Rechnung auf. Die Feuerwache und das Polizeirevier standen etwa dreihundert Meter vom nördlichen Ende der Main Street entfernt. Weiter oben an der Straße lag in achthundert Meter Entfernung Eno's Diner. Also würde es wohl mindestens etwa drei Minuten dauern, bis jemand hier wäre. Zwei Minuten, um zu reagieren, und eine Minute, um schnell von der Main Street hierher zu laufen. Also hatten wir drei Minuten. Die Hälfte davon war Sicherheitsspielraum, also blieben neunzig Sekunden, von Anfang bis Ende.
Ich lief zurück auf die Landstraße und winkte Hubble zu. Ich sah, wie sein Wagen sich vom Bordstein löste, und rannte rüber zum Eingang der Feuerwache. Stand neben dem großen, roten Tor und wartete.
Hubble fuhr vor und schleuderte seinen alten Bentley in einem engen Bogen über die Straße. Endete in einem rechten Winkel dazu, genau vor dem Eingang der Feuerwache, mit dem Heck zu mir. Ich sah, wie der Wagen ruckte, als er den Rückwärtsgang rüde einlegte. Dann trat er aufs Gas, und die große, alte Limousine schoß rückwärts auf mich zu.
Sie beschleunigte die gesamte Strecke und krachte rückwärts in den Eingang der Feuerwache. Der alte Bentley mußte an die zwei Tonnen wiegen, er riß das Metalltor ohne die geringsten Probleme aus seiner Aufhängung. Es gab ein gewaltiges Geräusch vom Krachen und Bersten des Metalls, und ich hörte, wie die Rücklichter des Bentley zerbrachen und die Stoßstange abfiel und über den Beton schepperte. Ich war schon durch das Loch zwischen dem Tor und dem Rahmen geschlüpft, bevor Hubble den Vorwärtsgang eingelegt hatte und sich aus den Trümmern zog. Es war dunkel drinnen, aber ich fand, wonach ich gesucht hatte. Es war an einer Seite des Feuerwehrwagens befestigt, horizontal, in Kopfhöhe. Ein Bolzenschneider, ein riesiges Ding, an die ein Meter zwanzig lang. Ich riß ihn aus seiner Verankerung und lief zum Tor.
Sobald mich Hubble herauskommen sah, zog er einen weiten Bogen über die Straße. Das Hinterteil seines Bentleys war vollkommen eingebeult. Der Kofferraumdeckel klappte auf und zu, und das Blech war geborsten und quietschte. Aber er hatte seine Aufgabe erfüllt. Er zog einen weiten Kreis und stellte sich vor dem Eingang des Reviers auf. Hielt eine Sekunde inne und trat dann das Gaspedal zu Boden. Beschleunigte in Richtung der schweren Glastüren.
Der alte Bentley krachte in einem Regen aus Glas durch die Türen und demolierte die Empfangstheke. Pflügte sich durch das Mannschaftsbüro und blieb stehen. Ich lief sofort hinterher. Finlay stand in der mittleren Zelle. Vor Schreck erstarrt. Er war an seinem linken Handgelenk mit Handschellen an die Gitter gefesselt, die seine Zelle von der letzten trennten. Schön weit hinten. Es hätte besser nicht sein können.
Ich zog und schob an der zertrümmerten Empfangstheke herum und räumte einen Weg hinter Hubble frei. Winkte ihn zurück. Er schlug das Lenkrad ein und fuhr rückwärts in den Raum, den ich freigeräumt hatte. Ich zog und schob die Schreibtische des Mannschaftsbüros aus dem Weg, um ihm die freie Fahrt nach vorn zu ermöglichen. Drehte mich um und gab ihm das Signal.
Die Vorderseite seines Wagens sah so schlimm aus wie die Rückseite. Die Motorhaube war verbogen und der Kühler zertrümmert. Eine grüne Flüssigkeit floß unten heraus, und oben entwich zischend Dampf. Die Scheinwerfer waren zerbrochen, und die Stoßstange schleifte auf dem Reifen. Aber Hubble machte sich wieder ans Werk. Er hielt den Wagen mit der Bremse zurück und trieb den Motor hoch. Genau, wie ich es ihm gesagt hatte.
Ich konnte sehen, daß sich der Wagen zitternd gegen den Bremswiderstand stemmte. Dann schoß er vorwärts und raste auf Finlay in der mittleren Zelle zu. Krachte an einer Ecke in das Titangitter und riß es auf wie eine Axt einen Palisadenzaun. Die Motorhaube des Bentleys flog auf, und die Windschutzscheibe explodierte. Zerborstenes Metall schepperte und kreischte. Hubble kam knapp einen Meter vor Finlay zum Stehen. Das zertrümmerte Auto stoppte mit einem lauten Zischen von dem entweichenden Dampf. Die Luft war zum Schneiden dick.
Ich tauchte durch das Loch in der Zelle und klemmte den Bolzenschneider um das Verbindungsglied, das Finlays Handgelenk an die Gitter kettete. Lehnte mich auf die riesigen Hebel, bis die Handschellen durchgeschnitten waren. Ich gab Finlay den Bolzenschneider und zog ihn durch das Loch aus der Zelle heraus. Hubble kroch durch das Fenster aus dem Bentley. Der Aufprall hatte die Tür verformt, so daß sie sich nicht mehr öffnen ließ. Ich zog ihn heraus, beugte mich noch einmal hinein und zog die Schlüssel ab. Dann liefen wir drei durch den demolierten Mannschaftsraum und stiegen über knirschende Glasscherben, wo eben noch die großen Türen gewesen waren. Stürzten hinüber zu meinem Wagen und stiegen ein. Ich ließ den Motor an und fuhr den Bentley rückwärts aus dem Parkplatz. Legte krachend den Vorwärtsgang ein und fuhr los in Richtung Stadt.
Finlay war befreit. In neunzig Sekunden, von Anfang bis Ende.