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EIN SINNESWANDEL
Als Margot in das Alter kam, in dem sie die Dinge und Zusammenhänge allmählich zu begreifen begann, überschüttete ich sie mit guten Ratschlägen. Wenn du sechzehn bist, wirst du einem Typen namens Seth begegnen. Du darfst dich auf keinen Fall in ihn verlieben! Warum? Vertrau mir einfach. Okay. In New York dagegen darfst du dich gerne verlieben, und das wirst du auch. Wo ist New York? In Amerika. Ich freue mich sehr auf deine Zeit dort. Sind die Beatles da? Sozusagen. Aber was noch viel wichtiger ist: In New York begegnest du einer Frau namens Sonya, wenn dir dein Hund ausbüxt und in einem Feinkostladen auf der Fifth Avenue Chaos anrichtet. Um diese Sonya machst du besser einen großen Bogen. Warum? Weil sie dir deinen Mann wegnimmt.
Als Margot etwa dreieinhalb Jahre alt war, kurz vor Weihnachten, fing sie an, mich vollkommen zu ignorieren. Wochenlang sah sie mich nicht einmal mehr an. Es war, als lege sich der Wind, als würden die Steinchen ihres Bewusstseins einen festen Platz einnehmen und meinen Einfluss nicht mehr eindringen lassen.
Mir wurde angst und bange. Ich kam mir vor, als hätte man mich ausgesetzt, und fühlte mich klein und allein. Ich glaube, da fing ich an, meinen »Einsatz« etwas ernster zu nehmen. Und ich glaube, da begriff ich endlich die traurige Wahrheit: Ich war wirklich tot. Ich war wirklich ein Schutzengel.
Ich entwickelte einen regelrechten Spleen mit meinem Spiegelbild (ja, ich hatte immer noch eins – ich bin ein Engel, kein Vampir). Immer wieder betrachtete ich das Wasser, das mir aus den Schultern nahtlos durch mein bedauernswert formloses weißes Kleid floss. Ich sah aus wie um die zwanzig, nur meine Haare wichen ab – sie waren nicht gebleicht. Natürlich karamellbraun, strichen sie mir in Locken über die Schultern. Ich hatte Brüste, Genitalien, selbst meine widerlichen halbmondförmigen Zehen. Ich hatte Haare auf den Beinen. Und mein ganzer Körper leuchtete ein wenig, als würde in meinen Adern kein Blut fließen, sondern winzige LED-Lämpchen.
Von Tag zu Tag sah Margot mehr wie eine weibliche Version von Theo aus. Ich verlor mich in der Vergangenheit. Ich war so damit beschäftigt, zu betrauern, was ich verloren, was ich weggeworfen hatte, und dass ich nie mal etwas richtig machen konnte, und vergaß darüber fast, in welcher Mission ich eigentlich hier war. Ich sollte auf Margot aufpassen, ich sollte mich um sie kümmern. Kinder werden so schnell groß. Als ich von meinem ersten kleinen Selbstmitleidstrip erwachte, war sie mehrere Zentimeter gewachsen, hatte eine neue Frisur und war vollkommen und unwiderruflich Karina-fiziert. Sie war gnadenlos eingebildet, aber das war nur gut so. Sie lernte, Kate Paroli zu bieten und den Schwächen ihres Herzens kraft ihrer vorpubertären Frechheit zu widerstehen.
Und dann, eines Tages, brach sie im Park zusammen. Ich lag unter der Schaukel und kitzelte sie in den Kniekehlen, während sie mit flatterndem Rock über mir hin und her schwang – wie das Pendel der Uhr des Lebens. Eben schwang sie noch nach vorn und kicherte, dann schwang sie zurück und hing zusammengesackt und bewusstlos in den Schaukelseilen. Karina schrie. Margot plumpste rückwärts von der Schaukel, und wenn ich nicht ihren Kopf aufgefangen hätte, wäre ihr Schädel auf dem Betonboden zerborsten.
Kyle drehte seine Runden auf dem Sportplatz gegenüber. Karina rannte zu ihm und ließ Margot mit den unnatürlich gebeugten Gliedmaßen, den blassen Wangen und den eisblauen Lippen liegen. Ich konnte ihre Herzkammern sehen. Die eine war dick und klar, die andere schlaff wie ein platter Fahrradreifen. Ich beugte mich über sie und drückte ihr meine Hand aufs Herz. Dieses Mal war das Licht golden und heilend, es vertrieb jegliche blaue Farbe aus ihren Lippen und Augen. Wenigstens vorläufig.
Kyle und Karina kamen den Hügel heraufgerannt. Kyle brachte Margot in eine andere Stellung und fühlte ihren Puls. Ihre Atmung war sehr schwach. Er trug sie zum Auto und brachte sie auf direktem Wege ins Krankenhaus.
Ich verfluchte mich selbst. Ich hatte nicht aufgepasst. Ich irrte durch das Krankenhaus und versuchte, herauszufinden, was ich tun musste.
Und dann passierte es.
Als Erstes tauchte Nan auf, ganz ruhig und mit einem Lächeln wie immer. Sie legte mir die Hand auf die Schulter und lenkte meine Aufmerksamkeit auf eine nackte Wand, auf der sich etwas abspielte, eine Vision von der Herzoperation, die Margot brauchte. Nan wies mich an, zuzusehen, mir alles gut zu merken und dann dem Chirurgen zu soufflieren. Ich verstand. Das hier war ein Crashkurs in Herzchirurgie. Eine Art Fortbildung.
Ich sah also zu. Es war eine Vision der Zukunft, die meine sein sollte. In meinem Kopf ertönte eine Stimme – eine weibliche, amerikanische Stimme –, die mir erklärte, was jeder Handgriff bedeutete, was sein Sinn und Zweck war, warum just diese Technik auf dieser Seite des Atlantiks noch nicht angewandt worden war, wie weit das Skalpell zu führen war usw. Ich hörte zu, und jedes Wort, das sie sagte, setzte sich in meinem Gedächtnis ab wie Regentropfen auf einem frisch gewachsten Auto. Ich vergaß kein einziges Wort. Kein Adverb, keine Betonung.
Nan führte mich in den OP. Ich glaube nicht, dass in der Zwischenzeit tatsächlich Zeit vergangen war: Die OP-Schwester, die sich den Mundschutz umband, als die Vision erschienen war, fummelte immer noch mit den Bändern herum. Ich half ihr, einen Knoten zu machen, und sie bedankte sich, ohne sich überhaupt umzusehen.
Margot lag bereits regungslos auf dem OP-Tisch, über sich eine Lampe, in deren Licht sie totenbleich aussah. Aber was viel schlimmer war: Ihre Aura war irgendwie wässrig und dünn. Sie schwebte schwach über ihrem Körper wie Nebelschwaden über einem Gewässer. Zwei Schwestern, Kyle und die Chef-Chirurgin, Dr. Lucille Murphy, zogen sich Handschuhe an und stellten sich um Margot herum auf. Auch ich näherte mich etwas mehr, und als ich das nächste Mal genauer hinsah, hatte sich die Gesellschaft verdoppelt: Es waren noch vier Schutzengel hinzugekommen – einer für jeden im OP Anwesenden. Ich nickte ihnen allen zu. Wir hatten zu tun.
Lucilles Schutzengel war ihre eigene Mutter Dena, eine kleine, rundliche Frau, die eine solche Ruhe ausstrahlte, dass ich sofort langsamer und tiefer atmete. Dena legte den Kopf auf Lucilles Schulter, dann sah sie mich an und trat einen Schritt zurück, damit ich ganz nah bei Lucille stehen konnte. Ich sagte ihr, sie solle nicht wie geplant einen zwanzig Zentimeter langen Schnitt direkt über dem Brustbein machen, sondern einen fünf Zentimeter langen Schnitt zwischen den Rippen. Dena wiederholte meine Anweisungen wie eine Dolmetscherin. Lucille blinzelte kurz – ihr kam Denas Anleitung vor wie eine plötzliche Eingebung. »Doktor?«, schaltete Kyle sich ein. Sie sah zu ihm auf. »Kleinen Moment.« Sie blickte zu Boden und war hin und her gerissen zwischen jahrzehntealter Operationspraxis und jener neuen Methode, die ihr gerade in den Sinn gekommen war, und die zu ihrer Überraschung völlig plausibel war. Es würde Mut erfordern, diesen anderen Weg zu gehen. Einen Moment lang dachte ich, sie würde ihn nicht aufbringen. Dann sah sie wieder auf.
»Wir werden heute etwas Neues ausprobieren. Einen fünf Zentimeter langen Schnitt zwischen den Rippen. Wir werden versuchen, diesem Mädchen unnötigen Blutverlust zu ersparen.«
Alle im Team nickten. Unwillkürlich fasste ich mir an die kleine Narbe zwischen den Brüsten. Ich hatte nie gewusst, woher sie kam. Jetzt wusste ich es.
Von da an wiederholte ich alles, was ich während meiner Vision gehört hatte, und Dena wiederholte alles, was ich sagte. Und dann ging mir auf: Die amerikanische Frauenstimme, die ich während der Vision gehört hatte, war Denas gewesen. Es war tatsächlich so, wie Nan gesagt hatte: All das war schon einmal passiert. Ich habe schon einmal hier gestanden. Mein Begriff von Zeit löste sich auf. Die Zeit schlug Falten und legte sich in mehreren Schichten übereinander. Mir wurde schwindelig.
Nach Abschluss der OP verließen alle außer Kyle, Dena, Lucille und meiner Wenigkeit den Saal. Wir vier standen um Margot herum, wie sie reglos auf dem OP-Tisch lag, und hofften inständig, sie möge aufwachen.
»Warum hast du den Eingriff so vorgenommen?«, fragte Kyle schließlich.
Lucille schüttelte den Kopf. Die beiden waren mal Geliebte gewesen, darum waren sie ganz ehrlich miteinander. »Ich weiß es nicht. Keine Ahnung.« Sie zog die Handschuhe aus. »Jetzt lasst uns beten, dass es funktioniert.«
Zwei Wochen später wurde Margot – noch schwach und mit Schmerzen – aus dem Krankenhaus entlassen. Doch es gab deutliche Anzeichen der Besserung. Ihre ersten Worte, als sie aus der Narkose erwachte, galten der Frage, ob sie etwas Schokoladenkuchen haben könne. Karina hatte ihr eine Beatles-LP geschickt, die sie an die Brust drückte wie eine Prothese. Sie machte sich nichts aus den Gesprächen zwischen Ärzten und Schwestern darüber, dass sie fast gestorben wäre. Sie wollte einfach nur wieder in Karinas Zimmer tanzen, inmitten einer Wolke aus rosa Puder und Glitzerstaub.
An einem frühen Nachmittag waren wir wieder zu Hause bei Familie Edwards. In der Einfahrt lag ein Teppich aus orangefarbenen und gelben Blättern. Daraus schloss ich, dass Herbst war. Das Wetter in Nordirland bietet einem nur wenige Anhaltspunkte, was die Bestimmung der Jahreszeiten angeht.
Die Mädchen waren nicht zu Hause – Karina war auf einer Party, Kate auf einer Klassenfahrt im Ausland. Kyle trug Margot nach oben und legte sie ins Bett. Er maß Fieber, schüttelte die Kissen auf und klemmte ihr Teddys unter die Arme, damit sie sich nicht einsam fühlte, falls sie nachts aufwachen sollte. Ich sah es alles ganz deutlich. Er liebte sie.
Er ging nach unten. Ich blieb bei Margot, um einen Plan zu schmieden. Warum sollte ich nicht dafür sorgen, dass sie hierbleiben und mit einer Familie, in einem Zuhause und mit einer Zukunft aufwachsen konnte? Warum sollte ich nicht die Puzzleteile leicht verschieben? Ich dachte über die Geschehnisse im OP nach. Nichts ist endgültig. Ich war gerade dabei, zu begreifen, dass ich die Vergangenheit nicht einfach nur besuchte und mir die Galerie des einst Geschehenen ansah, sondern dass ich aktiv daran teilnahm: Ich trug Farbe auf die schwarze Leinwand der Zukunft auf, um mal eine von Nans Metaphern zu bemühen. Vielleicht konnte ich die Einzelheiten ein klein wenig verändern, neue Wege für Margot skizzieren, solange sie nur alle in die gleiche Richtung führten.
Als ich von unten laute Stimmen hörte, ließ ich die schlafende Margot allein und ging hinunter, um nachzusehen, was los war.
Sie waren in der Küche. Lou stand an der Spüle, den Blick hinaus in den bald im Dunkeln liegenden Garten hinter dem Haus gerichtet. Kyle sah aus, als würde er sich am Herd festhalten. Es herrschte eine Atmosphäre wie nach einem Waldbrand. Ich konnte die beiden kaum sehen vor lauter Gefühlsnebelschwaden, die den Raum verhängten.
Beide schwiegen eine ganze Weile. Dann, endlich, sagte Kyle: »Scheidung.«
Ich meinte hinter diesem einen Wort ein Fragezeichen zu hören. Ich sah zu Lou.
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Du hast gesagt, du willst ausziehen.«
Lou drehte sich um. Ihre Wimpern waren tränennass. Sie zuckte mit den Schultern. »So viele Leute bleiben verheiratet, obwohl sie nicht mehr zusammenleben. Das ist doch ohnehin das Einzige, das uns noch verbindet, oder? Wir leben zusammen. Nebeneinander. Wir existieren nebeneinanderher.«
Und dann teilten sich die Rauchschwaden. Kyle drehte sich um und ging hinaus. Sofort schrie sie hinter ihm her:
»Ja, prima, Kyle, genau das ist die Lösung, deine Lösung für alles: vor dem Problem davonlaufen!«
Er machte auf dem Absatz kehrt und stürmte zu ihr zurück, wobei er mich um ein Haar umwarf.
»Du bist es doch, die immer davonläuft!«, zischte er sie an. »Nach Dublin, deine Eltern besuchen? Du kannst die beiden nicht ausstehen, Lou. Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Ich weiß Bescheid.«
Ihre Kinnlade klappte herunter. Und jetzt sah ich es: Ihr ganzer Körper war von der Aura eines anderen Mannes umgeben. Im roten Strom ihrer Aura floss ein grüner Bach. Sie kannte ihren eigenen Mann nicht gut genug, um sich denken zu können, dass er bereits dahintergekommen war. Sie sah zu Boden.
»Was ist mit den Mädchen?«, fragte Kyle deutlich besonnener. »Wo werden sie leben?«
Alles hatte sie bereits durchdacht, nur das nicht. Ich sah, wie ihre Träume an den Klippen der Realität zerschellten. Lou und ihr Geliebter hatten nur darüber gesprochen, wie sie am Strand von Tralee eisgekühlten Chardonnay trinken und den endlosen Horizont bewundern würden. Über das Sorgerecht für die Kinder hatte sie nicht nachgedacht.
»Ich nehme sie mit.«
Kyle schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. Er hatte bereits eine Entscheidung getroffen. In den zwei Sekunden, in denen sie mit einer Antwort gezögert hatte. Er würde ausziehen. Dann konnten die Mädchen mit ihrer Mutter hier im Haus bleiben. Er dachte an Margot. Seine Aura zog sich kurzfristig in sein Innerstes zurück. Nur widerwillig sah er ein, dass es nur eine Möglichkeit gab. Er würde sie auch hierlassen müssen. Es war ihm ein gewisser Trost, dass sie und Karina sich so gut angefreundet hatten. Es würde ihnen allen Stabilität und Sicherheit geben, wenn sie hierblieben. Nur er wäre nicht mehr da.
Mir sank das Herz. Kyle rannte nach oben und suchte seinen Koffer. Dann fiel ihm ein, dass er gar keinen hatte. Wütend zerrte er Lous Schildkrötenpanzerkoffer unter dem Bett hervor. Stumm vor Trauer sah ich ihm dabei zu, wie er Anzüge und Hemden hineinwarf, ein paar Fachbücher, einige Fotos. Lange saß er neben Margots Bett, die zitternde Hand auf ihrer linken Brust, und betete aus tiefstem Herzen: Wenn es dich gibt, Gott, wenn du mich hören kannst, dann sorg dafür, dass es ihr gut gehen wird.
Mit jedem Wort wurde das sie umgebende Licht stärker.
Sie kamen überein, Kyles plötzliches Verschwinden vorerst als dringende Geschäftsreise zu deklarieren. Kate und Karina stellten keine Fragen – Lou schaffte zur Ablenkung einen Labradorwelpen an –, aber Margot zog sich zurück. Manchmal saß sie nachmittags stundenlang auf der untersten Treppenstufe im Flur und wartete. Nichts von dem, was ich veranstaltete, brachte sie auch nur zum Lächeln. Sie sah mich nicht einmal mehr an. Zuerst dachte ich, sie würde auf Kyle warten. Aber Kinder sind so viel klüger. Sie wartete darauf, dass jemand ihr sagte, dass er nicht wiederkommen würde.
Einige Zeit später fuhr Lou mit Karina, Kate und Margot bis nach Schottland, um Karina zur Uni in Edinburgh zu bringen, wo sie Geografie studieren wollte. Auf dem Rückweg machten sie einen Schlenker durch Nordengland und hielten schließlich vor einem großen, grauen Gebäude mitten in der Walachei. Es war das St.-Anthonys-Kinderheim, und als sie es wieder hinter sich ließen, hatten sie einen weiteren freien Platz im Auto. Lou und Kate saßen vorne, und Margot stand, einen Teddy unter den Arm geklemmt und eine kleine Reisetasche zu ihren Füßen, im Hof des Kinderheims. Ihr kleines Herz pochte.
»Papa«, sagte sie, als sie dem Auto nachsah. Ich blickte an dem grauen Gebäude hoch und schauderte. Ich konnte mich nur zu gut an diesen Ort erinnern.