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DIE FEHLENDE UNTERSCHRIFT

Zu meiner uneingeschränkten Freude gab es jedoch ein Problem bei der Durchführung des Plans.

Margot hatte nämlich die Scheidungspapiere nie unterschrieben. Weder sie noch Toby wussten überhaupt, wo diese Papiere sich befanden. Ihre Trennung war jetzt schon so lange her, dass sie sich mit dem recht bequemen Beziehungsstatus arrangiert hatten, der nichts mit dem hässlichen Wort »Scheidung« zu tun hatte, gleichzeitig aber einer Ehe so sehr ähnelte wie eine Maus einer Mango.

Sie flog nach New York, um mit Toby darüber zu reden – ausgerechnet zu Theos achtzehntem Geburtstag. Sie erzählte Theo und Toby, sie wolle Theos Schritt in die Volljährigkeit mit ihnen feiern, deshalb sei sie so unverhofft gekommen. Aber Toby wusste Bescheid. Er kannte seine zukünftige Exfrau wie die Straßen von Manhattan. Und manchmal mangelte es ihr nun mal an Feingefühl. Der Klunker an ihrem Ringfinger war kastaniengroß.

»Schöner Ring«, waren seine ersten Worte am Flughafen.

»Der Flug war okay, danke. Ich habe einen besseren Platz gekriegt.«

Schweigend liefen sie nebeneinander her zum Parkplatz. Toby schloss seinen alten Chevy auf. Sie stiegen ein. Beim vierten Versuch sprang der Motor endlich an.

»Herrjemine, Toby, meinst du nicht, dass du dir mal ein neues Auto anschaffen solltest? Ich meine – wie alt ist das Teil jetzt?«

»Ich werde mich nie und nimmer von diesem Auto trennen. Ich werde mich darin begraben lassen, dass du es nur weißt.«

»Das ist der Wagen, mit dem wir nach Las Vegas gefahren sind, oder?«

»Um zu heiraten.«

»Ja. Um zu heiraten.«

In der Wohnung angekommen, hatte Toby plötzlich alle Hände voll damit zu tun, Kaffee zu kochen. Jeder der Anwesenden musste unbedingt eine Tasse mit einem Heißgetränk in der Hand haben, und diese Tassen mussten erst einmal dringend gründlich gespült werden … Das alles war nichts anderes als eine Übersprunghandlung, die von der Monstrosität des ihnen bevorstehenden Gesprächsthemas ablenken sollte: ihrer Scheidung.

Margot durchschaute das sehr wohl, und es stimmte sie traurig. Sie hatte gehofft, dass er tapferer sein würde. Aber ich wusste, wenn er sich gleichgültig gegeben hätte, hätte sie geweint wie ein Baby. Tatsache war, dass die beiden die ganzen letzten Jahre immer noch aufeinander reagiert hatten. Jetzt war es an der Zeit, ruhig und neutral zu bleiben. Und das würde nicht leicht werden.

»Ich heirate«, sagte sie schließlich.

»Verstehe«, antwortete Toby in seinen Kaffee. »Wann?«

»Sobald du und ich … du weißt schon.«

»Was?«

»… die Sache mit dem großen S hinter uns gebracht haben.«

»Hast du die Papiere denn nicht unterschrieben?«

»Nein.«

»Ach? Und warum nicht?«

»Toby …«

»Nein, im Ernst, ich möchte das wirklich gerne wissen.«

»Ich weiß es nicht. Okay?«

Schweigen. »Wer ist es?«

»Wer?«

Toby lachte. Wieder in seinen Kaffee. »Der Kerl. Mr. Delacroix.«

»Kit. Auch bekannt als K. P. Lanes.«

»Aha. Ein Klient. Ist das nicht illegal?«

»Nein, Toby. Ansonsten wären wir beide nämlich genau genommen reif fürs Gefängnis.«

»Ach ja. Weil wir noch verheiratet sind.«

»Ja. Wir sind noch verheiratet.«

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Es waren acht Monate vergangen, seit sie Theo das letzte Mal gesehen hatte. Acht Monate entsprechen bei einem Teenager in etwa den Entwicklungsschüben, die Kleinkinder durchmachen: Theo war aus seinem kleinen, drahtigen Körper herausgewachsen und hatte sich in einen großen, breitschultrigen Fußballspieler verwandelt. Toby und sein Sohn sahen sich mit einem Mal überhaupt nicht mehr ähnlich, und man hätte mit Fug und Recht einen Vaterschaftstest verlangen können. Man stelle sich die beiden mal nebeneinander vor: der feingliedrige Toby mit den sanften Gesichtszügen, den dünnen, goldblonden Haaren, schmalen, femininen Händen und seiner rechteckigen Metallbrille auf der schmalen Römernase; daneben Theo, der sich in den Türen duckte, um sich nicht den Kopf anzustoßen, mit seiner dicken, das Gesicht dominierenden Knollennase. Seine Stimme war (dank seiner Begeisterung fürs Haschrauchen) ungewöhnlich tief, und sein Kinn stand im rechten Winkel von seinem Kieferknochen ab bis zu dem Punkt, wo sich unter seinem Mund gerade ein Pickel bildete. Seine Haare waren lang und standen ihm in einem ungepflegten, knallroten Irokesenschnitt zu Berge. Seine Klamotten – allesamt schwarz – hingen schlaff an ihm herunter. Selbst seine Schuhe.

»Hallo, Mom«, sagte er, als Margot um drei Uhr nachmittags an seine Zimmertür klopfte und ihn im Bett vorfand. Es dauerte ein, zwei Minuten, bis sie seine Veränderung erfasste – wie er in die Höhe geschossen war, wie sein halbnackter Körper plötzlich eine Hügellandschaft aus Bizeps und Trizeps war. In der Zimmerecke sah sie eine Hantelbank stehen. Er setzte sich auf und holte eine Flasche Wodka unter dem Bett hervor. Bevor er sie ansetzte, legte er kurz den Finger auf die Lippen und machte: »Pssst. Nicht Dad verraten.«

Ich beobachtete sie dabei, wie sie ihm gerade den Kopf waschen wollte – und es dann doch ließ. Was sollte sie ihm schon sagen?

Also sagte sie einfach nur: »Hallo, Theo.« Und sonst nichts.

Tobys Anwalt brauchte eine ganze Woche, um neue Scheidungspapiere zu erstellen. Ich beobachtete Toby vom Wohnungsfenster aus, wie er mit dem Umschlag unter dem Arm nach Hause kam. Seine Aura war gedämpft und grau, seine schon immer zerbrechlichen Knochen geschwächt. Aus der Entfernung sah er deutlich älter aus als vierundvierzig. Stand man direkt vor ihm, waren seine Augen aber immer noch die gleichen.

Er stellte Margot gegenüber einen Stuhl auf und las alles vor. Margot spielte mit ihrem Verlobungsring.

»Na, dann wollen wir mal sehen«, sagte Toby und tat, als müsse er erst die Stelle finden, an der er unterschreiben musste – obwohl sein Anwalt diese deutlich mit einem großen X markiert hatte. »Ah, da.«

Margot sah ihm zu. Sie sagte nichts, weil sie Angst hatte, es ihm nur noch schwerer zu machen, als es ohnehin schon für ihn war. Sie glaubte im Großen und Ganzen, Tobys Zögern hinge mit seiner Unfähigkeit zusammen, sich von der Vergangenheit zu lösen. Der Chevy, seine alten Schuhe, selbst die Art der Bücher, die er schrieb … Das waren alles Anker, mit denen er sich an den glücklichsten Jahren seines Lebens festhielt. Während ihr das so durch den Kopf ging, rief ich ihr in Erinnerung: Margot, meine Liebe, du bist doch auch nicht besser. Du hast es auch nicht geschafft, der Vergangenheit zu entkommen. Noch nicht.

Toby drückte den Stift aufs Papier. Er schnalzte mit der Zunge und starrte an die Wand. »Es gibt da eine Sache, die ich wirklich gerne mal klargestellt haben möchte«, sagte er. Es folgte eine lange Pause.

Margot wusste sofort, dass er von Sonya sprach. Das Thema jetzt zu erörtern würde weniger bringen, als ihm die Absolution zu erteilen, die er wollte.

Schließlich half sie ihm aus.

»Ich weiß, dass du nicht mit Son geschlafen hast.«

Er ließ den Stift auf den Tisch fallen. »Was?«

»Sie hat es mir selbst gesagt«, erklärte Margot sanft.

»Ja, aber – warum denn dann …?«

»Ich weiß es nicht, Toby. Also frag nicht.«

Er stand auf, vergrub die Hände in den Taschen und fing an, auf und ab zu gehen. Dann endlich sprach er flüsternd aus, was sie beide wussten: »Wir hätten das hier schon vor Jahren tun sollen, was?«

»Ja. Hätten wir.«

Er sah auf die Papiere. »Du unterschreibst zuerst. Dann unterschreibe ich und bringe alles zum Anwalt. Und dann ist es überstanden.«

»Okay.« Jetzt war Margot dran. Sie nahm den Stift und betrachtete die auf ihre Unterschrift wartende Linie. Ja, was denn? Hast du etwa geglaubt, dass es leicht sein würde?, fragte ich.

Sie legte den Stift hin. »Das kann warten. Lass uns erst mal mittagessen gehen.«

Sie gingen zu ihrem ehemaligen Stammlokal im East Village und setzten sich draußen an einen Tisch neben einer ganzen Horde lärmender Touristen. Gut. So konnten sie darüber reden, wie heiß es war, wie die Jahreszeiten immer mehr durcheinandergerieten und ob einer von ihnen wohl die Reportage über die Erderwärmung gesehen habe, in der gezeigt wurde, dass die Welt im zweiundzwanzigsten Jahrhundert komplett überschwemmt sein würde? Immer wieder schoben sie sich gegenseitig neue Smalltalk-Themen zu, die sie von ihrem schlechten Gewissen ablenkten. Sie sprachen über Tobys nächstes Buch. Über ihre Wurzelbehandlung. Über gemeinsame Nenner.

Vergessen waren die Scheidungspapiere.

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James kam, um mich zu holen. Es war dunkel. Ich hatte bereits Polizeisirenen vorbeibrausen hören. James war völlig außer Atem, die Augen sahen aus, als würden sie gleich aus ihren Höhlen springen.

»Was ist passiert?«, fragte ich, und er fing an zu weinen.

Theo hatte jemanden umgebracht.

Er hatte ihm ein Messer in den Nacken gerammt und ihn dann so brutal verprügelt, dass er in seinem eigenen Blut ertrunken war. Außerdem hatte Theo ihm während der Prügelei zwei Kugeln ins Bein geschossen.

»Wieso hat er das getan?«, rief ich. Noch bevor James antworten konnte, platzte Theo zur Wohnungstür herein. So laut, dass Toby und Margot aufwachten und aus ihren Schlafzimmern gelaufen kamen. Als sie Theo sahen, dachten sie natürlich sofort, das Blut, das ihm von den Händen, aus den Haaren und von den Klamotten tropfte, sei seins. Was es zum Teil auch war. Er hatte sich die Nase gebrochen und eine tiefe Stichwunde in der Hüfte. Der Rest war das Blut des toten Jungen.

Margot rannte ins Bad, um Handtücher und Verbandszeug zu holen. »Ruf den Notarzt!«

Toby suchte erst hektisch das schnurlose Festnetztelefon, zückte dann aber sein Handy und tippte die Notrufnummer.

Gerade als Toby durchgekommen war und seine Adresse angeben wollte, ertönte von der anderen Seite der Tür eine Stimme: »Aufmachen! Polizei!«

Toby öffnete die Tür und wurde sofort gegen die Wand gedrückt und mit Handschellen gefesselt. Theo und Margot passierte das Gleiche.

Und während all das geschah, schrie Theo immer wieder: »Er hat sie vergewaltigt! Er hat sie vergewaltigt!«