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BLINDES VERTRAUEN
In meiner Version meines Lebens war ich zu diesem Zeitpunkt in Sydney gewesen. Ich hatte den achtzehnten Geburtstag meines Sohnes pflichtschuldigst mit einem Telefonanruf und einer Überweisung gewürdigt und den Rest des Tages damit verbracht, Kits neues Manuskript zu lesen. Ich war gerade mitten in einer Besprechung mit einem Klienten gewesen, als Toby anrief, um von Theos Festnahme zu berichten. Aus irgendeinem Grund hatte ich das alles heruntergespielt. Als ich ein paar Tage später in New York gelandet war, las ich fassungslos verschiedene Artikel über den Mord in den Zeitungen – illustriert mit einem Verbrecherfoto von Theo. Und wie immer glaubte ich damals, das sei alles Tobys Schuld gewesen.
Gaia und ich bedrängten James, uns zu berichten, was passiert war. Doch statt es uns zu erzählen, breitete er seine Flügel bis hoch über seinen Kopf aus, bis eine kleine Wasserblase in der Luft hing. Und in dieser Blase spiegelte sich Folgendes:
Theo auf dem Weg nach Hause von seiner Geburtstagsfeier in einer Bar im Zentrum – bekifft und betrunken. Er trägt schmutzige Jeans, ein blutverschmiertes T-Shirt und hat sich bei einem Kampf um ein Mädchen in der Bar ein fettes blaues Auge eingehandelt. Direkt neben einer Seitengasse bleibt er kurz stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Er hört Stimmen. Einen Streit. Ein weinendes Mädchen. Einen zischenden, fluchenden Kerl. Dann eine Ohrfeige. Einen Schrei. Noch eine Ohrfeige, eine Drohung. Theo strafft die Schultern, sichtbar ernüchtert. Er geht in die Gasse. Er sieht ganz deutlich, wie sich ein Typ über ein Mädchen beugt und seine Hüfte gegen ihre rammt. Den Bruchteil einer Sekunde überlegt Theo, wegzugehen. Er will sich nicht einmischen. Dann ein Schrei. Als Theo wieder hinsieht, hebt der Typ gerade die Faust und schlägt sie dem Mädchen ins Gesicht.
»Hey!«, ruft Theo.
Der Typ sieht auf. Tritt einen Schritt zurück.
Das Mädchen fällt zu Boden und wimmert. Zieht die Knie an die Brust.
»Was machst du denn da, Alter?«, ruft Theo und bewegt sich auf den Kerl zu.
Der Kerl – blond, etwas älter als Theo, in stonewashed Jeans und weißer Jacke mit NYU-Aufdruck – macht den Reißverschluss seiner Hose zu und wartet, bis Theo etwa einen halben Meter von ihm entfernt ist. Dann holt er eine Knarre aus der Tasche. Theo hält die Hände hoch und weicht einen Schritt zurück.
»Mannmannmann, was geht ab, Alter?«
Der Typ richtet die Waffe direkt auf Theos Gesicht. »Verpiss dich, oder ich schieß dir ein Loch in die Fresse.«
Theo sieht nach dem Mädchen auf dem Boden. Ihr Gesicht ist geschwollen und blutet. Zu ihren Füßen bildet sich eine Blutlache.
»Warum tust du dem Mädchen das an, he?«
»Geht dich gar nichts an. Und jetzt sei ein braver Junge und hau ab, sonst verpass ich dir ’ne Kugel zwischen die Augen.«
Theo beißt die Zähne aufeinander und betrachtet wieder das Mädchen. »Nee, Alter. Tut mir leid.«
»Wie bitte? Was tut dir leid?«
Theo sieht ihn an. In seinem Kopf läuft ein Film mit Bildern aus dem Jugendknast ab. Bilder von Vergewaltigungen.
»Das darf nicht sein«, sagt er leise. Er sieht das Mädchen an, wie es blutet und zittert. »Das darf nicht sein«, wiederholt er. Und bevor der Typ weiß, wie ihm geschieht, hat Theo ihm die Waffe entwendet. Er richtet sie auf ihn.
»Gegen die Wand!«, schreit er. »Dreh dich um, und lehn dich gegen die Mauer, oder ich bring dich um!«
Der Typ grinst nur.
»Gegen die Wand!«
Der Typ lehnt sich leicht nach vorn, seine Miene ist eine einzige Drohung. Er zieht ein Messer aus der Gesäßtasche und stürzt sich auf Theo.
Theo senkt den Lauf der Waffe und schießt dem Typen zweimal in den Oberschenkel. Der schreit und fällt auf die Knie. Theo sieht zu dem Mädchen. »Na los, mach, dass du hier wegkommst«, sagt er. Sie rappelt sich auf und rennt los.
Theo lässt die Waffe fallen. Er zittert. Er beugt sich über den am Boden liegenden jammernden Typen. »Hey, tut mir leid, Mann, aber du hast mir keine Wahl gelassen …«
Mehr kann er nicht sagen, denn da stößt der Typ ihm bereits das Messer in die Hüfte. Theo schreit und zieht sich instinktiv die Klinge aus dem Fleisch. Im selben Moment hat der Typ ihm eine geklebt. Theo holt aus und rammt dem Kerl das Messer in den Nacken. Dann schlägt er auf ihn ein. Und zwar so lange, bis irgendjemand die Polizei ruft.
Theo erzählte den Bullen, was vorgefallen war. Sie machten einen Urintest. Marihuana, Alkohol, Kokain. Der andere war sauber gewesen. Was für ein Mädchen? Hier hatte keiner ein Mädchen gesehen. Der Tote war Student an der Columbia-Universität, äußerst erfolgreich. Theos Vorstrafenregister war dicker als die Bibel.
Wie ging es mir bei alldem? Die Wut, die mich angetrieben hatte, nachdem ich erfahren hatte, was Theo im Jugendknast hatte erleiden müssen, war verpufft. Ich vermisste James. Ich vermisste Theo. Ich sah, wie Margot die ganze Nacht heulend in der Wohnung auf und ab ging, und ich sah, wie Toby sich abmühte, sie zu trösten und ihre Fragen zu beantworten:
Ist das unser Werk? Ist das unsere Schuld? Toby sagte, abwarten. Wir warten die Gerichtsverhandlung ab. Er wird zu seinem Recht kommen. Wirst schon sehen. Wirst schon sehen.
Ein paar Wochen später kam Kit. Er und Toby gingen etwas angespannt miteinander um. Stillschweigend kamen sie überein, dass es für alle Beteiligten das Beste war, wenn Margot und Kit sich ein Hotelzimmer nahmen. Sie entschieden sich für das Ritz-Carlton. Abends trafen sie sich zum Essen, um die weitere Vorgehensweise zu besprechen.
Toby wusste ganz genau, dass Kit Vegetarier war, und reservierte einen Tisch für drei bei Gourmet Burger in NoHo.
»Tut mir leid«, flüsterte Margot Kit hinter vorgehaltener Speisekarte zu. Mit einer Handbewegung bedeutete er ihr, die Sache nicht so wichtig zu nehmen.
Ich war nervös wie eine Feldmaus, die eine Autobahn überquert, als ich die drei beobachtete. Was ich sah, war das Ergebnis der Veränderungen, die ich bewirkt hatte, und ich kam mir vollkommen hilflos vor – als würde ich einem Eisenbahnwaggon voller mir lieber Menschen dabei zusehen, wie er einen Berg hinunterrollt …
Auch Margot war nervös. Sie sagte kein Wort und brachte vor Anspannung keinen Bissen herunter. Kit bemerkte ihre Nervosität und wurde zum ruhigen Pol, indem er seinen vegetarischen Burger mit Salatbeilage anlächelte und übertrieben freundlich zu Toby war. Er machte ihm sogar Komplimente zu seinem Roman, was dazu führte, dass Margot sich wand. Sie begriff nicht, dass Kit schlicht Mitgefühl mit Toby hatte. Ein Vater in Tobys Situation hatte nun mal Kits volles Mitgefühl.
»Also gut, Kit, lass uns zur Sache kommen«, sagte Toby, als der Wein seine Eifersucht betäubt hatte. Er griff nach der Aktentasche zwischen seinen Füßen und zerrte einen Stapel Papiere hervor.
Kit verschränkte die Finger und sah Toby nachdenklich an.
»Margot hat gesagt, du bist mal Kriminalbeamter gewesen.« Er legte die Papiere auf den Tisch und trommelte mit den Fingern darauf herum. »Ich glaube nicht, dass mein … unser Sohn diesen anderen Kerl kaltblütig ermordet hat. Ich glaube, dass da eine Vergewaltigung stattfand und dass irgendwo da draußen ein Mädchen unterwegs ist, das meinen Sohn vor der Guillotine retten könnte.«
Kit nickte, lächelte und schwieg. Toby starrte ihn an. Seine Notlage beherrschte all sein Denken. Seit Tagen hatte er nicht geschlafen. Margot schritt ein.
»Ich glaube, was Toby sagen will, Kit, ist, dass wir deine Hilfe brauchen. Die New Yorker Polizei ist nicht auf unserer Seite. Wir müssen selbst ein paar Nachforschungen anstellen, um Theo helfen zu können.«
Kit schenkte sich selbst Wein nach. Ohne jemanden dabei anzusehen, sagte er:
»Ich möchte, dass ihr beide nach Hause geht, eine Runde schlaft und mich in der Zeit diese Unterlagen durchgehen lasst. Okay?« Er streckte die Hände aus und wollte die Papiere über den Tisch zu sich ziehen. Doch Toby hielt sie fest und fixierte Kit.
»Toby?« Margot schlug einen sehr sanften Ton an und stupste Toby unter dem Tisch mit dem Fuß, um ihn davon abzubringen, seine Wut über Theos missliche Lage auf ihre Beziehung zu Kit zu übertragen.
Kit witterte durchaus, was in der Luft lag, lächelte und hob die Hände: »Später vielleicht?«
Toby trommelte weiter mit den Fingern. Er schien innerlich zu kochen. Dann endlich sah er zu Kit auf. »Ich will, dass du eins weißt«, sagte er und zeigte auf ihn. »Vor langer Zeit habe ich mal versprochen, dass ich nicht loslassen würde. Aber jetzt zwingst du mich dazu. Ich will, dass du das weißt.« Er leerte sein Glas, knallte es auf den Tisch und schob den Papierstapel von sich weg zu Kit.
Ich umarmte ihn. Er glaubte, das Gefühl, umarmt zu werden, sei eine Projektion seines sehnlichsten Wunsches, und schluchzte hörbar. Ich ließ wieder los.
Als sei nichts passiert, holte Kit seine Lesebrille aus der Tasche und studierte die Papiere eingehend. Nach einer Weile sah er überrascht auf.
»Ja, wie? Ihr seid immer noch hier?«
Sie standen auf und gingen. Nach wenigen Schritten kam Margot kurz zurück und küsste Kit auf den Kopf. Dann verließ sie das Lokal und verschwand in die dunkle Nacht.
»Ich habe einen Namen«, informierte er Margot und Toby ein paar Tage später. Als der knapp zwei Meter große, narbengesichtige Aborigine an die Wohnungstüren rund um jene verhängnisvolle Gasse geklopft hatte, waren die sonst eher schweigsamen Bewohner endlich einmal gesprächig gewesen.
Jetzt warf er sein Notizbuch auf den Esstisch und setzte sich. Margot und Toby zogen schnell ein paar Stühle heran und setzten sich zu ihm. Gaia, Adoni und ich scharten uns um sie.
»Was für einen Namen?«, fragte Margot.
»Valita. Das ist alles, was ich habe. Soweit wir wissen, keine Familie, keine Verwandten. Teenager. Illegal eingewandert. Prostituierte. Jemand hat sie in den frühen Morgenstunden vor dem Mord in der Gegend gesehen.«
»Und? Adresse? Nachname?« Toby zitterte vor Adrenalinüberschuss.
Kit schüttelte den Kopf. »Noch nicht, aber ich arbeite dran.«
Adoni sah zu Gaia und mir auf, wie immer finsteren Blickes. »Das Mädchen ist noch nicht so weit«, sagte er. »Ich habe mit ihrem Engel gesprochen.«
»Du hast mit ihrem Engel gesprochen?« Ich wäre beinahe über den Tisch zu ihm gesprungen.
Im selben Augenblick stand Margot auf und lief unruhig hin und her.
»Wie kommen wir an ihre Adresse? Ich meine – gibt es nicht irgendeine Datenbank, die wir durchforsten könnten? Sollen wir mit dem Namen zur Polizei gehen?«
Kit schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«, fragte ich Adoni, und Margot fragte Kit simultan genau das Gleiche.
Kit antwortete als Erster. »Das hier bleibt unter uns, bis wir mehr Einzelheiten haben. Wenn die Polizei erfährt, dass wir auf eigene Faust herumschnüffeln, werden sie uns so genau im Auge behalten, dass wir mit unseren privaten Nachforschungen kaum noch eine Chance haben. Glaubt mir.«
Dann endlich sagte auch Toby etwas. »Mir geht es da wie Margot. Mir wäre es lieber, wenn die Polizei sich der Sache annehmen würde.«
Kit sah zu Margot. Diese verschränkte die Arme und blickte finster drein.
»Er hat recht«, sagte Adoni James, Gaia und mir. »Bei dem mit Theos Fall befasstem Team hat ein ziemlich starker Dämon seine Finger mit im Spiel. Wir müssen uns erst mal bedeckt halten.«
Ich ging zu Margot. Ich zögerte, sagte ihr dann aber doch, dass sie Kit vertrauen solle. Als ich zu ihr durchdrang, fing sie an zu weinen. Toby sprang auf und wollte sie instinktiv in den Arm nehmen, hielt sich dann aber doch noch zurück. Kit erhob sich, bedachte Toby mit einem vielsagenden Blick, und ging zu Margot. Er drückte sie fest an sich und strich ihr über den Rücken. Sie sah zu Toby. Der steckte die Hände in die Taschen und sah hinaus zur untergehenden Sonne.
Und dann: Deus ex machina.
Toby, Kit und Margot saßen an einem der Außentische eines Cafés in der Nähe des Washington Park. Auf einmal raste Adoni quer über die Straße zu einem Engel in einem roten Kleid, dann bedeutete er Gaia und mir winkend, ihm zu folgen. Der Engel – eine ältere Ecuadorianerin – war ganz aufgeregt, aber auch erleichtert, uns zu sehen.
»Das ist Tygren«, stellte Adoni sie uns vor.
Tygren wandte sich uns zu. »Ich war dabei, als das passiert ist. Glaubt mir, ich tue alles, um Valita dazu zu bewegen, zur Polizei zu gehen, aber ich fürchte, das wird noch eine Weile dauern. Vielleicht ist es dann schon zu spät.«
»Wo ist sie?«, fragte ich.
»Da drüben«, sagte sie und zeigte auf eine kleine Gestalt mit Kapuze auf einer Parkbank hinter einer kleinen Hecke. »Das ist Valita«, sagte sie. Ich kniff die Augen zusammen. Sie rauchte. Ihre Hand zitterte bei jedem Zug.
»Warum ist sie nicht bei der Polizei gewesen?«, fragte Gaia.
»Kannst du sie nicht überreden?«, schnitt ich Gaia das Wort ab. »Wir haben nicht viel Zeit.«
Tygren hob die Hände. »Ich versuche es ja. Aber sie und der Ermordete haben eine gemeinsame Geschichte, die sie erst verarbeiten muss. Ihre Familie steht kurz vor der Abschiebung. Und sie ist schwanger.«
Ich sah wieder hinüber zu Valita. Bei genauerem Hinsehen konnte ich Schatten erkennen, die sie umkreisten, manchmal miteinander kollidierten und hin und wieder in sie eindrangen. Und tief in ihrem Bauch schimmerte das Licht des Kindes. Sie trat die Zigarette aus, schlang dann die Arme um sich selbst und verkroch sich noch mehr in ihre Jacke. Sie sah aus, als wolle sie einfach nur verschwinden.
Adoni nahm Tygren bei den Händen und sagte etwas auf Quechua. Tygren lächelte und nickte.
Plötzlich stand Valita auf und ging in die andere Richtung.
»Ich muss los!«, sagte Tygren. »Wir sehen uns später, versprochen!«
»Wie können wir dich finden?«, rief ich ihr hinterher.
Doch da war sie bereits verschwunden.
Von da an hielten Gaia, Adoni und ich ständig Ausschau nach Tygren, während Toby, Kit und Margot tagein, tagaus Hinweise verfolgten, die ins Leere führten.
Weihnachten verstrich ohne jede Feierlichkeit. Dann überzeugten Margot und Toby Kit endlich – aber entgegen unserem Rat –, dem leitenden Ermittler des Falls den Namen Valita zu nennen. Wie Kit es vorausgesagt hatte, zeigte der Beamte keinerlei Interesse. Keine Beweise, keine Zeugenaussagen. In den vorgerichtlichen Verhandlungen wurde Theos anfänglicher Aussage hohe Bedeutung beigemessen, er wisse nicht, wem das Messer gehört habe, möglicherweise sei es seins gewesen. Das war ein gefundenes Fressen für die Anklage. Unter seinem Bett fand man ähnliche Messer. Die Ermittler schlossen die Anwesenheit einer weiblichen Person aus, als die Gerichtsmedizin berichtete, am Tatort sei nur Blut von zwei männlichen Personen gefunden worden. Dass es später in der Nacht geregnet hatte, war dabei nicht berücksichtigt worden. Theo reagierte sehr wütend auf die Anschuldigungen, mit denen man ihn während der Anhörungen konfrontierte, dafür sorgte Grogor. Umso weniger wirkte Theo wie ein unschuldiges Opfer, sondern kam wie ein aggressiver Schläger herüber.
Gaia, Adoni und ich hielten weiter nach Tygren Ausschau. Nichts zu sehen. Wir gingen davon aus, dass Valita New York – oder gar die USA – verlassen hatte. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Aber gleichzeitig verzehrte ich mich danach, Theo und James noch einmal zu sehen – und wenn es nur war, um ihnen zu sagen, dass ich sie liebte.
Eines Nachts hielt ich es nicht mehr aus, und ich machte mich auf den Weg hinüber zu Rikers Island. Ich musste mich durch ein Meer von Dämonen kämpfen, bevor ich Theo in seiner winzigen, schmutzigen Zelle vorfand, in der er so klein und verloren wirkte. Ein paar Zellen weiter schrie ein Häftling ständig den Namen einer Frau und drohte ihr damit, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Ich sah, welche Verbrechen die Männer in diesem Block begangen hatten – sie erschienen als Parallelwelten in ihren Zellen wie spirituelle Abzeichen ihrer Sünden –, und ich sah ihre Dämonen, die alle genau wie Grogor aussahen, als ich ihm das erste Mal begegnete: monströs, bestialisch, einzig darauf aus, mich zu zerstören. Aber es waren auch Engel da. Die meisten waren Männer, manche aber auch sanftmütige, mütterliche Frauen. Sie wachten über Männer, deren Vergehen bei mir Brechreiz auslösten. Doch trotz der Brutalität ihrer Verbrechen liebten ihre Engel sie.
Plötzlich fiel mir auf, dass ich keine Ahnung hatte, wer oder was James in seinem sterblichen Leben gewesen war, aber als ich ihn bei Theo fand, wusste ich eines ganz genau: Dieser Junge, den ich so vorschnell abgeurteilt hatte, als ich ihm das erste Mal begegnete, war zäh. Theo hatte vier Dämonen mit in seiner Zelle, die allesamt an tongaische Fußballspieler erinnerten und im Vergleich zum schmächtigen James Riesen waren. Aber sie kauerten in einer Ecke und wagten nicht mehr als hin und wieder eine spöttische Bemerkung. Es sah ganz so aus, als habe James die Oberhand.
»Was machst du hier?«, fragte er, als ich auftauchte. Theos Dämonen sprangen sofort auf und fingen an, mich zu beschimpfen. Er warf ihnen einen Blick zu.
Ich nahm ihn fest in den Arm und blickte zu Theo, der sich umsah. »Ist da jemand?«
Verwundert sah ich James an. »Er kann mich spüren?«
James nickte. »Höchstwahrscheinlich«, sagte er. »Ich will dir nichts vormachen, das hier ist bisher kein Zuckerschlecken für ihn gewesen. Aber ich glaube, ich habe ihm das Schlimmste erspart. Der Vorteil ist, dass er jetzt weiß, wie gut es ihm vorher eigentlich ging. Er dachte, er sei ein zäher Brocken – bis sie die Tür da abgeschlossen haben. Jetzt schreibt er eine Liste, was er alles machen möchte, wenn er wieder rauskommt.«
»Er hat die Hoffnung also nicht aufgegeben?«
James schüttelte den Kopf. »Das gestattet er sich selbst nicht. Nachdem er die anderen Gestalten hier drin gesehen hat … Naja. Er ist jetzt wild entschlossen, wieder rauszukommen, das kann ich dir sagen.«
Und so ließ ich die beiden wieder allein, ließ sie zusammen an einem der düstersten Orte der Welt ausharren wie zwei Kerzen im Sturm und vertraute darauf, dass sie tatsächlich irgendwie da rauskommen würden.
Kurze Zeit später reiste Kit auf Margots Drängen hin ab. Er musste seine Lesereise fortsetzen, und das Geld wurde auch langsam knapp. Von der Hochzeit war zu meiner Freude fast gar nicht mehr geredet worden. Kit beobachtete, wie Margot sich wieder in New York einlebte, in ein Leben, in das Kit nicht hineinpasste. In ihrer Suite im Ritz-Carlton schlief er irgendwann auf dem Sofa. Stur, wie Margot war, tat sie, als würde sie das gar nicht bemerken.
Eines Abends, als sie von einem Besuch bei Toby zurückkam, war Kit noch wach und wartete auf sie. Ich wusste, dass sie über nichts anderes gesprochen hatten als darüber, was passieren würde, falls Theo sich schuldig bekannte, dass der Abend nicht im Geringsten romantischer gewesen war als ein Abendessen in einem Leichenschauhaus, aber Kit wusste das natürlich nicht. Er stellte sich wer weiß was vor. Er war eifersüchtig. Fühlte sich in seiner Ehre angegriffen.
»Na, du scheinst dich mit Toby ja wirklich blendend zu verstehen«, erklang Kits Stimme aus der dunklen Ecke, als sie die Suite betrat. Sie zuckte zusammen vor Schreck.
»Ach, hör doch auf, Kit«, sagte sie. »Toby ist Theos Vater, was soll ich denn machen? Ihm aus dem Weg gehen, während unser Sohn wegen Mordes im Bunker hockt?«
Kit zuckte mit den Schultern. »Du könntest auch einfach mit ihm schlafen.«
Böse sah sie ihn an. Sie kochte vor Wut.
Kit fasste ihr Schweigen als Schuldeingeständnis auf. Ich seufzte. »Sag ihm, dass nichts passiert ist«, bat ich Adoni. Er nickte und flüsterte Kit etwas zu.
Kit stand auf und ging langsam auf sie zu.
»Liebst du mich nicht mehr?« Der Schmerz in seiner Stimme versetzte mir einen Stich.
»Hör zu, Kit«, sagte sie nach einer Weile. »Das ist gerade eine harte Zeit. Für uns alle. Flieg nach Sydney, mach deine Lesereise, und ich komme in zwei Wochen nach.«
Er stand jetzt ganz nah bei ihr. Die Arme hingen schlaff herunter. »Liebst du mich nicht mehr?«, wiederholte er.
Ich sah, wie verschiedene Fragen und Antworten in ihrem Kopf herumwirbelten. Liebe ich ihn? Nein. Doch. Ich weiß es nicht. Ich will Toby. Nein, Quatsch. Doch, natürlich. Ich will nicht allein sein. Ich habe solche Angst.
Sie brach in Tränen aus. Riesige, überreife Tränen fielen ihr wie kleine Bomben auf die Hand und liefen dann an Kits Brust herunter, als er sie in den Arm nahm.
Nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte, trat sie einen Schritt zurück und wischte sich die Augen.
»Versprich mir, dass du nach Hause kommen wirst«, sagte Kit leise.
Sie sah zu ihm auf. »Ich verspreche, dass ich nach Hause kommen werde«, sagte sie. Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie auf die Stirn. Wenige Minuten später war er weg.
Eigentlich hätte mich das ja freuen sollen. Aber als ich dann sah, wie Margot die Minibar leerte und die ganze Nacht weinte und Wein trank, kamen mir massive Zweifel. Ich wusste nicht mehr, was das Beste für sie war. Also betete ich.
Am nächsten Tag folgte ich ihr zu Tobys Wohnung, wie immer mit einem halben Auge nach Tygren Ausschau haltend. Margot klopfte an, aber Tobys Tür stand bereits offen. Er hatte sie erwartet.
Er stand am Fenster und sah hinunter auf die Straße, jederzeit bereit, hinunterzurennen, falls er eine junge Frau sah, auf die Theos Beschreibung von Valita passte. So hatte er jetzt schon so viele Tage verbracht. In seinen alten Aran-Pullover gekuschelt, keinen Gedanken an Essen oder Trinken verschwendend, strengte er seine Augen so sehr an, bis sie fast zerplatzten. Wie sie ihn so dastehen sah, erinnerte sie sich an jenen Abend auf dem Hudson, an jene Sekunden, in denen sie allein in dem Boot gesessen und darauf gewartet hatte, dass er wieder auftauchte. Genau das Gleiche tat sie jetzt auch. Sie empfand die gleiche Angst und – sehr zu ihrer Beunruhigung – die gleiche Liebe.
»Ich fliege zurück nach Sydney«, sagte sie.
Er drehte sich um und sah sie an. Seine Augen schmerzten vor Übermüdung. Im Geiste stolperte er von einer verwunderten Erwiderung zur nächsten. Bis er bei dem schlichten Wort »Warum?« ankam.
Sie seufzte. »Ich muss weitermachen, Toby. Ich komme auch bald wieder. Aber ich muss … Hier hält mich ja nichts.«
Er nickte.
Sie lächelte schwach und wandte sich ab, um zu gehen.
»Willst du die Papiere denn nicht unterschreiben?«
Sie blieb stehen. »Das hatte ich ganz vergessen. Mache ich jetzt.«
Sie ging zum Tisch und setzte sich. Toby holte die Papiere aus einer Schublade in der Küche und legte sie vor sie hin.
»Hast du einen Stift?«
Er reichte ihr einen. »Danke.«
Sie starrte auf das Papier.
Im Zeitlupentempo legte Toby seine Hand auf ihre. Sie sah zu ihm auf. »Toby?«
Er ließ sie nicht los. Stattdessen zog er sie sanft vom Stuhl hoch und schlang ihr den Arm um die Taille. Sie sah ihm in die Augen. Es war sehr, sehr lange her, seit sie sich zuletzt so nahe gewesen waren. Und dann neigte er sich ihr zu und küsste sie.
Sie schob ihn von sich. Er neigte sich ihr wieder zu.
Diesmal wehrte sie sich nicht.