KAPITEL 18


Ich fuhr an Eno's Diner vorbei und entfernte mich Richtung Norden aus der Stadt. Die Limousine folgte mir. In vierzig Meter Entfernung. Ganz offensichtlich. Die beiden Typen fuhren einfach hinter mir her. Mit Blick nach vorn. Ich bog nach Westen auf die Straße nach Warburton ein. Verlangsamte auf gemütliche Reisegeschwindigkeit. Die Limousine folgte. Immer noch in vierzig Meter Entfernung. Wir fuhren nach Westen. In der riesigen Landschaft waren wir das einzige, was sich bewegte. Ich konnte die zwei Männer im Rückspiegel sehen. Wie sie zu mir blickten. Sie wurden durch die tiefstehende Nachmittagssonne angestrahlt. Das gedämpfte, messingfarbene Licht machte sie lebendig. Junge Männer. Latinos mit grellen Hemden und schwarzen Haaren, sehr gepflegt, sehr ähnlich. Ihr Wagen stetig in meinem Kielwasser.

Ich fuhr sieben oder acht Meilen in diesem Tempo. Ich suchte nach einem ganz bestimmten Platz. Ungefähr jede halbe Meile gab es holperige Schotterwege, die nach rechts oder links in die Felder führten. Die ohne Ziel in einer Schleife verliefen. Ich wußte nicht, wozu sie dienten. Vielleicht führten sie zu Sammelpunkten, wo die Farmer ihre Maschinen für die Ernte abstellten. Wann auch immer die war. Ich suchte nach einem speziellen Weg, den ich vorher schon einmal gesehen hatte. Er führte rechts von der Straße um ein kleines Wäldchen herum. Die einzige Deckung weit und breit. Ich hatte es am Freitag vom Gefängnisbus aus gesehen. Und auf der Rückfahrt von Alabama. Ein ganz anständiges Wäldchen. Am Morgen hatte es im Nebel geschwommen. Ein kleines, ovales Wäldchen auf der rechten Seite in der Nähe der Straße, um das ein Schotterweg herumlief und dann wieder in die Straße mündete.

Ich entdeckte es ein paar Meilen vor mir. Die Bäume waren ein Fleck am Horizont. Ich fuhr darauf zu. Ließ das Handschuhfach aufspringen und holte die große Automatik heraus. Klemmte sie zwischen die Polster des Beifahrersitzes. Die beiden Männer folgten mir. Immer noch vierzig Meter entfernt. Eine Viertelmeile vor den Bäumen rammte ich die Schaltung in den zweiten Gang und drückte das Gaspedal zu Boden. Der alte Wagen gurgelte und schoß vorwärts. An dem Weg riß ich das Steuer herum und zog den Bentley von der Straße, daß er sprang und schleuderte. Scheuchte ihn zur Rückseite des Wäldchens. Brachte ihn abrupt zum Stehen. Nahm die Waffe und sprang hinaus. Ließ die Fahrertür weit offen, als wäre ich herausgestolpert und direkt nach links zwischen die Bäume gestürzt.

Aber ich ging zur anderen Seite. Ich ging nach rechts. Schlich um die Motorhaube herum, warf mich fünf Meter weiter in das Erdnußfeld und drückte mich flach auf den Boden. Kroch durch die Büsche und brachte mich auf die Höhe, wo ihr Wagen auf dem Weg hinter dem Bentley halten mußte. Preßte mich gegen die kräftigen Stengel, tief unter den Blättern, auf die feuchte, rote Erde. Dann wartete ich. Sie waren bestimmt sechzig oder siebzig Meter zurückgefallen. Meine plötzliche Beschleunigung hatten sie nicht mitgemacht. Ich ließ den Sicherungshebel zurückschnappen. Dann hörte ich ihren braunen Buick. Ich vernahm das Geräusch des Motors und das Ächzen der Stoßdämpfer. Der Wagen geriet auf dem Weg vor mir in Sicht. Er hielt hinter dem Bentley, vor dem Wäldchen. Er war ungefähr sieben Meter von mir entfernt.

Es waren ziemlich schlaue Burschen. Ich hatte schon schlechtere gesehen. Der Beifahrer war auf der Straße ausgestiegen, bevor sie in den Weg eingebogen waren. Er dachte, ich sei im Wäldchen. Er beabsichtigte, mich von hinten zu überraschen. Der Fahrer kletterte im Wagen herum und ließ sich auf der Beifahrertür, also auf der entgegengesetzten Seite zum Wäldchen, aus dem Wagen fallen. Direkt vor mir. Er hielt einen Revolver in der Hand und kniete im Staub, mit dem Rücken zu mir, glaubte, durch den Buick vor mir versteckt zu sein, und sah durch den Wagen hindurch auf das Wäldchen. Ich mußte ihn dazu bringen, daß er sich in Bewegung setzte. Ich wollte ihn nicht in der Nähe des Wagens haben. Der Wagen mußte fahrtüchtig bleiben. Ich wollte nicht, daß er beschädigt wurde.

Sie beobachteten das Wäldchen. Das war mein Plan gewesen, Warum sollte ich den ganzen Weg zum einzigen Wäldchen weit und breit fahren und mich dann in einem Feld verstecken? Ein klassisches Ablenkungsmanöver. Sie waren darauf reingefallen, ohne überhaupt darüber nachzudenken. Der Typ am Wagen starrte durch die Bäume. Ich starrte auf seinen Rücken. Ich hielt die Desert Eagle auf ihn gerichtet und atmete flach. Sein Partner schlich langsam durch die Bäume und suchte mich. Sehr bald schon würde er in mein Blickfeld kommen.

Er kam nach ungefähr fünf Minuten. Er hielt einen Revolver vor sich. Schlängelte sich um das Heck des Buicks hemm. Hielt sich in einer gewissen Distanz zum Bentley, Er kauerte sich neben seinem Partner nieder, und die beiden sahen sich achselzuckend an. Dann nahmen sie den Bentley unter die Lupe. Befürchteten, daß ich unter dem Wagen lag oder hinter dem stattlichen Kühler aus Chrom herumschlich. Der Typ, der gerade aus dem Wäldchen gekommen war, kroch durch den Staub, hielt den Buick zwischen sich und den Bäumen und starrte direkt vor mir unter den Bentley, um meine Füße zu sehen.

Er kroch die gesamte Länge des Bentleys ab. Ich konnte hören, wie er stöhnte und keuchte, während er sich auf seinen Ellbogen vorwärtshievte. Dann kroch er den gesamten Weg zurück und hockte sich wieder neben seinem Partner nieder. Die beiden ratschten zur Seite und standen langsam neben der Motorhaube des Buicks auf. Sie gingen hinüber und überprüften das Innere des Bentleys. Sie liefen zusammen zum Rand des Wäldchens und starrten in die Dunkelheit. Sie konnten mich nicht finden. Dann kamen sie zurück und standen auf dem Feldweg, in einiger Distanz zu den Wagen, vor dem orangefarbenen Himmel, und starrten mit dem Rücken zum Feld, mit dem Rücken zu mir, auf die Bäume.

Sie wußten nicht, was sie tun sollten. Es waren Stadtjungen. Vielleicht aus Miami. Sie trugen typische Floridakleidung. Sie waren an neonbeleuchtete Straßen und Baustellen gewöhnt.

Sie waren an Operationen unter Autobahnbrücken und auf abfallübersäten Plätzen gewöhnt, die Touristen nie zu Gesicht bekamen. Sie wußten nicht, was sie mit einem Wäldchen mitten in einer Million Morgen Erdnußfelder anfangen sollten.

Ich schoß beiden in den Rücken, als sie so dastanden. Zwei schnelle Schüsse. Zielte hoch zwischen ihre Schulterblätter. Die große Automatik machte ein Geräusch, als würden Handgranaten explodieren. Vögel schossen von überall her in die Höhe. Die beiden Schüsse hallten wie Donner über die Landschaft. Die Rückstöße prellten meine Hand. Die beiden Männer wurden nach vorn geschleudert. Landeten auf ihren Gesichtern auf der gegenüberliegenden Seite des Feldweges, ausgestreckt vor den Bäumen. Ich hob meinen Kopf und spähte hinüber. Sie zeigten die typische Schlaffheit und Leere, die bleibt, wenn das Leben erloschen ist.

Ich hielt meine Waffe vor mir und ging zu ihnen hinüber. Sie waren tot. Ich hatte eine Menge Tote gesehen, und diese waren so tot, wie es nur ging. Die großen Magnumgeschosse hatten sie weit oben in den Rücken getroffen. Wo die großen Venen und Arterien sind, die in den Kopf hinaufführen. Die Kugeln hatten ein ziemliches Desaster angerichtet. Ich blickte auf die beiden reglosen Männer hinab und dachte an Joe.

Dann ging ich an die Arbeit. Ich lief zurück zum Bentley. Legte den Sicherungshebel um und warf die Desert Eagle auf den Sitz. Ging hinüber zum Buick und zog die Schlüssel heraus. Ließ den Kofferraum aufspringen. Ich glaube, ich hoffte irgend etwas darin zu finden. Ich fühlte mich nicht schlecht wegen der beiden Typen. Aber ich hätte mich noch besser gefühlt, wenn ich etwas gefunden hätte. Zum Beispiel eine 22er Automatik mit Schalldämpfer. Oder vier Paar Gummiüberschuhe und vier Nylonoveralls. Ein paar Messer. So etwas. Aber ich fand nichts dergleichen. Ich fand Spivey.

Er war schon ein paar Stunden tot. Man hatte ihm mit einer 38er in die Stirn geschossen. Aus nächster Nähe. Die Mündung des Revolvers war etwa fünfzehn Zentimeter von seinem Kopf entfernt gewesen. Ich rieb mit meinem Daumen über die Haut rund um das Einschußloch. Sah ihn mir an. Da war kein Ruß, aber winzige Schießpulverpartikel in seiner Haut. Die konnte man nicht abreiben. Diese Art Tätowierung wies auf einen ziemlich geringen Abstand hin. Fünfzehn Zentimeter, vielleicht zwanzig. Irgend jemand hatte plötzlich eine Waffe gehoben, und der langsame, schwere stellvertretende Direktor war nicht schnell genug gewesen, um auszuweichen.

Es war Schorf auf seinem Kinn, wo ich ihn mit Morrisons Messer geschnitten hatte. Seine kleinen Schlangenaugen waren geöffnet. Er steckte immer noch in seiner speckigen Uniform. Sein weißer, haariger Bauch war zu sehen, wo ich sein Hemd aufgeschlitzt hatte. Er war ein großer Mann gewesen. Damit er in den Kofferraum paßte, hatte man seine Beine gebrochen. Wahrscheinlich mit einer Schaufel. Sie hatten sie gebrochen und an den Knien zur Seite gefaltet, um seine Leiche hineinzubekommen. Ich starrte auf ihn hinunter und fühlte, wie Wut in mir aufstieg. Er hatte etwas gewußt und mir nicht gesagt. Und sie hatten ihn trotzdem getötet. Die Tatsache, daß er nicht geredet hatte, hatte für sie nicht gezählt. Sie waren in Panik. Sie brachten jeden zum Schweigen, während die Uhr langsam immer weiter gen Sonntag vorrückte. Ich starrte in Spiveys tote Augen, als wäre die Antwort in ihnen verborgen.

Dann lief ich zurück zu den Leichen am Rand des Wäldchens und durchsuchte sie. Zwei Brieftaschen und ein Mietwagenvertrag. Ein Mobiltelefon. Das war alles. Der Mietwagenvertrag war für den Buick. Gemietet am Flughafen in Atlanta. Montag morgen um acht. Ein früher Flug von irgendwoher, Ich sah mir die Brieftaschen an. Keine Flugtickets. Die Führerscheine waren in Florida ausgestellt und gaben Adressen in Jacksonville an. Freundliche Fotos, bedeutungslose Namen. Passende Kreditkarten. Viel Bargeld in den Brieftaschen. Ich nahm alles mit. Sie würden es nicht mehr brauchen.

Ich nahm die Batterie aus dem Mobiltelefon und legte das Telefon in die Tasche des einen, die Batterie in die Tasche des anderen Typen. Dann zog ich die Leichen zum Buick hinüber und hievte sie zu Spivey in den Kofferraum. Nicht ganz leicht. Zwar waren sie nicht groß, aber weich und unhandlich. Brachten mich trotz der Kühle zum Schwitzen. Ich mußte sie ziemlich herumschieben, um beide in dem Raum unterzubringen, den Spivey übriggelassen hatte. Ich sah mich suchend um und fand ihre Revolver. Beides 38er. Die eine hatte noch alle Patronen in der Trommel. Mit der anderen war einmal geschossen worden. Dem Geruch nach erst kürzlich. Ich warf die Waffen in den Kofferraum. Fand die Schuhe des Beifahrers. Die Desert Eagle hatte ihn einfach aus seinen Schuhen katapultiert. Ich warf auch sie in den Kofferraum und schlug den Deckel zu. Ging zurück ins Feld und suchte mein Versteck in den Sträuchern. Kroch herum und fand die beiden Patronenhülsen. Steckte sie mir in die Tasche.

Dann verschloß ich den Buick und ließ ihn, wo er war. Öffnete den Kofferraum des Bentleys. Zog die Tüte mit meinen alten Sachen heraus. Meine neuen waren mit roter Erde bedeckt und dem Blut der toten Männer verschmiert. Ich zog wieder meine alten Sachen an. Knüllte die schmutzigen Sachen zusammen und stopfte sie in die Tüte. Schmiß die Tüte in den Kofferraum des Bentleys und schloß den Deckel. Dann mußte ich nur noch mit einem Zweig alle Fußspuren verwischen.

Ich fuhr langsam mit dem Bentley ostwärts nach Margrave zurück und nutzte die Zeit, um mich zu beruhigen. Es war ein einfacher Hinterhalt gewesen, keine technischen Schwierigkeiten, keine wirkliche Gefahr. Ich hatte dreizehn Jahre harte Zeiten hinter mir. Ich sollte einen Einzelkampf gegen zwei Amateure im Schlaf durchstehen können. Aber mein Herz schlug heftiger, als es sollte, und ein kalter Adrenalinstoß hatte mich aufgeputscht. Der Anblick von Spivey mit seinen seitwärts gefalteten Beinen hatte das verursacht. Ich atmete tief und gewann die Beherrschung wieder. Mein rechter Arm schmerzte. Als hätte jemand mit einem Hammer auf meine Handfläche geschlagen. Der Schmerz zog sich bis zur Schulter hoch. Diese Desert Eagle hatte einen höllischen Rückstoß. Und machte einen höllischen Krach. Meine Ohren klingelten immer noch von den beiden Explosionen. Aber es ging mir gut. Es war gute Arbeit gewesen. Zwei Männer waren mir bis hierher gefolgt. Bis hierher, und nicht weiter.


Ich parkte am Polizeirevier auf dem Platz, der am weitesten von der Tür entfernt war. Steckte meine Waffe zurück in das Handschuhfach und stieg aus dem Wagen, Es wurde spät. Die Abenddämmerung brach herein. Der riesige Himmel über Georgia verdüsterte sich. Verwandelte sich in ein dunkles Tintenblau. Der Mond ging auf.

Roscoe saß an ihrem Schreibtisch. Sie stand auf, als sie mich sah und kam herüber. Wir gingen zurück durch die Tür. Liefen ein paar Schritte. Küßten uns.

»Irgendwas von den Mietwagenleuten?« fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf.

»Morgen«, sagte sie. »Picard kümmert sich darum. Er tut sein Bestes.«

»Okay. Welche Hotels gibt es am Flughafen?«

Sie leierte eine Liste mit Namen herunter. So ziemlich dieselben Hotels, die man an jedem Flughafen findet. Ich nannte den ersten Namen auf der Liste. Dann erzählte ich ihr, was mit den Latinos aus Florida passiert war. Letzte Woche hätte sie mich dafür verhaftet. Mich auf den elektrischen Stuhl geschickt. Jetzt war ihre Reaktion eine andere. Diese vier Männer, die in Gummiüberschuhen durch ihr Haus getappt waren, hatten ihre Ansichten über eine Menge Dinge verändert. Also nickte sie nur und zeigte kurz ein grimmiges, zufriedenes Lächeln.

»Zwei weniger«, sagte sie. »Gute Arbeit, Reacher. Gehörten sie dazu?«

»Letzte Nacht? Nein. Sie waren nicht von hier. Wir können sie nicht zu Hubbles zehn Leuten zählen. Sie waren bezahlte Hilfe von außerhalb.«

»Waren sie gut?« fragte sie.

Ich sah sie achselzuckend an. Machte eine unentschiedene Geste mit meiner Hand.

»Nicht wirklich. Jedenfalls nicht gut genug.«

Dann erzählte ich ihr, was ich im Kofferraum des Buicks gefunden hatte. Sie erschauerte noch einmal.

»Also ist er einer von den zehn?« fragte sie. »Spivey?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Nein, das glaube ich nicht. Auch er war Hilfe von außerhalb. Niemand würde eine Schnecke wie ihn dabeihaben wollen.«

Sie nickte. Ich öffnete den Bentley und nahm die Waffe aus dem Handschuhfach. Sie war zu groß für meine Tasche. Also steckte ich sie zu der Schachtel mit der Munition zurück. Roscoe legte das Ganze in den Kofferraum ihres Chevys. Ich nahm die Tüte mit den blutverschmierten Sachen heraus. Schloß den Bentley ab und ließ ihn auf dem Polizeiparkplatz stehen.

»Ich werde noch einmal Molly anrufen«, sagte ich. »Ich gerate da ziemlich tief hinein. Ich brauche ein paar Hintergrundinformationen. Es gibt da einige Dinge, die ich nicht verstehe.«

Das Revier war ruhig, also benutzte ich das Rosenholzbüro. Ich wählte die Nummer in Washington und erwischte Molly beim zweiten Klingeln.

»Können Sie sprechen?« fragte ich sie.

Sie bat mich, einen Moment zu warten, und ich hörte, wie sie aufstand und die Tür zu ihrem Büro schloß.

»Es ist zu früh, Jack«, sagte sie. »Ich bekomme die Unterlagen erst morgen.«

»Ich brauche mehr Informationen«, sagte ich. »Ich muß diese internationale Sache verstehen, die Joe gemacht hat. Ich muß wissen, warum hier etwas passiert, wenn das Geschäft eigentlich im Ausland läuft.«

Ich hörte, wie sie darüber nachdachte, wo sie beginnen sollte.

»Okay, Hintergrundinformationen«, sagte sie. »Ich schätze, Joes Annahme war, daß das Ganze vielleicht von hier aus kontrolliert wird. Und es ist sehr schwierig zu erklären, aber ich will es versuchen. Das Fälschen passiert im Ausland, und der Trick ist, daß die Fälschungen auch größtenteils im Ausland bleiben. Und nur ein paar falsche Scheine kommen überhaupt hierher, also ist es zwar kein großer Deal hier im Land, aber wir wollen ihn natürlich trotzdem stoppen. Doch im Ausland stellt es ein ganz anderes Problem dar. Wissen Sie, wieviel Bargeld in den USA im Umlauf ist, Jack?«

Ich dachte an das, was der Typ von der Bank mir gesagt hatte.

»Hundertdreißig Milliarden Dollar.«

»Richtig«, sagte sie. »Aber genau zweimal soviel befindet sich im Ausland. Das ist eine Tatsache. Über den gesamten Erdball verteilt besitzen die Leute an die zweihundertsechzig Milliarden Dollar. Das Bargeld befindet sich in Sicherheitsdepots in London, Rom, Berlin und Moskau, ist überall in Südamerika und Osteuropa in Matratzen gestopft, unter Dielenbrettern und hinter doppelten Wänden versteckt, in Banken, Reiseagenturen, überall. Und warum?«

»Weiß ich nicht.«

»Weil der Dollar bestimmt das sicherste Zahlungsmittel der Welt ist«, sagte sie. »Die Leute vertrauen darauf. Sie wollen es. Und natürlich ist die Regierung sehr, sehr glücklich darüber.«

»Gut für's Ego, richtig?« fragte ich.

Ich hörte, wie sie den Hörer in die andere Hand nahm.

»Es geht um nichts Emotionales«, sagte sie. »Es geht ums Geschäft. Denken Sie nach, Jack. Wenn sich eine Hundert-Dollarnote in irgendeinem Büro in Bukarest befindet, heißt das, daß irgendwo jemand eine Hundertdollanote im Tausch gegen ausländische Zahlungsmittel erworben hat. Es heißt, daß unsere Regierung ihm ein Stück Papier mit grüner und schwarzer Druckfarbe für den Gegenwert von hundert Dollar verkauft hat. Ein gutes Geschäft. Und weil diesem Zahlungsmittel so vertraut wird, besteht die Chance, daß diese Hundertdollanote wahrscheinlich viele Jahre lang in diesem Büro in Bukarest bleiben wird. Die Vereinigten Staaten werden wahrscheinlich nie wieder die ausländischen Zahlungsmittel zurückgeben müssen. Solange man dem Dollar vertraut, haben wir nichts zu verlieren.«

»Und wo ist dann das Problem?«

»Schwierig zu beschreiben«, sagte Molly. »Es geht hier nur um Glauben und Vertrauen. Es ist fast schon metaphysisch. Wenn die ausländischen Märkte mit gefälschten Dollarnoten überschwemmt werden, macht das an sich gar nichts. Aber wenn die Leute auf diesen Märkten das herausfinden, dann macht das schon was. Weil sie dann in Panik geraten. Sie verlieren ihren Glauben. Sie verlieren ihr Vertrauen. Sie wollen keine Dollars mehr. Sie nehmen lieber japanische Yen oder Schweizer Franken, um ihre Matratzen damit zu stopfen. Sie wollen ihre Dollars loswerden. Im Endeffekt müßte die Regierung über Nacht einen ausländischen Kredit von zweihundertsechzig Milliarden Dollar zurückzahlen. Über Nacht. Und das könnten wir nicht, Jack.«

»Ein großes Problem«, sagte ich.

»So ist es. Und ein Problem, auf das wir nur schwer Zugriff haben. Die Fälschungen werden alle im Ausland gemacht und auch größtenteils im Ausland in Umlauf gebracht. Das macht am meisten Sinn. Die Produktionsstätten befinden sich irgendwo in entlegenen Regionen versteckt im Ausland, wo wir nichts über sie erfahren, und die Fälschungen werden an Ausländer verteilt, die glücklich sind, solange sie ungefähr so aussehen, wie echte Dollars aussehen sollen. Deshalb werden auch nicht viele importiert. Nur die besten kommen in die Staaten zurück.«

»Wie viele sind das?« fragte ich sie.

Ich hörte, wie sie nach irgend etwas griff. Und ein kurzes Atemgeräusch, als hätte sie ihre Lippen geschürzt.

»Nicht viele«, sagte sie. »Ein paar Milliarden hier und da, schätze ich.«

»Ein paar Milliarden?« fragte ich. »Das ist nicht viel?«

»Ein Tropfen im Ozean«, erwiderte sie. »Aus makroökonomischer Sicht. Verglichen mit der Gesamtgröße der Wirtschaft, meine ich.«

»Und was genau tun wir dagegen?«

»Zweierlei. Als erstes versuchte Joe wie verrückt zu verhindern, daß es überhaupt passiert. Der Grund dafür ist klar. Als zweites tun wir so, als würde es gar nicht passieren. Um den Glauben aufrechtzuerhalten.«

Ich nickte. Mir dämmerte langsam das System hinter der großen Geheimnistuerei in Washington.

»Okay«, sagte ich. »Wenn ich also beim Finanzministerium anrufen und nachfragen würde?«

»Dann würden wir alles abstreiten. Wir würden fragen: Was für Fälschungen?«


Ich ging durch den stillen Mannschaftsraum und stieg zu Roscoe ins Auto. Bat sie, in Richtung Warburton zu fahren. Es war dunkel, als wir das kleine Wäldchen erreichten. Gerade genug Mondlicht, um es erkennen zu können. Roscoe fuhr nach meinen Anweisungen. Ich küßte sie und stieg aus. Sagte, ich würde sie am Hotel treffen. Klopfte leicht auf das Dach des Chevys und winkte ihr nach. Sie bog auf die Straße ein. Fuhr langsam davon.

Ich ging durch das Wäldchen. Wollte keine Fußspuren auf dem Weg hinterlassen. Die dicke Tüte behinderte mich. Verfing sich immer wieder im Unterholz. Ich kam direkt beim Buick heraus. Er stand immer noch da. Alles war ruhig. Ich schloß die Fahrertür mit dem Schlüssel auf und stieg ein. Ließ den Motor an und holperte den Weg hinunter. Die hinteren Stoßdämpfer schlugen ständig auf. Das überraschte mich nicht. Es mußten an die zweihundertfünfzig Kilo im Kofferraum sein.

Ich bog holpernd auf die Straße ein und fuhr ostwärts Richtung Margrave. Aber an der Landstraße bog ich nach links und steuerte Richtung Norden. Legte den Rest der vierzehn Meilen zum Highway zurück. Fuhr an den Lagerhäusern vorbei und reihte mich in den Strom nach Atlanta ein. Ich fuhr weder schnell noch langsam. Wollte nicht auffallen. Der braune Buick war sehr anonym. Sehr unauffällig. So sollte es auch bleiben.

Nach einer Stunde folgte ich den Schildern zum Flughafen. Fand den Weg zum Langzeitparkplatz. Zog ein Ticket an der kleinen, automatischen Schranke und fuhr hinein. Es war ein riesiger Platz. Konnte nicht besser sein. Ich fand eine Parklücke ungefähr in der Mitte, an die hundert Meter vom nächsten Zaun entfernt. Wischte das Lenkrad und die Schaltung ab. Stieg mit der Tüte aus. Verschloß den Buick und ging.

Nach einer Minute sah ich mich um. Konnte den Wagen nicht mehr finden, den ich gerade abgestellt hatte. Was ist der beste Platz, um einen Wagen zu verstecken? Ein Langzeitparkplatz am Flughafen. Denn wo ist der beste Platz, um ein Sandkorn zu verstecken? Am Strand. Der Buick konnte dort einen Monat lang stehen. Niemandem würde das auffallen.

Ich ging zurück zur Eingangsschranke. Am ersten Mülleimer warf ich die Tüte weg. Am zweiten wurde ich das Parkticket los. An der Schranke nahm ich den Flughafenbus und fuhr zum Abflugterminal. Ging hinein und fand einen Waschraum. Wickelte den Schlüssel des Buicks in ein Papierhandtuch ein und ließ ihn in den Mülleimer fallen. Dann ging ich hinunter zur Ankunftshalle und trat wieder in die feuchte Nacht hinaus. Nahm den Bus zum Hotel und fuhr los, um mich mit Roscoe zu treffen.

Ich fand sie im Neonlicht der Hotellobby. Das Zimmer bezahlte ich in bar. Nahm einen Schein von den Jungs aus Florida. Wir fuhren mit dem Aufzug hoch. Das Zimmer war dunkel und schmuddelig. Ziemlich groß. Mit Blick auf die Flughafenanlage. Das Fenster hatte Dreifachverglasung gegen den Lärm. Das Zimmer war stickig.

»Zuerst essen wir was«, sagte ich.

»Zuerst duschen wir«, sagte Roscoe.

Also duschten wir uns. Das versetzte uns in eine bessere Stimmung. Wir seiften uns ein und fingen an herumzualbern. Das Ganze endete damit, daß wir uns in der Duschkabine liebten, während das Wasser auf uns niederprasselte. Nachher wollte ich mich nur noch vor Behagen zusammenrollen. Aber wir hatten Hunger. Und wir hatten noch eine Menge zu tun. Roscoe zog die Sachen an, die sie am Morgen zu Hause eingepackt hatte. Jeans, Hemd, Jacke. Sie sah wunderbar aus. Sehr feminin, aber auch sehr stark. Sie hatte eine Menge Ausstrahlung.

Wir fuhren zu einem Restaurant in der obersten Etage. Es war ganz passabel. Ein riesiger Ausblick auf den Flughafenbereich. Wir saßen bei Kerzenschein am Fenster. Ein gutgelaunter Ausländer brachte unser Essen. Ich stopfte alles in mich hinein. War fast gestorben vor Hunger. Ich trank ein Bier und einen halben Liter Kaffee. Fühlte mich langsam wieder halbwegs menschlich. Zahlte mit weiteren Scheinen der toten Latinos. Dann fuhren wir zur Lobby hinunter und nahmen einen Stadtplan von Atlanta vom Empfang mit. Gingen hinaus zu Roscoes Wagen.

Die Nachtluft war kalt und feucht und stank nach Kerosin. Flughafengeruch. Wir stiegen in den Chevy und beugten uns über den Stadtplan. Fuhren Richtung Nordwesten. Roscoe saß am Steuer, und ich versuchte, sie zu dirigieren. Wir kämpften gegen den Verkehr und landeten ungefähr da, wo wir hinwollten. Eine Siedlung mit niedrigen Wohnhäusern. Wie man sie beim Landeanflug vom Flugzeug aus sieht. Kleine Häuser auf kleinen Grundstücken mit Sturmzäunen über Wasserpfützen. Ein paar nette Gärten, ein paar wilde Müllkippen. Alte Autos in Massen. Alles in gelbes Licht getaucht.

Wir fanden die richtige Straße. Fanden das richtige Haus. Ganz anständig. Ziemlich gepflegt. Sauber und ordentlich. Ein kleines, einstöckiges Haus. Kleiner Garten, kleine Einzelgarage. Schmales Tor im Drahtzaun. Wir gingen hindurch. Klingelten. Eine alte Frau öffnete die mit einer Kette gesicherte Tür.

»Guten Abend«, sagte Roscoe. »Wir sind auf der Suche nach Sherman Stoller.«

Roscoe sah mich an, als sie das sagte. Sie hätte eigentlich sagen müssen, daß wir nach seinem Haus suchten. Wir wußten, wo Sherman Stoller war. Sherman Stoller war im Leichenschauhaus von Yellow Springs, siebzig Meilen entfernt.

»Wer sind Sie?« fragte die alte Frau höflich.

»Ma'am, wir sind von der Polizei«, sagte Roscoe. Das stimmte nur zur Hälfte.

Die alte Lady schob die Tür etwas zu und nahm die Sicherheitskette ab.

»Sie kommen besser herein«, sagte sie. »Er ist in der Küche. Ich fürchte, er ißt gerade.«

»Wer?« fragte Roscoe.

Die alte Lady blieb stehen und sah sie an. Verwirrt.

»Sherman«, sagte sie. »Den suchen Sie doch, oder?«

Wir folgten ihr in die Küche. Dort saß ein alter Mann am Tisch und aß sein Abendbrot. Als er uns sah, hielt er inne und tupfte seinen Mund mit einer Serviette ab.

»Polizei, Sherman«, sagte die alte Lady.

Der alte Mann blickte uns verdutzt an.

»Gibt es noch einen anderen Sherman Stoller?« fragte ich ihn.

Der alte Mann nickte. Wirkte beunruhigt.

»Unseren Sohn«, sagte er.

»So um die dreißig?« fragte ich. »Fünfunddreißig?«

Der alte Mann nickte wieder. Die alte Lady stellte sich hinter ihn und legte ihm eine Hand auf seinen Arm. Eltern.

»Er wohnt nicht hier«, sagte der alte Mann.

»Ist er in Schwierigkeiten?« fragte die alte Lady.

»Könnten Sie uns seine Adresse geben?« fragte Roscoe.

Sie machten große Umstände wie alle alten Leute. Sehr entgegenkommend gegenüber Autoritäten. Sehr respektvoll. Wollten uns eine Menge Fragen stellen, gaben uns aber nur die Adresse.

»Er wohnt schon seit zwei Jahren nicht mehr hier«, sagte der alte Mann.

Er hatte Angst. Er versuchte, sich von den Schwierigkeiten seines Sohnes zu distanzieren. Wir nickten ihnen zu und gingen hinaus. Als wir ihre Haustür schlossen, rief der alte Mann hinter uns her.

»Er ist vor zwei Jahren ausgezogen!«

Wir gingen durch das Tor und stiegen wieder in den Wagen. Beugten uns erneut über den Stadtplan. Die neue Adresse war dort nicht zu finden.

»Was hältst du von den beiden?« fragte mich Roscoe.

»Den Eltern? Sie wissen, daß ihr Sohn nicht viel taugt. Sie wissen, daß er etwas auf dem Kerbholz hat. Wahrscheinlich wissen sie aber nicht genau, was es ist.«

»Das denke ich auch«, sagte sie. »Laß uns seine neue Wohnung suchen.«

Wir fuhren los. Roscoe besorgte Benzin und die nötigen Informationen an der ersten Tankstelle, die wir sahen.

»Etwa fünf Meilen in entgegengesetzter Richtung«, sagte sie. Zog den Wagen herum und steuerte aus der Stadt hinaus. »Neue Eigentumswohnungen an einem Golfplatz.«

Sie spähte ins Dunkel, suchte nach den Erkennungszeichen, die der Mann an der Tankstelle ihr genannt hatte. Nach fünf Meilen bog sie von der Hauptstraße ab. Fuhr eine neue Straße entlang und bog bei der Reklametafel eines Bauunternehmers ab. Dort wurde für hochpreisige Eigentumswohnungen geworben, die direkt auf dem Fairway gebaut worden waren. Prahlerisch wurde behauptet, daß nur noch wenige Wohnungen frei wären. Hinter der Reklametafel standen Reihen von neuen Häusern. Sehr nett, nicht groß, aber hübsch. Mit Balkonen, Garagen, schönen Details. Eine ehrgeizig gestaltete Landschaft tauchte aus dem Dunkel auf. Beleuchtete Wege führten zu einem Fitneßcenter. Auf der anderen Seite war nichts zu sehen. Der Golfplatz.

Roscoe stellte den Motor ab. Wir saßen im Wagen. Ich streckte meinen Arm auf der Rückenlehne ihres Sitzes aus. Hielt ihre Schultern umfangen. Ich war müde. Ich hatte den ganzen Tag zu tun gehabt. Ich wollte eine Weile so sitzen bleiben. Es war eine ruhige, trübe Nacht. Im Wagen war es warm. Ich wollte Musik. Mit einer schmerzlichen Note. Aber wir hatten anderes zu tun. Wir mußten Judy finden. Die Frau, die Sherman Stoller die Uhr gekauft und mit einer Gravur versehen hatte. Für Sherman, in Liebe, Judy. Wir mußten Judy finden und ihr sagen, daß der Mann, den sie liebte, unter einem Highway verblutet war.

»Was hältst du davon?« fragte Roscoe. Sie war hellwach und munter.

»Weiß nicht«, sagte ich. »Es sind Eigentumswohnungen, keine Mietwohnungen. Sie sehen teuer aus. Kann sich ein Lkw-Fahrer so etwas leisten?«

»Das bezweifle ich. Diese kosten wahrscheinlich soviel wie mein Haus, und ich könnte es ohne die Unterstützung der Stiftung nicht bezahlen. Und soviel ist sicher: Ich verdiene mehr als jeder Lkw-Fahrer.«

»Okay«, sagte ich. »Also lautet unsere Vermutung, daß der gute, alte Sherman ebenfalls eine Art Unterstützung bekam, richtig? Sonst hätte er es sich nicht leisten können, hier zu wohnen.«

»Sicher«, sagte sie. »Aber was für eine Unterstützung war das?«

»Eine Unterstützung, die Leute tötet«, erwiderte ich.

Stollers Haus lag weiter hinten. War wahrscheinlich in der ersten Bauphase errichtet worden. Der alte Mann im ärmeren Stadtteil hatte gesagt, daß sein Sohn vor zwei Jahren ausgezogen war. Das konnte stimmen. Dieser erste Wohnblock war ungefähr zwei Jahre alt. Wir gingen über Fußwege an erhöhten Blumenbeeten vorbei. Über einen Pfad zu Sherman Stollers Haustür. Der Pfad bestand aus Steinen, die auf einem struppigen Rasen gelegt worden waren. Er zwang einem eine unnatürliche Gangart auf. Ich mußte kleine Schritte machen. Roscoe mußte sich von einer Steinplatte zur nächsten strecken. Wir kamen zur Tür. Sie war blau. Nicht glänzend. Altmodische Farbe.

»Werden wir es ihr sagen?« fragte ich.

»Das müssen wir doch wohl«, sagte Roscoe. »Sie hat ein Recht darauf.«

Ich klopfte an die Tür. Wartete. Klopfte wieder. Ich hörte, wie drinnen der Boden knackte. Jemand kam. Die Tür öffnete sich. Eine Frau stand im Rahmen. Vielleicht dreißig, aber sie wirkte älter. Klein, nervös, müde. Blondgefärbte Haare. Sie sah zu uns heraus.

»Wir kommen von der Polizei, Ma'am«, sagte Roscoe. »Wir suchen nach dem Haus von Sherman Stoller.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen.

»Tja, ich schätze, Sie haben es gefunden«, sagte die Frau.

»Können wir reinkommen?« fragte Roscoe. Behutsam.

Wieder Schweigen. Keine Bewegung. Dann drehte sich die blonde Frau um und ging den Flur hinunter. Roscoe und ich sahen einander an. Roscoe folgte der Frau. Ich folgte Roscoe und schloß die Tür hinter uns.

Die Frau führte uns in ein Wohnzimmer. Ein ziemlich großer Raum. Teure Möbel und Teppiche. Ein großer Fernseher. Keine Stereoanlage, keine Bücher. Es sah alles ein wenig halbherzig aus. Als hätte es jemand in zwanzig Minuten mit einem Katalog und zehntausend Dollar eingerichtet. Eins davon, eins davon und zwei davon. Alles an einem Morgen geliefert und einfach hier abgestellt.

»Sind Sie Mrs. Stoller?« fragte Roscoe. Immer noch behutsam.

»Mehr oder weniger«, antwortete die Frau. »Nicht ganz, aber fast, also macht es eh keinen Unterschied.«

»Ist Ihr Name Judy?«

Sie nickte. Nickte eine ganze Weile. Dachte nach.

»Er ist tot, nicht wahr?« fragte Judy.

Ich antwortete nicht. In diesen Dingen bin ich nicht gut. Dies war Roscoes Part. Sie sagte auch nichts.

»Er ist tot, nicht wahr?« fragte Judy noch einmal, diesmal lauter.

»Ja, das ist er«, erwiderte Roscoe. »Es tut mir sehr leid.«

Judy nickte vor sich hin und sah sich in dem scheußlichen Zimmer um. Niemand von uns sprach. Wir standen einfach nur da. Judy setzte sich. Sie bedeutete uns, ebenfalls Platz zu nehmen. Wir setzten uns, auf zwei Sessel. Wir saßen in einem sauberen Dreieck.

»Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen«, sagte Roscoe. Sie saß auf der Kante des Sessels und lehnte sich zu der blonden Frau vor. »Ist das möglich?«

Judy nickte. Sah ziemlich ausdruckslos aus.

»Wie lange kannten Sie Sherman?«

»Ungefähr vier Jahre, schätze ich«, sagte Judy. »Ich habe ihn in Florida kennengelernt, wo ich lebte. Ich kam vor vier Jahren hierher, um bei ihm zu sein. Habe seitdem immer hier gelebt.«

»Was hatte Sherman für eine Arbeit?« fragte Roscoe.

Judy zuckte kläglich die Schultern.

»Er war Lkw-Fahrer«, sagte sie. »Er hatte irgend so einen großen Vertrag hier oben. Sollte für länger sein, verstehen Sie? Also kauften wir ein kleines Haus. Seine Eltern zogen mit ein. Wohnten eine Zeitlang bei uns. Dann zogen wir hierher. Überließen seinen Eltern das alte Haus. Er hat drei Jahre lang gutes Geld gemacht. Arbeitete die ganze Zeit. Dann war es plötzlich vorbei, vor einem Jahr. Er hat seitdem kaum noch gearbeitet. Nur Gelegenheitsjobs hier und da.«

»Gehört das Haus Ihnen beiden?« fragte Roscoe.

»Mir gehört überhaupt nichts. Sherman gehörten die Häuser. Beide.«

»Also verdiente er in den ersten drei Jahren gut?« fragte Roscoe sie.

Judy warf ihr einen Blick zu.

»Gut? Herrgott, er verdiente Massen! Er war ein Dieb. Er hat jemanden beschissen.«

»Sind Sie sicher?« fragte ich.

Judy wandte mir ihren Blick zu. Als würde ein Geschütz der Artillerie herumschwenken.

»Man braucht nicht besonders viel Hirn im Kopf, um darauf zu kommen. In drei Jahren hat er für zwei Häuser, eine Menge Möbel, Autos und Gott weiß was bar bezahlt. Und dieses Haus war nicht billig. Hier leben Anwälte, Ärzte und alles mögliche. Und er hatte genug gespart, daß er seit letztem September überhaupt nicht mehr arbeiten mußte. Wenn er all das ehrlich verdient hat, bin ich die First Lady, richtig?«

Sie starrte uns aufsässig an. Sie hatte über alles Bescheid gewußt. Sie hatte gewußt, was passieren würde, wenn er aufflog. Sie forderte uns heraus, ihr das Recht zu versagen, die Schuld auf ihn zu schieben.

»Mit wem hatte er diesen großen Vertrag?« fragte Roscoe sie.

»Mit so einem Laden, der Island Air-conditioning hieß«, erwiderte sie. »Er hat drei Jahre lang Klimaanlagen transportiert. Hat sie nach Florida runtergebracht. Vielleicht waren sie für die Inseln. Ich weiß es nicht. Er hat häufiger welche geklaut. Im Moment stehen noch zwei alte Kartons in der Garage. Wollen Sie sie sehen?«

Sie wartete nicht auf eine Antwort. Sprang einfach auf und ging hinaus. Wir folgten ihr. Wir gingen alle ein paar Stufen hinunter und durch eine Kellertür. In eine Garage. Die war leer bis auf ein paar alte Kartons, die an einer Wand aufgestellt waren. Pappkartons, vielleicht ein oder zwei Jahre alt. Mit dem Logo des Herstellers. Island Air-conditioning, Inc., Obere Seite hier. Das Klebeband war aufgerissen und hing herunter. Auf jedem Karton stand eine lange, von Hand geschriebene Seriennummer. In jedem Karton mußte eine Klimaanlage gewesen sein. So eine, die man in den Fensterrahmen klemmt und die einen Höllenlärm macht. Judy starrte auf die Kartons und dann auf uns. Dieser Blick sollte bedeuten: Ich habe ihm eine goldene Uhr geschenkt und er mir eine Ladung Sorgen.

Ich ging hinüber und sah mir die Kartons an. Sie waren leer. Ich konnte einen schwachen, säuerlichen Geruch wahmehmen. Dann gingen wir wieder nach oben. Judy nahm ein Fotoalbum aus einem Schrank. Setzte sich hin und schaute sich ein Foto von Sherman an.

»Was ist mit ihm passiert?« fragte sie.

Das war eine einfache Frage. Die eine einfache Antwort verdiente.

»Er wurde in den Kopf geschossen«, log ich. »Er war sofort tot.«

Judy nickte. Als wäre sie nicht überrascht.

»Wann?«

»Donnerstag nacht«, erklärte Roscoe ihr. »Gegen Mitternacht. Hat er Ihnen gesagt, wohin er Donnerstag nacht wollte?«

Judy schüttelte den Kopf.

»Er hat mir nie viel gesagt.«

»Hat er je ein Treffen mit einem Ermittler erwähnt?« fragte Roscoe.

Judy schüttelte wieder den Kopf.

»Was ist mit Pluribus?« fragte ich sie. »Hat er je dieses Wort benutzt?«

Sie wirkte verdutzt.

»Ist das eine Krankheit?« fragte sie. »Irgendwas mit den Lungen oder so?«

»Was ist mit Sonntag?« fragte ich. »Mit kommendem Sonntag? Hat er je etwas darüber gesagt?«

»Nein. Er hat nie viel gesagt.«

Sie saß da und starrte die Fotos im Album an. Im Zimmer war es still.

»Kannte er irgendwelche Anwälte in Florida?« fragte Roscoe sie.

»Anwälte? In Florida? Warum sollte er?«

»Er wurde in Jacksonville verhaftet«, sagte Roscoe. »Vor zwei Jahren. Es war ein Verkehrsdelikt mit seinem Lkw. Ein Anwalt half ihm da raus.«

Judy zuckte die Schultern, als wären zwei Jahre tiefste Vergangenheit für sie.

»Diese Anwälte stecken doch ihre Nase überall rein, nicht wahr? Das ist nichts Besonderes.«

»Dieser Mann war nicht auf der Suche nach einem Schmerzensgeldopfer«, sagte Roscoe. »Er war Partner in einer großen Firma da unten. Haben Sie eine Idee, wie Sherman an ihn gekommen sein kann?«

Judy zuckte wieder die Schultern.

»Vielleicht hat ihm sein Arbeitgeber den besorgt«, sagte sie. »Island Air-conditioning. Die haben uns auch eine gute Krankenversicherung gezahlt. Sherman ließ mich zum Arzt gehen, wann immer ich es nötig hatte.«

Wir alle schwiegen. Es gab nichts mehr zu sagen. Judy saß da und starrte auf die Fotos in ihrem Album.

»Wollen Sie sein Foto sehen?«

Ich ging hinter ihren Sessel und beugte mich über sie, um das Bild zu betrachten. Es zeigte einen rotblonden, rattengesichtigen Mann. Klein, schmächtig, mit einem Grinsen auf den Lippen. Er stand vor einem gelben Lieferwagen. Grinste und sah blinzelnd in die Kamera. Das Grinsen verlieh ihm eine gewisse Prägnanz.

»Das ist der Wagen, den er fuhr«, sagte Judy.

Aber ich blickte nicht auf den Wagen oder Sherman Stollers prägnantes Grinsen. Ich blickte auf eine Gestalt im Hintergrund des Bildes. Sie war unscharf und halb von der Kamera abgewandt, aber ich konnte erkennen, wer es war. Paul Hubble.

Ich winkte Roscoe zu uns herüber, und sie beugte sich neben mir über den Sessel. Ich sah, wie eine Welle des Erstaunens über ihr Gesicht lief, als sie Hubble erkannte. Dann beugte sie sich tiefer über das Foto. Sah genauer hin. Ich sah eine zweite Welle des Erstaunens. Sie hatte noch etwas anderes erkannt.

»Wann ist das Foto gemacht worden?« fragte ich.

Judy zuckte die Schultern.

»Letztes Jahr im Sommer, glaube ich.«

Roscoe berührte das verschwommene Bild von Hubble mit ihrem Fingernagel.

»Hat Sherman gesagt, wer dieser Mann ist?«

»Der neue Boss«, sagte Judy. »Er war sechs Monate da, dann hat er Sherman gefeuert.«

»Der neue Boss von Island Air-conditioning?« fragte Roscoe. »Gab es einen Grund für Shermans Entlassung?«

»Sherman sagte, sie würden ihn nicht mehr brauchen. Er hat nie viel erzählt.«

»Ist das der Firmensitz von Island Air-conditioning? Wo das Bild aufgenommen wurde?«

Judy zuckte die Schultern und nickte zaghaft.

»Ich glaube, ja«, sagte sie. »Sherman hat mir nicht viel darüber erzählt.«

»Wir müssen das Foto mitnehmen«, sagte Roscoe. »Sie bekommen es später zurück.«

Judy fischte es aus der Plastikhülle. Gab es ihr.

»Sie können es behalten. Ich will es nicht mehr.«

Roscoe nahm das Foto und steckte es in die Innentasche ihrer Jacke. Sie und ich gingen in die Mitte des Raumes zurück und blieben dort stehen.

»In den Kopf geschossen«, sagte Judy. »Das kommt davon, wenn man dumme Spielchen spielt. Ich habe ihm gesagt, daß sie ihn früher oder später erwischen würden.«

Roscoe nickte mitfühlend.

»Wir bleiben in Verbindung«, sagte sie. »Sie wissen schon, die Formalitäten wegen der Beerdigung, und vielleicht brauchen wir eine Aussage.«

Judy starrte uns wieder an.

»Bemühen Sie sich nicht. Ich werde nicht zu seiner Beerdigung gehen. Ich war nicht seine Frau, also bin ich jetzt auch nicht seine Witwe. Ich werde vergessen, daß ich ihn jemals kannte. Dieser Mann hat mir von Anfang bis Ende nur eine Menge Ärger gemacht.«

Sie stand vor ihrem Sessel und starrte uns an. Wir gingen leise hinaus, den Flur hinunter und durch die Haustür. Über den schwierigen Pfad. Wir hielten uns an der Hand, während wir über die Steine stiegen.

»Was ist auf dem Foto?«

Roscoe ging weiter.

»Warte«, sagte sie. »Ich zeig's dir im Wagen.«