– 18 –
BOTSCHAFTEN IM WASSER
Es stimmt wohl doch, was man so sagt: Man kann das Muttersein beim zweiten Mal besser genießen.
Oder vielleicht war ich dieses Mal ganz einfach bereit dafür. Ich weiß es nicht. Aber als ich jenes kleine Lichtkorn tief in ihr sah, beschwor ich sein Herz, mit seinen Morsezeichen zu beginnen und den zaghaften Lebensrhythmus aufzunehmen. Angsterfüllt beobachtete ich mindestens ein Dutzend Mal, wie Margots Körper jene sanfte Melodie eines neuen Lebens mit Viren, Giften, Hormonschwemmen ersticken wollte. Aber das Licht ließ sich nicht beirren. Es klammerte sich ans Leben wie an den Mast eines im Sturm sinkenden Schiffes.
Sie sagte es Toby. Gaia jubelte und sprang herum – ich hatte es ihr absichtlich noch nicht erzählt, weil ich so gerne ihre Reaktion sehen wollte –, und Toby trat einen Schritt zurück, sah die Enttäuschung in Margots Gesicht und hatte Mühe, seine Freude zu verbergen.
»Ein Baby? Oh, Mann. Das ist … ich meine, das ist doch toll, oder? Findest du nicht?«
Margot zuckte mit den Schultern und verschränkte die Arme. Toby zog sie an sich.
»Ist schon in Ordnung, Liebling. Wir müssen es nicht behalten, wenn du nicht willst …«
Sie schob ihn weg. »Ich hab’s gewusst. Du hast doch nie wirklich Kinder mit mir haben wollen.«
Eine Projektion ihrer eigenen Gefühle. Ich entfernte mich aus der grellen Sonne und hüllte mich in Schatten.
»Ich habe schon versucht, es loszuwerden«, seufzte sie. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie log. Sie wollte ihn auf die Probe stellen.
Tobys Miene verzog sich. Er schwieg. Er sah sie sehr ernst an. Hier ging das mit dem Erdrutsch los, dachte ich.
»Ist das wahr?«
»Hmhm. Ich … habe versucht, die Treppe runterzufallen. Hat nicht funktioniert.« Auch das war gelogen. Sie schlang die Arme um sich selbst.
Ärger und Erleichterung zeichneten sich auf Tobys Gesicht ab. Er schloss die Augen. Gaia legte die Arme um ihn und sagte: Sie muss wissen, dass du sie nicht verlässt.
Er ließ sie zum Fenster gehen. Mit schlaffen Armen stand er da. »Ich verlasse dich nicht, Margot. Schließlich ist das unser Baby.« Und dann, etwas weniger überzeugt: »Das ist unsere Ehe.«
Ganz vorsichtig ging er auf sie zu. Da sie nicht zurückwich, schlang er von hinten die Arme um sie und legte die Hände auf ihren Bauch.
»Das ist unser Baby«, wiederholte er leise, und sie lächelte, drehte sich ganz langsam zu ihm um und ließ seine Umarmung zu.
Während Margots Schwangerschaft erinnerte ich mich mit oft schmerzhafter Deutlichkeit an all die Dinge, die ich – zwischen Schamgefühl und freudiger Aufregung schwankend – getan hatte, um der Wirklichkeit aus dem Weg zu gehen. Ich schämte mich wegen des Marihuanas, das sie rauchte, während Toby bei der Arbeit war, ich schämte mich angesichts des Selbstbetrugs (Wenn ich mich entspanne, bekommt das Baby mehr Vitamine usw.). Ich schämte mich, wenn ich sah, wie die Wirkung der Drogen immer tiefer in sie eindrang, bis in das kleine, schwache Licht. Ich schämte mich der Gedanken, die sie hegte. (Vielleicht sollte ich wirklich mal versuchen, die Treppe runterzufallen, vielleicht habe ich ja Glück und verliere das Kind usw.) Und dann, nach und nach, wurde Margot immer aufgeregter. Und ich auch. Wir waren beide ganz aus dem Häuschen, als Theos Gesicht im Licht in Margots Bauch Schatten warf, als er zu Margots vollkommener Überraschung ein Füßchen gegen ihre Bauchdecke stemmte, als ihr schlagartig bewusst wurde, dass sich da tatsächlich ein Baby in ihrem Bauch befand. Dass das alles wirklich passierte. Daraufhin beschloss Margot, einen Spaziergang im Inwood Hill Park zu machen, um frische Luft zu schnappen und etwas anderes zu sehen. Das tat sie bald jeden Tag.
Ich erkannte die alte kastanienbraune Wohnungstür gegenüber wieder, von der sich von unten her die uralte Farbe in langen Streifen ablöste. Margot hatte beobachtet, dass Zeitungen und Milch geliefert wurden, daher war sie sicher, dass dort jemand wohnte. Hin und wieder brannte spät in der Nacht im Wohnzimmer Licht, doch am nächsten Morgen war es wieder aus. Die Vorhänge waren immer zugezogen. In einem Viertel wie diesem kochte jeder sein eigenes Süppchen. Margot zögerte. Ob sie mal nachsehen sollte? Ja, sagte ich. Sie sah auf ihren dicken Bauch hinunter. Ist schon in Ordnung, Kleines, sagte ich. Wird nicht wehtun. Na, los. Geh schon.
Die Tür stand einen Spalt offen. Trotzdem klopfte sie vorsichtshalber an. Keine Reaktion. »Hallo?«, rief sie. Sie öffnete die Tür ein bisschen weiter. An ihren Fingerspitzen haftete Staub. »Jemand zu Hause?«
Der Gestank haute sie fast um. Abfall, Feuchtigkeit und Exkremente. Sie japste und hielt sich die Hand vor Mund und Nase. Ich zögerte. Ja, ich wusste, wer hier wohnte, aber jetzt war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich diese Begegnung fördern sollte. Doch dann erreichte mich über das Wasser auf meinem Rücken eine Botschaft: Sie wird hier gebraucht. Schick sie rein.
Ehe Margot beschließen konnte, wieder zu gehen, hörte sie eine keuchende Stimme: »Wer ist da?«
Es war eine weibliche Stimme. Die Stimme einer sehr alten, sehr kranken Frau. Rose Workman. Ich rauschte an Margot vorbei in den dunklen, bereits vergessenen Raum zu der Gestalt auf dem Sofa. Ich wollte Roses Gesicht sehen, so zerknittert wie ein Stück Papier, das man zerknüllt und wieder glatt gestrichen hatte, die schweren Ringe an ihren langen schwarzen Fingern, die wie Münzen auf ihren Knöcheln balancierten und von denen jeder seine eigene Geschichte erzählte. Geschichten, die mich nie wieder loslassen würden.
Die Gestalt auf dem Sofa war nicht Rose Workman. Ein dicker weißer Mann mit nacktem Oberkörper schlug die Decke zurück und knurrte mich an. Er war ein Dämon. Ich wich überrascht und verwirrt zurück.
»Hallo? Wer ist denn da?« Roses Stimme kam aus der Küche. Dann das Klicken des Gehstocks, der ihren schlurfenden Schritt durch die dunkle Wohnung begleitete. Margot näherte sich ganz langsam.
»Hi«, sagte sie erleichtert und angewidert. »Ich bin Ihre Nachbarin. Wollte nur mal Guten Tag sagen.«
Rose hob ihre Brille und sah zu Margot hinauf. Sie lächelte sie so herzlich an, dass ihre Augen zu dunklen Schlitzen in den Tiefen ihres Gesichtes mutierten. »Na, kommen Sie rein, Kindchen. Besuch ist ja ziemlich selten.«
Margot folgte ihr in die Küche. Sie sah die nackten, feuchten Wände, die dicke Staubschicht auf dem versifften Esstisch, den nackten Fußboden. Als sie an dem alten Mann auf dem Sofa vorbeikam, schauderte sie. Sie wollte wieder gehen. Und ich auch.
Der Dämon rappelte sich auf und näherte sich mir. Ein weißer Fleischberg von hundertfünfzig Kilo. Stechende, finster dreinblickende Augen, nackter Oberkörper. Er baute sich über mir auf und knurrte, dann schubste er mich. »Du hast hier überhaupt nichts verloren«, bellte er. Ich platzierte meine Füße ganz fest auf dem Boden, behielt Margot und Rose in der Küche im Auge und sah mich suchend nach Roses Engel um. Der Dicke stürzte sich noch einmal auf mich, aber ich hob die Hand, und in ihr lag eine flammende Kanonenkugel.
»Wenn du mich noch einmal anfasst, mache ich Hackfleisch aus dir«, warnte ich ihn. Er zog die Augenbraue hoch und schnaubte. Geistreiche Repliken waren offenbar nicht seine Stärke. Er verzog das Gesicht und zeigte mit dem Finger auf mich.
»Halt dich aus meinen Angelegenheiten raus«, knurrte er. Dann ließ er sich wieder aufs Sofa fallen und zog die Decke über sich. Ich stolperte durch das Zimmer, völlig perplex von dieser Konfrontation, und versuchte, dahinterzukommen, wieso es hier einen Dämon gab, aber keinen Engel.
Etwas später kam Margot mit einem Teller voller Kekse in Aluminiumfolie aus der Küche. Rose hatte den Arm um Margots Schulter gelegt und erzählte ihr die Geschichte von dem Ring an ihrem linken Zeigefinger. Sie hatte mit ihrem ältesten Sohn zu tun, der im Krieg gefallen war. Sie gingen zur Wohnungstür.
»Tut mir leid, dass ich gehen muss«, bedauerte Margot später, »ich bin mit meinem Mann im Park verabredet. Aber wir sehen uns wieder.«
»Ganz sicher«, sagte Rose und winkte zum Abschied. Reichlich verwirrt folgte ich Margot. Kein Engel? Hatte Nan nicht gesagt, dass Gott keines seiner Kinder allein lässt?
Margot besuchte Rose schon am nächsten Tag wieder. Und am Tag darauf. Und am Tag darauf. Bis sie dreimal täglich rüberging. Damals liebte ich diese Besuche. Ich genoss die muntere Bestätigung einer Frau, die dreizehn Kinder zur Welt gebracht hatte und den Geburtsvorgang und die Mutterschaft – sehr zu meiner Freude – als etwas so Schönes und Positives, ja, als ein Geschenk schilderte, dass ich beides nicht mehr fürchtete wie den Vorhof zur Hölle. Und genauso, wie ich die Besuche damals liebte, graute es mir jetzt vor dem Anblick jener schäbigen Tür, vor den Drohungen und Spötteleien vom Sofa, vor den ständigen Angriffen.
Schließlich rief ich Nan. Sie hatte mich seit der Schlacht in Nevada nicht mehr besucht, und ich war davon ausgegangen, dass sich unsere Wege getrennt hatten. Aber ich vermisste sie. Und, was noch viel wichtiger war: Ich brauchte sie.
Ein paar Minuten später tauchte sie an meiner Seite auf. Ich begrüßte sie kleinlaut.
»Es tut mir leid, Nan«, hauchte ich. »Es tut mir so furchtbar leid.«
Sie gestikulierte, als würde sie meine Entschuldigung verscheuchen. Sie wusste immer sehr genau, was sie hören wollte und was nicht.
»Ist schon gut«, sagte sie und nahm mich in den Arm. »Ist ja dein erstes Mal als Engel. Du musst noch so viel lernen.«
Ich erklärte ihr die Sache mit Roses Dämon.
»Warum wurde Rose kein Engel zugeteilt?«, fragte ich. »Und wer ist das Walross auf Roses Sofa?«
Überrascht sah sie mich an. Wirklich überrascht. »Aber … hast du denn nicht … Margot ist Roses Engel.«
Wie bitte?
Sie lachte, doch als sie meinen Blick sah, wurde sie wieder ernst. »Du weißt doch, dass ein Mensch mehrere Schutzengel haben kann?«
Hmhm.
»Und du weißt auch, dass Roses Schutzengel neulich einem anderen Menschen zugeteilt wurde?«
Nö. Aber sprich weiter.
Sie seufzte. »Meine Liebe, du solltest wirklich mal anfangen, die da zu benutzen.« Sie tippte mir auf die Flügel. »Im Moment ist Margot Roses Engel.«
Ich fixierte sie. Da stimmte doch irgendwas nicht. Da fehlten mir doch irgendwelche Informationen. Margot war schließlich sterblich.
Nan zuckte mit den Schultern. »Na, und?«, sagte sie. »Nicht nur die Toten können Engel sein. Wozu bräuchte man denn sonst Eltern? Oder Freunde, Geschwister, Krankenschwestern, Ärzte …«
»Verstehe«, sagte ich, aber das war gelogen.
»Deine Aufgabe besteht darin, sie vor Ram zu schützen.«
»Dem Dämon?«
»Ja. Du hast wahrscheinlich schon bemerkt, dass er Rose ziemlich fest im Griff hat.«
Ich dachte nach. Mir war bereits aufgefallen, dass es ihm – aus welchem Grund auch immer – gelungen war, sich in Roses Leben breitzumachen wie ein Ehemann, den sie nicht verlassen konnte. Aber soweit ich das sehen konnte, führte er sie nicht großartig in Versuchung. Rose ging in die Kirche. Sie hatte keine Suchtprobleme. Sie hatte niemanden umgebracht. Sie brachte es nicht mal übers Herz, auf die Kakerlaken zu treten, die sich auf ihrem Küchenfußboden tummelten.
»Guck mal genauer hin«, riet Nan. »Dann siehst du, welch massiven Einfluss er auf Rose hat und wie eisern er sie im Griff hat.«
Es passierte an dem Tag, an dem Rose Margot die Geschichte von dem goldenen Sovereign-Ring an ihrem Ringfinger erzählte.
»Dieser Ring«, sagte sie und tippte nachdenklich darauf, »trat eines Nachmittags in mein Leben, als ich noch keine zwölf Jahre alt war. Ich war auf dem Bauernhof meines Vaters und habe im Obstgarten neben der Scheune Äpfel aufgesammelt. Es war so heiß, dass man mitten auf dem Feld einen Braten hätte schmoren können, jawohl. Selbst die Kühe kippten aus den Latschen, weil ihre Wasserfässer schon trocken wie Wüstensand waren, bevor die Viecher es überhaupt auf die Weide geschafft hatten. Ich wusste, dass ich das nicht hätte tun sollen, aber ich konnte nichts dagegen machen. Ich bin runter zum Bayou gegangen, habe mich nackt ausgezogen, gebetet und bin dann in das kühle schwarze Nass gestiegen. Sogar mit dem Kopf bin ich untergetaucht. Ich weiß es noch wie heute, wie das Wasser mir durch die Haare glitt und um die nackten Beine strich … Wenn ich so lange die Luft hätte anhalten können, wäre ich den ganzen Nachmittag da unten geblieben. Aber dann musste ich sowieso schon länger als ich vorgehabt hatte, die Luft anhalten. Zuerst dachte ich, das Ziehen käme von der Strömung, die mich flussabwärts treiben wollte. Und dann wurde es ganz warm um mein Fußgelenk, immer wärmer, bis es regelrecht brannte und ich quietschte wie ein Schwein zu Weihnachten. Als ich die Augen aufmachte, sah das Blut aus wie Feuer. Durch die Blasen und das Blut hindurch sah ich einen langen Schwanz. Ein Alligator, so lang wie ein Pickup-Truck. Ich erinnerte mich daran, dass mein Daddy mir mal erzählt hatte, ihr wunder Punkt seien die Augen, darum lehnte ich mich zu ihm hinunter und bohrte ihm meinen Daumen ins Auge. Er ließ mich ganz kurz los, und ich fing sofort an zu treten und an die Oberfläche zu schwimmen, wo ich nach Luft schnappte. Aber dann erwischte der Alligator mein anderes Bein, und dieses Mal zog er mich unter Wasser und drehte sich mit mir um die eigene Achse. Ich war so lange unter Wasser, dass ich dachte, noch eine Sekunde länger, und ich bin bei Jesus. Und in dem Moment zog mich ein Mann aus dem Wasser in die brütende Hitze, in die Hitze eines neuen Lebens. Von ihm habe ich diesen Ring bekommen.«
Wer weiß schon, ob diese Geschichten überhaupt wahr waren? Aber jedes Mal, wenn Rose sie erzählte, strahlte das Licht um sie herum so hell, dass Ram vom Sofa rutschte und sich knurrend zur Hintertür verzog wie ein Bär mit Kopfschmerzen.
»Mein erster Mann«, sagte Rose und lächelte ein spinnengewebeverhangenes Foto von einem gutaussehenden Mann an, das an der Wand hing, »er hat mir gesagt, hör nie auf, deine Geschichten zu erzählen, erzähl sie der ganzen Welt. Er hat mir einen teuren Füller und in Leder gebundene Notizbücher geschenkt, und er hat dafür gesorgt, dass ich sie alle aufgeschrieben habe. Und damit habe ich nie aufgehört.«
»Und wo sind diese Notizbücher jetzt?«, fragte Margot.
Rose winkte ab. »Nein, nein. Die grabe ich jetzt nicht aus. Viel zu viele!«
Margot hob ein sauberes Notizbuch mit hartem Einband vom Boden auf. »Ist das dein neuestes?«
Rose hielt ihre krummen Finger hoch. »Ja, aber ich habe solche Schmerzen in der Hand. Kann nicht mehr schreiben.«
Margot fing an, laut vorzulesen. Während sie las, öffneten sich fächerartig immer neue Parallelwelten aus Roses Aura heraus – bis der ganze Raum voll davon war. Auf einer riesigen Bildermontage sah ich Rose als Kind, wie sie von ihren Eltern, die eine Pension in Louisiana betrieben, herbeigerufen wurde, auf dass sie den Gästen Geschichten erzähle, als junge Mutter, die neben dem Kinderbettchen sitzend Erzählungen aufschrieb, und schließlich als die Rose von heute, nur dünner und gesünder, wie sie unter den markanten Fenstern der Bibliothek der Columbia University sitzt, umringt von Männern in dunklen Anzügen und Frauen in feinen Kleidern, und lächelt, als solle sie fotografiert werden, und wie ihr dann eine Urkunde überreicht wird. Ich kniff die Augen zusammen, um den Text entziffern zu können, und staunte nicht schlecht: der Pulitzer-Preis für Romane.
Dann riss die Vision ab und ging über in eine Nahaufnahme derselben Urkunde, die gerahmt in Roses Wohnzimmer an der Wand hing – es war aber nicht das Wohnzimmer, in dem sie jetzt saß. In der Vision war es dreimal so groß, es gab einen marmornen Kamin, Teppichboden und Elfenbein, und vor den Erkerfenstern hingen Satingardinen. Eine Hausangestellte wischte die endlose Reihe goldgerahmter Fotos von Roses geliebten Söhnen und Enkelkindern ab. Was mir dabei am meisten an die Nieren ging, waren die Anlässe der Aufnahmen: ihre Söhne bei der Abifeier, beim Militär, bei Präsident Reagan. Soweit ich weiß, hat keines ihrer Kinder je Abitur gemacht.
Die Vision verschwand, und ich stand verwirrt und atemlos da, bis ich bemerkte, dass Ram wieder da war.
Margot blätterte durch Roses Notizbuch. »Das ist unglaublich«, sagte sie. »Wieso hast du das nie veröffentlicht?«
Ram, der neben Rose saß, nahm zärtlich ihre Hand.
»Du hast nicht genug Talent, Rosie.«
Rose wiederholte kopfschüttelnd das Gesagte. »Ich habe nicht genug Talent, mein Kind.«
»Bücher sind nur was für die Reichen, aber nicht für dich.«
Rose, wie ein Roboter: »Bücher sind nur was für die Reichen, nicht für solche wie mich.«
»So ein Quatsch«, mischte Margot sich ein. Ram sah sie böse an. »Das hier ist wunderschön. Du schreibst ganz phantastisch.«
Ram wurde lauter. »Geld interessiert dich nicht. Geld macht aus guten Menschen schlechte Menschen.«
Roses Ausdruck verfinsterte sich. Sie wiederholte, was Ram gesagt hatte.
Margot sah sie verwirrt an. »Tut mir leid, dass du das so siehst«, sagte sie leise. Und dann hatte sie eine Idee, mit der ich nicht das Geringste zu tun hatte. »Darf ich deine Notizbücher mitnehmen und sie meinem Mann zeigen? Er schreibt auch.«
Ram erhob sich. Er riss das stinkende Maul auf und bellte Margot an. Rose hielt sich die Ohren zu, als hätte sie einen Anfall. Margot streckte die Hand nach ihr aus.
»Was ist denn los, Rose?«
Rose wimmerte. »Geh einfach. Bitte.«
Margot wollte ihre Hand nehmen, aber Rose zog sie zurück, schlug die Hände vors Gesicht und weinte.
Margot ging einen Schritt in Richtung Tür. Ram sah zu dem alten Holzventilator hinauf, der direkt über ihr hing. Ich tat einen Schritt nach vorn. »Untersteh dich«, sagte ich. Er grinste süffisant, sprang hoch und zerrte an dem Ventilator. Schnell!, rief ich Margot zu, dann warf ich mich auf Rams Schwabbelbauch und brachte ihn zu Fall. Der Staub von bröselndem Gips rieselte zu Boden. Rose heulte. Margot schnappte sich das Notizbuch von Roses Schoß und türmte. Ram rappelte sich auf und funkelte mich böse mit aufgeblähten Nasenflügeln an. Er beugte die Knie und wollte mich gerade angreifen, als das Wasser auf meinem Rücken sich ohne jede Vorwarnung in Feuer verwandelte. Ram klappte die Kinnlade herunter, dann kauerte er sich zusammen, und schließlich versteckte er sich wie eine Kakerlake in dem Bilderrahmen, aus dem Roses erster Mann lächelte.
Und dann passierte etwas, das ich nicht verstand. Rose stellte sich direkt vor mich, ganz ruhig, und lächelte. Sie sah mich direkt an.
»Ich bin bereit«, sagte sie. »Erlöse mich von diesem Mann. Bring mich nach Hause.«
Sie streckte die Hand aus, und ich ergriff sie. Ich spürte, wie sie in mich hinein und durch meine Flügel ging, und dann war sie weg.
Ich verbrachte die Nacht in Roses Wohnung, ging unruhig auf und ab, betrachtete die Fotos, die ihr so viel bedeutet hatten, weinte angesichts der leeren Küchenregale, der zahmen Ratten unter ihrem Bett, des schmutzigen Wassers, das aus dem uralten Hahn sprotzte. Ich versuchte, dahinterzukommen, warum sie ausgerechnet hier gewohnt hatte, warum sie es zugelassen hatte, dass ein Dämon derartig von ihr Besitz nahm. Warum sie nicht das Leben gelebt hatte, das für sie vorgesehen gewesen war. Vergeblich.
Ich tat, was zu tun war. Als Margot am folgenden Tag in die Wohnung kam und Rose zusammengerollt und tot auf dem Sofa vorfand, als sie sich auf dem Boden die Augen aus dem Kopf heulte, schlang ich die Arme um sie, flüsterte ihr zu, sie solle jetzt stark sein, beruhigte sie und erinnerte sie an die Notizbücher. Margot rief den Krankenwagen, dann ging sie in Roses Schlafzimmer und öffnete den Schrank. Darin fand sie keine Kleider, sondern Dutzende von Notizbüchern, die Rose mit ihrer Handschrift gefüllt hatte. Sie packte alle Bücher in mehrere Koffer und bat Toby, ihr dabei zu helfen, sie rüber in die eigene Wohnung zu bringen, bevor der Krankenwagen kam.
Einige Zeit später rief Tobys Verleger an. Er zeigte Interesse an Roses Notizbüchern, die allerdings noch gründlicher Redaktion bedürften, wofür er leider keine Zeit habe. Ob Margot am nächsten Tag vorbeikommen könne? Sie sah auf den kleinen Planeten hinunter, der sich aus ihrem Bauch wölbte, und hoffte inständig, das Baby möge noch eine Weile drinbleiben. Ja, sagte sie. Ja, ich habe Zeit.
An dieser Stelle sollte ich vielleicht erwähnen, dass sich damit ein lang gehegter Traum erfüllte. Ein Traum, der über lange Zeit wie ein Geheimnis, das ich niemandem verraten durfte, in mir herangewachsen war, fast wie das Baby. Ich hatte nie eine konkrete Vorstellung davon, was ich mal werden wollte, wenn ich erwachsen war – wahrscheinlich war ich mir einfach nie sicher gewesen, wann ich offiziell erwachsen sein würde. Aber jetzt, nachdem ich so viele von Irinas und Grahams Büchern verschlungen hatte, so viele Stunden damit zugebracht hatte, Tobys Romane auseinanderzunehmen, um zum Kern der Geschichte vorzudringen, zur eigentlichen Blüte in der Knospe, jetzt wusste ich ganz genau, was ich machen wollte.
Ist es nicht kurios, dass ich in meinen Traumjob quasi hineingestolpert bin? Ich hatte ihn nicht einmal gesehen. Zumindest damals nicht. An jenem Morgen spazierte ich zuversichtlich und zielstrebig neben Margot her. Süße, sagte ich, wenn ich mein Leben noch mal von vorne leben könnte, dann wäre diese eine Sache etwas, das ich nicht anders machen würde. Endlich entwickelten sich die Dinge so, wie sie sollten.
Der Verlag befand sich über dem berühmten Feinkostladen an der Fifth Avenue – dem, den Margot einige Jahre zuvor so eindrücklich entweiht hatte. Sie hielt sich etwas vors Gesicht, als sie am Ladenbesitzer vorbeikam, dann gingen wir zu Fuß hoch bis in den dritten Stock.
Hugo Benet, Geschäftsführer von Benet Books und der Mann mit den weißesten, geradesten und größten Zähnen, die ich je gesehen hatte, war ein altgedienter Verleger. Trotz aller Bemühungen war es ihm in all den Jahren, die er fern seiner Heimat Toronto verbracht hatte, nicht gelungen, eine vernünftige Assistentin zu finden. Die Notizbücher seien ein höchst interessanter Fund, erklärte er Margot. Sie würden die ersten Bände veröffentlichen, sobald sie redigiert worden seien. Ob sie daran interessiert sei, das zu übernehmen?
Sie war sich nicht sicher.
Selbstverständlich bist du interessiert, sagte ich.
»Selbstverständlich bin ich interessiert«, sagte sie und spürte im selben Moment das Fruchtwasser, das ihr langsam am Oberschenkel hinablief, dann einen krampfartigen Schmerz im Bauch. Sie unterdrückte einen Schrei.