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DER BLAUE EDELSTEIN
Margot legte die Hände auf Tobys Brust.
»Was machst du da, Toby?«
Er sah sie eingehend an und lächelte. »Ich verabschiede mich.« Er trat zurück, nahm den Stift vom Tisch und reichte ihn ihr. »Du wolltest gerade unterschreiben.«
Sie betrachtete den Stift. Dann sah sie zu Toby. Und sie sah nicht den Toby, der durch die Feuerprobe ihrer Ehe und die Verurteilung ihres Sohnes gegangen war. Sie sah den Toby, der vor zwanzig Jahren aus dem Hudson wieder aufgetaucht war. Den Toby, von dem sie geglaubt hatte, dass er ertrunken sei. Den Toby, den sie niemals verlieren wollte.
»Ich muss nachdenken«, sagte sie, drehte sich um und ging.
»Tu mir das nicht an, Margot«, rief er hinter ihr her. »Lass mich nicht so in der Luft hängen, während du dich auf die andere Seite der Weltkugel verziehst.«
Im Flur drehte sie sich um. »Ich fliege morgen. Jetzt gehe ich zurück ins Hotel.«
»Und das war’s?«, fragte Toby verärgert. »Du unterschreibst nicht einmal die Scheidungspapiere?«
Einen Moment lang passierte gar nichts. Dann ging sie auf ihn zu, nahm ihm den Stift aus der Hand und kritzelte ihren Namen auf die dafür vorgesehene Linie.
Wortlos reichte sie ihm die Papiere.
Im Hotel nahm sie ein ausgedehntes Bad. Sie spielte den Kuss immer wieder im Geiste durch. Der Ablauf glich zunächst einem Horrorfilm, dann einer Komödie. Erst als sie sich noch tiefer ins Wasser gleiten ließ, spiegelte der kleine Film das wider, was wirklich passiert war. Und wie es sich angefühlt hatte. Wie ein Ankommen. Wie Zuhause. Wie Frieden.
Das Telefon schrillte. Margot sprang aus der Wanne. Es war der Concierge – es sei jemand für sie da. Ein Mr. Toby Poslusny. Ob er hochkommen dürfe? Sie zögerte. Ja, versuchte ich klopfenden Herzens zu ihr durchzudringen.
»Okay«, sagte sie.
Ich kam mir vor, als betrachtete ich die aus einem Kinofilm herausgeschnittenen Szenen. Ich dachte an jene Zeit meines Lebens zurück, als ich während der vorgerichtlichen Verhandlungen alleine in einem Hotel wohnte und hin und wieder äußerst unerquickliche Treffen mit Toby über mich ergehen ließ, bei denen wir absprachen, wer Theo wann besuchte und wann der nächste Verhandlungstermin war. Jetzt war alles neu, und ich hatte keine Ahnung, was passieren würde.
Und dann dachte ich an meinen Tod. An den ich mich immer nur sehr undeutlich erinnern konnte, weil er so plötzlich eingetreten war. Wenn Sie mir jetzt eine Knarre an die Schläfe gedrückt und mich gefragt hätten, wie es ist, zu sterben, wäre meine Antwort gewesen: Sie müssen schon abdrücken, damit ich Ihnen darauf antworten kann. Ich hatte keine Ahnung. Ich war schneller aus dieser Welt gerissen worden, als ein Taschendieb in Manhattan arbeitet. Gerade befand ich mich noch in einem Hotelzimmer, im nächsten Augenblick stand ich neben meiner eigenen Leiche, und den Bruchteil einer Sekunde später war ich bereits im Jenseits und begegnete Nan.
Margot warf sich einen weißen Bademantel über und öffnete die Tür. Toby stand da und runzelte die Stirn, bis sie ihn hereinbat.
»Warum bist du hier, Toby?«
»Weil du was vergessen hast.«
»Ach, ja?«
»Hmhm.«
Sie stierte ihn an und fuchtelte dann gereizt mit der Hand. »Und was, bitte, habe ich vergessen?«
Er hielt ihrem durchdringenden Blick stand. »Du hast vergessen, dass du einen Ehemann hast. Und ein Zuhause. Ach, ja, und einen Sohn.«
»Toby …« Sie ließ sich aufs Bett fallen.
Er kniete vor ihr nieder und nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Wenn du sagst, dass ich aufhören soll, höre ich auf. Versprochen.«
Er küsste sie. Sie sagte ihm nicht, dass er aufhören soll.
Es war nicht sein »Ich liebe dich«, das mich vor Freude Saltos schlagen ließ, auch nicht ihr »Ich liebe dich auch«, und auch nicht der Sex. Nein. Nach mehreren Stunden Bettgeflüster über die Vergangenheit und die Zukunft fassten sie gemeinsam den Beschluss, es noch einmal miteinander zu versuchen. Das war der Quell meiner Freude.
Und während die Stadt vor Musik und Kanonenschlägen anlässlich des chinesischen Neujahrsfestes vibrierte, während Margots Aura golden glühte und das Licht um ihr Herz pulsierte, fielen Gaia und ich uns in die Arme, und ich weinte hemmungslos und bat sie, mir zu sagen, dass das alles kein Traum war. Dass das alles wirklich passierte.
Sie blieben noch lange im Bett und ver- und entknoteten ihre Finger wie damals in Tobys schäbiger Dachwohnung im West Village.
»Wie spät ist es?« Toby sah auf die Uhr.
»Elf. Warum?«
Er sprang auf und zog sich sein Hemd an.
»Wo willst du hin?« Sie setzte sich auf. »Sag jetzt nicht, dass du nach Hause musst.«
»Ich muss nach Hause.« Er schoss auf sie zu und küsste sie auf die Stirn. »Aber ich bin gleich wieder da.«
»Was willst du denn zu Hause?«
»Mein Handy. Was, wenn einer der Ermittler wegen Theo anruft? Hier finden die mich nie, dann können sie mich nicht erreichen.«
Toby betrachtete Margot, wie sie sich um ein Kissen rollte. Er lächelte. »Ich bin gleich wieder da.« Dann zögerte er und sah sie sehr ernst an. Und zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren sah ich wieder das Eis, das sich um ihn herum aufbaute. Seine Angst.
»Du wartest doch auf mich, oder?«
Margot lachte. »Wo soll ich denn bitte schön hinverschwinden, Tobes?« Sein ernster Blick ließ nicht nach. »Ja«, sagte sie. »Ich warte.«
Und dann ging er.
Darum konnte ich mich nicht an meinen Tod erinnern. Weil sich der Weg am Ende meines Lebens irgendwo auf einmal gegabelt hatte. Ich hatte die eine Richtung eingeschlagen, Margot die andere. Zwischen diesen beiden Wegen bestand eine Verbindung, die ich nicht sehen konnte. Sie waren irgendwie miteinander verknüpft und würden mich zum Ende führen. Doch als ich jetzt das Ziel sehen konnte – nämlich in ein neues Leben mit Toby, in eine Ehe, die dieses Mal tatsächlich funktionieren könnte –, wollte ich gar nicht, dass der Weg endete.
Und darum konnte ich einfach nicht darauf hören, als die Botschaften durch meine Flügel kamen: Lass los! Lass es geschehen!
Ein Klopfen an der Tür. Ich fuhr zusammen. »Zimmerservice!«, rief eine Stimme vom Flur. Als Margot aufmachte, war ich bereits in Kampfstellung. Der junge Mann mit dem Tablett voller Essen musterte sie von oben bis unten, stellte das Tablett auf dem Bett ab und verschwand, ohne auf ein Trinkgeld zu warten.
Während Margot duschte, suchte ich den Hotelflur nach Dämonen ab. Irgendwo hier lauerte Grogor. Ich konnte es spüren.
Als Toby nach Hause kam, hatte jemand eine Nachricht unter der Tür durchgeschoben. Fast hätte er sie übersehen. Erst hatte er sein Handy und das Ladegerät aus der Küchenschublade gekramt, dann etwas Aftershave aufgetragen und seine Zähne begutachtet und dann ein paar saubere Klamotten geschnappt. Er war schon wieder auf dem Weg zur Tür hinaus, zurück zu Margot, als er den weißen Umschlag sah.
Auf dem Umschlag selbst stand nichts geschrieben. Er riss ihn auf und zog ein weißes, zerknittertes Stück Papier heraus, auf dem in kindlich geprägter Schrift stand:
Hallo.
Ich schreibe zu sagen das es mir leid tut mit ihrem Sohn. Ich bin das Mädchen von das er in Zeitung spricht. Ich kann hier nicht erklären warum aber ich will anonym bleiben. Ich melde mich wieder bei ihnen dann können wir reden. Ich will nicht das ein Unschuldiger ins Gefängnis kommt.
Ihr Sohn sagt die Wahrheit.
V
Toby stürzte auf den Flur. Die alte Mrs. O’Connor von gegenüber kam gerade von ihrem Abendspaziergang wieder. Toby packte sie am Arm wie ein Besessener.
»Mrs. O’Connor, haben Sie heute Abend irgendjemanden an meiner Wohnungstür gesehen?«
Sie glotzte ihn an. »Äh, nein, Herzchen, ich glaube nicht …«
Er raste zur nächsten Tür und hämmerte dagegen. Einige Minuten später wurde sie geöffnet. Ohrenbetäubende Musik quoll aus der Wohnung, und der chinesische Jugendliche war sichtlich betrunken. »Frohsneusjaa!«, lallte er.
Okay, keine weiteren Fragen. Toby sprintete zurück in die Wohnung. Er schnappte sich mit zitternden Händen den Brief und las ihn sich mehrmals durch. Dann rief er bei der Polizei an und betete, dass Margot Wort halten würde. Dass sie warten würde.
Und das tat sie. Sie aß die aprikosenglasierte Ente auf Ingwerreis und trank die Hälfte des Hausweins. Sie dachte darüber nach, was sie als Nächstes tun sollte. Sie dachte darüber nach, was sie sich jetzt wünschte. Und sie kehrte zurück zu dem Traum, den sie vor so vielen Jahren gehabt hatte: von dem Haus mit Garten. Von Toby als Schriftsteller. Von Theo als einem freien Mann.
Vielleicht war das jetzt alles wirklich möglich.
Aber ich war mit meiner Weisheit am Ende, weil ich ihr dabei zusah, wie sie träumte und sich wieder verliebte, wie ihr Körper vor lauter Hoffnung erglühte, wie das Licht um ihr Herz, das so viele Jahre geschlummert hatte, nun zu neuem Leben erwachte, pulsierte und sich weiß und blendend um sie breitete – während die Botschaft aus meinen Flügeln ganz klar lautete: Lass los. Lass es geschehen. Ich war außer mir, weil ich mich erinnern konnte, was ich direkt nach meinem Tod gesehen hatte: meine Leiche, wie sie auf genau diesem Bett liegt, auf genau diesem Laken, in meinem eigenen Blut.
Lass bloß niemanden rein, riet ich ihr. Hat Toby mich umgebracht?, überlegte ich. Toby? Oder Kit? Valita? Sonya? Ich sang das Lied der Seelen. Raus hier!, kommandierte ich sie herum. Raus hier! Wer auch immer zur Tür hereinkommen würde, würde sie umbringen, da war ich mir ganz sicher. Dann trug ich ihr auf, zum Fenster zu gehen und den Leuten auf der Straße beim Feiern zuzusehen. Chinesisch Neujahr. Das Jahr der Schlange. Guck mal, die haben sogar schlangenförmige Festwagen. Und Feuerwerk. Weißt du was, geh doch nach unten und sieh es dir alles aus der Nähe an!
Sie nahm das Glas mit dem restlichen Wein und schlenderte zum den Park überblickenden Fenster hinüber. Direkt unter ihr hatte sich eine ganze Horde von Menschen versammelt. Ein Festumzug wand sich durch den Park. Über der Stadt das Krachen von Feuerwerkskörpern, in das sich gelegentliche Freudenschüsse einreihten. Margot öffnete das Fenster und warf einen Blick auf den Wecker neben dem Bett. Gleich Mitternacht. Ach, Toby, dachte sie. Warum bist du jetzt nicht hier? Und ich sagte ihr, sie solle die Tür abschließen. Aber sie lachte nur und verwarf den Gedanken.
Und dann schlug es zwölf.
Die Schläge einer Uhr wurden über einige Lautsprecher im Park übertragen. Eins … Margot stützt sich mit den Händen auf der Fensterbank auf und sieht hinunter. Zwei … Am anderen Ende der Stadt hat Toby es aufgegeben, auf ein Taxi zu warten – er rennt jetzt zum Hotel. Drei … Ich blicke auf den blauen Stein hinunter, den ich um den Hals trage. Wie war das doch gleich, was wurde bei meiner Leiche gefunden? Ein Kaschmirsaphir? Vier … Margot nimmt sich Tobys Jacke und legt sie sich um die Schultern, weil sie friert. Fünf … Unten im Park jubelt jemand und feuert einen Freudenschuss in die Luft ab. Sechs … Ich sehe sie. Ich sehe die Kugel, wie sie durch die Dunkelheit rast. Ich sehe sie, wie man eine Münze sieht, die einem zugeworfen wird, oder einen Ball, der vom Tennisschläger abprallt. Ich sehe genau, wo die Kugel hinsteuert, auf Margots Fenster zu. Und in dem Moment weiß ich: Ich kann sie noch erreichen. Ich kann sie aufhalten. Doch dann die Botschaft in meinen Flügeln: Lass es geschehen. Sieben … Warum?, frage ich laut. Acht … Lass los. Neun … Toby in der Hotellobby. Er drückt auf den Aufzugknopf. Zehn … Ich schließe die Augen. Elf … Die Kugel trifft ihr Ziel, direkt neben Margots Herz. Zwölf … Sie kippt nach hinten um, schnappt noch einmal nach Luft und sieht mir direkt in die Augen, als ich mich über sie beuge, sie in den Arm nehme, weine und auf sie einrede. Es ist okay, alles ist gut, jetzt ist es vorbei. Und dann sieht sie mich an und streckt die Hand nach mir aus. Ich ergreife sie.
Wir sind eins.