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DIE AUSSERIRDISCHE EFFEKTBRILLE
Insgesamt verbrachte ich dann etwa ein halbes Jahr auf der Kinderstation des Ulster Hospital – das weiß ich, weil Margot sich ohne Hilfe aufsetzen konnte, als sie entlassen wurde. Ich ging die langen Flure auf und ab und behielt die Türen im Auge, hinter denen Margot untersucht wurde, die kleine, gelbsüchtige Margot, in ihrem Brutkasten, umgeben von Schläuchen.
Dr. Edwards, der für Margot zuständige pädiatrische Kardiologe, ging mehr als nur einmal davon aus, dass sie die Nacht nicht überleben würde. Und mehr als nur einmal steckte ich meine Hand durch die Löcher des Brutkastens, legte sie Margot links, über dem Herzen, auf die Brust und holte sie so zurück ins Leben.
Ich muss gestehen, dass mir der Gedanke kam, sie einfach sterben zu lassen. Bei allem, was ich über Margots Kindheit wusste, war mir ja klar, dass die kommenden Jahre kein Zuckerschlecken werden würden. Aber dann erinnerte ich mich auch an die guten Zeiten. Daran, wie ich morgens mit Toby auf unserem baufälligen Balkon in New York Kaffee getrunken hatte. Daran, wie ich am Strand bei Sydney schlechte Lyrik verfasst hatte. Daran, wie ich mich dann endlich selbstständig gemacht hatte, indem ich K. P. Lanes unter Vertrag nahm. Und dann dachte ich: Okay, Kleines, wir halten durch. Wir überleben.
Während dieser Zeit im Krankenhaus erkannte ich verschiedene Dinge.
Erstens: Margot zu beobachten, zu beschützen, alles haarklein aufzuzeichnen und sie zu lieben bedeutete, dass ich im Prinzip nicht von ihrer Seite weichen durfte. Einzweimal dachte ich, ich könnte mir doch mal ein bisschen die Gegend ansehen, Sie wissen schon, auf Entdeckungstour gehen, einen Kurzurlaub in der Sonne einlegen. Aber ich schaffte es kaum, auch nur das Gebäude zu verlassen. Ich war an sie gebunden, und zwar nicht nur, weil sie ich war. Ich empfand ein Pflichtbewusstsein wie nie zuvor in meinem Leben – stärker gar als damals als Ehefrau und Mutter.
Zweitens: Meine visuelle Wahrnehmung hatte sich verändert. Zuerst dachte ich, ich würde erblinden. Aber dann war auf einmal wieder alles so, wie es immer war: Ein Wasserkocher war ein Wasserkocher, ein Klavier war aus Holz und hatte weiße und schwarze Tasten usw.
Immer häufiger jedoch sah ich die Welt wie durch eine Art außerirdische Effektbrille. Dr. Edwards war mal ein Cary-Grant-Doppelgänger, dann auf einmal eine neonfarbene Schaufensterpuppe, umgeben von psychedelischen Lichtstreifen, die aus seinem Herzen austraten und sich um seinen Kopf, seine Arme, seine Taille (sah aus wie Hula-Hoop-Reifen) und schließlich seine Fußgelenke wanden. Irgendwie wie Infrarot, aber doch tausend Mal seltsamer. Aber das war nicht die einzige Veränderung meiner visuellen Wahrnehmung: Manchmal sah ich parallele Zeitrahmen (hierzu gleich mehr), und manchmal hatte ich Röntgenaugen und konnte sehen, was im Zimmer nebenan vor sich ging. Ich sah Dinge wie durch eine riesige Lupe. Einmal sah ich Dr. Edwards’ Lungen, in denen sich dank seiner Leidenschaft für Zigarren dicke schwarze Teerklumpen befanden. Das Verrückteste war aber, als ich Schwester Harrison wenige Stunden nach der Empfängnis in den Bauch guckte und sah, wie der werdende Embryo einem deformierten Pingpongball gleich durch den Eileiter rollte, bis er endlich in den samtigen Tiefen der Gebärmutter landete und in sie hineinplumpste wie ein Stein in einen Teich. Ich war so fasziniert von diesem Schauspiel, dass ich Schwester Harrison bis auf den Krankenhausparkplatz folgte, von dem ich dann unsanft in das triste Krankenzimmer zurückgeschleudert wurde, in dem Margot laut schrie.
Drittens, das Wichtigste von allem: Ich habe überhaupt kein Zeitgefühl. Ich folge keinem Rhythmus, habe keine Ahnung, wann Nacht oder wann Weihnachten ist. Es ist so: Ich sehe die Zeit zwar, aber eine Uhr hat für mich jede Bedeutung verloren. Versuchen Sie mal, es sich so vorzustellen: Wenn Sie Regen sehen, sehen Sie unzählige kleine, silbrige Wassertropfen, richtig? Manchmal in Form eines dicken Vorhangs, der über das Fenster läuft. Wenn ich Regen sehe, sehe ich Milliarden von Wasserstoffatomen, die sich an ihre Sauerstoffnachbarn klammern. Das sieht fast aus wie kleine weiße Teller, die auf einer Küchenarbeitsplatte um graue Knöpfe kreisen. Mit der Zeit ist es ähnlich.
Für mich stellt Zeit sich als eine Galerie aus Atomen, Wurmlöchern und Lichtpartikeln dar. Ich gleite durch die Zeit, wie andere sich ein T-Shirt überstreifen oder auf den Aufzugknopf drücken und sich auf einmal im fünfundzwanzigsten Stock befinden. Ich sehe ständig und überall, wie sich parallele Zeitrahmen öffnen und Geschehnisse in der Vergangenheit oder Zukunft preisgeben, als handele es sich dabei um Dinge, die gerade an der nächsten Straßenecke vor sich gingen.
Ich existiere nicht in der Zeit. Ich besuche sie nur.
Natürlich bedeutet dies eine nicht ganz unbedeutende Hürde hinsichtlich meines Plans. Wenn ich keinerlei Einfluss auf die Zeit habe, wie soll ich dann, bitte schön, auf Margots Leben Einfluss nehmen und es ändern?
Ich verbrachte meine gesamte Dienstzeit im Krankenhaus damit, darüber nachzudenken, wie ich auf Margot selbst Einfluss nehmen und ihre Persönlichkeit ändern könnte. Ich könnte ihr die richtigen Lösungen ihrer Klassenarbeiten zuflüstern, ich könnte sie anschreien, sie solle sich von stärkereichen Lebensmitteln und Zucker fernhalten, und ihr vielleicht ein natürliches Bedürfnis, sich sportlich zu betätigen, implantieren. Und dann könnte ich ihr den richtigen Umgang mit Geld vermitteln. Das war sowieso das Entscheidende. Warum? Glauben Sie mir, Armut bedeutet nicht nur Hunger. Armut bedeutet, dass eine Chance auf ein besseres Leben nach der anderen sich vor Ihren Augen in Luft auflöst.
Ich sagte mir, vielleicht war das der Grund dafür, dass ich als mein eigener Schutzengel zurückgekehrt war: nicht nur, um das große komplette Puzzlebild zu sehen, wie Nan es beschrieben hatte, sondern um einige der Teile ganz leicht zu verändern, damit ein anderes Bild entsteht, um Entscheidungsfreiheit wieder zu einem Teil des Hauptrahmens zu machen. So wie ich das sah, spielte Geld beim Erreichen dieses Ziels eine sehr große Rolle.
Sagen wir, Sie haben Ihr ganzes Leben und bis in Ihren Tod hinein zutiefst bereut, dass Sie nie in eine Immobilie investiert haben, als die Preise kurzfristig im Keller waren und es damit selbst einer verkrachten Existenz wie Margot möglich gewesen wäre, einen Kredit aufzunehmen, einen riesigen Freizeitkomplex zu bauen und über Nacht zum Multimillionär zu avancieren. Wie würde es Ihnen damit gehen? Denn genau das ist ja passiert. Nur nicht Margot.