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DIE KARTEN WERDEN NEU GEMISCHT
Am nächsten Morgen nahm ich auf dem Qantas-Flug von New York nach Sydney meinen Platz in der Angel Class ein, blickte hinab zu den Lichtern auf der Erde und beobachtete, wie die Engel die Sterne und Planeten über mir lenkten. Ich dachte an das, was Nan gesagt hatte – Das hier ist Teil deiner Ausbildung –, und strengte meine kleinen grauen Zellen an, um dahinterzukommen, was sie damit gemeint hatte. Warum sollte ich denn wohl ausgerechnet jetzt in den Genuss einer Ausbildung kommen? Dazu war es ja wohl ein bisschen zu spät? Oder meinte sie eine ganz andere Art der Ausbildung?
Außerdem dachte ich über die Botschaft nach, die mich in jenem entscheidenden Augenblick über meine Flügel erreichte. Vertraue! Ich war einerseits erleichtert, dass ich mich dazu entschieden hatte, dem Befehl Folge zu leisten, und andererseits verwirrt, weil ich nicht wusste, warum man mich angewiesen hatte, einfach nur zu vertrauen. War ich nicht in das Auto gesetzt worden, um etwas zu tun, das den Unfall verhindert hätte? Schließlich hatte ich mich einfach nur gezwungen, daran zu glauben, dass irgendwie schon alles gut gehen würde. Keine Ahnung, wie das funktioniert hat. Aber irgendetwas war in dem Moment passiert. Für einen kurzen Augenblick hatte ich mich in etwas anderes – in jemand anderen – verwandelt. Und ich war wild entschlossen, das noch einmal auszuprobieren.
Also übte ich mich in der hohen Kunst des Hoffens.
Vielleicht vergeblich, aber immerhin. Hoffen, dass ich bei Gott vielleicht ein paar Pluspunkte sammeln konnte, genug, um ihn meinen Verrat vergessen zu lassen. Hoffen, dass es trotz der Vision vom lebenslänglich einsitzenden Theo, die Nan mir gezeigt hatte, doch noch eine Möglichkeit für mich gab, ihm so weit zu helfen, dass er diesem Schicksal ausweichen konnte. Hoffen, dass ich zu Toby zurückkehren konnte. Ich würde mein Leben dafür geben. Sogar ein zweites Mal.
Wie Nan es vorausgesagt hatte, gab es Anzeichen dafür, dass die Sachlage sich verbessert hatte, dass einige Dinge sich geändert hatten. Als ich seinerzeit nach Sydney zog, musste ich wochenlang nach einer Wohnung suchen, darum kam ich eine ganze Zeitlang in einem Hostel in Coogee, einem Vorort östlich von Sydney, unter, wo ich mir mit ein paar thailändischen Studenten und einer Frau aus Moskau, die Tag und Nacht nicht vor die Tür ging und bloß dicke, fette Zigarren rauchte und Wodka trank, einen Schlafsaal teilte. Mein Rückfall war quasi unvermeidbar gewesen. Schon bald leistete ich ihr Gesellschaft, und meine Suche nach einer Wohnung, Arbeit und einem neuen Leben ging Flasche für Flasche in russischen Spirituosen unter.
Margot landete an einem frühen Montagmorgen im September auf dem Flughafen von Sydney. Ich dachte mir, ich erspare ihr den widerlichen Schlafsaal in Coogee, und schlug ihr vor, sie solle direkt nach Manly fahren und dort eine Wohnung mit Blick auf den Strand mieten. Es war nicht ganz unwahrscheinlich, dass mein Vorschlag ein bisschen zu früh kam – tatsächlich hatte ich sie nämlich erst ab Dezember desselben Jahres gemietet –, aber die Manly-Idee gefiel ihr, und sie erkundigte sich nach dem Weg dorthin. Einen Bus und eine Fähre später zog sie ihren Koffer die Promenade entlang und bestaunte die Reihe von Norfolktannen, die sich plötzlich wie riesige Weihnachtsbäume vor ihr auftaten, den elfenbeinfarbenen Sandstreifen, die indigoblauen Wellen, an denen die Surfanfänger mit ihren Brettern scheiterten.
Während ich Margot zu der Wohnung dirigierte, erhielten meine Flügel eine Botschaft. Sie erreichte mich heftiger als je zuvor, es war ein durch meinen Körper zirkulierender Strom, und in diesem Strom sah ich Bilder von Margot: mit langen blonden Haaren, durch irgendwelche Felder spazierend, an einem See vorbei, auf eine durch die Hügellandschaft führende Straße zu. Ich sah mich um und kramte in meinem Gedächtnis, um herauszufinden, wo diese Landschaft sich wohl befand. Vergebens. Keiner der Stadtteile Sydneys, die ich kannte, kam infrage. Und dann fiel mir auf: Die Frau, die ich da gesehen hatte, war gar nicht Margot. Das war ich.
Beobachten. Beschützen. Aufzeichnen. Lieben. Es hatte über dreißig Jahre gedauert, bis ich wirklich begriff, dass das Wort »verändern« bei diesen Anweisungen nicht vorkam und »beeinflussen« und »kontrollieren« auch nicht. Während Margot also durch die Straßen von Manly schlenderte, vollkommen übermüdet und überwältigt von der Schönheit dieses Ortes, von den für sie neuen Ladenfronten und Straßenecken, sang ich diese vier Wörter wie ein Mantra immer wieder vor mich hin. Ich widerstand der Versuchung, sie zu jener tollen Wohnung hinzulenken – die mit dem großen offenen Wohnzimmer, dem über den Strand hinausragenden Balkon, dem Himmelbett, der Kupferbadewanne, dem Couchtisch mit integriertem tropischen Aquarium –, und sah unbeteiligt dabei zu, wie sie im Hier und Jetzt herumtapste, als sei das nicht alles schon einmal passiert. Als würde das alles wirklich erst in diesem Moment passieren.
Und da ging mir wohl auf, dass ich mich Margot den Großteil der letzten fünfzehn Jahre wie eine Mutter zugewandt hatte, die nicht mehr weiß, wie man sich auf Weihnachten freut, wie es sich anfühlt, mit fünf, sechs oder sieben Jahren in ein Spielzeuggeschäft zu gehen, oder warum der Besuch von Disneyland und Co. nun mal nicht unter eintausend Dezibel zu machen war. Das Privileg, in der Gegenwart zu leben, bestand darin, dass es unendlich viele Möglichkeiten bot, sich für etwas zu begeistern oder sich überraschen zu lassen. Aber das hatte ich vollkommen übersehen. Und das Ergebnis war, dass ich Margot mit genau dem gleichen mangelnden Verständnis behandelt hatte wie sie Theo. Ich hatte sie ohne jede Nachsicht behandelt.
Also versuchte ich eine ganz neue Strategie: Ich ließ sie stolpern, ich ließ sie sogar fallen, und wenn sie zu tief fiel, half ich ihr wieder auf die Beine. Zum Beispiel, als ihre Aufregung und Euphorie am ersten Tag in Australien nachließen und umschlugen in ein Gefühl der Einsamkeit. Sie hatte sich ein Hotelzimmer an der Promenade genommen und kämpfte zwanzig Minuten lang damit, sich an der Minibar zu vergreifen. Tu’s nicht, warnte ich sie. Sie zögerte, dann schwang sie die Beine vom Bett und öffnete die Bartür. Lass es besser bleiben, sagte ich. Du bist Alkoholikerin. Und sie stellte drei Flaschen Baileys sowie einen Gin Tonic nebeneinander auf, bevor sie einen Blick auf ihre zitternden Hände warf und ganz von alleine dachte: Vielleicht sollte ich besser aufhören.
Und als ich mich gerade erinnerte, entwarf sie bereits einen Schlachtplan. Sie wollte sich Ziele setzen. Ich war noch nie besonders gut darin, Listen zu erstellen, bei mir klappt das besser mit Visualisierungen. Also setzte sie sich mit einem Haufen Zeitungen und Zeitschriften auf den Boden des Hotelzimmers, verteilte den Papierkram um sich herum und fing an, Bilder auszuschneiden, die wiedergaben, was sie sich vom Leben wünschte. Und während sie so Bilder von einem Reihenhaus mit Vorgarten, Hauskatzen, einem extra breiten Gasherd, einer Taube und Harrison Ford ausschnippelte, rauschten mir fast identische Bilder durch den Kopf. Ich beobachtete sie und grinste, als sie das Bild von Harrison Ford zerschnitt, bis nur noch seine Augen übrig waren, dann die Mundpartie und Nase von Ralph Fiennes ausschnitt und schließlich ein rothaariges männliches Model skalpierte. Sie fügte die Teile zu einer Collage zusammen und erhielt ein Porträt von Toby.
Dann schnitt sie ein weiteres Bild aus der Zeitung aus: die Titelseite eines Buches, auf der Ayers Rock mit einem Wal abgebildet war. Das Buch hieß Jonahs Gefängnis und war von K. P. Lanes. Vielleicht möchtest du das Buch gerne lesen, sagte ich ihr.
Sie rief die Rezeption an.
»Schönen guten Tag, Miss Delacroix. Was kann ich für Sie tun?«
»Gibt es irgendwo in der Nähe eine Bibliothek, die offen hat?«
»Nein, tut mir leid, Ma’am, es ist ja bereits halb elf abends. Die Bibliotheken öffnen erst morgen früh wieder.«
»Oh.«
»Kann ich sonst etwas für Sie tun?«
»Ja, können Sie. Haben Sie schon mal von einem Autor namens K. P. Lanes gehört?«
»Ja, das kann man wohl sagen. Er ist mein Onkel.«
»Ist das Ihr Ernst? Ich habe gerade eine Abbildung von seinem Buch im Sydney Morning Herald gesehen.«
»Ja, wunderschön. Haben Sie es gelesen?«
»Nein, ich bin ja erst heute Morgen angekommen …«
»Würden Sie es gerne lesen?«
»Ja, eigentlich schon …«
»Na, prima. Ich lasse Ihnen mein Exemplar aufs Zimmer bringen.«
»Ach, das wäre wirklich ganz toll.«
»Kein Problem.«
Sie las das Buch in einem Rutsch durch, dann schlief sie ein und wachte erst nach zwölf Stunden wieder auf.
Das war nun wieder eine Episode, an die ich mich nicht erinnern konnte. Es sah ganz so aus, als seien meine Lebenskarten neu gemischt worden. Während ich K. P. Lanes in der Lobby eines der vielen Verlage, bei denen ich um Arbeit bettelte, begegnete, traf Margot ihn in der Lobby des Hotels.
Das war der erste von vielen weiteren Unterschieden zu meinem eigenen Leben. Ich fing an, die Verlässlichkeit meines Gedächtnisses infrage zu stellen. Und ich verstand: Wir sind wirklich verschieden. Was Margot tut und was ich tue, ist nicht mehr dasselbe. In diesem Moment beschloss ich, Margot loszulassen. Lass los, Ruth.
Die Version von Ereignissen, an die ich mich erinnerte, wich dann allerdings nicht völlig ab von dem, was Margot nun durchlebte. Kit – oder K. P. Lanes, als der er im Literaturbetrieb bekannt war – war ein pensionierter Kriminalbeamter, der sein ganzes Leben lang verschiedene Arten von Texten geschrieben hatte. Er war groß, sanftmütig und sehr scheu. Er hatte zehn Jahre gebraucht, um Jonahs Gefängnis zu schreiben, und weitere zwanzig, um es zu veröffentlichen. Weil er darin einige Aborigine-Traditionen beschrieb, die sein Clan für heilig hielt, hatten die meisten Verwandten und Freunde mit ihm gebrochen. Er hatte mir mal erklärt – und erklärte jetzt der zu Tränen gerührten, von Ehrfurcht ergriffenen Margot –, dass er die Geheimnisse seines Volkes nur deshalb preisgebe, weil das Volk vom Aussterben bedroht sei. Er wolle, dass seine Traditionen weiterleben.
Jonahs Gefängnis war von einem unabhängigen Verlag mit einer Auflage von nur hundert Exemplaren veröffentlicht worden. Man hatte keine Werbung dafür gemacht. Kits Traum davon, der Welt von den Werten und dem Glauben seines Volkes zu erzählen, hatte sich zerschlagen. Aber verbittert war er deswegen nicht. Er war sich ganz sicher, dass seine Ahnen ihm helfen würden.
Margot war sich nur zweier Dinge sicher:
1. Dass sein Buch in mehrfacher Hinsicht faszinierend war.
2. Dass nur sie ihm helfen konnte.
Daher beschloss sie, von dem Geld, das von Hugo Benets Tantiemenscheck noch übrig war, weitere zweitausend Exemplare von Kits Buch drucken zu lassen sowie eine kleine Werbekampagne inklusive einer Buchvorstellungsveranstaltung in der Bibliothek von Surry Hills zu finanzieren. Und da konnte ich mich dann endlich mal nützlich machen. Bei ebendieser Veranstaltung erkannte ich nämlich den Journalisten Jimmy Farrell wieder, der Kits Buch als Aufhänger nahm, seine Geschichte zu erzählen: von den Opfern, die er gebracht hatte, und davon, dass nur ein halbes Jahr, nachdem der oberste australische Gerichtshof den Terra-Nullius-Status aufgehoben und damit die Kontroverse rund um die Besitzverhältnisse von Grund und Boden beendet hatte, ein eingeborener Australier über die Themen »Landbesitz« und »Identität« schrieb.
Geh mal zu dem hin und sprich mit ihm, sagte ich Margot und schob sie sanft in Jimmys Richtung.
Innerhalb weniger Monate verkaufte sich Kits Buch über zehntausend Mal – und er und Margot begannen eine Affäre. Im Dezember begab Kit sich auf eine viermonatige Lesereise. Margot blieb zurück, mietete sich ein kleines, enges Büro auf der Pitt Street mit einem einigermaßen guten Blick – wenn man sich auf einen Stapel Bücher stellte und den Hals genügend reckte, konnte man die weißen Rückenflossen des Opernhauses sehen – und meldete ein Gewerbe an: die Literarische Agentur Margot Delacroix.
Und dann rief Toby an.
»Hallo, Margot. Ich bin’s, Toby.«
Es war sechs Uhr morgens. Ganz entgegen ihrer Gewohnheit war sie bereits aufgestanden, tapste barfuß im Morgenmantel in der Küche herum und trank ihr neues Suchtmittel: heißes Wasser mit Zitrone und Honig.
»Hallo, Toby. Wie geht’s Theo?«
»Er ist der Grund meines Anrufs.«
Da fiel ihr auf, dass sie schon über eine Woche nicht mehr mit Theo gesprochen hatte. Sie stieß sich den Zeh am Kühlschrank. Das war die Strafe.
»Tut mir leid, ich hatte einfach so viel um die Ohren …«
»Es ist was passiert.« Er seufzte. Lange Pause. Da merkte sie, dass er weinte.
»Toby? Geht es Theo gut?«
»Ja. Na ja. Also, ich meine, er ist nicht verletzt oder so. Aber er liegt im Krankenhaus. Er hat gestern bei Harry übernachtet, und die beiden hatten die glorreiche Idee, um die Wette zu trinken. Jetzt liegt Theo mit Alkoholvergiftung im Krankenhaus …«
Sie drückte sich den Telefonhörer gegen die Brust und schloss die Augen. Das ist meine Schuld, dachte sie.
»Margot? Bist du noch da?«
»Ja, bin ich.«
»Versteh mich nicht falsch. Ich rufe nicht an, damit du … Ich rufe nur an, damit du Bescheid weißt. Das ist alles.«
»Möchtest du, dass ich nach Hause komme?«
»Nein, ich … Wieso? Kommst du etwa nach Hause? Wie läuft es denn da drüben?«
Sie zögerte. Sie hätte ihm so gerne von Kit und von dem Buch erzählt. Aber dann dachte sie an ihre Beziehung zu Kit. Toby hatte keine Beziehung mit einer anderen Frau gehabt, seit er bei ihr ausgezogen war. Sie selbst hatte ein paar Affären gehabt. Ihre Trennung war jetzt sieben Jahre her. Sieben Jahre, die vorbeigerauscht waren wie Herbstlaub in einer Bö.
»Es läuft gut. Ja, es läuft wirklich gut. Sag mal, Toby, wie wäre es, wenn ich über Weihnachten rüberkäme? Dann könnten wir vielleicht mal wieder Karten spielen.«
»Ich wette, da würde Theo sich riesig freuen.«
»Ja?« Sie lächelte. »Und du?«
»Ja. Ich würde mich auch freuen.«
Eine Woche später flog sie mit einem Koffer voller kurzer Hosen und Sandalen nach New York, wo es bitterkalt und weihnachtlich war. Sie war nur einige Monate weg gewesen, aber es kam ihr vor, als hätte diese temporeiche Stadt sie bereits überholt – als hätte sie sich im Schritttempo einem Sprint angeschlossen. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Platz in New York bereits wieder besetzt worden war. Diese Stadt erforderte eine gewisse Routine – und die hatte sie in Sydneys sonniger, entspannter Atmosphäre verloren. Margot brauchte eine geschlagene halbe Stunde, um ein Taxi heranzuwinken. Ich hüpfte wie ein Flummi auf und ab, weil ich mich so darauf freute, Gaia und James wiederzusehen.
»Hi, Mom«, sagte der magere Kahlkopf an der Tür.
Margot kniff die Augen zusammen. »Theo?«
Er entblößte zwei Reihen silberner Zahnspangen und neigte sich dann zögerlich nach vorne, um sie in den Arm zu nehmen.
»Schön, dich zu sehen, Kleiner«, sagte sie leise.
Er wandte sich ab und schlurfte gähnend wieder hinein. Margot folgte ihm samt ihrem Gepäck.
»Dad, Mom ist da.«
Die beim Fenster sitzende Gestalt erhob sich. »Ich dachte, du würdest vom Flughafen aus anrufen, dann hätte ich dich abgeholt«, sagte er unsicher. »Hast du dir ein Taxi genommen?«
Margot beachtete ihn gar nicht und starrte Theo an.
»Hast du deine Haare der Wohlfahrt gespendet?«
»Ich habe Krebs. Vielen Dank für dein Feingefühl.«
Toby lächelte entschuldigend und vergrub die Hände in den Taschen. »Er hat sich bereits für die Weltmeisterschaften in Sarkasmus qualifiziert.« Er lehnte sich nach vorne und küsste Margot unbeholfen auf die Wange. »Wirklich schön, dich zu sehen, Margot«, sagte er.
Sie lächelte und senkte den Blick.
Theo stand immer noch da. Ihm brannte ganz offensichtlich etwas auf der Seele. Toby sah ihn an.
»Was …? Ach! Ja, stimmt. Tut mir leid, Theo.« Er holte seine Brieftasche aus der Tasche und reichte Theo zwanzig Dollar.
»Spätestens um zehn bist du aber wieder zu Hause, junger Mann, verstanden?«
Theo salutierte. »Verstanden. Bis später, Dad.« Kurze Pause. »Mom.«
Er schlurfte zur Wohnungstür.
»Pass auf dich auf, Theo«, rief Toby ihm hinterher.
»Mach ich.«
Die Tür fiel ins Schloss.
Als Theo weg war, stand die Unbeholfenheit, mit der Margot und Toby im Wohnzimmer zu kämpfen hatten, im krassen Gegensatz zu dem freudigen Wiedersehen zwischen James, Gaia und mir im Esszimmer. Während Margot und Toby steif an den entgegengesetzten Seiten des Zimmers saßen und ganz behutsam Konversation betrieben, tauschten James, Gaia und ich sofort alle möglichen Neuigkeiten aus. Wir redeten eine ganze Weile alle gleichzeitig durcheinander, bis wir schließlich verstummten, einander ansahen und schallend anfingen zu lachen. Sie waren zu meiner Familie geworden, und ich vermisste sie jeden Tag. Ich verfluchte mich gar dafür, Margot angeraten zu haben, so weit weg zu ziehen, obwohl ich auch merkte, dass der Abstand ihr und Toby gutgetan hatte. Auf einmal waren die alten Kriegsverletzungen zu winzigen Schrammen in ihrer Beziehung zusammengeschrumpft. Sie gingen höflich miteinander um und freuten sich über die Gesellschaft eines vertrauten Menschen – eines Menschen, den sie mal geliebt hatten.
Gaia informierte mich, was Toby so trieb, und weil ich mich so bohrend wie eine eifersüchtige Exfrau erkundigte, hielt sie sich in erster Linie an Geschichten aus seinem Liebesleben (das zu meiner Freude nicht existent war). Dann endlich wandte ich mich James zu, an den ich die meisten Fragen hatte.
»Sei bitte ganz ehrlich«, sagte ich. »Hat irgendetwas von dem, was ich getan habe, etwas an Theos Leben geändert? Er sieht ja schlimmer aus als bei Margots Abreise.«
James betrachtete eingehend den Fußboden. »Ich glaube, wir müssen ziemlich langfristig denken, wenn es um solche Sachen geht.«
Ich wandte mich Gaia zu.
»Toby ist ein guter Vater.« Das klang ein bisschen zu sehr nach Trost. »Er hat das Kind unter Kontrolle. Und James ist der beste Engel, den ein Kind sich wünschen könnte.« Sie tätschelte James’ Bein. »Ab und zu reagiert Theo auf James’ Gegenwart, das ist gut. Manchmal, wenn James im Schlaf zu ihm spricht, antwortet Theo.«
Erstaunt sah ich James an. »Das ist doch super! Was sagt er denn dann?«
James zuckte mit den Schultern. »Liedtexte von Megadeth, das große Einmaleins, Zitate aus dem Batman-Film …«
Gaia und James fingen wieder an zu lachen. Ich lachte auch, war aber in Wirklichkeit ernüchtert. Es gab noch immer keine Anzeichen dafür, dass irgendetwas von dem, was ich getan hatte, tatsächlich irgendjemandem nützte – und ich musste immer noch den entsetzlichen Preis dafür zahlen.
Es wurde nicht besser. Theo kam erst nach Mitternacht nach Hause, schlief am Weihnachtstag bis in die Puppen, murmelte dann etwas davon, dass er sein Sega-Spiel bei Harry vergessen hatte, und verschwand für den Rest des Tages. Als Margot sechs Tage später wieder zurück nach Sydney musste, hatte sie ganze vier Gespräche mit Theo geführt, und alle liefen in etwa so ab:
Margot: »Hey, Theo, ich habe gehört, dass die Knicks übermorgen spielen – hast du Lust hinzugehen?«
Theo: »Hm.«
Margot: »Sag mal, Junge, ist das ein abwaschbares Tattoo oder eine richtige Tätowierung?«
Theo: »Mmm.«
Margot: »Theo, es ist ein Uhr morgens. Dein Vater hat doch zehn gesagt. Was soll das?«
Theo: »Nng.«
Margot: »Tschüß, Theo. Ich schicke dir ein Flugticket, und dann können wir reden, ja?«
Schweigen.
Gaia und James versicherten mir, dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun würden, um Theo vor dem Schicksal zu bewahren, das sie gesehen hatte. Doch als Margot im Sommer darauf wieder nach New York kam, war Theo in der Zwischenzeit bereits fünf Mal aufgrund von Rauschzuständen im Krankenhaus gewesen. Auch festgenommen hatte man ihn schon. Er war erst dreizehn.
Immer wieder erzählte ich ihr die Geschichte von dem Jugendknast.
Kannst du dich noch erinnern, was ich dir in Riverstone erzählt habe, Margot? Und dann erzählte ich ihr noch einmal, was für schreckliche Dinge Theo erleiden musste. Bisweilen musste ich dabei weinen, und dann kam James und nahm mich in den Arm. Einmal erzählte er mir, dass er eine Botschaft in seinen Flügeln hatte, die besagte, dass alles, was Theo erlebt hatte, ihn letztendlich zu dem Menschen machen würde, der er werden sollte, und dass sich alles zu seinem Vorteil entwickeln würde.
Ich brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass ich bereits gesehen hatte, was genau aus Theo werden würde. Grogor hatte ja dafür gesorgt, dass ich das komplette grauenvolle Bild von Theo als Erwachsenem zu sehen bekam.
Und dann ein Durchbruch.
Ich wiederholte meine Beschreibungen wohl zum fünfzigsten Mal, als Margot mich plötzlich mitten im Satz unterbrach. Sie und Theo saßen am Küchentisch, schlugen Eier auf und strichen Butter auf Toast.
»Sag mal, Theo«, sprach sie, in Gedanken versunken. »Habe ich dir eigentlich schon mal erzählt, dass ich acht Jahre meines Lebens in einem Waisenhaus verbracht habe?«
Er runzelte die Stirn. »Nein.«
»Oh.«
Sie biss in ihren Toast. Er starrte sie an. »Warum warst du in einem Waisenhaus?«
Sie kaute und dachte nach. »Weiß ich gar nicht so genau. Ich glaube, meine Eltern sind von einer Autobombe getötet worden.«
»Von einer Autobombe??«
»Ja. Glaube ich. Ich kann mich nicht genau erinnern. Ich war damals noch so klein. Ich war so alt wie du, als ich endlich ausgerissen bin.«
Das weckte Theos Interesse. Er starrte auf die Tischplatte und redete sehr schnell. »Warum bist du weggelaufen? Haben sie dich nicht gekriegt?«
Und so erzählte sie ihm ohne jede Beschönigung von ihrem ersten Fluchtversuch, der zu einer fast tödlichen Tracht Prügel geführt hatte, von der Gruft – über die er alle erdenklichen Einzelheiten hören wollte – und von ihrem zweiten Fluchtversuch, bei dem sie erwischt wurde, und wie sie Hilda gegenüberstand und sie diese Dinge über Marnie fragte.
Theo sah seine Mutter mit großen Augen an.
Frag ihn, was er im Knast erlebt hat, forderte ich sie auf.
Sie wandte sich ihm zu. »Weißt du, Theo, das war nicht das erste Mal, dass ich geschlagen wurde. Und auch nicht das letzte.« Unwillkürlich drängte eine Erinnerung an Seth an die Oberfläche, und mit ihr die Tränen. Sie dachte an das Baby, das sie verloren hatte. James näherte sich Theo und legte ihm den Arm um die Schultern.
»Theo«, sagte sie sehr ernst. »Ich weiß, dass dir in dem Jugendknast auch einige schlimme Dinge passiert sind. Und ich möchte, dass du mir erzählst, was genau – denn ich schwöre bei Gott, mein Junge, dass ich herausfinden werde, wer dir das angetan hat, und ich werde sie dafür zur Verantwortung ziehen, verlass dich drauf.«
Theo lief dunkelrot an. Er starrte auf seine flach übereinander auf dem Tisch liegenden Hände. Wie in Zeitlupe zog er sie vom Tisch und setzte sich auf sie.
Dann stand er auf und ging hinaus. Was ihm passiert war, war so unaussprechlich, dass er dachte, er sei es, mit dem etwas nicht stimme. Ein Kinnhaken oder ein Tritt in den Bauch war ja noch irgendwie erklärlich, dafür gab es Worte. Aber die ganzen anderen Sachen? Dafür fehlten ihm die Worte.
Ein weiteres Jahr verging. Theo verbrachte immer mehr Zeit im Keller seines Freundes, wo sie erst Whisky tranken, dann Kleber schnüffelten, dann Gras rauchten.
Margot dagegen lief in Sydney in ihrer Wohnung auf und ab und wusste nicht, was sie tun sollte. Es kam ihr vor, als sei es gestern gewesen, dass Theo noch ein Baby war und seine Bedürfnisse sich auf Essen und Schlafen beschränkten. Doch jetzt, nach so kurzer Zeit, bildeten Theos Bedürfnisse einen Knoten, den sie weder auflösen noch fester binden konnte.
Kit ging auf sie zu, als sie auf dem Balkon saß und zum ersten Mal seit langer Zeit einen Gin Tonic trank. Ich nickte Adoni zu, Kits Schutzengel und Urahnen, der meist für sich blieb.
Ich beobachtete Kit sehr genau. Er war jetzt schon viel länger auf der Bildfläche, als ich erwartet hatte. Ja, es war mir gelungen, ein paar Dinge zu ändern – aber war ich mit dem, was ich geändert hatte, nun auch zufrieden? Nicht ganz. In meiner Version waren Kit und ich ein paar Monate ein Paar gewesen, hatten dann herausgefunden, dass wir besser nur geschäftlich zusammenarbeiten sollten, und lebten fortan jeder sein Leben. Die Version hätte eine Wiedervereinigung von Margot und Toby erheblich erleichtert. Aber jetzt, wo ich sah, wie Margot sich bei Kit aussprach, wie er ihr einfach nur zuhörte und an den richtigen Stellen nickte, kamen mir langsam Zweifel. Vielleicht sollte sie mit Kit zusammenbleiben. Vielleicht tat er ihr gut.
»Was kann ich bei all dem tun?«, fragte er und klemmte ihre kleinen blassen Hände zwischen seine wie Salatblätter zwischen zwei Sandwichhälften.
Sie entzog sie ihm. »Ich weiß einfach nicht, wie ich damit umgehen soll«, sagte sie. »Theo macht genau das Gleiche wie ich. Wenn ich ihm sage, er soll es nicht tun, bin ich doch eine Heuchlerin.«
»Nein, bist du nicht«, widersprach Kit. »Du bist seine Mutter. Dass du genau das Gleiche auch schon gemacht hast, macht dich nur noch glaubwürdiger, wenn du ihm jetzt in den Hintern trittst.«
Sie kaute an einem Fingernagel. »Vielleicht sollte ich noch mal nach New York fliegen …«
Kit lehnte sich zurück. Er dachte eine Weile nach, dann sagte er: »Hol ihn hierher. Ich will ihn endlich kennenlernen.«
Margot schwieg. Sie dachte nach. War sie bereit dafür?
Kurze Zeit später wurde Theo von einem hochgewachsenen Aborigine mit leicht ergrauter Flechtfrisur und Narben im Gesicht am Flughafen von Sydney abgeholt. Er stellte sich als Kit vor.
Kit brachte Theo zu seinem ramponierten Jeep auf dem Flughafenparkplatz und forderte ihn auf, einzusteigen.
»Wo fahren wir hin?«, gähnte Theo und setzte seinen Rucksack auf dem Nachbarsitz ab.
Kit brüllte gegen den Motorenlärm an: »Mach die Augen zu und entspann dich, junger Mann. Wir sind gleich da.«
Sie fuhren stundenlang. Theo schlief auf dem Rücksitz seinen Rucksack umarmend ein. Als er aufwachte, befand er sich mitten im Outback unter einem funkelnden Sternenhimmel, umgeben vom Zirpen der Grillen. Kit hatte den Wagen unter einem Baum geparkt. Theo sah sich um. Er vergaß einen Moment lang, dass er sich in Australien befand, und fragte sich dann, wo seine Mutter war.
Da erschien Kit an der Beifahrertür. Allerdings trug er jetzt nicht mehr Polohemd und Chinos. Er war splitternackt bis auf ein rotes Tuch um die Lenden, sein Gesicht und sein breiter Oberkörper waren mit dicken weißen Kreisen bemalt. In der rechten Hand hielt er einen langen Stock.
Theo erschrak zu Tode.
Kit streckte die Hand aus. »Na, komm schon«, sagte er. »Spring raus. Wirst schon sehen, ich mach aus dir einen echten Ureinwohner.«
Theo lehnte sich zurück, als würde er der ihm entgegengestreckten Hand ausweichen. »Wie lange dauert das?«
Kit zuckte mit den Schultern. »Wie lang ist ein Stück Schnur?«
Drei Wochen später flog Theo nach Hause. Abgesehen von der Zeit, die er bei Margot gewesen war, hatte er die Nächte unter freiem Himmel verbracht, war ab und zu mal aufgewacht, weil eine kleine Schlange sich an seinem Kissen entlangschlängelte, und hatte dann von einer leisen Stimme aus dem Schatten Anweisungen erhalten, wie er diese Schlange erlegen und häuten sollte. Tagsüber entfachte er mithilfe zweier Stücke trockenen Holzes Feuer oder stellte aus Stein und Wasser eine Paste her, die er sich dann auf die nackte Haut oder auf die Rückseite eines großen schwarzen Blattes schmierte.
»Was ist dein Traum?«, fragte Kit ihn einige Male. Dann schüttelte Theo den Kopf und sagte Dinge wie: »Ich möchte bei den Knicks spielen« oder »Ich wünsche mir ein Motorrad zu Weihnachten«, und Kit schüttelte darauf ebenfalls den Kopf und zeichnete einen Hai oder einen Pelikan. »Was ist dein Traum?«, wiederholte er – bis Theo ihm eines Tages den Stock und die Paste aus der Hand nahm und ein Krokodil zeichnete.
»Das ist mein Traum«, sagt er.
Kit nickte und zeigte auf das Bild. »Das Krokodil tötet seine Beute, indem es sie unter Wasser zieht und so lange dort hält, bis sie ertrunken ist. Es nimmt dem Opfer jede Überlebenschance.« Mit dem Stock zeigte er auf Theo. »Wehe, du gibst so leicht auf, wenn es um dein Überleben geht.«
»So«, sagte er und entfernte sich. »Jetzt sind wir fertig.«
Theo blickte hinab auf seine Zeichnung, auf die weiße Bemalung seiner verbrannten Haut, auf die rote Erde, die sich hartnäckig unter seinen Fingernägeln hielt. Er dachte an das Krokodil. Unverwüstlich. Eine Waffe. So wollte er werden.
Und so wurde er bis zu einem gewissen Grad auch. Als er nach New York zurückkehrte, betäubte er die Schrecken seiner Vergangenheit mit jedem Mittel, dessen er habhaft werden, mit jeder Prügelei, in die er sich einmischen konnte.
Margot kam jedes Jahr zu Weihnachten nach New York und erzählte Theo ein bisschen mehr von dem Waisenhaus. Jedes Mal bat sie ihn, ihr von den Ereignissen im Jugendknast zu erzählen, und jedes Mal wandte er sich ab und ging.
Doch dann ereignete sich eine Veränderung in Margots Leben, die ich bejubelte: Sie fragte Toby, ob sie ihn als seine Agentin vertreten dürfe. Und er sagte Ja. Großartige Idee!, rief ich. Wieso bin ich da nicht selbst drauf gekommen? Das ist perfekt! Und ich fing an, davon zu träumen, dass die beiden wieder zueinander finden, dass der zweite Versuch viel besser laufen würde, dass er mehr von Liebe geprägt sein würde als von ihren Egotrips, dass Theo richtig glücklich sein würde, dass wir alle richtig glücklich sein würden, vielleicht im Himmel …
Und dann, just als Margot den Hörer auflegte, hörte sie Schritte im Flur.
Eine Gestalt in der Tür.
»Kit?«
Er trat auf sie zu und lächelte breit.
»Ich dachte, du wärst in Malaysia?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich hasse Interviews.«
Sie schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn. Er hob sie hoch und trug sie, die zappelte und lachte, zum Balkon und sagte:
»Margot, mein Schatz. Heirate mich.«
Klopfenden Herzens sah ich dabei zu, wie Margot den Blick von ihm ab- und dem Meer unter ihnen zuwandte. Die Wellen brachen sich am Strand.
Und dann sah ich es.
Sie blickte zu Kit hinauf, doch ihre Aura hatte dieselbe goldene Färbung wie Tobys, und sie floss wie ein reißender Strom, der ihr Herz mittrug, quer über den Pazifik zu Toby.
Aber sie nickte.
Nein! Nein!, schrie ich und ignorierte die Stimme in meinem Kopf, die mich an das Versprechen erinnerte, das ich abgelegt hatte. Dass ich mich nämlich an die vier Vorgaben halten würde: Beobachten. Beschützen. Aufzeichnen. Lieben. Dass ich mich nicht einmischen sollte. Ich sagte der Stimme, dass sie zur Hölle fahren solle, und insistierte: Heirate ihn nicht, Margot! Sie sah ihn an und sagte mit dem Anflug eines Stirnrunzelns:
»Kit, ich gehöre dir.«