KAPITEL 7
»Was soll ich also tun?« fragte Hubble mich. »Was würden Sie tun?«
Er starrte zu mir herüber. Was würde ich tun? Wenn mich jemand so bedrohte, würde er sterben. Ich würde ihn in Stücke reißen. Entweder noch während er die Drohung ausstieß oder Tage, Monate oder Jahre später. Ich würde ihn zur Strecke bringen und in Stücke reißen. Aber das konnte Hubble nicht. Er hatte eine Familie. Drei Geiseln, die nur darauf warteten, gefangengenommen zu werden. Drei Geiseln, die schon gefangengenommen waren. Sobald jemand die Drohung ausgesprochen hatte.
»Was soll ich tun?« fragte er mich wieder.
Ich fühlte mich unter Druck. Ich mußte etwas sagen. Und meine Stirn schmerzte. Sie war durch den heftigen Zusammenprall mit dem Gesicht des Red Boys geprellt. Ich ging hinüber zum Gitter und blickte die Zellenreihe entlang. Lehnte mich an das Ende des Bettes. Dachte einen Moment lang nach. Kam zu der einzig möglichen Antwort. Aber nicht zu der Antwort, die Hubble hören wollte.
»Sie können nichts tun«, sagte ich. »Ihnen wurde befohlen, den Mund zu halten, also halten Sie ihn. Erzählen Sie niemandem, was vor sich geht. Unter keinen Umständen.«
Er blickte hinunter auf seine Füße. Ließ den Kopf in seine Hände sinken. Stöhnte in elender Qual. Als würde er von Enttäuschung zermalmt.
»Ich muß mit jemandem reden«, sagte er. »Ich muß da rauskommen, wirklich, ich muß da raus. Ich muß mit jemandem reden.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Das können Sie nicht«, sagte ich. »Man hat Ihnen befohlen, nichts zu sagen, also sagen Sie nichts. Nur so bleiben Sie am Leben. Sie und Ihre Familie.«
Er sah auf. Erschauerte.
»Da geht ein richtig großes Ding ab«, sagte er. »Ich muß es stoppen, wenn ich kann.«
Ich schüttelte wieder den Kopf. Wenn da ein richtig großes Ding mit Leuten abging, die solche Drohungen ausstießen, dann würde er sie nie stoppen. Er war dabei, und er würde dabeibleiben. Ich warf ihm ein mitleidiges Lächeln zu und schüttelte zum drittenmal den Kopf. Er nickte, als würde er verstehen. Als würde er endlich seine Lage akzeptieren. Er fing wieder an, sich vor und zurück zu wiegen und an die Wand zu starren. Seine Augen waren geöffnet. Ohne die Goldränder rot und nackt. Lange Zeit saß er schweigend da.
Ich konnte nicht verstehen, warum er gestanden hatte. Er hätte seinen Mund halten müssen. Er hätte jegliche Verbindung mit dem toten Mann leugnen müssen. Sagen müssen, daß er keine Ahnung hatte, warum seine Telefonnummer im Schuh des Mannes steckte. Daß er keine Ahnung hatte, was Pluribus sein sollte. Dann hätte er einfach nach Hause gehen können.
»Hubble«, sagte ich, »warum haben Sie gestanden?«
Er blickte auf. Zögerte eine Weile, bevor er antwortete.
»Das kann ich nicht sagen«, sagte er. »Das würde Ihnen zuviel verraten.«
»Ich weiß sowieso schon zuviel«, sagte ich. »Finlay fragte nach dem Toten und Pluribus, und Sie flippten aus. Ich weiß also, daß zwischen Ihnen und dem Toten und Pluribus, was auch immer das sein soll, eine Verbindung besteht.«
Er sah mich an. Wirkte geistesabwesend.
»Ist Finlay der schwarze Detective?« fragte er.
»Ja«, sagte ich. »Chief Detective.«
»Er ist neu«, sagte Hubble. »Hab' ihn noch nie vorher gesehen. Sonst war es immer Gray. War schon jahrelang hier. Seit meiner Kindheit. Es gibt nur einen Detective, wissen Sie, ich weiß nicht, warum sie ihn Chief Detective nennen, wenn es nur einen gibt. Im ganzen Police Department gibt es nur acht Leute. Chief Morrison, der ist auch schon seit Jahren da, dann der Sergeant im Innendienst, vier Streifenpolizisten, eine Frau und der Detective, Gray. Nur, daß es jetzt Finlay ist. Der Neue. Ein Schwarzer, der erste, den wir jemals hatten. Gray hat sich umgebracht, wissen Sie? Hängte sich an einem Dachsparren in seiner Garage auf. Im Februar, glaube ich.«
Ich ließ ihn reden. Gefängniskonversation. Vertreibt einem die Zeit. Einen anderen Sinn hat sie nicht. Hubble war gut darin. Aber ich wollte immer noch, daß er meine Frage beantwortete. Meine Stirn tat weh, und ich wollte sie mit kaltem Wasser abspülen. Ich wollte ein bißchen herumlaufen. Ich wollte etwas zu essen. Ich wollte Kaffee. Ich wartete, ohne zuzuhören, wie Hubble sich durch die Kommunalgeschichte von Margrave arbeitete. Plötzlich hielt er inne.
»Was haben Sie mich gefragt?« fragte er.
»Warum haben Sie gestanden, den Mann getötet zu haben?« wiederholte ich.
Er blickte sich um. Dann sah er mich direkt an,
»Es gibt eine Verbindung«, sagte er. »Mehr darf ich jetzt nicht dazu sagen. Der Detective erwähnte den Mann und benutzte das Wort ›Pluribus‹, das mich auffahren ließ. Ich war erschrocken. Ich konnte nicht glauben, daß er von der Verbindung wußte. Dann merkte ich, daß er es gar nicht gewußt hatte, bis ich mich so erschreckte. Sie verstehen? Ich hatte es verraten. Ich fühlte, daß ich es verpatzt hatte. Das Geheimnis verraten. Und das durfte ich nicht, wegen der Drohung.«
Er verstummte und wurde ganz still. Ein Nachklang der Panik, die er in Finlays Büro gefühlt hatte, war wieder da. Er blickte erneut auf. Holte tief Luft.
»Ich hatte Angst«, sagte er. »Aber dann erzählte mir der Detective, daß der Mann tot sei. Erschossen. Ich geriet in Panik, denn wenn sie ihn umgebracht hatten, würden sie möglicherweise auch mich umbringen. Ich kann Ihnen wirklich nicht sagen, warum. Aber es gibt eine Verbindung, ganz wie Sie sagten. Wenn sie diesen speziellen Mann geschnappt hatten, hieß das, daß sie mich auch schnappen würden? Oder hieß es das nicht? Ich mußte darüber nachdenken. Ich wußte ja nicht mal mit Sicherheit, wer den Mann getötet hatte. Aber dann erzählte mir der Detective, mit welcher Brutalität der Mord durchgeführt wurde. Hat er Ihnen das auch erzählt?«
Ich nickte.
»Über die Verletzungen?« fragte ich. »Klang ziemlich unangenehm.«
»Genau«, sagte Hubble. »Und das beweist, daß es die waren, die ich in Verdacht hatte. Also geriet ich wirklich in Panik. Ich dachte: Suchen sie mich jetzt auch? Oder nicht? Ich wußte es einfach nicht. Ich hatte solche Angst. Ich dachte eine Ewigkeit nach. Ging es immer und immer wieder im Kopf durch. Der Detective wurde fast wahnsinnig. Ich sagte nichts, weil ich nachdachte. Fühlte sich an, als wären es Stunden gewesen. Ich hatte einfach Angst, wissen Sie?«
Er verfiel wieder in Schweigen. Ging es wieder in seinem Kopf durch. Wahrscheinlich zum tausendsten Mal. Versuchte herauszufinden, ob seine Entscheidung richtig gewesen war.
»Plötzlich wußte ich, was ich tun mußte«, sagte er. »Ich hatte drei Probleme. Wenn sie hinter mir her waren, dann mußte ich ihnen entwischen. Mich verstecken, verstehen Sie? Um mich zu schützen. Aber wenn sie nicht hinter mir her waren, dann mußte ich mich ruhig verhalten, richtig? Um meine Frau und die Kinder zu schützen. Und von ihrem Standpunkt aus mußte dieser spezielle Mann erschossen werden. Drei Probleme. Also gestand ich.«
Ich konnte seiner Begründung nicht folgen. Es machte nicht viel Sinn, wie er es mir erklärte. Ich blickte ihn ausdruckslos an.
»Drei unterschiedliche Probleme, richtig?« sagte er. »Ich beschloß, mich einsperren zu lassen. Dann war ich sicher, wenn sie hinter mir her waren. Weil sie mich hier drinnen nicht kriegen können, richtig? Sie sind da draußen, und ich bin hier drinnen. Somit wäre Problem Nummer eins gelöst. Aber ich dachte auch, und dies ist der komplizierte Teil, wenn sie eigentlich überhaupt nicht hinter mir her waren, sollte ich mich vielleicht auch besser einsperren lassen, dann aber kein Wort über sie erzählen? Sie würden denken, daß ich versehentlich verhaftet worden wäre, und dann sehen, daß ich den Mund halte. Das sehen sie doch, oder? Und das beweist, daß ich ungefährlich bin. Es ist wie eine Demonstration, daß ich zuverlässig bin. Ein Beweis. Eine Art Feuerprobe. Und damit wäre Problem Nummer zwei gelöst. Und dadurch, daß ich den Mord gestanden habe, gerate ich ja irgendwie endgültig auf ihre Seite. Das Geständnis ist wie eine Erklärung meiner Loyalität. Und ich dachte, sie würden vielleicht dankbar sein, daß ich die Bullen in die falsche Richtung gelenkt habe. Also wäre damit auch Problem Nummer drei gelöst.«
Ich starrte ihn an. Kein Wunder, daß er bei Finlay die vierzig Minuten den Mund nicht aufgemacht und wie verrückt nachgedacht hatte. Drei Fliegen mit einer Klappe. Das hatte er also vorgehabt.
Der Teil mit dem Beweis, daß man ihm vertrauen konnte, war in Ordnung. Wer auch immer sie waren, sie würden das mitkriegen. Ein Aufenthalt im Gefängnis, ohne zu reden, ist ein Übergangsritus. Ein Ehrenabzeichen. Zählt eine Menge. Gut gedacht, Hubble.
Leider war der andere Teil ziemlich fragwürdig. Sie könnten ihn hier nicht kriegen? Er machte wohl Witze. Es gibt keinen besseren Platz, einen Mann auszuschalten, als im Gefängnis. Man weiß, wo er ist, man hat alle Zeit, die man braucht. Viele Typen würden es für einen tun. Gelegenheiten gibt es genug. Außerdem ist es billig. Was würde ein Anschlag draußen wohl kosten? Einen Riesen, zwei Riesen? Dazu das Risiko. Drinnen kostete es einen eine Stange Zigaretten. Und es gab kein Risiko. Weil niemand davon Notiz nehmen würde. Nein, ein Gefängnis war kein sicherer Ort zum Verstecken. Schlecht gedacht, Hubble. Und es gab da noch einen Denkfehler.
»Was werden Sie am Montag machen?« fragte ich ihn. »Sie werden wieder zu Hause sein und das machen, was Sie immer machen. Sie werden in Margrave oder Atlanta oder wo auch immer herumlaufen. Wenn die hinter Ihnen her sind, werden die Sie dann nicht finden?«
Er fing wieder an nachzudenken. Dachte nach wie verrückt. Er hatte noch nicht so weit im voraus geplant. Gestern nachmittag war er in blinder Panik gewesen. Mußte sich mit der Gegenwart befassen. Kein schlechtes Prinzip. Nur daß die Zukunft ziemlich schnell da ist und ebenfalls ihr Recht verlangt.
»Ich hoffe einfach auf das Beste«, sagte Hubble. »Ich hatte
irgendwie den Eindruck, sie würden sich mit der Zeit schon wieder beruhigen. Ich bin sehr nützlich für sie und hoffe, sie denken daran. Im Moment haben wir eine äußerst angespannte Situation. Aber sehr bald schon wird sich alles wieder beruhigen. Ich werde wahrscheinlich einfach da durchmüssen. Wenn sie mich schnappen, dann schnappen sie mich eben. Das ist mir mittlerweile auch egal. Ich mache mir nur Sorgen um meine Familie.«
Er schwieg und zuckte die Schultern. Stieß einen Seufzer aus. Kein schlechter Junge. Er hatte nicht vorgehabt, ein großer Verbrecher zu werden. Es hatte sich von hinten angeschlichen. Ihn so behutsam in seinen Bann gezogen, daß er es gar nicht bemerkt hatte. Bis er aussteigen wollte. Wenn er sehr viel Glück hatte, würden sie ihm erst alle Knochen brechen, nachdem er tot war.
»Wieviel weiß Ihre Frau?« fragte ich ihn.
Er sah herüber. Mit einem Ausdruck des Entsetzens auf seinem Gesicht.
»Nichts«, sagte er. »Überhaupt nichts. Ich habe ihr nichts erzählt. Rein gar nichts. Das konnte ich nicht. Es ist alles mein Geheimnis. Niemand weiß etwas.«
»Sie müssen ihr doch etwas sagen«, erwiderte ich. »Sie wird sicher bemerkt haben, daß Sie nicht zu Hause sind und den Pool reinigen oder was Sie sonst so am Wochenende tun.«
Ich versuchte nur, ihn aufzuheitern, aber die Rechnung ging nicht auf. Hubble wurde still. Sein Blick verschleierte sich wieder, als er an seinen Garten im Licht des Spätsommers dachte. An seine Frau, die sich mit übertriebener Sorgfalt um die Rosen oder was auch immer kümmerte. Seine Kinder, die kreischend umherrannten. Vielleicht hatten sie einen Hund. Und eine Dreiergarage mit europäischen Limousinen, die auf ihre samstägliche Wäsche warteten. Und einen Basketballkorb über dem mittleren Garagentor, der nur darauf wartete, daß der neunjährige Junge groß genug sein würde, um den schweren Ball darin zu versenken. Eine Fahne über dem Vordach. Früh gefallene Blätter, die darauf warteten, weggefegt zu werden. Familienleben am Samstag. Aber nicht an diesem Samstag. Nicht für diesen Mann.
»Vielleicht denkt sie, es sei alles ein Irrtum«, erklärte er. »Vielleicht haben sie es ihr auch erzählt, ich weiß es nicht. Wir kennen einen der Polizisten. Dwight Stevenson. Mein Bruder hat die Schwester seiner Frau geheiratet. Ich weiß nicht, was er ihr gesagt hat. Ich schätze, damit befasse ich mich am Montag. Ich werde sagen, es war ein schrecklicher Irrtum. Sie wird mir glauben. Jeder weiß doch, daß solche Fehler Vorkommen.«
Er dachte laut nach.
»Hubble«, sagte ich, »warum ist dem großen Mann in den Kopf geschossen worden?«
Er stand auf und lehnte sich an die Wand. Stellte seinen Fuß auf den Rand der stählernen Toilettenschüssel. Blickte mich an. Er würde nicht antworten. Nicht auf eine solch umfassende Frage.
»Was ist mit Ihnen?« fragte ich. »Wofür würde man Sie in den Kopf schießen?«
Er würde nicht antworten. Das Schweigen in unserer Zelle war schrecklich. Ich ließ es eine Weile nachhallen. Mir fiel nichts mehr ein, was ich hätte sagen können.
Hubble trommelte mit dem Schuh gegen die metallene Toilettenschüssel. Ein klirrender Rhythmus. Hörte sich an wie ein Riff von Bo Diddley.
»Haben Sie jemals von Blind Blake gehört?« fragte ich ihn.
Er hielt seinen Fuß still und blickte auf.
»Von wem?« fragte er verblüfft.
»Ist nicht wichtig«, sagte ich. »Ich suche jetzt den Waschraum. Ich muß mir ein nasses Handtuch auf meinen Kopf legen. Er tut weh.«
»Das überrascht mich nicht«, sagte er. »Ich komme mit Ihnen.«
Er wollte nicht allein gelassen werden. Verständlich. Für das Wochenende würde ich sein Gorilla sein. Ich hatte ohnehin keine anderen Pläne.
Wir gingen die Zellenreihe hinunter zu einer Art Vorplatz. Ich sah den Notausgang, den Spivey am Abend vorher benutzt hatte. Dahinter war ein gekachelter Eingang. Über dem Eingang hing eine Uhr. Fast zwölf. Uhren in Gefängnissen sind etwas Seltsames. Was nützt es, Stunden und Minuten zu messen, wenn die Leute in Jahren und Jahrzehnten denken?
Der gekachelte Eingang war von Männern blockiert. Ich drängelte mich hindurch, und Hubble folgte mir. Es war ein großer, gekachelter Raum, viereckig. Er stank nach Desinfektionsmittel. Durch eine Wand führte der türlose Eingang. Links befand sich eine Reihe von Duschkabinen. Die waren offen. An der hinteren Wand eine Reihe von Toilettenkabinen. Vorne offen, mit taillenhohen Seitenwänden. An der rechten Wand eine Reihe Waschbecken. Alles nicht gerade intim. Wenn man sein ganzes Leben in der Army zugebracht hat, ist das nichts Besonderes, aber Hubble fühlte sich nicht wohl. Es war nicht das, was er gewohnt war.
Die gesamte Ausstattung war aus Stahl. Alles, was normalerweise aus Porzellan war, war hier aus rostfreiem Stahl. Wegen der Sicherheit. Ein zertrümmertes Waschbecken ergibt ein paar ziemlich gute Scherben. Eine Scherbe in entsprechender Größe ergibt eine gute Waffe. Aus demselben Grund waren die Spiegel über den Waschbecken ebenfalls Platten aus poliertem Stahl. Ein bißchen trübe, aber ausreichend. Man konnte sich in ihnen sehen, aber man konnte sie nicht zertrümmern und jemanden mit einer Scherbe verletzen.
Ich ging hinüber zu einem Waschbecken und ließ kaltes Wasser laufen. Nahm ein paar Papiertücher aus dem Spender und machte sie naß. Preßte sie an meine geprellte Stirn. Hubble stand tatenlos herum. Ich hielt die kalten Tücher eine Weile an meine Stirn und nahm dann neue. Wasser lief mir das Gesicht herunter. Fühlte sich gut an. Ich hatte keine wirklichen Verletzungen. Die Stirn, das ist Haut über solidem Knochen. Nicht viel zu verletzen und unmöglich zu brechen. Ein perfekter Bogen, die stabilste Struktur der Natur. Deshalb vermeide ich es, jemanden mit meinen Händen zu schlagen. Hände sind ziemlich empfindlich. Mit all diesen kleinen Knochen und Sehnen darin. Ein Schlag, heftig genug, um diesen Red Boy niederzuschlagen, hätte ziemlichen Schaden anrichten können. Ich hätte den Typen ins Krankenhaus begleitet. Das hätte nicht viel Sinn gemacht.
Ich tupfte mein Gesicht trocken und brachte es nah an den Stahlspiegel, um zu sehen, ob die Haut verletzt war. Nicht so schlimm. Ich fuhr mir mit den Fingern durch die Haare. Als ich mich gegen das Waschbecken lehnte, konnte ich die Sonnenbrille in meiner Tasche spüren. Die Sonnenbrille des Red Boy. Die Siegesbeute. Ich nahm sie heraus und setzte sie auf. Starrte auf mein verschwommenes Spiegelbild.
Während ich vor dem Stahlspiegel herumspielte, sah ich, wie sich hinter mir ein Tumult zusammenbraute. Ich hörte eine kurze Warnung von Hubble und drehte mich um. Die Sonnenbrille dämpfte das helle Licht. Fünf weiße Typen strichen durch den Raum. Bikertypen. Anstaltskleidung, natürlich, wieder abgerissene Ärmel, diesmal aber schwarze Lederverzierungen dazu. Kappen, Gürtel, fingerlose Handschuhe. Lange Bärte. Alle fünf waren große, schwere Männer, mit diesem festen, speckigen Fett, das fast schon Muskelgewebe ist, aber doch nicht ganz. Alle fünf hatten grobe Tätowierungen an den Armen und im Gesicht. Hakenkreuze. Auf ihren Wangen unter den Augen und auf ihrer Stirn. Die arische Bruderschaft. Weißes Gefängnispack.
Als die fünf durch den Raum strichen, entschwanden die anderen Anwesenden. Jeder, der nicht begriff, wurde gepackt und zur Tür gestoßen. Auf den Flur geworfen. Sogar die eingeseiften, nackten Männer aus den Duschkabinen. Innerhalb von Sekunden war der große Waschraum leer. Bis auf die fünf Biker, Hubble und mich. Die fünf großen Typen stellten sich in einem Halbkreis vor uns auf. Große, häßliche Typen. Die Male auf ihren Gesichtern waren eingeritzt. Grob mit Farbe geschwärzt.
Ich nahm an, sie wollten mich anheuern. Sich irgendwie die Tatsache zunutze machen, daß ich einen Red Boy ausgeknockt hatte. Meine fragwürdige Berühmtheit für ihre Sache beanspruchen. Es in einen Rassentriumph für die Bruderschaft umwandeln. Aber ich lag falsch. Meine Annahme war abwegig. Also war ich unvorbereitet. Der Typ in der Mitte blickte zwischen mir und Hubble hin und her. Seine Augen fuhren über uns hinweg. Sie hielten bei mir inne.
»Okay, das ist er«, sagte er. Sah mich direkt an.
Zwei Dinge passierten. Die hinteren zwei Biker packten Hubble und brachten ihn zur Tür. Und der Anführer schwang seine Faust auf mein Gesicht zu. Ich sah sie erst spät. Wich nach links aus und wurde an der Schulter getroffen und von der Wucht herumgewirbelt. Dann von hinten am Hals gepackt. Zwei riesige Hände an meiner Kehle. Die mich würgten. Der Anführer stellte sich für einen weiteren Schlag in meinen Bauch in Positur. Wenn er traf, war ich ein toter Mann. Das wußte ich ganz genau. Also lehnte ich mich weit zurück und trat zu. Trat mit solcher Wucht in den Unterleib des Anführers, als versuchte ich, einen Fußball aus dem Stadion zu schlagen. Die derben Schuhe aus Oxford leisteten ganze Arbeit. Der Stoß erwischte ihn wie eine stumpfe Axt.
Meine Schultern waren gekrümmt, und ich pumpte meinen Hals auf, um dem Würger standzuhalten. Er schraubte seine Hände fester zusammen. Fast hätte ich verloren. Ich griff nach oben, brach seine kleinen Finger und hörte über das Brüllen in meinen Ohren hinweg, wie die Knöchel splitterten. Dann brach ich seine Ringfinger. Noch mehr Splittern. Als würde man ein Hühnchen zerlegen. Er ließ von mir ab.
Der dritte Typ stampfte näher. Er war ein kräftiger Speckberg. Ummantelt mit schweren Fleischschichten. Wie eine Rüstung. Keine angreifbare Stelle. Er hämmerte mit kleinen Stößen gegen meinen Arm und meine Brust. Ich wurde zwischen zwei Waschbecken eingeklemmt. Der Speckberg drängte nach. Keine angreifbare Stelle. Bis auf seine Augen. Ich rammte meinen Daumen in eins seiner Augen. Hakte die Spitzen meiner Finger in sein Ohr und drückte zu. Mein Daumennagel schob seinen Augapfel zur Seite. Ich drückte meinen Daumen weiter hinein. Sein Augapfel quoll fast aus der Höhle heraus. Er schrie und zog an meinem Handgelenk. Ich machte weiter.
Der Anführer hatte sich wieder halb aufgerappelt. Ich trat mit aller Kraft in sein Gesicht. Verfehlte es. Erwischte ihn statt dessen an der Kehle. Zermalmte seinen Kehlkopf. Er ging wieder zu Boden und blieb röchelnd liegen. Ich kümmerte mich um das zweite Auge des großen Typen. Verfehlte es. Drückte mit meinem Daumen nach. Er ging in die Knie. Ich drehte mich von der Wand weg. Der Typ mit den gebrochenen Fingern rannte zur Tür, Der andere, dem der Augapfel aus der Höhle hing, fiel schwer zu Boden. Schrie entsetzlich. Der Anführer würgte an seinem zertrümmerten Kehlkopf.
Ich wurde erneut von hinten gegriffen. Riß mich los. Ein Red Boy. Zwei von ihnen. Mir war schwindlig. Jetzt mußte ich den Kampf verlieren. Aber sie packten mich nur und rannten mit mir zur Tür. Sirenen gingen los.
»Raus hier, Mann«, schrie der Red Boy über die Sirenen hinweg. »Das ist unsere Sache. Wir waren es! Verstanden? Die Red Boys waren das. Wir halten den Kopf hin, Mann.«
Sie schleuderten mich in die Menge vor der Tür. Ich verstand. Sie würden behaupten, sie seien es gewesen. Nicht weil sie mich schützen wollten. Sondern weil sie den Kampf für sich beanspruchen wollten. Als Sieg ihrer Gang.
Ich sah Hubble in der Menge herumhüpfen. Ich sah Wärter. Ich sah Hunderte von Männern, Ich sah Spivey. Ich packte Hubble, und wir hasteten zur Zelle zurück. Sirenen heulten. Wärter stürzten aus einer Tür. Ich konnte Gewehre und Schlagstöcke sehen. Stiefel polterten. Geschrei und Geheul. Sirenen. Wir rannten zur Zelle. Stürzten hinein. Mir war schwindlig, und ich schnappte nach Luft. Ich hatte eine Abreibung bekommen. Die Sirenen waren ohrenbetäubend. Wir konnten nicht reden. Ich spritzte mir Wasser ins Gesicht. Die Sonnenbrille war weg. Mußte runtergefallen sein.
Ich hörte jemanden schreien. Drehte mich um und sah Spivey. Er schrie uns zu, daß wir rauskommen sollten, und stürzte in die Zelle. Ich nahm meinen Mantel vom Bett. Spivey faßte Hubble am Ellbogen. Dann packte er mich und schob uns beide vor sich her aus der Zelle heraus. Er schrie, wir sollten rennen. Sirenen heulten. Er lief mit uns zum Notausgang, durch den die Wärter hereingestürzt waren. Schob uns hindurch und hetzte mit uns die Treppe hinauf. Höher und höher. Meine Lungen kapitulierten. Am Ende der letzten Treppe war eine Tür mit einer großen Sechs darauf. Wir stürzten krachend hindurch. Er stieß uns die Zellenreihe entlang. Schob uns in eine leere Zelle und warf die Eisentür zu. Klirrend rastete das Schloß ein. Er hastete davon. Ich ließ mich aufs Bett fallen, die Augen fest geschlossen.
Als ich sie wieder öffnete, saß Hubble auf dem Bett und sah zu mir herüber. Wir waren in einer großen Zelle. Vielleicht zweimal so breit wie die andere. Zwei getrennte Betten, jedes auf einer Seite. Ein Waschbecken, ein Lokus. Eine Gitterwand. Alles war heller und sauberer. Es war sehr ruhig. Die Luft roch besser. Dies war der U-Haft-Trakt. Dies war Flur sechs. Dies war der Ort, an dem wir die ganze Zeit hätten sein sollen.
»Was zum Teufel ist da drinnen mit Ihnen passiert?« fragte Hubble.
Ich zuckte nur die Schultern. Ein Essenswagen erschien vor unserer Zelle. Er wurde von einem alten, weißen Mann gezogen. Kein Wärter, ein normaler Angestellter. Sah eher aus wie ein Steward auf einem Ozeandampfer. Er schob ein Tablett durch einen rechteckigen Schlitz in der Gitterwand. Abgedeckte Teller, Pappbecher, Thermoskanne. Wir aßen auf unseren Betten. Ich trank den ganzen Kaffee. Dann lief ich durch die Zelle. Rüttelte an der Tür. Sie war verschlossen. Der sechste Stock war still und friedlich. Eine große, saubere Zelle. Getrennte Betten. Ein Spiegel. Handtücher. Ich fühlte mich viel besser hier oben.
Hubble stapelte die Essensreste auf das Tablett und schob es unter der Tür hindurch auf den Flur. Er legte sich auf sein Bett. Faltete die Hände hinter dem Kopf. Starrte an die Decke. Versuchte, die Zeit herumzubringen. Ich tat dasselbe. Aber ich dachte scharf nach. Weil sie eindeutig gewählt hatten. Sie hatten uns beide sehr sorgfältig betrachtet und dann mich ausgewählt. Ziemlich eindeutig ausgewählt. Dann hatten sie versucht, mich zu erwürgen.
Sie hätten mich umgebracht. Wäre da nicht eine Sache gewesen. Der Typ mit den Händen um meinen Hals hatte einen Fehler gemacht. Er hatte mich von hinten erwischt, was sein Vorteil war, er war groß und stark genug. Aber er hatte seine Finger nicht zusammengekrümmt. Der beste Weg ist es, die Daumen hinten am Nacken zu haben und die Finger zusammenzukrümmen. Mach es mit dem Druck der Knöchel, nicht mit dem Druck der Finger. Der Typ hatte seine Finger gerade gelassen. Also konnte ich sie greifen und brechen. Sein Fehler hatte mir das Leben gerettet. Kein Zweifel. Sobald er ausgeschaltet war, hieß es nur noch: zwei gegen einen. Und mit derartigen Widrigkeiten hatte ich noch nie Probleme gehabt.
Aber dennoch war es ein eindeutiger Versuch gewesen, mich umzubringen. Sie kamen herein, suchten mich aus und versuchten, mich umzubringen. Und dann stand Spivey zufällig gerade vor dem Waschraum. Er hatte es angezettelt. Er hatte die arische Bruderschaft angeheuert. Er hatte den Anschlag angeordnet und darauf gewartet, hereinzuplatzen und mich tot vorzufinden.
Und er hatte es schon gestern vor zehn Uhr abends geplant. Das war klar. Deshalb hatte er uns auf den falschen Flur gebracht. Auf Flur drei, nicht Flur sechs. In den Strafgefangenentrakt, nicht in den U-Haft-Trakt. Jeder hatte gewußt, daß wir im U-Haft-Trakt hätten sein sollen. Die beiden Wachmänner letzte Nacht im Empfangsbunker, die waren sich darüber völlig einig gewesen. Es hatte so auf ihrem ramponierten Klemmbrett gestanden. Aber um zehn Uhr hatte Spivey uns im dritten Stock deponiert, und er wußte, daß man mich hier ausschalten konnte. Er befahl den Bikern, mich am nächsten Tag um zwölf Uhr anzugreifen. Er hatte um zwölf Uhr draußen vor dem Waschraum gewartet, um hereinzuplatzen. Darauf gefaßt, meine Leiche auf den Fliesen liegen zu sehen.
Aber sein Plan war schiefgegangen. Ich war nicht tot. Die Arischen waren zurückgeschlagen worden. Die Red Boys hatten sich hereingedrängt, um die Gelegenheit zu ergreifen. Chaos war ausgebrochen. Ein Aufruhr brach los. Spivey geriet in Panik. Er betätigte den Alarm und rief die Einsatztruppe. Brachte uns von dem Flur weg, hinauf in den sechsten Stock, und ließ uns hier oben. Den Papieren zufolge waren wir die ganze Zeit hier im Flur sechs gewesen.
Ein sauberer Rückzug. Solange die Untersuchung lief, war ich sicher. Spivey hatte sich für die Rückzugslösung entschieden, die da lautete, daß wir nie dort unten gewesen waren. Er hatte ein paar ernsthafte Verletzungen zu erklären, vielleicht sogar einen Toten. Der Anführer war wahrscheinlich erstickt. Spivey mußte wissen, daß ich schuld daran war. Aber er konnte es nicht sagen. Weil ich ihm zufolge ja nie da unten gewesen war.
Ich lag auf dem Bett und starrte an die Betondecke. Vorsichtig atmete ich aus. Der Plan war klar. Zweifellos Spiveys Plan. Der Rückzug paßte dazu. Ein gescheiterter Plan mit einem sauberen Rückzug. Aber warum? Das verstand ich nicht. Angenommen, der Würger hätte seine Finger zusammengekrümmt. Dann hätten sie mich jetzt. Ich wäre tot. Tot auf dem Waschraumboden mit einer dicken, geschwollenen Zunge, die mir aus dem Mund hängen würde. Spivey wäre hereingestürzt und hätte mich gefunden. Warum? Was war Spiveys Motiv? Was hatte er gegen mich? Ich hatte ihn vorher noch nie gesehen. War noch nie mit ihm oder seinem verdammten Gefängnis in Kontakt gekommen. Warum zum Teufel sollte er einen Plan entwickeln, mich umzubringen? Ich hatte nicht die geringste Ahnung.